Friedrich
Engels (1820 – 1895)
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Inhaltsverzeichnis
Die Offenbarung
Urchristentum
Die
Offenbarung
Die Offenbarung
besteht aus einer Reihe von Visionen.
In der ersten erscheint Christus, als Hoherpriester gekleidet, wandelnd zwischen
sieben Leuchtern, die die sieben asiatischen Gemeinden darstellen, und diktiert
dem »Johannes« Briefe an die sieben »Engel« dieser Gemeinden. Gleich hier im Anfang tritt der
Unterschied dieses Christentums und der vom Nicänischen Konzil formulierten konstantinischen
Weltreligion schlagend hervor. Die Dreieinigkeit ist nicht
nur unbekannt, sie ist hier eine Unmöglichkeit. Statt des späteren,
einen heiligen Geistes haben wir hier die von den
Rabbinern aus Jesaia 11,2 herauskonstruierten »sieben
Geister Gottes«. Christus ist
der Sohn Gottes, der Erste und der Letzte, das Alpha und das Omega, aber durchaus
nicht selbst Gott oder Gott gleich, sondern im Gegenteil »der
Anfang der Kreatur Gottes«, also eine
von Ewigkeit existierende, aber untergeordnete Emanation Gottes, ähnlich
wie die erwähnten sieben Geister. Kap. 15,3 singen die Märtyrer im
Himmel »das Lied Mosis des Knechtes Gottes und das
Lied des Lammes« zur Verherrlichung Gottes.
Hier erscheint also Christus nicht nur als Gott
untergeordnet, sondern sogar in gewisser Beziehung mit Moses
auf dieselbe Stufe gestellt. Christus ist in
Jerusalem gekreuzigt (11,8), aber auferstanden
(1, 5 [und] 18), er ist »das
Lamm«, das geopfert worden für die Sünden der Welt und
mit dessen Blut die Gläubigen Gott erkauft sind aus allerlei Volk und Zungen.
Hier finden wir die Grundvorstellung, die es dem Urchristentum möglich
machte, sich zur Weltreligion fortzuentwickeln. Allen damaligen Religionen der
Semiten und Europäer war die Ansicht gemeinsam, die durch Handlungen der
Menschen beleidigten Götter könnten durch Opfer versöhnt werden;
die erste revolutionäre (der philonischen
Schule entlehnte) Grundvorstellung im Christentum war die, dass durch
das eine große, freiwillige Opfer eines Mittlers aller Zeiten und Menschen
Sünden ein für allemal gesühnt seien - für die Gläubigen.
Hiermit fiel die Notwendigkeit aller ferneren Opfer weg und damit die Grundlage
einer Menge religiöser Zeremonien; Freiheit von Zeremonien, die den Umgang
mit Andersgläubigen erschweren oder verbieten, war aber erste Bedingung
einer Weltreligion. Und trotzdem saß die Gewohnheit des Opferns so tief
in den Volkssitten, daß der Katholizismus - der so viel Heidnisches wieder
aufnahm - es für angemessen fand, dieser Tatsache durch Einführung
wenigstens des symbolischen Meßopfers sich anzubequemen. - Vom Dogma von
der Erbsünde dagegen findet sich in unsrem Buche nicht eine Spur.
Das bezeichnendste in diesen Sendschreiben wie im ganzen Buch ist aber, daß
es dem Verfasser nie und nirgends einfällt, sich und seine Glaubensgenossen
anders zu bezeichnen denn als - Juden. Den
Sektierern in Smyrna und Philadelphia, gegen die er eifert, wirft er vor: »sie
sagen, sie seien Juden, und sind es nicht, sondern sind des Satans Schule«;
von denen in Pergamus heißt es: sie halten an der Lehre Balaams, welcher
lehrete durch den Balak ein Ärgernis aufrichten vor
den Kindern Israels, zu essen der Götzen Opfer und Hurerei
zu treiben. Wir haben es hier also nicht mit bewußten Christen zu tun,
sondern mit Leuten, die sich für Juden ausgeben; ihr Judentum ist allerdings
eine neue Entwicklungsstufe des früheren, aber eben deshalb auch das einzig
wahre. Daher kommen bei dem Erscheinen der Heiligen vor dem Thron Gottes zuerst
144000 Juden, je 12000 von jedem Stamm, und erst dann die unzählige Masse
der zu diesem erneuerten Judentum bekehrten Heiden. So wenig wußte unser
Verfasser im 69. Jahr der christlichen Zeitrechnung, daß er eine ganz
neue Phase der religiösen Entwicklung vertrat, die eins der revolutionärsten
Elemente in der Geschichte des menschlichen Geistes werden sollte.
Wir sehen also, das damalige, sich selbst noch unbewußte Christentum war
himmelweit verschieden von der späteren, dogmatisch fixierten Weltreligion
des Nicänischen Konzils; das eine ist in der andern gar nicht wiederzuerkennen.
Weder die Dogmatik noch die Ethik des späteren Christentums existiert hier;
dafür aber ein Gefühl, daß man sich im Kampf gegen eine ganze
Welt befindet und diesen Kampf siegreich bestehn wird; eine Kampfeslust und
eine Siegesgewißheit, die dem heutigen Christen total abhanden gekommen
und die in unsrer Zeit sich nur findet am andern Gesellschaftspol, bei den Sozialisten.
In der Tat, der Kampf gegen eine anfangs übermächtige Welt und der
gleichzeitige Kampf der Neuerer untereinander, ist beiden gemeinsam, den Urchristen
wie den Sozialisten. Beide große Bewegungen sind nicht von Führern
und Propheten gemacht - obwohl Propheten genug bei beiden vorkommen -, sie sind
Massenbewegungen. Und Massenbewegungen sind im Anfang notwendig konfus; konfus,
weil alles Massendenken sich zuerst in Widersprüchen, Unklarheiten, Zusammenhangslosigkeiten
bewegt, konfus aber auch eben wegen der Rolle, die die Propheten anfangs noch
darin spielen. Die Konfusion zeigt sich in der Bildung zahlreicher Sekten, die
sich untereinander mit mindestens ebenderselben Heftigkeit bekämpfen wie
den gemeinsamen Feind draußen. So war's im Urchristentum, so war's in
den ersten Zeiten der sozialistischen Bewegung, so sehr das auch die wohlmeinenden
Biedermänner betrübte, die Einigkeit predigten, wo keine Einigkeit
möglich war. S. 139-141 [...]
Die Fortexistenz der Seele
nach dem Tod des Leibes
war allmählich überall in der römischen Welt anerkannter Glaubensartikel
geworden. Auch eine Art Belohnung und Bestrafung der verstorbnen Seele für
die auf Erden begangnen Handlungen wurde mehr und mehr allgemein angenommen.
Mit der Belohnung sah es allerdings ziemlich windig aus; das Altertum war viel
zu naturwüchsig-materialistisch, um nicht auf das irdische Leben unendlich
höheren Wert zu legen als auf das im Schattenreich; bei den Griechen galt
das Fortleben nach dem Tod vielmehr als ein Pech. Da kam
das Christentum, machte Ernst mit der Belohnung und Bestrafung im Jenseits,
schuf Himmel und Hölle, und der Ausweg war gefunden, der die Mühseligen
und Beladnen aus diesem irdischen Jammertal hinüberführte ins ewige
Paradies. Und in der Tat, nur mit der Aussicht auf eine jenseitige Belohnung
war es möglich, die stoisch-philonische Weltentsagung und Askese zum ethischen
Grundprinzip einer neuen, die unterdrückten Volksmassen hinreißenden
Weltreligion zu erheben.
Dies himmlische Paradies öffnet sich aber den Gläubigen nicht ohne
weiteres mit dem Tode. Wir werden sehn, daß das Reich Gottes, dessen Hauptstadt
das neue Jerusalem ist, erst nach heftigen Kämpfen mit den Mächten
der Hölle erobert und eröffnet wird. Aber in der Vorstellung der ersten
Christen standen diese Kämpfe nahe bevor. Unser Johannes bezeichnet sein
Buch gleich anfangs als die Offenbarung dessen, »was
in der Kürze geschehen soll«; gleich
darauf, Vers 3, preist er »selig den, der liest
und hört die Worte der Weissagung, denn die Zeit ist nahe«; der Gemeinde zu Philadelphia läßt Christus schreiben: »Siehe,
ich komme bald.« Und im letzten Kapitel sagt der Engel, er habe
Johannes gezeigt, »was bald geschehen
muß«, und befiehlt ihm: »Versiegle
nicht die Worte der Weissagung in diesem Buch, denn die Zeit ist nahe«,
und Christus selbst sagt zweimal Vers 12 und Vers 20: »ich
komme bald«. Der weitere Verlauf wird uns zeigen, wie bald dies
Kommen erwartet wurde.
Die apokalyptischen Visionen, die uns der Verfasser
jetzt vorführt, sind durchweg, und meist wörtlich, früheren Mustern
entlehnt. Teils den klassischen Propheten des Alten Testaments, besonders
Ezechiel, teils den späteren, nach dem Vorbild des Buchs Daniel
verfaßten jüdischen Apokalypsen, namentlich dem damals wenigstens
schon zum Teil geschriebnen Buch Henoch. Die Kritik
hat aufs allereinzelste nachgewiesen, woher unser Johannes jedes Bild, jedes drohende Vorzeichen, jede auf die ungläubige Menschheit
ausgegoßne Plage, kurz das gesamte Material seines Buchs entlehnt hat;
so daß er nicht nur eine ganz besondre Geistesarmut an den Tag legt, sondern
auch selbst den Beweis liefert, daß er seine angeblichen Verzückungen
und Gesichte nicht einmal in der Einbildung so erlebt hat, wie er sie beschreibt.
Der Gang dieser Geistererscheinungen ist kurz wie folgt. Zuerst sieht
Johannes Gott auf seinem Thron, ein Buch mit sieben Siegeln in der Hand
und vor ihm das geschlachtete, aber wieder lebendige Lamm (Christus),
das würdig befunden wird, die Siegel zu lösen. Bei ihrer Lösung
erfolgen allerlei drohende Wunderzeichen. Beim fünften sieht Johannes unter
dem Altar Gottes die Seelen der Märtyrer Christi, die erwürget wurden
um des Worts Gottes willen, und sie schrien laut: Herr, wie lange richtest du
und rächest nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen? worauf
man ihnen ein weißes Kleid gibt und sie vertröstet, noch zu warten
eine kleine Zeit, es müßten noch mehr Märtyrer getötet
werden. -
Hier ist also noch keine Rede von der »Religion
der Liebe«, von dem: Liebet eure Feinde, segnet die euch fluchen
usw., hier wird unverhohlene Rache gepredigt,
Rache, gesunde ehrliche Rache an den Verfolgern der Christen. Und so
im ganzen Buch. Je näher die Krisis rückt, je dichter die Plagen und
Strafgerichte vom Himmel herunterregnen, mit desto größrer Freude
meldet unser Johannes, daß die große Masse der Menschen noch immer
nicht Buße tun will für ihre Sünden, daß noch neue Geißeln
Gottes auf sie herabsausen müssen, daß Christus sie regieren muß
mit eiserner Rute und treten die Kelter des Weins des grimmigen Zorns des allmächtigen
Gottes, aber daß die Gottlosen doch verstockt bleiben in ihren Herzen.
Es ist das naturgemäße, von aller Scheinheiligkeit freie Gefühl,
daß man im Kampf steht, und daß - à
la guerre comme à la guerre. -
Beim siebenten Siegel erscheinen sieben Engel mit Posaunen; jedesmal, wenn einer
in die Posaune stößt, geschehn neue Schreckzeichen. Nach dem siebenten
Posaunenstoß treten sieben neue Engel auf die Bühne mit den sieben
Schalen des Zornes Gottes, die über die Erde ausgeschüttet werden;
abermals neue Plagen und Strafgerichte, in der Hauptsache meist die mühsame
Wiederholung des schon mehrmals Dagewesenen. Dann kommt das Weib, Babylon die
große Hure, sitzend in scharlachnem Kleid über den Wassern, trunken
vom Blut der Heiligen und Märtyrer Jesu, das ist die große Stadt
auf sieben Hügeln, die da herrscht über alle Könige der Erde.
Sie sitzt auf einem Tier mit sieben Köpfen und zehn Hörnern. Die sieben
Köpfe repräsentieren die sieben Hügel, aber auch sieben »Könige«.
Von diesen Königen sind fünf vergangen, einer ist, der siebente kommt
noch, und nach ihm kommt wieder einer aus den ersten fünf, der zum Tod
verwundet war, aber wieder geheilt worden. Dieser wird 42 Monate oder 31/2 Jahr (die Hälfte der Jahreswoche von sieben Jahren) über
die Erde herrschen, die Gläubigen bis auf den Tod verfolgen und die Gottlosigkeit
zur Herrschaft bringen. Dann aber erfolgt der große Entscheidungskampf,
die Heiligen und Märtyrer werden gerächt durch Zerstörung der
großen Hure Babylon und aller ihrer Anhänger, d.h. der großen
Masse der Menschen; der Teufel wird in den Abgrund gestürzt und dort eingeschlossen
auf tausend Jahre, während denen Christus mit den vom Tode auferstandenen
Märtyrern das Reich führt. Nach tausend Jahren
aber wird der Teufel wieder los, und es gibt eine neue große Geisterschlacht,
worin er endgültig besiegt wird. Dann folgt die zweite Auferstehung,
wo auch die übrigen Toten erwachen und vor dem Richterstuhl
Gottes (nicht Christi, wohl zu merken) erscheinen, und die Gläubigen
eingehn in einen neuen Himmel, eine neue Erde, und ein neues Jerusalem zum ewigen
Leben.
Wie diese ganze Zurüstung mit ausschließlich jüdisch-vorchristlichem
Material aufgebaut ist, so bietet sie auch fast nur rein jüdische Vorstellungen.
Seit es anfing, dem Volk Israel schlecht zu gehn in dieser Welt, von der assyrischen
und babylonischen Zinsbarkeit, von der Zerstörung der beiden Reiche Israel
und Juda an bis zur seleucidischen Knechtschaft, also von Jesaia bis Daniel,
wird jedesmal in der Trübsal ein Retter prophezeit. Bei Daniel
12,1-3 findet sich sogar schon eine Prophezeiung vom Herabsteigen
Michaels, des Schutzengels der Juden, der sie aus großer Trübsal
erretten wird; viele Toten werden auferstehn, es gibt eine Art jüngstes
Gericht, und die Lehrer, die das Volk zur Gerechtigkeit weisen, werden leuchten
wie die Sterne ewiglich. Christlich ist nur die scharfe Betonung des nahe bevorstehenden
Reichs Christi und der Herrlichkeit der auferstandnen Gläubigen, namentlich
der Märtyrer.
Die Deutung dieser Weissagung, soweit sie sich auf damalige Zeitereignisse bezieht,
verdanken wir der deutschen Kritik, besonders Ewald, Lücke
und Ferdinand Benary. Durch Renan ist sie auch nichttheologischen Kreisen zugänglich geworden. Daß
die große Hure Babylon die Siebenhügelstadt Rom bedeutet, haben wir
schon gesehn. Von dem Tier, worauf sie sitzt, heißt es 17,9—11:
,,Die sieben Häupter“ (des Tiers) ,,sind sieben
Berge, auf welchen das Weib sitzt, und sieben Könige. Fünf sind gefallen,
und einer ist, und der andre ist noch nicht gekommen, und wenn er kommt, muß
er eine kleine Zeit bleiben. Und das Tier, das gewesen ist, und nicht ist, das
ist der achte, und ist von den sieben, und fährt in die Verdammnis.“
Hiernach ist das Tier die römische Weltherrschaft, repräsentiert nacheinander durch sieben Kaiser, von denen einer
tödlich verwundet wurde und nicht mehr herrscht, aber geheilt wird und
wiederkommt, um als achter das Reich der Lästerung und des Trotzes wider
Gott zur Vollendung zu bringen. Es wird ihm gegeben
,,zu streiten mit den Heiligen und sie zu überwinden,
und alle, die auf Erden wohnen und deren Namen nicht geschrieben sind in dem
lebendigen Buch des Lamms, beten das Tier an; alle, die Großen und Kleinen,
die Reichen und die Armen, die Freien und die Knechte, müssen das Malzeichen
des Tiers an der rechten Hand oder der Stirn tragen, daß niemand kaufen
oder verkaufen kann, er habe denn das Malzeichen oder den Namen des Tiers oder
die Zahl seines Namens. Hier ist Weisheit. Wer Verstand hat, der überlege
die Zahl des Tiers, denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist 666.“
(13,7—18.)
Wir konstatieren bloß, daß hier also der Boykott als eine von der
römischen Weltmacht gegen die Christen anzuwendende Maßregel erwähnt
wird — also handgreiflich eine Erfindung des Teufels ist — und gehn
über zu der Frage, wer dieser römische Kaiser ist, der früher
schon einmal geherrscht hat, auf den Tod verwundet und beseitigt wurde, aber
als achter der Reihe wiederkommt und den Antichrist spielen wird.
Von Augustus als dem ersten an haben wir 2. Tiberius, 3. Caligula, 4. Claudius,
5. Nero, 6. Galba. »Fünf sind gefallen und einer ist«. Also
Nero ist schon gefallen, Galba ist. Galba herrschte vom 9. Juni 68 bis zum 15.
Januar 69. Aber gleich nach seiner Thronbesteigung erhoben sich die Legionen
am Rhein unter Vitellius, während in andern Provinzen andre Feldherrn Militäraufstände
vorbereiteten. In Rom selbst empörten sich die Prätorianer, erschlugen
Galba und machten Otho zum Kaiser.
Hieraus geht hervor, daß unsre Offenbarung unter Galba geschrieben wurde.
Wahrscheinlich gegen das Ende seiner Regierung. Oder spätestens während
der drei Monate (bis 15. April 69) der Herrschaft
Orhos, »des Siebenten«. Wer aber ist der achte, der gewesen ist
und nicht ist? Das lehrt uns die Zahl 666.
Unter den Semiten — Chaldäern und Juden — war damals eine Zauberkunst
im Schwang, die auf der doppelten Bedeutung der Buchstaben beruhte. Seit ungefähr
300 Jahren vor unsrer Zeitrechnung wurden die hebräischen Buchstaben auch
als Zahlzeichen gebraucht a = 1, b = 2, g = 3, d = 4 usw. Die kabbalistischen
Wahrsager nun zählten die Zahlenwerte der Buchstaben eines Namens als Quersumme
zusammen und suchten daraus zu prophezeien, z. B. durch Bildung von Worten oder
Wortverbindungen von gleichem Zahlenwert, die Schlüsse auf die Zukunft
des Namensträgers zuließen. Ebenso wurden geheime Worte in dieser
Zahlensprache ausgedrückt und dergleichen mehr. Man nannte diese Kunst
mit einem griechischen Wort gematriah, Geometrie; die Chaldäer, die dies
geschäftsmäßig betrieben und von Tacitus als mathematici bezeichnet
werden, wurden unter Claudius und später nochmals unter Vitellius, vermutlich
wegen ,,groben Unfugs“, aus Rom vertrieben.
Vermittelst eben dieser Mathematik ist auch unsere Zahl 666 entstanden. Hinter
ihr birgt sich der Name eines der ersten fünf römischen Kaiser. Außer
der Zahl 666 kannte aber Irenäus, Ende des zweiten Jahrhunderts, eine Variante
616, die jedenfalls entstanden war zu einer Zeit, wo das Rätsel der Zahl
noch vielen bekannt war. Entspricht die zu liefernde Lösung beiden Zahlen
gleichmäßig, so ist die Probe darauf gemacht.
Ferdinand Benary in Berlin hat diese Lösung
geliefert. Der Name ist Nero. ...
In der Tat war zur Zeit Galbas das ganze Römische Reich in plötzliche
Verwirrung geraten. Galba selbst war an der Spitze der spanischen und gallischen
Legionen auf Rom marschiert, um Nero zu stürzen; dieser floh und ließ
sich von einem Freigelassenen töten. Aber gegen Galba konspirierten nicht
nur die Prätorianer in Rom, sondern auch die Oberbefehlshaber in den Provinzen;
überall meldeten sich neue Thronprätendenten und bereiteten sich vor,
mit ihren Legionen auf die Hauptstadt loszurücken. Das Reich schien dem
innern Krieg preisgegeben, sein Zerfall schien bevorstehend. Und zu alledem
verbreitete sich das Gerücht, namentlich im Osten, Nero sei nicht tot,
nur verwundet, sei zu den Parthern entflohen und werde mit Heeresmacht heranziehn
über den Euphrat, eine neue und blutigere Schreckensherrschaft zu eröffnen.
Achaja und Asien besonders wurden durch solche Berichte geängstigt. Und
grade um die Zeit, wo die Offenbarung geschrieben sein muß, tauchte ein
falscher Nero auf, der sich mit ziemlich zahlreichem Anhang nahe bei Patmos
und Kleinasien, auf der Insel Kythnos im Ägäischen Meer (dem
heutigen Thermia), festsetzte, bis er, noch unter Otho, getötet
wurde. Was Wunder, daß sich da unter den Christen, gegen die Nero die
erste große Verfolgung eingeleitet, die Ansicht verbreitete, er komme
wieder als Antichrist und seine Wiederkunft und der mit ihr notwendig verknüpfte
verschärfte Versuch zur blutigen Ausrottung der neuen Sekte sei das Vorzeichen
und Vorspiel der Wiederkunft Christi, des großen siegreichen Kampfes gegen
die Mächte der Hölle, des ,,in der Kürze“ zu errichtenden
Tausendjährigen Reichs, dessen sichre Erwartung die Märtyrer freudig
in den Tod gehn ließ?
Die christliche und christlich beeinflußte Literatur der ersten beiden
Jahrhunderte weist Anzeichen genug auf, daß das Geheimnis der Zahl 666
damals vielen bekannt war. Irenäus allerdings kannte es nicht mehr, er
dagegen wie viele andre bis Ende des dritten Jahrhunderts wissen auch, daß
mit dem Tier der Apokalypse der wiederkehrende Nero gemeint war. Dann geht auch
diese Spur verloren und unsre Schrift verfällt der phantastischen Deutung
rechtgläubiger Zukunftsspäher; ich selbst habe noch als Kind alte
Leute gekannt, die den Untergang der Welt und das jüngste Gericht nach
dem alten Johann Albrecht Bengel auf das Jahr 1836 erwarteten. Die Prophezeiung
ist eingetroffen, und aufs Jahr. Nur daß das jüngste Gericht nicht
die sündige Welt, sondern die frommen Offenbarungsdolmetscher selbst traf.
Denn im selben Jahr 1836 lieferte F. Benary den Schlüssel zur Zahl 666,
und machte damit all der Weissagungsrechnerei, dieser neuen gematriah, ein Ende
mit Schrecken.
Von dem Himmelreich, das den Gläubigen vorbehalten, kann unser Johannes
nur eine sehr äußerliche Beschreibung geben. Das neue Jerusalem ist
allerdings nach damaligen Begriffen ziemlich groß angelegt, ein Quadrat
von 12000 Stadien 2227 Kilometer Seitenlänge, also ein Flächenraum
von etwa fünf Millionen [Quadrat]kilometer, mehr als die Hälfte der
Vereinigten Staaten von Amerika, und gebaut von lauter Gold und Edelstein. Dort
wohnt Gott unter den Seinigen, leuchtet ihnen statt der Sonne, und es gibt keinen
Tod und kein Leid und keine Schmerzen mehr; ein Strom des lebendigen Wassers
durchfließt die Stadt, an dessen Ufern wachsen Bäume des Lebens mit
zwölferlei Früchten, die alle Monate neu reifen; die Blätter
aber ,,dienen zur Gesundheit der Heiden“ (wie Renan meint, als eine Art
Medizinaltee, ,,L‘Antechrist“, p. 542). Hier leben die Heiligen
ewiglich.
Solcher Art war das Christentum beschaffen in Kleinasien, seinem Hauptsitz um
das Jahr 68, soweit wir es kennen. Keine Spur einer Dreieinigkeit — dagegen
der alte einige und unteilbare Jehovah des späteren Judentums, wo er sich
vom jüdischen Nationalgott zum alleinigen höchsten Gott Himmels und
der Erden aufgeschwungen hat, wo er die Herrschaft über alle Völker
beansprucht, den Bekehrten Gnade verspricht, die Widerspenstigen erbarmungslos
niederschmettert, getreu dem antiken parcere subjectis ac. debellare superbos
[Die Unterworfenen schonen und die Übermütigen
besiegen]. Demgemäß sitzt auch dieser Gott selbst zu Gericht
am jüngsten Tag und nicht, wie in den späteren Schilderungen der Evangelien
und Briefe, Christus. Der persischen, dem späteren Judentum geläufigen
Emanationslehre entsprechend ist Christus, das Lamm, von Ewigkeit her von ihm
ausgegangen, ebenso, aber schon auf niedrer Rangstufe, die ,,sieben Geister
Gottes“, die dem Mißverständnis einer poetischen Stelle (Jesaia
11,2) ihr Dasein verdanken. Sie alle sind nicht Gott oder Gott gleich, sondern
ihm untertan. Das Lamm bringt sich selbst zum Sühnopfer dar für die
Sünden der Welt und erfährt dafür im Himmel eine ausdrückliche
Rangerhöhung; denn dieser sein freiwilliger Opfertod wird ihm im ganzen
Buch als eine außerordentliche Tat angerechnet, nicht als etwas, das aus
seinem innersten Wesen mit Notwendigkeit hervorgeht. Es versteht sich, daß
der ganze himmlische Hofstaat von Ältesten, Cherubim, Engeln und Heiligen
nicht fehlt. Der Monotheismus, um eine Religion zu werden, hat von jeher dem
Polytheismus Konzessionen machen müssen, von der Zendavesta an. Bei den
Juden dauert der Abfall zu den heidnischen sinnlichen Göttern chronisch
fort, bis nach dem Exil der himmlische Hofstaat nach persischem Muster die Religion
der Volksphantasie etwas mehr anpaßt. Und selbst das Christentum, auch
nachdem es an die Stelle des ewig sich selbst gleichen, starren Judengottes
den in sich differenzierten, mysteriösen dreieinigen Gott gesetzt, konnte
bei den Volksmassen nur durch den Kultus der Heiligen den Kultus der alten Götter
verdrängen; wie denn nach Fallmerayer der Jupiterdienst auf dem Peloponnes,
in der Maina, in Arkadien erst um das neunte Jahrhundert ausgestorben ist (,,Geschichte
der Halbinsel Morea“, 1, p. 227). Erst die moderne bürgerliche Periode
und ihr Protestantismus beseitigen die Heiligen wie der und machen endlich Ernst
mit dem differenzierten Monotheismus.
Ebensowenig kennt unsre Schrift die Lehre von der Erbsünde und der Rechtfertigung
durch den Glauben. Der Glaube dieser kampfesfreudigen ersten Gemeinden ist ganz
andrer Art als der der spätern siegreichen Kirche: neben dem Sühnopfer
des Lammes sind die nahe Wiederkunft Christi und das in der Kürze anbrechende
Tausendjährige Reich sein wesentlichster Inhalt, und das, worin er sich
allein bewährt, ist tätige Propaganda, unablässiger Kampf gegen
den äußern und innern Feind, stolzfreudiges Bekennen des revolutionären
Standpunkts vor den heidnischen Richtern, siegsgewisser Märtyrertod.
Wir sahen, daß der Verfasser noch gar nicht weiß, daß er etwas
andres ist als ein Jude. Demgemäß ist auch von der Taufe im ganzen
Buch nirgends die Rede, wie denn vieles darauf hindeutet, daß die Taufe
eine Institution der zweiten christlichen Periode ist. Die 144000 gläubigen
Juden werden »versiegelt«, nicht getauft.
Von den Heiligen im Himmel und den Gläubigen auf Erden heißt es,
sie hätten ihre Sünden abgewaschen, ihre weißen Kleider gewaschen
und helle gemacht im Blut des Lammes, vom Taufwasser ist nicht die Rede. Auch
die beiden Propheten, die dem Erscheinen des Antichrist
Kap. 11 vorhergehn, taufen nicht, und nach
19,10 ist das Zeugnis Jesu nicht die Taufe, sondern der
Geist der Weissagung. Bei allen diesen Gelegenheiten war es natürlich,
die Taufe zu erwähnen, falls sie damals schon Geltung hatte; wir dürfen
also fast mit absoluter Sicherheit schließen, daß unser Verfasser
sie nicht kannte, daß sie erst aufkam, als die Christen sich von den Juden
endgültig schieden.
Ebensowenig weiß der Verfasser vom zweiten späteren Sakrament, dem
Abendmahl. Wenn im lutherischen Text Christus jedem im Glauben ausharrenden
Thyatiraner verspricht, er werde bei ihm einkehren und das Abendmahl mit ihm
halten, so gibt dies einen falschen Schein. Im Griechischen steht deipnêsô,
ich werde zu Abend essen (mit ihm), und die englische Bibel gibt dies ganz richtig:
I shall sup with him. Vom Abendmahl selbst als bloßem
Gedächtnismahl ist hier absolut nicht die Rede.
Daß unser Buch mit seinem so eigentümlich beglaubigten Datum 68 oder
69 das älteste der ganzen christlichen Literatur ist, daran kann kein Zweifel
sein. Kein andres ist in einer so barbarischen, von Hebraismen, unmöglichen
Konstruktionen und grammatischen Fehlern wimmelnden Sprache geschrieben. So
heißt es Kap. 1,4 wörtlich:
»Gnade sei mit euch und Friede von der Seiende und
der war und der Kommende«.
Daß die Evangelien und die Apostelgeschichte späte Überarbeitungen
von jetzt verlornen Schriften sind, deren schwacher historischer Kern unter
der sagenhaften Überwucherung heute nicht mehr zu erkennen ist; daß
selbst die paar angeblich ,,echten“ apostolischen Briefe von Bruno Bauer
entweder als spätere Schriften oder im besten Fall als durch Zusätze
und Einschiebungen veränderte Bearbeitungen älterer Werke unbekannter
Verfasser sind, wird nur noch von Theologen von Profession oder andern interessierten
Geschichtschreibern geleugnet. Um so wichtiger ist es, daß wir hier ein
Buch haben, dessen Abfassungszeit fast bis auf den Monat feststeht, ein Buch,
das uns das Christentum in seiner unentwickeltsten Form vorführt, in der
Form, worin es sich zu der in Dogmatik und Mythologie vollständig ausgearbeiteten
Staatsreligion des vierten Jahrhunderts etwa verhält, wie die noch schwankende
Mythologie der Germanen des Tacitus zu der durch
den Einfluß christlicher und antiker Elemente ausgebildeten Götterlehre
der »Edda«.
Der Keim der Weltreligion ist da, aber dieser Keim
schließt noch die tausend Entwicklungsmöglichkeiten unterschiedslos
ein, die in den zahllosen späteren Sekten sich verwirklichten. Und gerade
darum ist uns dies älteste Stück aus dem Werdeprozeß des Christentums
besonders wertvoll, weil es uns in seiner Reinheit dasjenige gibt, was das Judentum
— unter starkem alexandrinischen Einfluß — zum Christentum
beigetragen hat. Alles Spätere ist westliche, griechisch-römische
Zutat. Nur durch die Vermittlung der monotheistischen jüdischen Religion
konnte der gebildete Monotheismus der späteren griechischen Vulgärphilosophie
die religiöse Form überkommen, worin allein er die Massen ergreifen
konnte. Aber einmal diese Vermittlung gefunden, konnte er Weltreligion werden
nur in der griechisch-römischen Welt und durch Fortentwicklung in und Verschmelzung
mit dem durch sie eroberten Gedankenstoff.
Urchristentum
Engels an Karl Kautsky in Stuttgart; London, 28. Juli 1894
1. Ich bezeichne, wenn ich mich anders richtig ausgedrückt, Kleinbauern
und Landsklaven keineswegs als unter den ersten Anhängern des Christentums, sondern zähle sie nur auf unter den Klassen, unter
denen es auf mögliche Anhänger rechnen konnte. Und dazu gehörten
sie ganz gewiss— besonders im 2. und 3. Jahrhundert. Dass das
Christentum, seit seiner ersten Auswanderung aus Judäa nach Nordsyrien
und Kleinasien, resp. Griechenland, Ägypten und Italien, seine Entwicklung
und erste Anhängerschaft in den Städten fand, darüber ist kein Zweifel.
2. Ob das 1000jährige Reich ins Diesseits oder Jenseits gehört? das kommt drauf an, wie man‘s versteht. Ich nenne Jenseits,
was nach dem Tode ist.
Und darüber lässt die Offenbarung absolut keinen
Zweifel. Das 1000jährige Reich ist nur für die Märtyrer, und
allenfalls die dann bei seiner Errichtung grade noch lebenden Christen, und
sofern für diese letzteren diesseitig, während es für
die Märtyrer,
die erst auferstehn, jenseitig ist. Es ist also die alte Geschichte:
you pays your money and you takes your choice [für
dein Geld kannst du wählen, was du willst]. Das Entscheidende ist
für mich, dass es ohne Unsterblichkeitsvorstellung und Glauben an jenseitige Belohnung und Bestrafung nicht möglich ist. Und
noch viel weniger diesseitig ist erst das neue Jerusalem, das nach dem 1000jährigen
Reich und dem Jüngsten Gericht kommen soll.
Aber auch nach den sog. Paulinischen Briefen sollen die noch lebenden Gläubigen
bei der Wiederkunft Christi »verwandelt«,
aus Sterblichen in Unsterbliche umtransmagnifiziert
werden.
Daß dabei dies 1000jährige Reich in irdischen
Farben geschildert wurde, versteht sich. Selbst
die Offenbarung kann sich nicht mit der himmlischen Freude begnügen, wonach
man mit nacketen 4 Buchstaben auf einer feuchten Wolke sitzt und mit mehr oder
weniger blut‘ger Hand die Harfe schlägt und Chorale singt in Ewigkeit. S.144-153
Aus: Karl Marx / Friedrich Engels: Über Religion,
[Engels: Zur Geschichte des Urchristentums]