Fariduddin ’Attâr Shaikh (1119 – 1229)

  Persischer Poet, islamischer Mystiker und Sufi-Meister, der zunächst als Drogist in der ostpersischen Stadt Nischapur tätig war, wo er bis zu seinem Tod lebte. Sein bekanntestes episches Werk ist das »Mantiq ut-tair« (Gespräch der Vögel), in dem die Reise von dreißig Vögeln durch sieben symbolgeschwängerte Täler zum Vogelkönig - dem Simurgh – geschildert wird, in dem sie letztlich ihr eigenes Selbst erkennen müssen. Attar goss seine mystischen Lehren mit scheinbar einfachen Worten in eine kunstvolle, poetische Stilform.

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Inhaltsverzeichnis
Die sieben Täler (aus dem »Gespräch der Vögel«)
1. Das Tal des Suchens
2. Das Tal der Liebe
3. Das Tal der Erkenntnis
4. Das Tal der Selbstgenügsamkeit
5. Das Tal der Einheit
6. Das Tal der Bestürzung
7. Das Tal der Auflösung und der Vernichtung

Aus dem »Gespräch der Vögel«
Die sieben Täler
Das erste Tal, das sich darbietet, ist das Tal des Suchens, nach ihm kommt das der Liebe, das keine Grenze hat, das dritte ist das der Erkenntnis, das vierte das der Selbstgenügsamkeit, das fünfte das der reinen Einheit, das sechste das der Bestürzung, das siebente endlich ist das Tal der Auflösung und der Vernichtung, über das hinaus du nicht fortschreiten kannst. Da wirst du dich angezogen fühlen und wirst doch nicht weiter ziehen können; ein einziger Wassertropfen wird für dich wie ein Meer sein.

1. Das Tal des Suchens
Sobald du in das Tal des Suchens eingetreten bist, wird hundertfache Pein dich wieder und wieder überfallen. In jedem Augenblick wirst du da hundert Prüfungen erfahren; der Papagei des Firmaments ist da nur eine Fliege. Du wirst viele Jahre in diesem Tale in mühevoller Spannung und steter Wandlung deines Zustands verbringen. Du wirst deine Schätze verlassen und alles was du besitzest ins Spiel werfen müssen. Du wirst in einem Blutstrom schreiten müssen, dem Allverzicht ergeben.

Und hast du die Gewi
ssheit gewonnen, dass du nichts mehr besitzest, musst du noch dein Herz ablösen von allem was ist. Ist es von allein Anblick der Sonderung befreit, dann leuchtet ihm die göttliche Herrlichkeit auf und durch dieses Licht, das sich dir offenbart, wächst dein Begehren ins Unendliche.

Und erschiene ein Feuer am Pfade des geistlichen Wandrers und tausend Schluchten öffneten sich immer unwegsamer, von der Sehnsucht bewegt, würde er wie ein Toller in die Schluchten dringen, wie ein Schmetterling in die Flamme stürzen. Vom Liebeswahn getrieben, wird er dem Suchen leben; von seinem Mundschenk wird er einen Trunk verlangen. Hat er dieses Weines etliche Tropfen gekostet, wird er beide Welten vergessen. Eingetaucht im Meer des Schrankenlosen, wird er seine Lippen trocken verspüren, und auf dem Grunde seiner selbst wird er dem Geheimnis der ewigen Schönheit nachfragen. In seiner Begier, es zu erkennen, wird er vor den Drachen nicht weichen, die die Seelen verzehren. Würden in diesem Augenblick der Glaube und der Unglaube vor ihn treten, er würde sie beide gleich willig empfangen, wenn sie ihm nur die Pforte öffnen. Ist diese Pforte offen, was ist dann noch Glaube oder Unglaube, da es doch jenseits des Eingangs weder den einen noch den andern gibt?...

Zusammengekauert wie das Kind im Schoße der Mutter, sammle dich in dir selbst, in Blut getaucht. Verlasse nicht dein Inneres, um dich ins Äußere zu bringen. Tut dir Speise not, ernähre dich vom Blute. Das Blut allein nährt das Kind im Schoße seiner Mutter; und aus der Wärme des Inneren kommt es her...


2. Das Tal der Liebe
Um hier einzutreten, muß man ganz in Feuer tauchen, ja man muss selber Feuer sein, denn sonst könnte man da nicht leben. Der wahrhaft Liebende muß dem Feuer gleich sein, entflammten Angesichts, brennend und ungestüm wie das Feuer. Um zu lieben, darf man keinen Hintergedanken haben; man muß bereit sein, hundert Welten ins Feuer zu werfen; man muss weder Glauben noch Unglauben kennen, weder Zweifel noch Zuversicht hegen. Auf diesem Wege ist kein Unterschied zwischen Gut und Böse; wo die Liebe ist, sind Gut und Böse entschwunden...

In diesem Tale ist die Liebe das Feuer und sein Rauch ist die Vernunft. Wenn die Liebe kommt, entflieht die Vernunft in Eile. Die Vernunft kann mit der Raserei der Liebe nicht zusammenwohnen; die Liebe hat nichts zu schaffen mit der Vernunft des Menschen. Gewännest du einen rechten Blick der unsichtbaren Welt, dann erst vermöchtest du zu erkennen die Quelle der geheimnisreichen Liebe, die ich dir verkündige. Das Dasein der Liebe wird Blatt für Blatt völlig zerstört von der Trunkenheit der Liebe selbst.

3. Das Tal der Erkenntnis
Wenn die Sonne der Erkenntnis an der Wölbung dieses Weges strahlt, den man nicht würdig zu beschreiben vermag, zeigt sich in Klarheit das Geheimnis des Wesens der Dinge, und der feurige Ofen der Welt wird zum Blumengarten. Der Wandrer wird die Mandel unter ihrer Schale schauen. Er wird sich selbst nicht mehr erblicken, nichts mehr wird er erblicken als seinen Freund allein; in allem, was er sehen wird, wird er sein Antlitz schauen, in jedem Atom die Sphäre des Alls; unterm Schleier wird er zahllose Heimlichkeiten betrachten, die leuchten wie die Sonne...

Die sichtbare Welt und die unsichtbare Welt sind für die Seele nichts; der Körper ist der Seele nicht verborgen, noch die Seele dem Körper. Bist du aus der Welt ausgegangen, die nichts ist, dann findest du den Ort, der dem Menschen bestimmt ist...


4. Das Tal der Selbstgenügsamkeit
Hier ist keine Sucht und kein Forschen. Aus dieser Bereitschaft der Seele zur Genügsamkeit erhebt sich ein kalter Sturm, dessen Gewalt in einem Augenblick einen ungeheuren Raum verwüstet. Die sieben Ozeane sind dann nur noch eine Wasserlache; die sieben Wandelsterne ein Funken; die sieben Himmel ein Leichnam; die sieben Höllen zerschelltes Eis...

Sähest du eine ganze Welt, deren Herz ein Feuer fräße, du hättest nur einen Traum. Die Tausende von Seelen, die unablässig an diesem Meere niedersinken, sind da nur ein leichter und unwahrnehmbarer Tau...

Dieses Tal ist nicht so leicht zu durchschreiten, wie du es in deiner Einfalt glauben möchtest. Wenn auch das Blut deines Herzens sich in dieses Meer ergösse, könntest du nur die erste Station erreichen. Und durchliefest du alle Straßen der Welt, du fändest dich immer, wenn du drauf wohl achtetest, beim ersten Schritt. In der Tat hat kein Wandrer das Ziel seiner Reise geschaut und die Heilung seiner Liebe gefunden. Hältst du inne, wirst du versteinert, oder du stirbst und wirst eine Leiche. Setzest du den Schritt weiter und schreitest immer vorwärts in deinem Laufe, bis zur Ewigkeit wirst du den Schrei hören: »Weiter noch!« Es ist dir nicht gestattet, fortzuschreiten noch stehenzubleiben; es ist dir nicht ersprießlich zu leben noch zu sterben. Welchen Gewinn hast du aus all der Mühsal genommen, die du ertragen hast? Es gilt gleich, ob du dir den Kopf schlägst oder ihn nicht schlägst, o du der mich hört! Bleib stille, lass all dies und handle...

Trachte danach, unabhängig und dir genug zu sein... In diesem vierten Tale strahlt der Blitz der Tugend, die darin besteht, sich selber zu genügen, so stark, daß seine Wärme Hunderte von Welten aufzehrt. Da Hunderte von Welten zu Staub werden, wäre es außergewöhnlich, wenn auch die Welt, die wir bewohnen, verschwände?...

In diesem Tale darf niemand in der Untätigkeit bleiben, und nur in der Reife darf man es betreten. Es ist nun an der Zeit zu handeln, anstatt in der Ungewißheit oder in der Sorglosigkeit zu leben: erhebe dich also und durchschreite dieses mühsame Tal, nachdem du deinem Geiste und deinem Herzen entsagt hast; denn wenn du nicht dem einen und dem andern entsagst, treibst du Vielgötterei und die sorgloseste der Vielgöttereien. Opfre also deinen Geist und dein Herz auf dieser Bahn, sonst mußt du verzichten, dir genügen zu können...


5. Das Tal der Einheit
Dies ist der Ort der Entblößung von allen Dingen und der Einung. Alle, die in dieser Wüste das Haupt erheben, ziehen es aus dem gleichen Kragen. Magst du auch viele Einzelwesen sehen, es gibt in Wirklichkeit nur wenige, nein, es gibt eines nur. Da die Menge von Personen wahrhaft nur eine ausmacht, ist diese vollkommen in ihrer Einheit. Was sich dir aber als eine Einheit darstellt, das ist nicht verschieden von dem, was gezählt wird. Da das Wesen, das ich verkündige, außer dieser Einheit und der Zahl ist, lasse du ab, der Ewigkeit des Vordem und der Ewigkeit des Darnach nachzusinnen; und da die beiden Ewigkeiten zerronnen sind, gedenke ihrer nicht mehr...

Wenn der Wanderer in dieses Tal eingetreten ist, verschwindet er wie die Erde unter seinen Füßen. Er wird verloren sein, denn das einzige Wesen wird offenbar sein. Er wird stumm sein, denn das einzige Wesen wird reden. Der Teil wird das Ganze werden, oder vielmehr er wird weder Teil noch Ganzes sein. Es wird eine Gestalt ohne Körper und Seele sein...

Was ist der Verstand? Er ist an der Schwelle des Tores geblieben, wie ein blind geborenes Kind. Wer etwas von diesem Geheimnis gefunden hat, wendet das Haupt vom Reiche beider Welten ab...


Das Wesen, das ich verkündige, ist nicht gesondert da; die ganze Welt ist dieses Wesen; Sein oder Nichtsein, es immer dieses Wesen...


6. Das Tal der Bestürzung
Auf das Tal der Einheit folgt das der Bestürzung. Da ist man die Beute der Traurigkeit und des Stöhnens. Da sind die Seufzer wie Schwerte; und jeder Hauch ist eine bittre Klage. Da ist nichts als Weheruf, als Leid, als zehrende Glut; da ist Tag und Nacht zugleich, und da ist weder Tag noch Nacht. Da sieht man von jedes Haares Ende, ohne daß es abgeschnitten würde, das Blut tropfen...

Wie wird der Mensch in seiner Bestürzung weitergehen können? Er wird betäubt werden und sich auf dem Wege verlieren. Aber der die Einheit im Herzen eingegraben hat, vergisst alles und vergisst sich selbst. Wenn man ihm sagt:

»Bist du oder bist du nicht; hast du das Gefühl des Seins oder hast du es nicht; bist du in der Mitte oder bist du am Rande; bist du sichtbar oder verborgen; bist du vergänglich oder unsterblich; bist du das eine und das andere oder weder das eine noch das andere; bist du du selbst oder bist du es nicht?«


wird er antworten: »Ich weiß nichts davon, ich bin dessen unkundig und ich bin meiner unkundig. Ich bin verliebt, aber ich weiß nicht in wen; ich bin weder treu noch ungetreu. Was bin ich doch? Ich bin selbst meiner Liebe unkundig; ich habe das Herz von Liebe voll und von Liebe leer zugleich« ...

Wer in das Tal der Bestürzung eintritt, der tritt in jedem Augenblick in einen so großen Schmerz ein, dass er hinreichen würde, um hundert Welten zu betrüben. Aber wie lange noch werde ich die Trübsal und die Wirrnis des Geistes ertragen? Da ich verirrt bin, wohin werde ich gehen? Ich weiß es nicht, aber möge es Gott belieben, dass ich es wisse! . . .


7. Das Tal der Auflösung und der Vernichtung
Es ist unmöglich, dieses Tal zu schildern. Als sein wesentlicher Zustand ist anzusehen das Vergessen, die Stummheit, die Taubheit und die Ohnmacht. Da siehst du in einem einzigen Strahl der Sonne die Tausende ewiger Schatten verschwinden, die dich umgaben.

Wenn das Meer der Unendlichkeit seine Wogen zu regen beginnt, wie sollten die Bilder dauern, die auf seiner Fläche gezeichnet waren? Diese Bilder sind die gegenwärtige Welt und die kommende Welt. Wer erklärt, sie seien nicht, erwirbt ein großes Verdienst. Wessen Herz sich in diesem Meere verloren hat, ist darin für immer verloren und bleibt in der Ruhe...

Ein unreiner Gegenstand mag in ein Meer von Rosenwasser fallen, er wird in der Nichtigkeit bleiben durch seine Eigenschaft. Aber wenn ein reines Ding in dieses Meer fällt, wird es sein besonderes Dasein verlieren, es wird an der Bewegung der Fluten teilnehmen; indem es gesondert dazusein aufhört, beginnt es schön zu sein. Es ist und ist nicht. Wie kann dies geschehen? Es ist dem Geiste unmöglich, es zu fassen...

Wer die Welt verlassen hat, um dieser Bahn zu folgen, findet den Tod, und nach dem Tode die Unsterblichkeit...

Schlage den Mantel des Nichts um dich und trinke vom Becher der Vernichtung, bedecke deine Brust mit der Liebe zum Dahinschwinden und setze den Burnus des Nichtseins aufs Haupt. Stelle den Fuß ins Steigeisen des unbedingten Verzichtes und treibe entschlossen dein Roß zum Orte, wo nichts ist. In der Mitte und außer der Mitte, drunter, drüber, in der Einheit, umgürte deine Lenden mit dem Gürtel des Entwerdens. Öffne deine Augen und schaue, tue blaue Augensalbe an deine Augen. Wenn du verloren sein willst, wirst du es in einem Augenblick sein, dann wieder auf eine andere Weise; aber du schreite ruhig, bis du zum Reiche der Aufhebung kommst. Besitzest du nur das Ende eines Haares aus dieser Welt, wirst du nie eine Kunde von jener Welt empfangen. Bleibt dir die kleinste Ichsucht, werden die sieben Ozeane dir voll des Unheils sein...

Wirf alles was du hast ins Feuer, bis zu den Schuhen.

Wenn du nichts mehr hast, denk nicht einmal ans Leichentuch und wirf dich nackt ins Feuer...

Wenn dein Inneres im Verzicht gesammelt sein wird, dann wirst du jenseits von Gut und Böse sein. Wenn es für dich weder Gut noch Böse geben wird, dann erst wirst du lieben, und du wirst endlich würdig sein der Erlösung, die das Werk der Liebe ist.

Was mich betrifft, der ich weder ich noch ein andrer als ich geblieben bin, ich habe mich ganz verirrt, weithin von mir; ich finde in meinem Zustande kein andres Heil als die Verzweiflung. Als die Sonne der Auflösung über mich leuchtete, verbrannte sie beide Welten so leichtlich wie ein Hirsekorn. Als ich die Strahlen dieser Sonne sah, hin ich nicht gesondert geblieben: der Wassertropfen ist ins Meer zurückgekehrt. Ob ich auch in meinem Spiele zuweilen gewonnen und zuweilen verloren habe, zuletzt warf ich alles in das schwarze Wasser. Ich bin ausgewischt worden, ich bin verschwunden; nichts ist von mir geblieben. Ich war nur noch ein Schatten, kein kleinstes Stäubchen war von mir da. Ich war ein Tropfen, im Ozean des Mysteriums verloren, und jetzt finde ich auch diesen Tropfen nicht mehr.
S.86ff.
Aus: Sloterdijk (Hrsg.): Mystische Zeugnisse aller Zeiten und Völker gesammelt von Martin Buber, Diederichs DG 100