Fariduddin ’Attâr Shaikh (1119 – 1229)
Persischer
Poet, islamischer Mystiker und Sufi-Meister, der zunächst
als Drogist in der ostpersischen Stadt Nischapur tätig war, wo er bis
zu seinem Tod lebte. Sein bekanntestes episches Werk ist das »Mantiq
ut-tair« (Gespräch der Vögel), in dem die Reise von dreißig Vögeln durch sieben symbolgeschwängerte
Täler zum Vogelkönig - dem Simurgh – geschildert wird, in
dem sie letztlich ihr eigenes Selbst erkennen müssen. Attar
goss seine mystischen Lehren mit scheinbar einfachen Worten in eine kunstvolle, poetische Stilform. Siehe auch Wikipedia |
Inhaltsverzeichnis
Die
sieben Täler (aus dem »Gespräch der
Vögel«)
1. Das Tal des Suchens
2. Das Tal der Liebe
3. Das Tal der Erkenntnis
4.
Das Tal der Selbstgenügsamkeit
5. Das Tal der Einheit
6. Das Tal der Bestürzung
7. Das Tal der Auflösung
und der Vernichtung
Aus dem »Gespräch
der Vögel«
Die sieben
Täler
Das erste Tal, das sich darbietet, ist das Tal des Suchens, nach ihm kommt das
der Liebe, das keine Grenze hat, das dritte ist das der Erkenntnis, das vierte
das der Selbstgenügsamkeit, das fünfte das der reinen Einheit, das
sechste das der Bestürzung, das siebente endlich ist das Tal der Auflösung
und der Vernichtung, über das hinaus du nicht fortschreiten kannst. Da
wirst du dich angezogen fühlen und wirst doch nicht weiter ziehen können;
ein einziger Wassertropfen wird für dich wie ein Meer sein.
1. Das Tal
des Suchens
Sobald du in das Tal des Suchens eingetreten bist, wird hundertfache Pein dich
wieder und wieder überfallen. In jedem Augenblick wirst du da hundert Prüfungen
erfahren; der Papagei des Firmaments ist da nur eine Fliege. Du wirst viele
Jahre in diesem Tale in mühevoller Spannung und steter Wandlung deines
Zustands verbringen. Du wirst deine Schätze verlassen und alles was du
besitzest ins Spiel werfen müssen. Du wirst in einem Blutstrom schreiten
müssen, dem Allverzicht ergeben.
Und hast du die Gewissheit gewonnen, dass du
nichts mehr besitzest, musst du noch dein Herz ablösen von allem was
ist. Ist es von allein Anblick der Sonderung befreit, dann leuchtet ihm die
göttliche Herrlichkeit auf und durch dieses Licht, das sich dir offenbart,
wächst dein Begehren ins Unendliche.
Und erschiene ein Feuer am Pfade des geistlichen Wandrers und tausend Schluchten öffneten sich immer unwegsamer, von der Sehnsucht bewegt, würde er
wie ein Toller in die Schluchten dringen, wie ein Schmetterling in die Flamme
stürzen. Vom Liebeswahn getrieben, wird er dem Suchen
leben; von seinem Mundschenk wird er einen Trunk verlangen. Hat er dieses
Weines etliche Tropfen gekostet, wird er beide Welten vergessen. Eingetaucht
im Meer des Schrankenlosen, wird er seine Lippen trocken verspüren, und
auf dem Grunde seiner selbst wird er dem Geheimnis der ewigen Schönheit
nachfragen. In seiner Begier, es zu erkennen, wird er vor den Drachen nicht
weichen, die die Seelen verzehren. Würden in diesem Augenblick der Glaube
und der Unglaube vor ihn treten, er würde sie beide gleich willig empfangen,
wenn sie ihm nur die Pforte öffnen. Ist diese Pforte offen, was ist dann
noch Glaube oder Unglaube, da es doch jenseits des Eingangs weder den einen
noch den andern gibt?...
Zusammengekauert wie das Kind im Schoße der Mutter, sammle dich in dir
selbst, in Blut getaucht. Verlasse nicht dein Inneres, um dich ins Äußere
zu bringen. Tut dir Speise not, ernähre dich vom Blute. Das Blut allein
nährt das Kind im Schoße seiner Mutter; und aus der Wärme des
Inneren kommt es her...
2. Das Tal
der Liebe
Um hier einzutreten, muß man ganz in Feuer tauchen, ja man muss selber
Feuer sein, denn sonst könnte man da nicht leben. Der wahrhaft Liebende
muß dem Feuer gleich sein, entflammten Angesichts, brennend und ungestüm
wie das Feuer. Um zu lieben, darf man keinen Hintergedanken haben; man muß
bereit sein, hundert Welten ins Feuer zu werfen; man muss weder Glauben
noch Unglauben kennen, weder Zweifel noch Zuversicht hegen. Auf diesem Wege
ist kein Unterschied zwischen Gut und Böse; wo die Liebe ist, sind Gut
und Böse entschwunden...
In diesem Tale ist die Liebe das Feuer und sein Rauch ist die Vernunft. Wenn
die Liebe kommt, entflieht die Vernunft in Eile. Die Vernunft kann mit der Raserei
der Liebe nicht zusammenwohnen; die Liebe hat nichts zu schaffen mit der Vernunft
des Menschen. Gewännest du einen rechten Blick der unsichtbaren Welt, dann
erst vermöchtest du zu erkennen die Quelle der geheimnisreichen Liebe,
die ich dir verkündige. Das Dasein der Liebe wird Blatt für Blatt
völlig zerstört von der Trunkenheit der Liebe selbst.
3. Das Tal
der Erkenntnis
Wenn die Sonne der Erkenntnis an der Wölbung dieses Weges strahlt, den
man nicht würdig zu beschreiben vermag, zeigt sich in Klarheit das Geheimnis
des Wesens der Dinge, und der feurige Ofen der Welt wird zum Blumengarten. Der
Wandrer wird die Mandel unter ihrer Schale schauen. Er wird sich selbst nicht
mehr erblicken, nichts mehr wird er erblicken als seinen Freund allein; in allem,
was er sehen wird, wird er sein Antlitz schauen, in jedem Atom die Sphäre
des Alls; unterm Schleier wird er zahllose Heimlichkeiten betrachten, die leuchten
wie die Sonne...
Die sichtbare Welt und die unsichtbare Welt sind für die Seele nichts;
der Körper ist der Seele nicht verborgen, noch die Seele dem Körper.
Bist du aus der Welt ausgegangen, die nichts ist, dann findest du den Ort, der
dem Menschen bestimmt ist...
4. Das Tal
der Selbstgenügsamkeit
Hier ist keine Sucht und kein Forschen. Aus dieser Bereitschaft der Seele zur
Genügsamkeit erhebt sich ein kalter Sturm, dessen Gewalt in einem Augenblick
einen ungeheuren Raum verwüstet. Die sieben Ozeane sind dann nur noch eine
Wasserlache; die sieben Wandelsterne ein Funken; die sieben Himmel ein Leichnam;
die sieben Höllen zerschelltes Eis...
Sähest du eine ganze Welt, deren Herz ein Feuer fräße, du hättest
nur einen Traum. Die Tausende von Seelen, die unablässig an diesem Meere
niedersinken, sind da nur ein leichter und unwahrnehmbarer Tau...
Dieses Tal ist nicht so leicht zu durchschreiten, wie du es in deiner Einfalt
glauben möchtest. Wenn auch das Blut deines Herzens sich in dieses Meer
ergösse, könntest du nur die erste Station erreichen. Und durchliefest
du alle Straßen der Welt, du fändest dich immer, wenn du drauf wohl
achtetest, beim ersten Schritt. In der Tat hat kein Wandrer das Ziel seiner
Reise geschaut und die Heilung seiner Liebe gefunden. Hältst du inne, wirst
du versteinert, oder du stirbst und wirst eine Leiche. Setzest du den Schritt
weiter und schreitest immer vorwärts in deinem Laufe, bis zur Ewigkeit
wirst du den Schrei hören: »Weiter noch!« Es ist dir nicht gestattet, fortzuschreiten noch stehenzubleiben; es ist dir
nicht ersprießlich zu leben noch zu sterben. Welchen Gewinn hast du aus
all der Mühsal genommen, die du ertragen hast? Es gilt gleich, ob du dir
den Kopf schlägst oder ihn nicht schlägst, o du der mich hört!
Bleib stille, lass all dies und handle...
Trachte danach, unabhängig und dir genug zu sein... In diesem vierten Tale
strahlt der Blitz der Tugend, die darin besteht, sich selber zu genügen,
so stark, daß seine Wärme Hunderte von Welten aufzehrt. Da Hunderte
von Welten zu Staub werden, wäre es außergewöhnlich, wenn auch
die Welt, die wir bewohnen, verschwände?...
In diesem Tale darf niemand in der Untätigkeit bleiben, und nur in der
Reife darf man es betreten. Es ist nun an der Zeit zu handeln, anstatt in der
Ungewißheit oder in der Sorglosigkeit zu leben: erhebe dich also und durchschreite
dieses mühsame Tal, nachdem du deinem Geiste und deinem Herzen entsagt
hast; denn wenn du nicht dem einen und dem andern entsagst, treibst du Vielgötterei
und die sorgloseste der Vielgöttereien. Opfre also deinen Geist und dein
Herz auf dieser Bahn, sonst mußt du verzichten, dir genügen zu können...
5. Das Tal
der Einheit
Dies ist der Ort der Entblößung von allen Dingen und der Einung.
Alle, die in dieser Wüste das Haupt erheben, ziehen es aus dem gleichen
Kragen. Magst du auch viele Einzelwesen sehen, es gibt in Wirklichkeit nur wenige,
nein, es gibt eines nur. Da die Menge von Personen wahrhaft
nur eine ausmacht, ist diese vollkommen in ihrer Einheit. Was sich dir
aber als eine Einheit darstellt, das ist nicht verschieden von dem, was gezählt
wird. Da das Wesen, das ich verkündige, außer dieser Einheit und
der Zahl ist, lasse du ab, der Ewigkeit des Vordem
und der Ewigkeit des Darnach nachzusinnen; und
da die beiden Ewigkeiten zerronnen sind, gedenke ihrer nicht mehr...
Wenn der Wanderer in dieses Tal eingetreten ist, verschwindet er wie die Erde
unter seinen Füßen. Er wird verloren sein, denn das einzige Wesen
wird offenbar sein. Er wird stumm sein, denn das einzige Wesen wird reden. Der
Teil wird das Ganze werden, oder vielmehr er wird weder Teil noch Ganzes sein.
Es wird eine Gestalt ohne Körper und Seele sein...
Was ist der Verstand? Er ist an der Schwelle des Tores geblieben, wie ein blind
geborenes Kind. Wer etwas von diesem Geheimnis gefunden hat, wendet das Haupt
vom Reiche beider Welten ab...
Das Wesen, das ich verkündige, ist nicht gesondert da; die ganze Welt ist
dieses Wesen; Sein oder Nichtsein, es immer dieses Wesen...
6. Das Tal
der Bestürzung
Auf das Tal der Einheit folgt das der Bestürzung. Da ist man die Beute
der Traurigkeit und des Stöhnens. Da sind die Seufzer wie Schwerte; und
jeder Hauch ist eine bittre Klage. Da ist nichts als Weheruf, als Leid, als
zehrende Glut; da ist Tag und Nacht zugleich, und da ist weder Tag noch Nacht.
Da sieht man von jedes Haares Ende, ohne daß es abgeschnitten würde,
das Blut tropfen...
Wie wird der Mensch in seiner Bestürzung weitergehen können? Er wird
betäubt werden und sich auf dem Wege verlieren. Aber der die Einheit im
Herzen eingegraben hat, vergisst alles und vergisst sich selbst. Wenn
man ihm sagt:
»Bist du oder bist du nicht; hast du das Gefühl des Seins oder hast
du es nicht; bist du in der Mitte oder bist du am Rande; bist du sichtbar oder
verborgen; bist du vergänglich oder unsterblich; bist du das eine und das
andere oder weder das eine noch das andere; bist du du selbst oder bist du es
nicht?«
wird er antworten: »Ich weiß nichts davon,
ich bin dessen unkundig und ich bin meiner unkundig. Ich bin verliebt, aber
ich weiß nicht in wen; ich bin weder treu noch ungetreu. Was bin ich doch?
Ich bin selbst meiner Liebe unkundig; ich habe das Herz von Liebe voll und von
Liebe leer zugleich« ...
Wer in das Tal der Bestürzung eintritt, der tritt in jedem Augenblick in
einen so großen Schmerz ein, dass er hinreichen würde, um hundert
Welten zu betrüben. Aber wie lange noch werde ich die Trübsal und
die Wirrnis des Geistes ertragen? Da ich verirrt bin, wohin werde ich gehen? Ich weiß es nicht, aber möge es Gott belieben,
dass ich es wisse! . . .
7. Das Tal
der Auflösung und der Vernichtung
Es ist unmöglich, dieses Tal zu schildern. Als sein wesentlicher Zustand
ist anzusehen das Vergessen, die Stummheit, die Taubheit und die Ohnmacht. Da
siehst du in einem einzigen Strahl der Sonne die Tausende ewiger Schatten verschwinden,
die dich umgaben.
Wenn das Meer der Unendlichkeit seine Wogen zu regen beginnt, wie sollten die
Bilder dauern, die auf seiner Fläche gezeichnet waren? Diese Bilder sind
die gegenwärtige Welt und die kommende Welt. Wer erklärt, sie seien
nicht, erwirbt ein großes Verdienst. Wessen Herz sich in diesem Meere
verloren hat, ist darin für immer verloren und bleibt in der Ruhe...
Ein unreiner Gegenstand mag in ein Meer von Rosenwasser fallen, er wird in der
Nichtigkeit bleiben durch seine Eigenschaft. Aber wenn ein reines Ding in dieses
Meer fällt, wird es sein besonderes Dasein verlieren, es wird an der Bewegung
der Fluten teilnehmen; indem es gesondert dazusein aufhört, beginnt es
schön zu sein. Es ist und ist nicht. Wie kann dies geschehen? Es ist dem
Geiste unmöglich, es zu fassen...
Wer die Welt verlassen hat, um dieser Bahn zu folgen,
findet den Tod, und nach dem Tode die Unsterblichkeit...
Schlage den Mantel des Nichts um dich und trinke vom Becher der Vernichtung,
bedecke deine Brust mit der Liebe zum Dahinschwinden und setze den Burnus des
Nichtseins aufs Haupt. Stelle den Fuß ins Steigeisen des unbedingten Verzichtes
und treibe entschlossen dein Roß zum Orte, wo nichts ist. In der Mitte
und außer der Mitte, drunter, drüber, in der Einheit, umgürte
deine Lenden mit dem Gürtel des Entwerdens. Öffne deine Augen und
schaue, tue blaue Augensalbe an deine Augen. Wenn du verloren sein willst, wirst
du es in einem Augenblick sein, dann wieder auf eine andere Weise; aber du schreite
ruhig, bis du zum Reiche der Aufhebung kommst. Besitzest du nur das Ende eines
Haares aus dieser Welt, wirst du nie eine Kunde von jener Welt empfangen. Bleibt
dir die kleinste Ichsucht, werden die sieben Ozeane dir voll des Unheils sein...
Wirf alles was du hast ins Feuer, bis zu den Schuhen.
Wenn du nichts mehr hast, denk nicht einmal ans Leichentuch und wirf dich
nackt ins Feuer...
Wenn dein Inneres im Verzicht gesammelt sein wird, dann
wirst du jenseits von Gut und Böse sein. Wenn es für dich weder Gut
noch Böse geben wird, dann erst wirst du lieben, und du wirst endlich würdig
sein der Erlösung, die das Werk der Liebe ist.
Was mich betrifft, der ich weder ich noch ein andrer als ich geblieben bin,
ich habe mich ganz verirrt, weithin von mir; ich finde in meinem Zustande kein
andres Heil als die Verzweiflung. Als die Sonne der Auflösung über
mich leuchtete, verbrannte sie beide Welten so leichtlich wie ein Hirsekorn.
Als ich die Strahlen dieser Sonne sah, hin ich nicht gesondert geblieben: der
Wassertropfen ist ins Meer zurückgekehrt. Ob ich auch in meinem Spiele
zuweilen gewonnen und zuweilen verloren habe, zuletzt warf ich alles in das
schwarze Wasser. Ich bin ausgewischt worden, ich bin verschwunden; nichts ist
von mir geblieben. Ich war nur noch ein Schatten, kein kleinstes Stäubchen
war von mir da. Ich war ein Tropfen, im Ozean des Mysteriums verloren, und jetzt
finde ich auch diesen Tropfen nicht mehr. S.86ff.
Aus: Sloterdijk (Hrsg.): Mystische Zeugnisse aller Zeiten und Völker gesammelt
von Martin Buber, Diederichs DG 100