Ralph Waldo Emerson (1803 – 1882)
Amerikanischer
Philosoph und Dichter; der in der Tradition des liberalen Unitariertums in Neuengland aufwuchs.
Emerson wurde nach seinem Theologiestudium in Harvard zunächst
Geistlicher, legte aber dann sein Amt aus Gewissensgründen nieder.
Nach einer Europareise 1832—33 wurde er zum geistigen Mittelpunkt des Transzendentalismus in Neuengland, den er durch Vorträge, Essays, Tagebücher und Gedichte vertrat. Seine Philosophie stellt weniger ein System als eine geistige Grundhaltung dar. In seinen idealistisch-romantisierenden Schwärmereien ruft er
die Menschen zu mehr eigenständigem Selbstvertrauen und selbstverantwortlichem
Handeln innerhalb ihrer individuellen Selbstverwirklichung auf. Die Bedeutung
seiner Philosophie liegt im wesentlichen im Versuch diese Maximalforderungen in den gesellschaftlich-nationalen Raum zu verwirklichen. Sie wurden damit
zu einer Art geistiger und kultureller Unabhängigkeitserklärung Amerikas. Friedrich Nietzsche war von
Emerson’s enthusiastischen Egotrip so tief beeindruckt, dass
er einige seiner Phrasen (s. »Selbstvertrauen«) nahezu wortgleich in seinen philosophischen Mix übernahm. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Geist
Es ist wesentlich für eine wahre Theorie der Natur oder des Menschen, dass
sie etwas Fortschreitendes hat. Nutzen, die sich erschöpft haben oder erschöpft
werden können, und Tatsachen, die in ihrer Konstatierung enden, können
nicht die ganze Wahrheit sein über diese herrliche Wohnstätte, die
den Menschen beherbergt und in der alle seine Fähigkeiten eine angemessene
und endlose Beschäftigung finden. Und aller Nutzen der Natur lässt
sich in einem zusammenfassen, der den Aktivitäten des Menschen einen unendlichen
Spielraum gewährt. Durch all ihre Reiche bis zu den Rand- und Grenzbezirken
der Dinge ist die Natur dem Ursprung verhaftet, aus dem sie entstand. Sie legt immer Zeugnis ab vom Geist. Sie lässt das Absolute ahnen. Sie ist unablässige Wirkung. Sie ist ein großer Schatten,
der stets auf die Sonne hinter uns verweist.
Das Antlitz der Natur ist andächtig. Wie die Gestalt Jesu steht sie da mit gebeugtem Haupt und auf der Brust gefalteten Händen. Der
glücklichste Mensch ist der, welcher von der Natur die Lektion der Gottesverehrung
lernt.
Wer am meisten darüber nachdenkt, wird am wenigsten aussagen über
jenes unbeschreibbare Wesen, das wir den Geist nennen. Wir können Gott in den gemeinen, gleichsam fernen Phänomenen der Materie erahnen; aber
wenn wir versuchen, ihn selbst zu definieren und zu beschreiben, dann versagen
Sprache und Denken, und wir sind so hilflos wie Narren und Wilde. Jenes Wesen lässt sich nicht in Lehrsätzen fassen, aber wenn der Mensch es
im Geiste verehrt hat, dann ist es die edelste Aufgabe der Natur, zur Erscheinung
Gottes zu werden. Sie ist das Organ, durch welches der
universale Geist zum einzelnen spricht und ihr zu sich zurückzuführen
trachtet.
Wenn wir den Geist betrachten, sehen wir, dass die bisher dargestellten
Ansichten nicht den gesamten Umfang menschlicher Erkenntnis ausschöpfen.
Wir müssen noch einige verwandte Gedanken anfügen.
Drei Probleme stellt die Natur dem menschlichen Geist: Was
ist Materie? Woher kommt sie? Und wozu ist sie? Nur die erste dieser
Fragen wird von der Theorie des Idealismus beantwortet. Der Idealismus sagt:
Materie ist Erscheinung und nicht Substanz. Der Idealismus lehrt uns die totale
Verschiedenheit zwischen der Evidenz [einleuchtende Erkenntnis] von unserem eigenen Sein und der Evidenz vom Sein der Welt. Die erstere ist vollkommen, die letztere kann nie erbracht
werden. Der Geist ist ein Teil der Natur der Dinge, die Welt ist ein göttlicher Traum, aus dem wir jederzeit zur Herrlichkeit und Gewissheit des Tages
erwachen können. Der Idealismus stellt eine Hypothese dar, die die Natur aufgrund anderer Prinzipien als derer des Zimmerhandwerks und der Chemie zu
erklären sucht. Doch wenn er lediglich die unabhängige Existenz der
Materie leugnet, befriedigt er noch nicht die Erklärungsbedürfnisse
des Geistes. Der Idealismus lässt
Gott außer mir. Er lässt mich in dem glänzenden
Labyrinth meiner Vorstellungen zurück, in dem ich endlos umherwandere.
Dem widerspricht das Herz, denn das Leugnen eines selbständigen Seins der
Menschen missachtet unsere tiefsten Gefühle. Die Natur ist so durchdrungen
von menschlichem Leben, dass sich in aller und jeder Besonderheit etwas
Menschliches findet. Diese Theorie aber entfremdet mir
die Natur und erklärt nicht die Blutsverwandtschaft, die wir ihr zugestehen.
Lassen wir sie also beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens als nützliche
Eingangshypothese stehen, die dem Zweck dient, uns den bleibenden Unterschied
zwischen Seele und Welt
vor Augen zu halten.
Wenn wir aber auf den unsichtbaren Spuren des Denkens zu den Fragen kommen:
woher ist die Materie und wozu? dann erheben sich
viele Wahrheiten aus den Tiefen des Bewusstseins zu uns. Wir lernen, dass
das Höchste in der Seele des Menschen gegenwärtig ist; dass die
erhabene universale Wesenheit, die nicht Weisheit oder Liebe oder Schönheit oder Macht ist, sondern alles zugleich und jedes ganz, dasjenige ist, um dessentwillen
und durch welches alles existiert. Wir lernen, dass der Geist schöpferisch
ist, dass hinter der Natur, überall in ihr, der Geist gegenwärtig
ist; einfach und nicht zusammengesetzt, wirkt er nicht von außen auf uns
ein, d. h. nicht in Raum und Zeit, sondern er wirkt auf geistige Weise oder
durch uns selbst: wir lernen also, dass der Geist, d. h. das höchste
Wesen, die Natur nicht um uns herum aufbaut, sondern daß er sie durch
uns hindurch entstehen lässt, so wie das Leben des Baumes neue Zweige und
Blätter durch die Poren der alten treibt. Wie eine Pflanze in der Erde,
so ruht der Mensch an Gottes Brust; er wird aus unversiegbaren Quellen genährt
und schöpft nach Maßgabe seiner Bedürfnisse unerschöpfliche
Kräfte. Wer vermag den Möglichkeiten des Menschen Grenzen zu setzen?
Atme einmal die Luft des Überirdischen, nachdem es dir vergönnt wurde,
die absolute Natur der Gerechtigkeit und der Wahrheit zu schauen, und du wirst
mit uns erfahren, dass der Mensch Zugang zum gesamten Geist seines Schöpfers hat, ja dass er selbst Schöpfer im Endlichen ist. Diese Sichtweise,
die mir in Erinnerung ruft, wo die Quellen der Weisheit
und der Kraft liegen, und die auf die Tugend als
Den goldenen Schlüssel,
Der den Palast der Ewigkeit öffnet.
(Milton)
verweist, trägt das Zeugnis höchster Wahrheit auf ihren
Zügen, denn sie regt mich an, meine eigene Welt durch die Läuterung
meiner Seele zu erschaffen.
Die Welt geht aus demselben Geist hervor wie der Körper
des Menschen. Sie ist eine entferntere und niedrigere Inkarnation Gottes, eine
Projektion Gottes in den Bereich des Nicht-Bewussten. Aber sie unterscheidet
sich vom Körper in einer wichtigen Hinsicht. Sie ist nicht wie dieser jetzt
dem menschlichen Willen unterworfen. Ihre klare Ordnung ist für uns unantastbar.
Sie ist deshalb für uns der stets gegenwärtige Kommentator des göttlichen
Geistes. Sie ist ein Fixpunkt, an dem wir unsere Abweichung messen können.
Je mehr wir entarten, desto augenfälliger wird der Kontrast zwischen uns
und unserer Wohnstätte. Wir sind im gleichen Maße Fremde in der Natur,
wie wir Gott entfremdet sind. Wir verstehen den Gesang der Vögel nicht.
Fuchs und Reh fliehen uns, Bär und Tiger zerreißen uns. Wir kennen
nur den Gebrauch einiger weniger Pflanzen wie Korn und Apfel, Kartoffel und
Weinrebe. Ist nicht die Landschaft — jeder Schimmer von ihr hat Größe
— sein Antlitz? Doch gerade dies vermag uns zu zeigen, welcher Missklang
zwischen Mensch und Natur herrschen kann; denn man kann eine erhabene Landschaft
nicht frei bewundern, wenn Arbeiter ein nahes Feld umgraben. Der Dichter findet
etwas Lächerliches in seinem Entzücken, bis er außer Sicht der
Menschen ist. S130-133 [...]
Der
Mensch ist ein Gott in Trümmern.
»Die Fundamente des Menschen ruhen nicht im Materiellen, sondern im Geiste.
Das Element des Geistes aber ist die Ewigkeit. Für ihn sind also die längsten
Ketten von Ereignissen, die ältesten Zeitfolgen jung und wie von heute.
Im Zyklus des universellen Menschseins, aus dem die bekannten Einzelmenschen
hervorgehen, sind Jahrhunderte bloß Punkte und die ganze Geschichte nur
die Epoche einer einzigen Entartung.
Wir mißtrauen und verleugnen innerlich unsere Sympathie mit der Natur.
Bald erkennen wir unsere Verwandtschaft mit ihr an, bald leugnen wir sie. Wir
sind wie Nebukadnezar, entthront, der Vernunft beraubt, und fressen Gras wie
ein Ochse. Aber wer kann der Heilkraft des Geistes Grenzen setzen?
Der Mensch ist ein Gott in Trümmern. Wenn die Menschen unschuldig
sind, wird das Leben länger währen und so sanft in die Unsterblichkeit
übergehen, wie wir aus unseren Träumen erwachen. Würde die jetzige
Zerrüttung Hunderte von Jahren fortdauern, die Welt würde wahnsinnig
und rasend, Tod und Kindheit halten sie im Schach. Die Kindheit ist der immerwährende
Messias, der in die Arme der gefallenen Menschen kommt und sie anfleht, in das
Paradies zurückzukehren.
Der Mensch ist der Zwerg seiner selbst. Einst war
er vom Geist durchdrungen und durchsetzt. Er füllte die Natur mit seinen
überfließenden Strömen. Aus ihm entsprangen Sonne und Mond;
aus dem Manne die Sonne, aus der Frau der Mond. Die Gesetze seines Geistes,
die Perioden seines Handelns fanden ihre äußere Gestalt in Tag und
Nacht, in Jahr und Jahreszeiten. Doch nachdem er sich diese gewaltige Schale
geschaffen hatte, versiegten seine Wasser, füllte er nicht länger
die Adern und Äderchen der Welt; er ist zu einem Tropfen geschrumpft. Er
sieht zwar, daß das Gebäude ihm noch paßt, aber doch nur ins
Kolossale verzerrt. Sagen wir lieber, es paßte ihm einst, aber jetzt entspricht
es ihm nur noch entfernt, gleichsam von hoch oben. Der Mensch bewundert dann
zaghaft sein eigenes Werk. Jetzt ist der Mann Anhänger der Sonne und die
Frau Anhängerin des Mondes. Doch manchmal fährt er aus seinem Schlummer
hoch und ist verwundert über sich selbst und sein Haus und grübelt
befremdet über die Ähnlichkeit zwischen den beiden nach. Er sieht,
daß, wenn auch sein Gesetz noch vorherrschend ist, wenn er auch noch elementare
Kraft hat, wenn auch sein Wort noch bare Münze ist in der Natur, dies keine
bewußte Kraft ist und seinem Willen nicht unterlegen, sondern überlegen.
Das ist Instinkt. « Also sang mein orphischer Dichter.
Gegenwärtig widmet sich der Mensch der Natur nur mit halber Kraft. Nur
mit seinem Verstand wirkt er in die Welt hinein. Er lebt in ihr und meistert
sie mit Pfennig-Weisheiten; und gerade derjenige, der am meisten in ihr wirkt,
ist nur ein halber Mensch, denn während seine Arme stark sind und seine
Verdauung gut ist, verwildert sein Geist, und er wird zum selbstsüchtigen
Primitiven. Seine Beziehung zur Natur, seine Macht über sie, ist vermittelt
durch den Verstand, so wie man ein Düngemittel einsetzt; sie beschränkt
sich auf den ökonomischen Gebrauch des Feuers, des Windes, des Wassers
und der Kompaßnadel des Seemanns; auf Dampf, Kohle, chemische Ackerwirtschaft
und Heilverfahren für den menschlichen Körper durch Zahnarzt und Chirurg.
Dies ist eine Art der Wiederinbesitznahme der Macht, als ob ein verbannter König
seine Territorien Zoll um Zoll zurückkaufen würde, anstatt sich direkt
auf seinen Thron zu schwingen. Unterdessen fehlt es in der undurchdringlichen
Dunkelheit nicht an vereinzelten Strahlen eines besseren Lichts gelegentliche
Beispiele von der Einwirkung des Menschen auf die Natur mit seiner ganzen Kraft,
mit Vernunft wie auch Verstand. Solche Beispiele sind etwa die Traditionen der
Wunder in der frühen Geschichte aller Nationen; die Geschichte Jesu; der
Triumph eines Prinzips wie in religiösen und politischen Revolutionen und
der Abschaffung des Sklavenhandels; die Wunder an Enthusiasmus,
wie sie von Swedenborg, Hohenlohe und den Shakers berichtet werden; viele verborgene
und noch bestrittene Tatsachen, die heute unter dem Namen Mesmerismus zusammengefaßt
werden; Gebet, Beredsamkeit, Selbstheilung und die Weisheit der Kinder. Dies
sind Beispiele dafür, wie die Vernunft für Augenblicke das Zepter
ergreift, Beispiele vom Wirken einer Macht, die nicht in Zeit oder Raum existiert,
sondern ein plötzliches Hereinströmen darstellt, das Macht bewirkt.
Der Unterschied zwischen der wirklichen und der ideellen Kraft des Menschen
ist von den Schulphilosophen zutreffend dargestellt worden, als sie sagten,
daß das Wissen des Menschen ein Abendwissen
sei, vespertina cognitio,
das Wissen Gottes aber ein Morgenwissen,
matutina cognitio. S.137-139
[...]
Selbstvertrauen
... der Mann ist durch seine Bewußtheit sozusagen in ein Gefängnis
gesperrt. Sobald er einmal durch sein Handeln oder Reden Aufsehen erregt hat,
hat er sich festgelegt und wird vom Mitgefühl oder Haß von Hunderten
überwacht, deren Gefühle er von nun an in seine Berechnungen aufnehmen
muß. Für dergleichen gibt es keinen Fluß des Vergessens. Ach,
wenn er sich doch wieder in seine Neutralität zurückziehen könnte!
Wer so allen Verpflichtungen ausweichen kann und, nachdem er einmal beobachtet
hat, mit der gleichen ungekünstelten, unbefangenen, unbestechlichen und
unerschrockenen Unschuld noch einmal beobachten kann, der wird immer furchterregend
sein müssen. Er würde Meinungen zu allen wechselnden Ereignissen äußern,
die, weil als nicht privat, sondern als notwendig erkannt, wie Pfeile in die
Ohren der Menschen dringen und sie in Furcht versetzen würden.
Dies sind die Stimmen, die wir in der Einsamkeit hören, aber sie werden
schwach und unhörbar, wenn wir in die Welt treten. Die Gesellschaft hat
sich überall gegen das Menschsein jedes einzelnen ihrer Mitglieder verschworen.
Die Gesellschaft ist eine Aktiengesellschaft, deren Mitglieder übereingekommen
sind, auf die Freiheit und Kultiviertheit des Essenden zu verzichten, um jedem
Aktionär sein Brot besser sichern zu können. Die Tugend, die am meisten
gefragt ist, ist die Konformität. Selbstvertrauen ist ihr ein Greuel. Sie
liebt nicht Realitäten und Schöpfer, sondern Namen und Konventionen.
Wer ein Mensch sein möchte, muß Nonkonformist sein. Wer unsterblichen
Lorbeer erringen möchte, darf sich nicht im Namen des Guten aufhalten lassen,
sondern muß herausfinden, ob es tatsächlich das Gute ist. Es ist
letztlich nichts heilig außer der Integrität deines eigenen Geistes.
Sprich dich vor dir selbst frei, und du wirst die Zustimmung der Welt finden.
Ich erinnere mich an eine Antwort, die ich in jungen Jahren einem geschätzten
Ratgeber, der mich mit den lebens- und ehrwürdigen Doktrinen der Kirche
zu belästigen pflegte, zu geben veranlaßt war. Als ich sagte: »Was
kümmern mich geheiligte Traditionen, wenn ich ganz von innen heraus lebe?«
meinte mein Freund — »Aber solche Impulse können von unten
kommen und nicht von oben.« Ich erwiderte: »Sie
kommen mir nicht wie solche vor; aber wenn ich denn ein Kind des Teufels bin,
dann will ich aus dem Teufel leben.« Kein Gesetz kann mir heilig sein
außer dem meiner Natur. Gut und schlecht sind bloße Bezeichnungen,
die sich sehr leicht auf dieses oder jenes übertragen lassen; richtig ist
allein das, was meiner Natur entspricht, falsch allein das, was gegen sie ist.
Im Angesicht jeglichen Widerstands muß ein Mensch sich so verhalten, als
sei alles bloßer Schein und schnell vergänglich, nur er selbst nicht.
Es beschämt mich, daran zu denken, wie leicht wir vor Dienstgraden und
Namen, großen Vereinigungen und toten Institutionen kapitulieren. Jedes
anständige und beredte Individuum bewegt und beeinflußt mich mehr
als recht ist. Ich sollte aufrecht und stark einhergehen und überall die
ungeschminkte Wahrheit sagen. Kann man es durchgehen lassen,
daß Bosheit und Eitelkeit den Deckmantel der Menschenliebe tragen? Wenn
ein erzürnter religiöser Eiferer sich der löblichen Abschaffung
der Sklaverei annimmt und mit seinen letzten Neuigkeiten aus Barbados zu mir
kommt, warum sollte ich nicht zu ihm sagen: »Geh und liebe dein Kind,
liebe deinen Holzhacker; sei gutmütig und bescheiden; begnüge dich
mit solchem Anstand und beschönige niemals deinen harten und unbarmherzigen
Ehrgeiz mit diesem unglaubwürdigen Zartgefühl für schwarze Menschen,
die tausend Meilen entfernt sind. Deine Liebe nach draußen ist Bosheit
zu Hause.« Rauh und ungehobelt wäre eine solche Begrüßung,
aber Wahrheit ist schöner als geheuchelte Liebe. Das Gute in dir muß
ein paar scharfe Kanten haben — sonst ist es keines.
Die Doktrin des Hasses muß als Gegengewicht zur Doktrin der Liebe gepredigt
werden, sobald diese winselt und wimmert. Ich meide Vater
und Mutter, Weib und Bruder, wenn mein Genius mich ruft. Ich möchte Laune
auf den Türpfosten schreiben. Ich hoffe, daß es letztlich etwas
Besseres als eine Laune ist, aber wir können nicht den ganzen Tag mit Erklärungen
zubringen. Erwarte nicht von mir, daß ich die Gründe aufzeige, warum
ich Gesellschaft suche oder meide. Und erinnere mich auch nicht, wie
es ein wohlmeinender Mann heute tat, an meine Verpflichtung, die Verhältnisse
aller Armen zu verbessern. Sind sie meine Armen? Ich sage dir, du törichter
Menschenfreund, daß ich mich nur ungern von dem Dollar, dem Zehncentstück,
dem Cent trenne, den ich Menschen gebe, die nicht zu mir gehören und denen
ich nicht gehöre. Es gibt eine Klasse von Menschen, denen ich durch jegliche
geistige Affinität auf Gedeih und Verderb angehöre; für diese
würde ich, sollte dies notwendig sein, ins Gefängnis gehen; aber jene
vielfältigen Stiftungen für das Volk; die Erziehung von Narren auf
dem College; die Errichtung von Versammlungshäusern für die nichtigen
Zwecke, denen bereits so viele dienen; Almosen an Trunkenbolde und die tausendfachen
Wohltätigkeitsvereine — obwohl ich zu meiner Schande gestehe, daß
ich manchmal schwach werde und einen Dollar spende, so ist er doch ein schlechter
Dollar, den zu verweigern ich nach und nach Manns genug sein werde.
Tugenden sind nach der allgemeinen Auffassung eher die Ausnahme als die Regel.
Es gibt den Menschen und seine Tugenden. Menschen vollbringen eine
sogenannte gute Tat, wie z. B. einen Akt des Mutes oder der Barmherzigkeit,
mit der gleichen Einstellung, mit der sie eine Geldstrafe als Buße für
ihr tägliches Nichterscheinen beim Appell bezahlen würden. Ihre Werke
verrichten sie wie eine Entschuldigung oder Beschönigung für ihr Dasein
in der Welt — so wie Invalide oder Geisteskranke ein hohes Kostgeld bezahlen.
Ihre Tugenden sind Bußen. Ich möchte nicht sühnen, sondern leben.
Mein Leben steht für sich selbst; es ist kein Schaustück. Es ist mir
viel lieber, daß es von niederer Art, dafür aber echt und gleichförmig
ist, als daß es glitzernd und unbeständig wäre. Ich möchte,
daß es gesund und süß ist und nicht der Diät oder des
Aderlasses bedarf. Ich verlange den grundlegenden Nachweis dafür, daß
du ein Mensch bist, und lehne einen Verweis vom Menschen auf seine Handlungen
ab. Ich weiß, daß es für mich gleichgültig ist, ob ich
jene Handlungen, die als ausgezeichnet empfunden werden, vollbringe oder sie
unterlasse. Ich kann mich nicht bereit finden, für ein Privileg zu bezahlen,
wo ich ein angestammtes Anrecht habe. So gering und unbedeutend meine Gaben
auch sein mögen, so existiere ich doch tatsächlich und bedarf für
meine Selbstbestätigung oder die meiner Mitmenschen keines weiteren Zeugnisses.
Was ich tun muß, ist alles, was für mich wichtig ist, nicht, was
die Leute denken. Diese Regel, im alltäglichen wie im geistigen Leben gleich
schwer zu befolgen, kann als unterscheidendes Merkmal für Größe
und Erbärmlichkeit dienen. Sie ist um so beschwerlicher, als du immer Leute
finden wirst, die deine Pflicht besser zu kennen glauben, als du selbst sie
kennst. In der Welt läßt es sich leicht nach den Vorstellungen der
Welt leben; es ist leicht, in der Einsamkeit nach unseren
eigenen zu leben; aber der große Mensch ist der, der sich inmitten der
Menge mit vollkommener Liebenswürdigkeit die Unabhängigkeit der Einsamkeit
erhält.
Der Einwand gegen die Anpassung an Gebräuche, die tot für dich sind,
besteht darin, daß Anpassung deine Kraft verschwendet. Sie ist Zeitvergeudung
und verwischt das Gepräge deines Charakters. Wenn du eine abgestorbene
Kirche unterhältst, für eine tote Bibelgesellschaft spendest, mit
der großen Menge für oder gegen die Regierung stimmst, den Tisch
deckst wie niedere Hauswirte — dann kann ich hinter all diesen Trennwänden
nur mit Mühe den Menschen, der du wirklich bist, erkennen: und ebensoviel
Kraft wird natürlich deinem eigentlichen Leben entzogen. Aber geh deiner
Arbeit nach, und ich weiß, wer du bist. Geh deiner Arbeit nach, und du
wirst gestärkt daraus hervorgehen. Der Mensch muß bedenken, was für
ein Blinde-Kuh-Spiel dieses Konformitätsverhalten ist.
Wenn ich deine Sekte kenne, kenne ich deine Argumente im voraus. Ich höre,
wie ein Prediger als seinen Text und Gegenstand die Nützlichkeit einer
der Einrichtungen seiner Kirche ankündigt. Weiß ich nicht von vornherein,
daß er unmöglich ein neues oder spontanes Wort sagen kann? Weiß
ich nicht, daß er trotz aller Beteuerungen, die Grundlagen jener Institution
zu überprüfen, nichts dergleichen tun wird? Weiß ich nicht,
daß er sich selbst verpflichtet ist, die Sache nur von einer Seite her,
der erlaubten, zu betrachten, und zudem nicht als Mensch, sondern als Pfarrgeistlicher?
Er ist ein bezahlter Anwalt, und jenes Gebaren des Richterstuhls ist die reinste
Heuchelei.
Nun, die meisten Menschen haben ihre Augen mit irgendeinem Tuch verbunden und
sich einer jener Meinungsgemeinden angeschlossen. Dieses Konformitätsverhalten
verfälscht sie nicht nur in einigen Einzelheiten, macht sie nicht nur zu
Urhebern von einigen wenigen Lügen, sondern verfälscht sie in allen
Einzelheiten. Jede ihrer Wahrheiten ist nicht ganz wahr. Ihre Zwei ist nicht
die wahre Zwei, ihre Vier nicht die wahre Vier, so daß jedes ihrer Worte
uns ärgert und wir nicht wissen, wo wir anfangen sollen, sie zurechtzurücken.
Unterdessen zögert die Natur nicht, uns mit der Gefängnisuniform der
Partei, der wir anhängen, auszustatten. Unsere Gesichter und unser Aussehen
nehmen schließlich einen identischen Zuschnitt an, und wir eignen uns
nach und nach einen höchst sanften eselhaften Ausdruck an. Eine bestimmte
Erfahrung, die sich unweigerlich auch in der allgemeinen Geschichte austobt,
ist besonders demütigend: ich meine »das dümmliche Gesicht der
Lobhudelei«, das gezwungene Lächeln, das wir in einer Gesellschaft,
in der wir uns nicht wohlfühlen, als Antwort auf eine Unterhaltung, die
uns nicht interessiert, aufsetzen. Die Muskeln, die sich nicht spontan bewegen,
sondern mit einer niederen, aufgezwungenen Vorsätzlichkeit bewegt werden,
verkrampfen sich in unserem Gesicht mit einem äußerst unangenehmen
Gefühl.
Für Nonkonformismus straft die Welt dich mit ihrem Mißfallen. Und
daher muß der Mensch lernen, eine saure Miene einzuschätzen. Auf
der Straße oder in der Wohnstube eines Freundes sehen ihn die Umstehenden
schief an. Hätte diese Abneigung so wie die seine ihren Ursprung in Verachtung
und Widerstand, dann müßte er wohl mit einem traurigen Gesicht nach
Hause gehen; aber die sauren Mienen der Masse haben, wie die süßen,
keinen tiefen Grund, sondern werden auf- und abgesetzt je nachdem, wie der Wind
weht und eine Zeitung es vorschreibt. Dennoch ist die Unzufriedenheit der Masse
schlimmer als die des Senats oder der Universität. Es ist für einen
entschlossenen Mann, der die Welt kennt, nicht schwer, den Zorn der gebildeten
Klasse zu ertragen. Deren Zorn ist angemessen und besonnen, denn sie sind furchtsam,
da sie selbst sehr verletzbar sind. Wenn aber zu ihrem weibischen Zorn die Entrüstung
des Volkes kommt, wenn die Unwissenden und die Armen aufgerüttelt werden,
wenn die dumme brutale Gewalt, die auf dem Grund der Gesellschaft liegt, zum
Knurren und Grimassieren gebracht wird, dann bedarf es der Haltung von Großmut
und Religion, um sie wie ein Gott als eine Kleinigkeit ohne jede Bedeutung abzutun.
Die andere Furcht, die uns vom Selbstvertrauen abhält, ist unsere Beständigkeit;
eine Ehrfurcht vor unseren früheren Taten oder Worten, weil die Augen der
anderen keine anderen Daten zur Berechnung unserer Umlaufbahn haben als unsere
vergangenen Taten und wir sie nur ungern enttäuschen.
Aber warum solltest du immer ganz regelmäßig sein? Warum
diesen Leichnam deiner Erinnerungen mit dir herumschleppen, nur damit du nicht
einer Äußerung, die du hier oder dort in der Öffentlichkeit
getan hast, widersprichst? Angenommen, du widersprichst dir — was
dann? Es scheint eine Weisheitsregel zu sein, sich niemals nur auf sein Gedächtnis
zu verlassen, nicht einmal in reinen Gedächtnishandlungen, sondern vielmehr
die Vergangenheit vor das Urteil der tausendäugigen Gegenwart zu bringen
und immer einen neuen Tag zu leben. In deiner Metaphysik hast du der Gottheit
Personenhaftigkeit abgesprochen, aber wenn die frommen Seelenregungen kommen,
überantworte ihnen Herz und Leben, auch wenn sie Gott in Form und Farbe
kleiden. Laß ab von deiner Theorie, so wie Joseph sein Gewand in der Hand
der Hure ließ, und fliehe.
Eine törichte Beständigkeit ist der Popanz kleiner Geister, der von
kleinen Politikern, Philosophen und Theologen angebetet wird. Eine große
Seele hat mit Beständigkeit einfach nichts zu tun. Sie könnte sich
ebensogut mit ihrem Schatten auf der Wand beschäftigen. Sage das, was du
jetzt denkst, in harten Worten, und morgen sage das, was das Morgen denkt, wiederum
in harten Worten, auch wenn es allem widerspricht, was du heute gesagt hast.
— »So wird man dich gewiß mißverstehen.« —
Ist es denn so schlimm, mißverstanden zu werden? Pythagoras
wurde mißverstanden, und Sokrates und Jesus und Luther und Kopernikus
und Galilei und Newton und jeder lautere und weise Geist, der je Mensch wurde.
Groß sein heißt mißverstanden werden. S.148-154
[...]
Die Beziehungen der Seele zum göttlichen Geist sind so rein,
daß es profan ist, zusätzliche Hilfen dazwischenschalten zu wollen.
Es muß so sein, daß Gott, wenn er spricht, nicht ein Ding, sondern
alle Dinge offenbart; daß er die Welt mit seiner Stimme füllt; daß
er aus dem Zentrum des gegenwärtigen Gedankens Licht, Natur, Zeit und Seelen
ausstreut; daß er das Ganze neu ansetzt und neu erschafft. Wann immer
ein Geist schlicht ist und seine göttliche Weisheit empfängt, schwinden
alte Dinge — Hilfsmittel, Lehrer, Texte und Tempel fallen; er lebt jetzt
und faßt Vergangenheit und Zukunft in der gegenwärtigen Stunde zusammen.
Alles wird durch seine Beziehung zu ihm geheiligt — eines so gut wie das
andere. Alle Dinge werden durch ihre Ursache zu ihrem Zentrum hin aufgelöst,
und in dem umfassenden Wunder verschwinden unbedeutende besondere Wunder. Wenn
daher ein Mensch behauptet, Gott zu kennen und von ihm zu sprechen, und dich
dabei zu der Ausdrucksweise eines alten vermoderten Volkes in einem anderen
Land und einer anderen Welt zurückführt, dann glaube ihm nicht.
Ist die Eichel besser als die Eiche, die ihre Vervollständigung und Vollendung
ist? Sind die Eltern besser als das Kind, in das sie ihr ausgereiftes Wesen
gelegt haben? Woher also rührt diese Anbetung der Vergangenheit? Die Jahrhunderte
sind Verschwörer gegen die Unversehrtheit und Hoheit der Seele. Zeit und
Raum sind nur physiologische Farben, die das Auge zeichnet, die Seele aber ist
Licht: wo sie ist, ist Tag; wo sie war, ist Nacht; und Geschichte ist eine Unverschämtheit
und Beleidigung, wenn sie mehr sein will als eine fröhlich belehrende Fabel
oder Parabel meines Seins und Werdens.
Der Mensch ist furchtsam und voller Entschuldigungen; er ist nicht länger
aufrecht; er wagt nicht zu sagen »Ich denke«, »Ich bin«,
sondern zitiert irgendeinen Heiligen oder Weisen. Er wird vom Grashalm oder
der blühenden Rose beschämt. Jene Rosen unter meinem Fenster verweisen
nicht auf frühere oder bessere Rosen; was sie sind, sind sie um ihrer selbst
willen; sie existieren mit Gott im Heute. Es gibt keine Zeit für sie. Die
Rose ist einfach da; sie ist vollkommen so jedem Augenblick ihrer Existenz.
Bevor eine Knospe aufbricht, ist ihre ganze Lebenskraft in Aktion; in der aufgeblühten
Blume ist nicht mehr, in der blattlosen Wurzel nicht weniger Leben. Ihre Natur
ist erfüllt, und ebenso erfüllt sie immer die Natur. Aber der Mensch
schiebt auf oder erinnert sich; er lebt nicht in der Gegenwart, sondern beklagt
mit rückwärts gewandtem Auge die Vergangenheit, oder er stellt sich
auf die Zehenspitzen, um die Zukunft vorherzusehen, ohne die Reichtümer
zu beachten, die ihn umgeben. Er kann nicht glücklich und stark sein, ehe
nicht auch er mit der Natur in der Gegenwart und über der Zeit lebt.
Das sollte offenkundig genug sein. Und doch — wie viele überlegene
Geister wagen nur dann Gott selbst zu hören, wenn er in der Ausdrucksweise
irgendeines David oder Jeremias oder Paulus spricht. Wir werden nicht immer
einige wenige Texte, einige wenige Leben so hoch einschätzen. Wir sind
wie Kinder, die auswendig die Sprüche von Großmüttern und Lehrern
wiederholen und, wenn sie älter werden, die Sprüche von talentierten
und charakterstarken Menschen, denen sie zufällig begegnen, wobei sie sich
mühsam an ihre genauen Worte erinnern; später, wenn sie sich den Standpunkt
derjenigen angeeignet haben, die jene Äußerungen gemacht haben, verstehen
sie sie und sind bereit, den genauen Wortlaut geringer zu achten, denn wenn
es darauf ankommt, können sie selbst jederzeit ebensogute Wörter verwenden.
Wenn wir wahrhaftig leben, werden wir wahrhaftig sehen. Für einen starken
Mann ist es ebenso leicht, stark zu sein, wie für den schwachen Mann schwach.
Wenn wir neue Wahrnehmungen machen, dann werden wir mit Freude das Gedächtnis
von seinen angehäuften Schätzen wie von altem Schutt befreien. Wenn
ein Mensch mit Gott lebt, dann wird seine Stimme so angenehm sein wie das Plätschern
des Baches und das Rauschen des Korns.
Und nun bleibt letztlich die höchste Wahrheit dieses Gegenstandes ungesagt;
sie kann vielleicht gar nicht ausgesprochen werden, denn alles, was wir sagen,
ist ein entferntes Erinnern an die Intuition. Der Gedanke, mit dem ich sie am
weitesten angenähert ausdrücken kann, ist der folgende. Wenn das Gute
dir nahe ist, wenn du Leben in dir hast, so geschieht dies nicht auf bekannten
oder vertrauten Wegen; du wirst nicht die Spuren anderer bemerken; du wirst
kein menschliches Gesicht erblicken, du wirst keinen Namen hören; —
der Weg, der Gedanke und das Gute werden vollkommen fremd und neu sein. Du nimmst
den Weg vom Menschen weg, nicht zum Menschen hin. Alle Menschen, die jemals
existiert haben, sind vergessene Werkzeuge des Guten. Furcht und Hoffnung liegen
gleichermaßen hinter ihm. Selbst in der Hoffnung liegt etwas Niedriges.
In der Stunde der Erleuchtung gibt es nichts, das Dankbarkeit oder eigentlich
Freude genannt werden könnte. Die Seele ist über die Leidenschaft
erhaben und betrachtet Identität und ewige Ursächlichkeit, erblickt
die selbständige Existenz des Wahren und Richtigen und findet Ruhe in dem
Wissen, daß alle Dinge ihre Ordnung haben. Weite
Räume der Natur wie der Atlantik oder die Südsee, lange Zeitspannen,
Jahre oder Jahrhunderte, sind ohne Bedeutung. Was ich denke und empfinde, bildete
die Grundlage aller früheren Lebensumstände, ebenso wie es die Grundlage
meiner gegenwärtigen Lebensumstände ist und dessen, was Leben und
was Tod genannt wird.
Das Leben allein ist zu etwas nütze, nicht das Gelebthaben. Kraft vergeht
im Augenblick der Ruhe; sie wirkt im Augenblick des Überganges von einem
vergangenen zu einem neuen Zustand, im Überqueren eines Abgrundes, im Hinstreben
auf ein Ziel. Die Welt haßt diese eine Tatsache, daß nämlich
die Seele wird, denn das setzt für immer die Vergangenheit herab,
verkehrt allen Reichtum in Armut, alles Ansehen in Schande, vertauscht den Heiligen
mit dem Schurken und schiebt Jesus und Judas gleichermaßen beiseite. Warum
also schwatzen wir von Selbstvertrauen? Insofern die Seele gegenwärtig
ist, wird es eine Kraft geben, die wirkt und nicht nur von sich überzeugt
ist. Von Vertrauen zu sprechen ist eine arme und äußerliche Redeweise.
Sprich lieber von dem, was vertraut, denn das wirkt und ist. Wer
mehr Gehorsam hat als ich, beherrscht mich, auch wenn er keinen Finger krümmt.
Ich muß um ihn kreisen nach dem Schwerkraftgesetz der Geister.
Wir halten es für Rhetorik, wenn wir von erhabener Tugend sprechen. Wir
erkennen noch nicht, daß Tugend Höhe bedeutet und daß ein Mensch
oder eine Gruppe von Menschen, die formbar und Prinzipien aufgeschlossen sind,
nach dem Gesetz der Natur alle Städte, Nationen, Könige, Reiche und
Poeten, die dies nicht sind, überwältigen und beherrschen müssen.
Dies ist nun die letzte Tatsache, die wir bei diesem Gegenstand ebenso schnell
wie bei jedem anderen erreichen: die Auflösung aller Dinge in dem ewig
gepriesenen EINEN. Selbständige Existenz ist eine Eigenschaft des Letzten
Grundes und sie bildet, entsprechend dem Ausmaß, mit dem sie alle niederen
Formen durchdringt, den Maßstab des Guten. Alle Dinge sind wirklich in
dem Maß, wie sie Tugend enthalten. Handel, Ackerbau, Jagd, Walfang, Krieg,
Beredsamkeit und persönlicher Einfluß sind etwas und beanspruchen
meine Aufmerksamkeit als Beispiele ihrer Anwesenheit und ihres unvollkommenen
Handelns. Ich sehe das gleiche Gesetz in der Natur für Wachstum und Erhaltung
wirken. In der Natur ist Macht der eigentliche Maßstab für das Recht.
Die Natur duldet nichts in ihrem Reiche, das sich nicht selbst helfen kann.
Die Entstehung und Vollendung eines Planeten, sein Gleichgewicht und seine Umlaufbahn,
der gekrümmte Baum, der sich nach einem Sturm wieder aufrichtet, die Lebensenergien
jedes Tieres und jeder Pflanze sind Beweise der selbstgenügsamen und daher
sich selbst vertrauenden Seele.
So sammelt sich alles: wir wollen nicht umherschweifen,
sondern mit dem Urgrund zu Hause bleiben. Wir wollen den lärmenden Ansturm
von Menschen und Büchern und Institutionen durch eine einfache Erklärung
der göttlichen Wahrheit verblüffen und befremden. Gebiete den
Eindringlingen, die Schuhe von den Füßen zu ziehen, denn hier drinnen
ist Gott gegenwärtig. Laß unsere Einfachheit sie richten und unsere
Fügsamkeit gegenüber unserem eigenen Gesetz die Armseligkeit von Natur
und Reichtum gegenüber unseren eingeborenen Schätzen beweisen.
Doch heute sind wir ein Pöbelhaufen. Der Mensch hat keine Ehrfurcht vor
dem Menschen, noch fühlt sich sein Genius gehalten, zu Hause zu bleiben
und mit dem inneren Ozean Kontakt aufzunehmen, sondern er schweift in die Ferne,
um einen Becher Wasser aus den Krügen anderer Menschen zu erbetteln.
Wir müssen alleine gehen. Die Stille der Kirche vor dem Gottesdienst sagt
mir mehr zu als jedes Predigen. Wie weit entfernt, wie kühl und keusch
sehen die Menschen aus, jeder wie von einer Schutzmauer oder einer geheiligten
Stätte umgeben. So wollen wir immer sitzen. Warum sollen wir die Fehler
unserer Freunde, Frauen, Väter oder Kinder annehmen, nur weil sie um unseren
Herd sitzen oder angeblich das gleiche Blut haben? Alle Menschen haben mein
Blut und ich habe das aller Menschen. Aber deshalb kann ich doch ihre Ungeduld
und Torheit nicht annehmen, selbst wenn ich mich dafür schämen muß.
Aber deine Isolation darf nicht mechanisch sein, sondern muß geistig,
d. h. eine innere Erhebung sein. Zeitweise scheint sich die ganze Welt verschworen
zu haben, dich mit ausgesprochenen Unerheblichkeiten zu belästigen. Freund,
Geschäftspartner, Kind, Krankheit, Angst, Not und Mildtätigkeit klopfen
gleichzeitig an deine Zimmertür und rufen:
» Komm heraus zu uns«. Aber bleibe, wo du bist; geh nicht
unter ihre Verwirrung. Menschen haben die Macht, mich zu belästigen, weil
ich sie ihnen durch eine schwächliche Neugierde gebe. Kein Mensch kann
sich mir nähern, es sei denn durch mein eigenes Verhalten. »Was
wir lieben, das haben wir, aber durch Verlangen berauben wir uns der Liebe.«
Wenn wir uns nicht sofort zu den Heiligkeiten von Gehorsam und Glauben erheben
können, so wollen wir wenigstens unseren Versuchungen widerstehen; wir
wollen den Krieg beginnen und Thor und Wotan, Mut und Standhaftigkeit in unseren
Sachsenherzen wecken. In unseren sanften Zeiten hat dies dadurch zu geschehen,
daß die Wahrheit gesagt wird. Zügele jene verlogene Gastfreundlichkeit
und verlogene Zuneigung. Lebe nicht länger nach den Erwartungen jener betrogenen
und betrügerischen Menschen, mit denen wir umgehen. Sage ihnen: »O
Vater, o Mutter, o Frau, o Bruder, o Freund, mein bisheriges Leben mit euch
war ein Scheinleben. Von nun an gehöre ich der Wahrheit. Ihr sollt wissen,
daß ich von nun an keinem geringeren als dem ewigen
Gesetz gehorchen werde.
Ich will keine Bündnisse mehr, sondern natürliche Beziehungen. Ich
werde mich bemühen, meine Eltern zu ernähren, meine Familie zu erhalten
und der keusche Ehemann einer einzigen Frau zu sein — aber ich muß
diese Beziehungen in neuer und beispielloser Weise erfüllen. Ich darf mich
nicht länger auf eure Gewohnheiten berufen. Ich muß ich selbst sein.
Ich kann mich nicht länger für diesen oder jenen zugrunde richten.
Wenn ihr mich um meiner selbst willen lieben könnt, dann werden wir um
so glücklicher sein. Könnt ihr es nicht, so werde ich mich dennoch
bemühen, eure Liebe zu verdienen Ich werde meine Vorlieben und Abneigungen
nicht verbergen. Ich werde so darauf Vertrauen, daß das, was tief ist,
heilig ist, daß ich vor der Sonne und dem Mond kühn das tun werde,
was mich im Innersten erfreut und was mir mein Herz vorschreibt.
Wenn ihr edel seid, werde ich euch lieben; wenn nicht, werde ich euch und mich
nicht durch heuchlerische Artigkeiten verletzen. Wenn ihr wahr seid, aber nicht
in der gleichen Weise wie ich, dann bleibt euren Genossen treu; ich werde meine
eigenen suchen. Ich tue dies nicht selbstsüchtig, sondern demütig
und wahrhaftig. Es ist gleichermaßen in meinem wie in eurem und aller
Menschen Interesse, in der Wahrheit zu leben, wie lange wir auch immer in der
Lüge gelebt haben. Klingt dies heute schroff? Ihr werdet bald lieben, was
euch eure wie meine Natur vorschreibt, und wenn wir der Wahrheit folgen, so
wird sie uns endlich sicher zum Ziel führen.« Aber dadurch wirst
du vielleicht diese Freunde verletzen. Ja, aber ich kann nicht meine Freiheit
und meine Kraft verkaufen, um ihre Empfindlichkeit zu schonen. Zudem haben alle
Menschen ihre Momente der Vernunft, wo sie in den Bereich der absoluten Wahrheit
hinausblicken: dann werden sie mir recht geben und handeln wie ich.
Das gemeine Volk denkt, daß deine Ablehnung weitverbreiteter Verhaltensregeln
eine Ablehnung jeglicher Regeln ist, bloßer Antinomismus; und der hemmungslose
Sensualist wird die Philosophie zur Beschönigung seiner Verbrechen mißbrauchen.
Aber das Gesetz des Bewußtseins bleibt bestehen. Es gibt zwei Arten von
Beichtstühlen — und in einem von beiden müssen wir beichten.
Du kannst deine Pflichterfüllung dadurch abrunden, daß du dich in
direkter oder rückwirkender Weise entlastest. Denk darüber
nach, ob du deine Beziehungen zu Vater, Mutter, Vetter, Nachbar, Stadt, Katze
und Hund zufriedenstellend erfüllt hast; ob einer von diesen dir etwas
vorwerfen kann. Ich kann aber auch diesen rückwirkenden Beurteilungsmaßstab
mißachten und mich vor mir selbst freisprechen. Ich habe meine eigenen
strengen Anforderungen und meinen vollendeten Kreis. Er spricht den Namen der
Pflicht manchen Verrichtungen ab, die Pflicht genannt werden. Wenn ich aber
seine Anforderungen erfüllen kann, ermöglicht er es mir, auf den allgemeinen
Verhaltenskodex zu verzichten. Wenn irgendwer glaubt, dieses Gesetz sei lasch,
dann soll er nur für einen Tag seinem Gebot folgen.
Und in der Tat verlangt es etwas Göttliches in dem,
der die gewöhnlichen Motive menschlichen Handelns abgeworfen und das Wagnis
unternommen hat, sich selbst als Aufseher zu vertrauen. Sein Herz sei hochgemut,
sein Wille fest und sein Blick klar, damit er in vollem Ernst sich selbst Doktrin,
Gesellschaft und Gesetz sein kann, damit ein einfacher Vorsatz für ihn
ebenso stark ist wie eiserne Notwendigkeit für andere!
Wenn jemand den gegenwärtigen Zustand dessen betrachtet, was durch die
Bezeichnung Gesellschaft
ausgezeichnet wird, dann wird er die Notwendigkeit dieser Ethik erkennen.
Sehnen und Herz des Menschen scheinen erschlafft zu sein, und wir sind ängstliche,
verzagte Jammergestalten geworden. Wir fürchten uns vor der Wahrheit, vor
dem Glück, vor dem Tod und voreinander. Unser Zeitalter bringt keine großen
und vollkommenen Menschen hervor. Wir brauchen Männer
und Frauen, die das Leben und unseren gesellschaftlichen Zustand erneuern werden,
aber wir erkennen, daß die meisten Menschen bankrott sind, ihre eigenen
Bedürfnisse nicht befriedigen können, einen Ehrgeiz haben, der weit
über ihre praktischen Kräfte hinausgeht, und Tag und Nacht unablässig
betteln und sich unterstützen lassen. Unser Wirtschaften ist bettlerhaft,
unsere Künste, Berufe, Heiraten und unsere Religion haben nicht wir selbst
gewählt, sondern die Gesellschaft für uns. Wir sind Salonhelden. Wir
meiden die harte Schlacht des Schicksals, in der Stärke geboren wird.
Wenn unseren jungen Leuten ihre ersten Unternehmungen mißlingen, so verlieren
sie jegliches Vertrauen. Wenn der junge Kaufmann einen Fehlschlag erleidet,
so sagen die Leute, er sei ruiniert. Wenn
der feinste Kopf an einer unserer Hochschulen studiert und nicht innerhalb eines
Jahres danach eine feste Stellung in Boston oder New York oder ihren Vorstädten
erlangt hat, so erscheint es ihm und seinen Freunden berechtigt, daß er
entmutigt ist und sich für den Rest seines Lebens beklagt. Ein kräftiger
Bursche aus New Hampshire oder Vermont, der sich nach und nach in allen Berufen
versucht, der Kutschen führt,
das Land
bebaut, der hausieren geht,
nacheinander eine Schule aufmacht, Prediger wird, eine Zeitung herausgibt, in
den Kongreß gewählt wird, sich einen Stimmbezirk kauft etc. und immer
wie eine Katze auf die Füße fällt, wiegt hundert von diesen
Stadtpuppen auf. Er hält Schritt mit seiner Zeit und empfindet keine Scham
darüber, nicht »auf einen Beruf zu studieren«, denn er verschiebt
sein Leben nicht auf später, sondern lebt schon jetzt. Er hat nicht nur
eine, sondern hundert Chancen. Laß einen Stoiker die Möglichkeiten
des Menschen aufdecken und den Menschen sagen, daß sie keine anlehnungsbedürftigen
Weiden sind, sondern sich absondern können und müssen; daß mit
der Ausübung des Selbstvertrauens neue Kräfte erscheinen werden; daß
der Mensch das fleischgewordene Wort ist, geboren, um Heilung unter die Völker
zu streuen (vergl. Joh. 1,14 und Offenb. 22,2);
daß er sich unseres Mitleids schämen sollte und daß wir ihn
von dem Augenblick an, wo er aus sich heraus handelt, wo er Gesetze, Bücher,
Götzen und Gebräuche aus dem Fenster wirft, nicht mehr bemitleiden,
sondern ihm danken und ihn verehren — ein solcher Lehrer wird dem Menschenleben
wieder zu Glanz verhelfen, und sein Name wird der Geschichte teuer sein.
Es ist leicht einzusehen, daß ein größeres Selbstvertrauen
eine Revolution in allen Funktionen und Beziehungen der Menschen bewirken muß;
in ihrer Religion, ihrer Erziehung, ihrem Bestreben, ihrer Lebensweise, ihren
Verbindungen, ihrem Eigentum, ihren spekulativen Ansichten.
Was für Gebeten sich die Menschen hingehen! Was sie ein heiliges Amt nennen,
ist nicht einmal tapfer und männlich. Das Gebet blickt nach außen
und bittet um fremde Hilfe, die von irgendeiner fremden Tugend kommen soll,
und verliert sich in endlosen Labyrinthen von Natürlichem und Übernatürlichem,
Vermitteltem und Wunderbarem. Ein Gebet, das um die Erfüllung eines bestimmten
Wunsches fleht statt um das ganze Gute, ist verwerflich. Ein
Gebet ist die Kontemplation der Lebenstatsachen vom höchsten Gesichtspunkt
aus. Es ist das Selbstgespräch einer schauenden und frohlockenden Seele.
Es ist der Geist Gottes, der seine Werke gutheißt. Aber das Gebet als
ein Mittel, um private Zwecke zu erreichen, ist Gemeinheit und Raub. Es setzt
Dualismus und nicht Einheit in der Natur und im Bewußtsein voraus. Sobald
der Mensch mit Gott eins ist, wird er nicht betteln. Er wird dann ein Gebet
in jeglichem Handeln sehen. Das Gebet des Bauern, der in seinem Felde kniet,
um es zu jäten, und das Gebet des Ruderers, der sich mit jedem Ruderschlag
hinkniet, sind wahre Gebete, die man überall in der Natur hört, obwohl
ihre Ziele bescheiden sind. Als Caratach in Fletchers Bonduca aufgefordert
wird, den Geist des Gottes Audate zu erkunden, erwidert er:
In unserm Bemühen liegt sein versteckter
Sinn;
Unser Heldenmut ist unser bester Gott.
Unser Bedauern ist eine weitere Art von falschem Gebet. Unzufriedenheit
ist Mangel an Selbstvertrauen: sie ist Willensschwäche. Bedauere Unglücksfälle,
wenn du damit den Leidenden helfen kannst; wenn nicht, dann kümmere dich
um deine eigene Arbeit, und schon fängt die Behebung des Übels an.
Unser Mitgefühl ist genauso schlecht. Wir kommen zu denen, die töricht
weinen, setzen uns und weinen aus Geselligkeit mit, anstatt ihnen mit kräftigen
elektrischen Schlägen Wahrheit und Gesundheit zu vermitteln und sie so
wieder in Übereinstimmung mit ihrer Vernunft zu bringen. Das Geheimnis
des Glücks ist Freude in unseren Händen. Der
Mensch, der sich selbst hilft, ist Göttern und Menschen immer gleichermaßen
willkommen. Für ihn werden alle Tore weit geöffnet, es grüßen
ihn alle Zungen, alle Ehren krönen ihn und alle Augen folgen ihm mit Verlangen.
Unsere Liebe strebt ihm entgegen und umarmt ihn, weil er sie nicht brauchte.
Wir verhätscheln und feiern ihn besorgt und reumütig, weil er auf
seinem Weg blieb und unsere Mißbilligung ihm gleichgültig war. Die
Götter lieben ihn, weil die Menschen ihn haßten. »Für
den beharrlichen Sterblichen«, sagt
Zarathustra, »sind die seligen Unsterblichen
schnell.«
So wie die Gebete der Menschen eine Krankheit des Willens sind, so sind ihre
Glaubenslehren eine Krankheit des Intellekts. Sie sagen mit jenen törichten
Israeliten: »Gott möge nicht mit uns sprechen, damit wir nicht sterben.
Sprich du oder sonst jemand mit uns, und wir werden gehorchen.«
(Vergl. 2. Mose 20,19) Überall werde ich daran gehindert, Gott in
meinem Bruder zu begegnen, weil dieser seine Tempeltüren geschlossen hat
und bloße Fabeln vom Gott seines Bruders oder seines Bruders Bruder dahersagt.
Jeder neue Geist bedeutet eine neue Klassifikation. Erweist er sich als ein
Geist von ungewöhnlicher Regsamkeit und Kraft, wie ein Locke,
Lavoisier, Hutton, Bentham, Fourier, dann
zwingt er seine Klassifikation den anderen Menschen auf und, siehe da —
ein neues System. Dessen Selbstgenügsamkeit steht in Relation zu der Tiefe
der Gedanken und somit zu der Zahl der Gegenstände, die es berührt
und in die Reichweite des Schülers bringt. In erster Linie aber ist dies
offenkundig in Glaubenslehren und Kirchen, die auch Klassifikationen eines
mächtigen Geistes sind, der nach dem elementaren Gedanken der Pflicht
und des menschlichen Verhältnisses zum Allerhöchsten handelt.
Beispiele sind der Kalvinismus, das Quäkertum und der Swedenborgianismus.
Der Schüler empfindet, indem er alles der neuen Terminologie unterordnet,
das gleiche Entzücken wie ein Mädchen, das gerade Botanik gelernt
hat und infolgedessen eine neue Erde und neue Jahreszeiten sieht. Es wird eine
Zeitlang so sein, daß der Schüler feststellt, daß sein Intellekt
durch das Studium der Gedanken seines Meisters gewachsen ist. Aber in allen
unausgeglichenen Köpfen wird die Klassifikation zum Idol, wird für
den Zweck gehalten und nicht für ein sich rasch erschöpfendes Mittel,
so daß sich in ihren Augen die Grenzen des Systems am fernen Horizont
mit den Grenzen des Universums vermischen; die Himmelskörper scheinen ihnen
an dem Gewölbe zu hängen, das ihr Meister gebaut hat. Sie können
sich nicht vorstellen, wie ihr Fremden ein Recht habt zu sehen — wie ihr
überhaupt sehen könnt; »Ihr müßt uns irgendwie das
Licht gestohlen haben.« Sie verstehen noch nicht, daß Licht unsystematisch
und unbezähmbar ist und daß es in jeden Raum, auch in den ihren,
einbrechen wird. Sollen sie sich nur eine Weile freuen und es ihr eigen nennen.
Wenn sie ehrlich sind und sich recht verhalten, dann wird sich ihr hübscher
neuer Pferch sehr bald als zu eng und zu niedrig erweisen, wird brechen, wird
umstürzen, wird verrotten und verschwinden, und das unsterbliche Licht,
ganz Jugend und Freude, wird in Millionen Kreisen und Farben wie am ersten Morgen
über dem Universum strahlen. S.160-171 [...]
Die
All-Seele
... Ein Modus der göttlichen Lehre ist die Inkarnation des Geistes in einer
Form — in Formen wie der meinen. Ich lebe in der Gesellschaft; mit Personen,
die Gedanken in meinem eigenen Geist entsprechen oder einen gewissen Gehorsam
gegenüber den großen Instinkten, nach denen ich lebe, ausdrücken.
Ich sehe, daß der Geist in ihnen gegenwärtig ist. Ich bin überzeugt
von einer gemeinsamen Natur; und diese anderen Seelen, diese vereinzelten Individualitäten,
ziehen mich an, wie nichts anderes es kann. Sie erregen in mir die neuen Empfindungen,
die wir Leidenschaft nennen; die der Liebe, des Hasses, der Furcht, der Bewunderung,
des Mitleids; daher rühren Umgang, Wettbewerb, Überzeugungskraft,
Städte und Krieg. Menschen sind eine Ergänzung der ursprünglichen
Lehre der Seele. In der Jugend sind wir versessen auf Menschen. Kindheit und
Jugend sehen in ihnen die gesamte Welt. Aber die umfassendere Erfahrung des
Mannes erkennt die identische Natur, die in ihnen allen erscheint. Die Menschen
selbst machen uns mit dem Unpersönlichen bekannt.
In jedem Gespräch zwischen zwei Menschen wird unausgesprochen auf eine
gemeinsame Natur wie auf einen dritten Partner Bezug genommen. Dieser dritte
Gesprächspartner bzw. diese gemeinsame Natur ist nicht gesellschaftlicher
Art; sie ist unpersönlich, ist Gott.
Und daher werden in Gruppen, in denen die Debatte ernst ist, und besonders,
wenn sie sich auf tiefe Fragen bezieht, die Teilnehmer sich bewußt, daß
in ihrer aller Herzen der Gedanke sich auf die gleiche Höhe erhebt, daß
alle ebensosehr geistige Eigentümer des Gesprochenen sind wie der Sprecher.
Sie werden alle weiser, als sie es waren. Wie ein Tempel wölbt sich über
ihnen diese Einheit des Gedankens, in der jedes Herz mit einem nobleren Gefühl
von Kraft und Pflicht schlägt und mit ungewöhnlicher Feierlichkeit
denkt und handelt. Alle sind sich bewußt, eine höhere Selbstgewißheit
zu erlangen. Sie leuchtet für alle. Es gibt eine gewisse Weisheit der Menschlichkeit,
die den größten wie den niedrigsten Menschen gemeinsam ist und die
unsere gewöhnliche Erziehung oft zum Schweigen bringen oder behindern will.
Der Geist ist ungeteilt, und die besten Köpfe, die die
Wahrheit um ihrer selbst willen lieben, denken entsprechend weniger daran,
sie zu besitzen. Sie nehmen sie überall dankbar entgegen und beschriften
oder stempeln sie nicht mit dem Namen irgendeines Menschen, denn sie gehört
ihnen schon längst und seit ewigen Zeiten.
Die Gelehrten und die Denker haben keinen Alleinanspruch auf Weisheit. Die Heftigkeit
ihres Vorgehens macht es ihnen in gewissem Ausmaß unmöglich, wahrhaft
zu denken. Wir verdanken viele wertvolle Beobachtungen Leuten, die nicht sehr
scharf- oder tiefsinnig sind, die aber ohne Mühe das sagen, was wir wollen
und nach dem wir schon lange vergeblich gejagt haben. Das Handeln der Seele
liegt öfter in dem, was gefühlt wird und ungesagt bleibt, als in dem,
was in irgendeinem Gespräch ausgesprochen wird. Es schwebt über jeder
Gesellschaft, und jeder sucht es unbewußt im anderen. Unser Handeln entspricht
nicht unserem Wissen. Wir besitzen uns noch nicht und wissen doch zur gleichen
Zeit, daß wir viel mehr sind. Wie oft verspüre ich diese Wahrheit
in meinen belanglosen Gesprächen mit meinem Nachbarn, daß nämlich
etwas Höheres in uns auf dieses Zwischenspiel herabschaut und daß
hinter jedem von uns ein Jupiter dem anderen zunickt.
Die Menschen lassen sich dazu herab, einander zu treffen. In ihrem gewöhnlichen
und niedrigen Dienst an der Welt, für den sie ihren angeborenen Adel preisgeben,
ähneln sie jenen arabischen Scheichen, die in schäbigen Häusern
wohnen und äußerlich Armut vortäuschen, um der Habgier des Pascha
zu entgehen, und alle Schaustellung ihres Reichtums für ihre inneren und
geschützten Gemächer aufsparen.
So wie die Seele in allen Menschen anwesend ist, so ist sie es auch in jeder
Lebensperiode. Sie ist bereits im kindlichen Menschen voll ausgebildet. Wenn
ich mich mit meinem Kind beschäftige, so nützen mir mein Latein und
mein Griechisch, meine Kenntnisse und mein Geld gar nichts; aber was ich an
Seele habe, nützt mir. Wenn ich eigenwillig bin, setzt es seinen Willen
gegen meinen, einer gegen den anderen, und erlaubt mir, wenn ich dies will,
die Erniedrigung, es aufgrund meiner überlegenen Stärke zu schlagen.
Wenn ich aber meinen Willen aufgebe und für die Seele handele, indem ich
diese als Schiedsrichter zwischen uns stelle, dann blickt aus seinen jungen
Augen die gleiche Seele; es verehrt und liebt mit mir.
Die Seele erkennt und offenbart Wahrheit. Wir erkennen
die Wahrheit, wenn wir sie sehen, mögen Skeptiker und Spötter sagen,
was sie wollen. Törichte Menschen fragen dich, wenn du gesagt hast,
was sie nicht hören wollen: «Woher weißt du, daß dies
die Wahrheit ist und nicht dein eigener Irrtum?« Wir erkennen die Wahrheit,
wenn wir sie sehen, nach dem Dafürhalten, so wie wir, wenn wir wach sind,
wissen, daß wir wach sind. Es war ein großartiger Satz von Emanuel
Swedenborg, der schon allein die Größe der Erkenntnisfähigkeit
dieses Mannes verdeutlichen könnte — »Es
ist kein Beweis für den Verstand eines Menschen, daß er fähig
ist, alles zu bestätigen, was ihm zusagt; aber die Fähigkeit zu erkennen,
daß das, was wahr ist, wahr ist und was falsch, falsch ist, das ist Kennzeichen
und Charakteristikum von Intelligenz.«
In dem Buch, das ich lese, gibt mir der gute Gedanke, wie dies jede
Wahrheit tut, das Bild der ganzen Seele zurück. Für den schlechten
Gedanken, den ich in ihm finde, wird die gleiche Seele zum bloßlegenden
und trennenden Schwert und weist ihn zurück. Wir sind weiser als wir wissen.
Wenn wir uns nicht in unser Denken einmischen, sondern lediglich handeln oder
sehen, wie eine Sache in Gott steht, dann erkennen wir diese bestimmte Sache
und jede Sache und jeden Menschen. Denn der Schöpfer aller Dinge und Menschen
steht hinter uns und wirft seine erhabene Allwissenheit durch uns über
die Dinge.
Aber über dieses Selbsterkennen in bestimmten Abschnitten der Erfahrung
des Individuums hinaus offenbart sie auch Wahrheit. Und hier sollten wir danach
streben, uns durch eben diese ihre Anwesenheit zu stärken und in einer
würdigeren, erhabeneren Weise von jener Ankunft zu sprechen. Denn die Vermittlung
der Wahrheit durch die Seele ist das höchste Ereignis in der Natur, da
sie dabei nicht etwas von sich, sondern sich selbst gibt oder in den Menschen
eingeht, den sie erhellt, und somit dieser Mensch selbst wird; oder sie nimmt
ihn im Verhältnis zu der Wahrheit, die er empfängt, in sich selbst
auf.
Wir bezeichnen die Verkündigungen der Seele,
ihre Manifestationen ihrer eigenen Natur, mit dem Begriff Offenbarung.
Diese sind immer begleitet von der Empfindung des Erhabenen. Denn diese Vermittlung
ist ein Einfließen des göttlichen Geistes in unseren Geist. Es ist
ein Zurückfluten des individuellen Baches vor den flutenden Wogen der See
des Lebens. Jedes einzelne Erkennen dieses zentralen Gebotes erregt in den Menschen
Ehrfurcht und Entzücken. Ein Schauer durchzieht alle Menschen beim Empfang
neuer Wahrheit oder bei der Ausführung einer großen Tat, die aus
dem Herzen der Natur kommt.
In diesen Vermittlungen ist die Kraft des Sehens nicht vom Willen des Handelns
getrennt, vielmehr geht die Einsicht aus Gehorsam hervor und der Gehorsam aus
einer freudigen Wahrnehmung. Jeder Augenblick, in dem das Individuum sich davon
durchdrungen fühlt, ist erinnerungswürdig. Aufgrund der Beschaffenheit
unserer Natur begleitet ein gewisser Enthusiasmus das Bewußtsein des Individuums
von jener göttlichen Anwesenheit. Art und Dauer dieses Enthusiasmus ändern
sich mit dem Zustand des Individuums; von
Ekstase, Trance und prophetischer Inspiration — was seine seltenere
Erscheinungsform ist — bis zum schwächsten Glühen tugendhafter
Empfindung, in welcher Form er, wie das Feuer in unseren Häusern, alle
Familien und Vereinigungen der Menschen erwärmt und so Gesellschaft ermöglicht.
Eine gewisse Neigung zum Wahnsinn hat immer das Aufgehen des religiösen
Sinnes im Menschen begleitet, als ob die Menschen durch ein »Übermaß
an Licht versengt« worden seien. Die Verzückungen des Sokrates, die
»Vereinigung« des Plotinus,
die Vision des Porphyrius,
die Bekehrung des Paulus, die Morgenröte des
Jakob Böhme, die Konvulsionen des George Fox und
seiner Quäker, die Erleuchtung Swedenborgs sind
von dieser Art. Was im Falle dieser bemerkenswerten Menschen eine Verzückung
war, hat sich in unzähligen Fällen im normalen Leben in weniger ausgeprägter
Form gezeigt. Die Geschichte der Religion verrät allenthalben eine Neigung
zum Enthusiasmus. Die Begeisterung der Mährischen Brüdergemeinde und
der Quietisten; die Offenbarung des ewigen Sinnes des Wortes in der Sprache
der Kirche des neuen Jerusalem; die Erweckung
der kalvinistischen Kirchen; die Erfahrungen
der Methodisten sind verschiedene Erscheinungsformen
jenes Schauders von Ehrfurcht und Entzücken, mit dem sich die Einzelseele
immer mit der All-Seele verbindet.
Die Natur dieser Offenbarungen ist stets die gleiche: sie sind Wahrnehmungen
des absoluten Gesetzes. Sie sind Antworten auf die Fragen der Seele selbst.
Sie beantworten nicht die Fragen, welche der Verstand stellt. Die Seele antwortet
nie mit Worten, sondern mit der Sache selbst, nach der gefragt ist.
Offenbarung ist die Enthüllung der Seele. Die volkstümliche
Vorstellung von Offenbarung ist, daß sie ein Wahrsagen sei. In vergangenen
Orakeln der Seele sucht der Verstand Antworten auf materielle Fragen zu finden
und will von Gott erfahren, wie lange die Menschen leben werden, was ihre Hände
tun werden und mit wem sie Umgang haben werden, unter genauer Angabe von Namen,
Daten und Orten. Aber wir dürfen keine Schlösser aufbrechen. Wir müssen
diese niedrige Neugierde im Zaum halten. Eine Antwort in Worten ist trügerisch;
sie ist in Wirklichkeit keine Antwort auf die gestellten Fragen. Verlangt keine
Beschreibung der Länder, in die ihr segelt. Die Beschreibung beschreibt
sie euch nicht, und schon morgen werdet ihr dort ankommen und sie kennenlernen,
indem ihr sie bewohnt.
Die Menschen stellen Fragen nach der Unsterblichkeit der Seele, den Belangen
des Himmels, dem Gnadenstatus des Sünders und so weiter. Sie bilden sich
sogar ein, daß Jesus Antworten auf genau diese Fragen hinterlassen habe.
Doch dieser erhabene Geist redete nicht einen Augenblick in ihrer niedrigen
Sprache. Mit Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe — diesen Attributen der Seele
— ist die Idee der Unwandelbarkeit wesentlich verbunden. Jesus,
der in diesen moralischen Empfindungen lebte und ungeachtet weltlichen Glücks
nur ihre Manifestationen achtete, trennte nie die Idee der Fortdauer vom Wesen
dieser Attribute und äußerte nie eine Silbe über die Fortdauer
der Seele. Es blieb seinen Jüngern vorbehalten, die Fortdauer von den moralischen
Elementen zu trennen und die Unsterblichkeit der Seele als Doktrin zu lehren
und mit Belegen zu untermauern. In dem Moment, wo die Doktrin der Unsterblichkeit
getrennt verkündet wird, ist der Mensch schon gefallen. Im Strömen
der Liebe, in der Verehrung der Demut, gibt es keine Frage nach der Fortdauer.
Kein inspirierter Mensch stellt je diese Frage oder lässt sich zu solchen
Beweisen herab. Denn die Seele ist sich selbst treu, und der Mensch, in den
sie strömt, kann nicht aus einer Gegenwart, die unendlich ist, in eine
Zukunft, die endlich wäre, abirren.
Diese Fragen, die wir so begierig über die Zukunft stellen, sind ein Sündenbekenntnis.
Gott hat keine Antwort auf sie. Keine Antwort in Worten kann auf eine Frage
der Dinge erwidern. Es liegt nicht in einem willkürlichen »Ratschluß
Gottes«, sondern in der Natur des Menschen, daß ein Schleier
die Dinge der Zukunft verhüllt; denn die Seele lässt uns keine andere
Chiffre entdecken als die von Ursache und Wirkung. Durch diesen Schleier, der
die Ereignisse verbirgt, lehrt sie die Menschenkinder im Heute zu leben. Die
einzige Art, eine Antwort auf diese Fragen der Sinne zu erhalten, ist, aller
niedrigen Neugierde abzuschwören und — indem wir uns der Flut des
Daseins überlassen, die uns in das Geheimnis der Natur trägt —
zu arbeiten und zu leben; arbeite und lebe, und ganz unversehens hat die aufstrebende
Seele sich selbst einen neuen Seinszustand geschaffen, und Frage und Antwort
sind plötzlich eins.
Durch eben dieses lebendige, heiligende, himmlische Feuer,
das lodert, bis es alle Dinge in den Wellen und Wogen eines Ozeans von Licht
einschmilzt, sehen und erkennen wir einander und erfahren, von welchem Geist
ein jeder ist. Wer vermag die Gründe seines Wissens um den Charakter
der verschiedenen Personen zu nennen, die seinen Freundeskreis bilden? Niemand.
Und doch täuschen ihre Taten und Worte ihn nicht. In diesen da hat man
kein Vertrauen, obwohl man nichts Schlechtes über ihn weiß. Bei jenem
anderen, mit dem man zwar selten zusammengetroffen ist, ist man dennoch auf
untrügliche Anzeichen dafür gestoßen, daß man ihm vertrauen
könne als jemandem, der ein Interesse an seinem eigenen Charakter hat.
Wir kennen einander sehr gut — wer von uns sich selbst gerecht geworden
ist und ob das, was wir lehren oder vor Augen haben, ein bloßes Verlangen
oder auch ein ehrliches Bemühen ist.
Wir alle erkennen den Geist. Dieses Beurteilen
steht obenan in unserem Leben oder unserer unbewußten Macht. Das Miteinander
in der Gesellschaft, ihr Handel, ihre Religion, ihre Freundschaften und Streitigkeiten,
sind nichts anderes als eine umfassende kritische Charakterprüfung. Vor
versammeltem Gerichtshof oder im kleinen Komitee oder von Angesicht zu Angesicht,
als Kläger und Beklagter, bieten sich die Menschen zur Beurteilung an.
Gegen ihren Willen verraten sie jene entscheidenden Kleinigkeiten, die ihren
Charakter erkennen lassen. Doch wer richtet? Und in welcher Sache? Unser Verstand
nicht. Wir erkennen die Menschen nicht durch Gelehrsamkeit oder Urteilsgeschick.
Nein, die Weisheit des Weisen besteht darin, daß nicht er die Menschen
richtet; er lässt sie sich selbst richten und erkennt und verzeichnet nur
ihren eigenen Urteilsspruch.
Durch diese unentrinnbare Naturgesetzlichkeit wird der Wille des einzelnen überwältigt,
und ungeachtet unserer Anstrengungen oder unserer Unvollkommenheit wird dein
Geist aus dir und der meine aus mir sprechen. Was wir sind, werden wir bekennen,
nicht freiwillig, sondern unfreiwillig. Gedanken kommen uns auf Wegen, die wir
nie offen hielten, und Gedanken verlassen uns auf Wegen, die wir nie mit Absicht
geöffnet haben. Der Charakter legt über unseren Kopf hinweg Zeugnis
von sich ab. Der unfehlbare Maßstab des wahren Fortschritts
findet sich in dem Ton, den ein Mensch anschlägt. Weder sein Alter
noch seine Bildung noch sein Umgang noch Bücher, Taten, Talente oder alles
zusammen können einen Menschen daran hindern, sich vor einem höheren
Geist als seinem eigenen zu verneigen. Wenn er seine Heimat
nicht in Gott gefunden hat, dann werden seine Sitten, die Art und Weise wie
er redet, seine Sätze wendet, die Struktur, so möchte ich sagen, all
seiner Meinungen dies unwillkürlich verraten, wie immer er auch dagegen
ankämpft. Wenn er aber seinen Mittelpunkt gefunden hat, so wird die Gottheit
aus ihm leuchten durch allen Schein der Unwissenheit, unglücklichen Temperaments
und ungünstiger Umstände hindurch. Der Ton des Suchens ist ein Ton,
der des Gefundenhabens ein anderer.
Der große Unterschied zwischen den heilig-erhabenen und den nur literarischen
Lehrern — zwischen Dichtern wie Herbert und
Dichtern wie Pope, zwischen Philosophen wie
Spinoza, Kant und Coleridge
und Philosophen wie Locke, Paley, Mackintosh und
Stewart, zwischen den Weltgewandten, die für
vollendete Redner gehalten werden, und dem vereinzelten, glühenden Mystiker,
der, halb wahnsinnig durch die Unendlichkeit seiner Gedanken, Offenbarungen
verkündet —, dieser Unterschied ist, daß die einen von innen
heraus oder aus eigener Erfahrung als Teilhaber
und Besitzer einer Tatsache reden, die anderen aber von außen
als bloße Zuschauer oder vielleicht wie Menschen, die mit einer Tatsache
erst durch das Zeugnis dritter Personen vertraut gemacht wurden. Es hat
keinen Sinn, von außen zu mir zu predigen. Das kann ich nur zu leicht
selbst. Jesus spricht stets von innen heraus, und dies in einem Maße,
das alle anderen übersteigt. Darin liegt das Wunder. Ich glaube schon im
voraus, daß es so sein soll. Alle Menschen harren beständig auf das
Erscheinen eines solchen Lehrers. Aber wenn einer nicht aus dem Inneren des
Bereichs spricht, wo das Wort und der Sinn eins sind, so soll er es demütig
bekennen.
Dieselbe Allwissenheit fließt über in den Intellekt
und schafft das, was wir Genius nennen. Vieles von der Weisheit der Welt
ist nicht Weisheit, und die zuhöchst erleuchteten Geister stehen zweifellos
hoch über dem literarischen Ruhm und sind keine Schriftsteller. Bei den
meisten Gelehrten und Autoren spüren wir keine heiligende Gegenwart; wir
bemerken eher Fertigkeit und Geschick statt Inspiration; sie haben eine Art
Erleuchtung und wissen nicht, woher sie kommt, und nennen sie ihr eigen; ihr
Talent ist irgendeine hochgezüchtete Fähigkeit, irgendein überwuchernder
Teil, so daß ihre Stärke etwas Krankhaftes hat. In solchen Fällen
erwecken intellektuelle Gaben nicht den Eindruck des Guten, sondern fast schon
den des Lasterhaften; und wir fühlen, daß die Talente eines Menschen
seinem Aufstieg zur Wahrheit im Wege stehen. Wahrer Genius aber ist gotterfüllt.
Er stellt ein umfassenderes Aufnehmen des allgemeinen Gefühls dar. Er ist
nicht anomal und gleicht den anderen Menschen nicht weniger, sondern mehr. In
allen großen Dichtern wohnt eine Weisheit des Menschlichen, die alle Talente,
die sie besitzen, übersteigt.
Der Schriftsteller, der Mann von Geist, der Parteigänger, der feine Herr
können den Menschen nicht ersetzen. Menschlichkeit erstrahlt in Homer,
in Chaucer, in Spenser,
in Shakespeare, in Milton. Sie finden ihr Genügen
an der Wahrheit. Sie suchen die Bejahung. Sie erscheinen denen, die durch die
wilden Leidenschaften und schreienden Farbspiele minderwertiger, aber populärer
Autoren überreizt wurden, kalt und phlegmatisch. Denn sie sind Dichter,
weil sie der Eingebung der Seele freien Lauf gewähren, einer Seele, die
durch Augen die Dinge, welche sie selbst geschaffen hat, aufs neue betrachtet
und segnet.
Die Seele ist mehr als ihr eigenes Wissen, weiser als irgendeines ihrer Werke.
Der große Dichter lässt uns unseren eigenen Reichtum spüren,
und wir halten dann weniger von seinen Werken. Am tiefsten spricht er zu uns,
wenn er uns lehrt, alles, was er getan hat, gering zu erachten. Shakespeare
führt uns zu solch luftigen Höhen geistiger Aktivität, daß
er in uns einen Reichtum weckt, der seinen eigenen arm erscheinen läßt.
Wir spüren dann, daß die herrlichen Werke, die er geschaffen hat
und die wir in anderen Stunden als eine Art aus sich selbst bestehender Dichtung
preisen, keine festere Bindung an die wirkliche Natur haben als der Schatten
eines vorüberziehenden Wanderers an den Felsen. Die Inspiration, die sich
im Hamlet und im Lear äußert,
könnte täglich und immer wieder aufs neue ähnlich vollendete
Dinge hervorbringen. Warum sollte ich Hamlet
und Lear hervorheben, als wäre uns
nicht allen jene Seele zu eigen, die sie schuf wie die Zunge die Silben?
Diese Kraft hält im Leben des Individuums unter keiner anderen Bedingung
Einzug als unter der des vollkommenen Besitzes. Sie kommt zu den Demütigen
und Einfachen; sie kommt zu jedem, der Fremdheit und Stolz ablegt; sie kommt
als Einsicht, als gelassene Heiterkeit und als Größe. Wenn wir jene
sehen, die von ihr erfüllt sind, dann lernen wir neue Grade von Größe
kennen. Von dieser großen Inspiration kehrt der Mensch verändert
im Ton zurück. Er spricht nicht mehr mit den Menschen, indem er ein Auge
auf ihre Meinung wirft. Er prüft sie. Diese Kraft fordert von uns, schlicht
und wahr zu sein. Der eitle Reisende versucht seinem Leben Glanz zu verleihen,
indem er Mylord und den Prinzen und die Gräfin anführt, die dies oder
das zu ihm sagten oder für ihn taten. Die ehrgeizigen Neureichen zeigen
ihre Löffel und Broschen und Ringe vor und verwahren ihre Visiten- und
Empfehlungskärtchen.
Die Kultivierteren stellen bei der Schilderung ihrer eigenen Erfahrung die angenehmen,
poetischen Umstände heraus — den Besuch Roms, den Mann von Genie,
den sie trafen, den brillanten Freund, den sie haben; und weiter vielleicht
die herrliche Landschaft, die Berglichter, die hehren Gedanken, die sie gestern
genossen — und suchen so, ihrem Leben einen romantischen Glanz zu verleihen.
Doch die Seele, die sich zur Verehrung des großen Gottes erhebt, ist schlicht
und wahr; sie hat keine rosigen Farben, keine noblen Freunde, kein galantes
Benehmen und keine Abenteuer; sie verlangt nicht nach Bewunderung; sie geht
auf im Jetzt der Gegenwart, in der ernsten Erfahrung des gewöhnlichen Lebens
— weil der gegenwärtige Augenblick und das bloß Alltägliche
für sie gedanklich durchsichtig und lichtdurchtränkt geworden sind.
Halte Zwiegespräch mit einem Geist, der die Größe der Einfachheit
besitzt, und die Literatur erscheint wie bloße Wortklauberei. Die
einfachsten Äußerungen sind zuhöchst des Aufschreibens wert,
und doch sind sie so geläufig und selbstverständlich, daß es
beim unendlichen Reichtum der Seele wie das Aufsammeln einiger Kieselsteine
vom Grund oder das Einfangen von ein wenig Luft in einer Phiole ist, während
doch die ganze Erde und die ganze Atmosphäre unser sind. Nichts kann da
gelten oder uns zu Mitgliedern des inneren Zirkels machen als der Verzicht auf
jeden Tand und der Umgang von Menschen mit Menschen in nackter Wahrheit, offenem
Bekenntnis und allwissender Bejahung.
Seelen wie diese behandeln dich, wie Götter es tun würden; sie wandeln
wie Götter auf Erde und akzeptieren ohne Bewunderung deinen Geist, deine
Großmut, ja sogar deine Tugend — oder besser gesagt deine Pflichterfüllung,
denn deine Tugend besitzen sie als ihr eigen Blut, königlich wie sie selbst,
ja mehr als königlich und Vater der Götter. Doch wie beschämt
ihre einfache brüderliche Art die gegenseitigen Schmeicheleien, mit denen
Schriftsteller einander trösten und sich selbst verletzen! Diese hier schmeicheln
nicht. Es wundert mich nicht, daß diese Menschen
Cromwell, Christine,
Karl II., Jakob 1. und den Großtürken aufsuchen. Denn sie
sind in ihrer eigenen Erhabenheit die Gefährten von Königen und müssen
den kriecherischen Umgangston der Welt spüren. Sie müssen wie ein
Gottesgeschenk für die Fürsten sein, denn sie treten ihnen gegenüber
wie ein König dem anderen, ohne sich zu beugen oder Konzessionen zu machen,
und verschaffen so einem Großen das erfrischende und befriedigende Erlebnis
von Widerstand, einfacher Menschlichkeit, gleichrangiger Gesellschaft und neuer
Ideen. Sie lassen sie weiser und überlegener zurück. Seelen wie diese
lassen uns empfinden, daß Aufrichtigkeit vortrefflicher ist als Schmeichelei.
Verkehre so geradeheraus mit den Menschen, daß du die äußerste
Aufrichtigkeit erzwingst und alle Hoffnung, mit dir tändeln zu können,
durchkreuzt. Dies ist das höchste Kompliment, das du machen kannst. Ihr
»höchstes Lob«, sagt Milton,
»ist nicht Schmeichelei, und ihr schlichtester Ratschlag
ist eine Art von Lobpreisung«.
Unsäglich ist die Vereinigung von Mensch und Gott in jedem Handeln der
Seele. Der schlichteste Mensch, der in seiner Reinheit Gott verehrt, wird selbst
Gott; doch für immer und ewig bleibt das Einströmen dieses besseren
und umfassenderen Selbst neu und unergründlich. Es weckt Ehrfurcht und
Erstaunen. Wie kostbar und beruhigend ist das Auftauchen der Gottesidee für
den Menschen, die die Einsamkeit bevölkert und die Narben unserer Irrtümer
und Enttäuschungen auslöscht. Wenn wir mit den Götzen
der Tradition gebrochen und uns von den Götzen der Rhetorik losgesagt haben,
dann kann Gott unser Herz durch seine Gegenwart entflammen.
Es ist dies die Verdopplung des Herzens selbst, ja die unendliche Ausweitung
des Herzens durch eine Kraft des Wachstums zu einer neuen, allseitigen Unendlichkeit
hin. Ein untrügliches Vertrauen ergreift den Menschen.
Er hat weniger die Überzeugung als die Erleuchtung, daß das Beste
das Wahre ist, und vermag in diesem Wissen alle besonderen Zweifel und Befürchtungen
fahren zu lassen und der untrüglichen Offenbarung der Zeit die Lösung
seiner persönlichen Lebensrätsel zu überlassen. Er ist
sicher, daß sein Wohlergehen dem Herzen des Seins teuer ist. In der geistigen
Nähe des Gesetzes überflutet ihn ein so universales Vertrauen, daß
alle liebgewonnenen Hoffnungen und die sichersten Vorhaben des irdischen Daseins
in dessen Fluten weggespült werden. Er glaubt, daß er seinem Guten
nicht entkommen kann.
Die Dinge, die wirklich für dich bestimmt sind, streben dir zu. Du gehst,
um deinen Freund zu suchen. Laß deine Füße gehen, dein Geist
kann verweilen. Wenn du ihn nicht findest, wirst du dich nicht zufrieden geben,
daß es zum besten ist, wenn du ihn nicht findest? Denn da ist eine Macht
in dir wie in ihm, die euch sehr wohl zusammenbringen könnte, wenn es zum
besten wäre. Du bereitest dich eifrig vor, hinzugehen und der Welt einen
Dienst zu erweisen, wozu dich dein Talent und deine Neigung, die Liebe zu den
Menschen und die Hoffnung auf Ruhm verlocken. Hast du noch nicht daran gedacht,
daß du kein Recht dazu hast, dies zu tun, wenn du nicht ebenso willens
bist, dich daran hindern zu lassen? O glaube, so wahr du lebst, daß jeder
Laut, der auf der weiten Welt gesprochen wird und den du hören solltest,
in deinen Ohren widerklingen wird! Jedes Sprichwort, jedes Buch, jede Redensart,
die als Hilfe und Trost für dich gedacht sind, wird gewiß heimfinden
zu dir auf geraden oder gewundenen Wegen. Jeder Freund, den nicht dein verstiegener
Wille, sondern das große und zärtliche Herz in dir herbeisehnt, wird
dich in seine Arme schließen. Und dies, weil das Herz in dir das Herz
aller ist. Nirgends in der Natur gibt es eine Absperrvorrichtung, eine Scheidewand,
einen Schnittpunkt, sondern ein und dasselbe Lebensblut strömt ununterbrochen
seinen endlosen Kreislauf durch alle Menschen, so wie die Wasser der Erde alle
ein Meer bilden und, recht besehen, eine einzige Ebbe und Flut haben.
Laßt darum den Menschen die Offenbarung aller Natur
und allen Denkens für sein Herz erkennen: die nämlich, daß der
Höchste in ihm wohnt und daß die Quellen der Natur in seinem eigenen
Geiste liegen, wenn dort das Gefühl der Pflicht herrscht. Wenn er
aber wissen möchte, was der große Gott spricht so muß er, wie
Jesus sagt, »in seine
Kammer gehen und die Türe schließen«. (Vergl.
Mt. 6,6) Gott wird sich nicht den Zaghaften
offenbaren. Er muß ganz seiner inneren Stimme lauschen und sich dem Ton
der Verehrung, den andere anschlagen entziehen. Sogar die Gebete der anderen
sind ihm abträglich, bis er seine eigenen gefunden hat. Unsere Religion
beruft sich gemeinhin auf die Zahl der Gläubigen. Doch wann immer die Berufung
auf die große Zahl erfolgt — wie indirekt dies auch geschieht —,
heißt dies zugleich, daß wahre Religion schon nicht mehr existiert.
Wem Gott ein süßer umfassender Gedanke ist,
der zählt nicht seine Mitgläubigen Wenn ich mich in der Gegenwart
Gottes befinde, wer darf es da wagen einzudringen? Wenn ich in vollendeter
Demut verharre, wenn ich in reiner Liebe erglühe, was vermögen Calvin
oder Swedenborg mir zu sagen?
Es macht keinen Unterschied, ob man sich auf viele oder auf einen einzelnen
beruft. Ein Glaube, der auf Autorität basiert, ist kein Glaube. Die Berufung
auf die Autorität ist ein Maß für den
Niedergang der Religion, für das Sichzurückziehen der Seele.
Die Stellung, welche die Menschen nun schon für viele Jahrhunderte Jesus
eingeräumt haben, ist eine Stellung der Autorität. Dies charakterisiert
nur sie selbst. Es kann die unvergänglichen Tatsachen nicht ändern.
Groß ist die Seele und schlicht. Sie ist kein Schmeichler und kein
Gefolgsmann; sie beruft sich nicht auf andere. Sie glaubt an sich selbst. Vor
den endlosen Möglichkeiten des Menschen schrumpft
alle bloße Erfahrung, alles vergangene Leben, wie rein und heilig auch
immer, dahin. Im Anblick jenes Himmels, den unsere Vorahnung
uns zeigt, können wir nicht leicht irgendeine Lebensform preisen,
die wir erlebt oder von der wir gelesen haben. Wir behaupten nicht nur, daß
wir wenige große Männer haben, sondern genau genommen, daß
wir gar keine haben; daß wir keine Überlieferung, kein Zeugnis irgendeines
Charakters oder einer Lebensart haben, das uns ganz zufriedenstellt.
Die Heiligen und Halbgötter, welche die Geschichte verehrt, müssen
wir wohl mit ein wenig Nachsicht gelten lassen.
Obwohl wir in unseren einsamen Stunden neue Kraft aus der Erinnerung an sie
schöpfen, so ermüden und bedrängen sie uns doch, wenn sie unserer
Beachtung aufgedrängt werden, wie dies durch die Gedankenlosen und die
Gewohnheitsmenschen geschieht. Die Seele gibt sich selbst allein, ursprünglich
und rein dem Einsamen, Ursprünglichen und Reinen, der unter dieser Bedingung
freudig in ihr heimisch wird, ihr folgt und durch sie spricht. Dann
ist die Seele froh, jung und lebhaft. Sie ist nicht weise, doch sie durchschaut
alle Dinge. Man kann sie nicht religiös nennen, aber sie ist unschuldig.
Sie nennt das Licht ihr eigen und fühlt, daß
das Gesetz, nach dem das Gras wächst und der Stein fällt, ihrer Natur
untergeordnet und von ihr abhängig ist. Siehe, so spricht sie, ich
bin hineingeboren in den großen, universalen Geist. Ich, die Unvollkommene,
bewundere meine eigene Vollkommenheit. Ich bin irgendwie empfänglich für
die große Seele, und deshalb überschaue ich Sonne und Sterne und
fühle, daß sie schöne Zufälle und Wirkungen sind, die wechseln
und vergehen.
Mehr und mehr dringen die Wogen der immerwährenden Natur in mich ein, und
ich öffne mich und werde allgemein-menschlich in meinen Erwägungen
und Handlungen. So gelange ich dahin, in Gedanken zu leben und mir Kräften
zu wirken, die unsterblich sind. Indem der Mensch so die Seele verehrt und lernt,
wie die Alten sagten, daß »ihre Schönheit
unermeßlich ist«, wird er dahin gelangen, die Welt als das
immerwährende Wunderwerk der Seele zu sehen und weniger erstaunt über
einzelne Wunder zu sein; er wird lernen, daß es keine profane Geschichte
gibt, daß alle Geschichte heilig ist, daß das Universum in einem
Atom, in einem Moment der Zeit enthalten ist. Er wird nicht länger ein
scheckiges Leben aus Fetzen und Flicken weben, sondern er wird in göttlicher
Einheit leben. Er wird sich von dem, was niedrig und frivol
in seinem Leben lossagen und wird mit jedem Platz und jedem Dienst, er erweisen
kann, zufrieden sein. Er wird ruhig dem Morgen entgegensehen in der Sorglosigkeit
jenes Vertrauens Gott in sich schließt und so schon die ganze Zukunft
im Grunde des Herzens trägt. S.188-203
Aus: Ralph Waldo Emerson, Die Natur, Ausgewählte
Essays. Herausgegeben von Manfred Pütz .Einleitung, Übersetzung und
Anmerkungen von Manfred Pütz und Gottfried Krieger
Reclams Universalbibliothek Nr. 3702 (S.130-133, 138-139, 148-154, 160-171,
188-203) ©1982 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
Verlages
Religion
Ich halte es nicht für klug, einer Religionsgemeinschaft anzugehören,
falls man nicht darin geboren ist. Nach der Bibel werden wir nicht angewiesen,
Unitarier, Calvinisten oder ein Mitglied der Episcopalkirche zu sein. Nun, wenn
ein Mann klug ist, wird er sich nicht nur nicht als Unitarier bekennen, sondern
er wird sich sagen, ich bin nicht Mitglied der oder der Gemeinde. Ich
bin ein Kind Gottes, ein Jünger Christi,
oder in den Augen Gottes ein Mitjünger
mit Christus.
Nun mag ein Mann mit so klarer Einsicht in sich selbst, der sich innerlich von
jeder Religionsgesellschaft fern hält, in einer Postkutsche mit religiösen
Menschen verschiedener Sekten zusammentreffen, und er wird von ihnen kaum einen
Lehrsatz hören, dem er nicht zustimmt, und keiner wird dort ein Gefühl
äußern, dem er nicht zustimmt, obgleich er auf eine Änderung
der Ausdrucksweise bestehen mag.
Sobald ein Mensch groß wird, das heißt selbständig
denkt, bildet er eine neue Sekte. Sokrates,
Aristoteles, Calvin,
Luther, Abälard,
was bedeuten sie anders als Namen von Sekten? Womit gesagt wird: Sobald wir
unsere Augen gebrauchen, verlassen wir diese Sekten oder gedankenlosen Gemeinschaften
und verbinden uns mit Gott in einer einzigen Gemeinschaft.
Eine Sekte oder Gemeinde ist ein elegantes Inkognito,
erfunden, um Menschen vor der Plage des Denkens zu bewahren.
Seitdem ich mir zur Aufgabe gestellt habe, meine Leidenschaften mit unbedingter
Gewalt zu beherrschen, kann ich es mir nicht anders vorstellen, als daß
die Sekte zur Unterdrückung der Unmäßigkeit
oder eine Sekte zur Unterdrückung der Liederlichkeit Frauen gegenüber
eine vernünftigere und nützlichere Gesellschaft wäre als die
Orthodoxen-Sekte, die eine Gesellschaft zur Unterdrückung des Unitarismus
ist, oder die Unitarier, die eine Gesellschaft zur Verbreitung nützlicher
Kenntnisse darstellen.
Religion ist die Beziehung der Seele zu Gott, und
somit bedeutet das Weiterschreiten des Sektenwesens den Niedergang der Religion.
Denn wenn wir auf Gott schauen, verschwindet sofort unsere Neigung, uns von
unseren Brüdern zu scheiden. Ein Mensch kann an hitzigem Fieber so gut
wie an Auszehrung sterben, und Religion wird ebenso wirksam durch Bigotterie
wie durch Gleichgültigkeit zerstört.S.44f.
Ich glaube, die christliche Religion ist von einer tiefen
Wahrheit, wahr in einem Sinne, dem die, welche sich am meisten ihre rechtgläubigen
Verteidiger nennen, niemals oder doch höchstens in ganz seltenen flüchtigen
Augenblicken, vielleicht ein- oder zweimal im Leben, nahegekommen sind.
Ich, der ich mich bemühe, Realist zu sein, alles zu verneinen und abzutun,
was ich nicht mit dem Herzen aufgenommen habe, ich verfange mich ständig
in einen praktischen Unglauben betreffs ihrer tiefsten
Lehren.
Sie hat gelehrt und lehrt den ewigen Gegensatz von Welt und Wahrheit und führte
als absolute Autorität das Gesetz des Geistes ein. Milton
erfaßte dessen Sinn als er sagte:
»Denn wer ist da noch, der Wahrheit an Einfachheit
mißt, Stärke an Leiden und Würde an Demut«?
Das tue ich in meinen vernünftigen Augenblicken und
fühle unsagbaren Frieden, ja, und den Einfluß Gottes, der bei Demut
und Liebe wohnt — und ehe der Hahn kräht,
verleugne ich ihn dreimal. S.81f.
Die Religion hat versagt! Gut, die Religion eines andern Menschen hat
darin versagt, mich zu retten. Ihn aber hat sie errettet. Wir sprechen mitleidig
und vorwurfsvoll von der Vergangenheit, doch die Ungeheuerlichkeiten, die Übel
und Versuchungen verhalfen Heiligen und Helden in den Himmel. In Europa gibt
es keinen Flecken mehr, der nicht zum Schlachtfeld geworden ist, keine Religion,
keine Kirche, keine Sekte, kein Jahr in der Geschichte, die nicht den Menschen
Anlaß gewesen sind, sich emporzuschwingen, die Himmelsleiter zu ersteigen
und sich zur feierlichen Schar der Engel zu gesellen. Unsere Väter wurden
errettet. Die nämlichen, genau die nämlichen Widerstände wie
heute hat es mit einem leichten Wechsel der Szene und des Kostüms zu allen
Zeiten gegeben. S.176
Gott baut seinen Tempel in
den Herzen auf den Ruinen der Kirchen und Religionen S.200
Eines ist gewiß: Die Religionen überleben sich,
wenn bei ihnen keine Reformen kommen. S.307
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 202, Ralph Waldo Emerson,
Die Tagebücher. Ausgewählt von Bliss Perry. Übertragen von Dr.
Franz Riederer. ©1954 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart
Calvinismus
Es liegt nicht in Gottes Macht, einem Calvinisten seinen Willen kundzutun, denn
bei jeder inneren Offenbarung hält dieser sein albernes Buch hin und zitiert
Kapitel und Vers gegen den Schöpfer von Mensch und Buch, gegen den, der
nicht zitiert, sondern ist und da kommt:
es gibt ein inneres Licht, älter als die Vernunft,
von dem die Vernunft erst ihr Wesen herleitet und ihre Kraft, ein Licht, das
ewig neu ist und Glanz aus der Vergangenheit jeden Wert nimmt.
Dieses Licht verneint der Calvinismus in seiner sturen Anbetung eines bestimmten
Glanzes aus der Vergangenheit. S.181
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 202, Ralph Waldo Emerson,
Die Tagebücher. Ausgewählt von Bliss Perry. Übertragen von Dr.
Franz Riederer.
©1954 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart
Ist
Gott Person?
Was soll ich nur diesen netten jungen Leuten antworten, wenn sie mich über
Theismus befragen und meine Anschauungen von einem unpersönlichen Gott,
wie ich sie vortrage, für trostlos und entsetzlich halten? Ich sage, wenn
ich mein eigenes Gewissen erforsche, kann ich nicht finden, daß in dem
Satz »Gott ist eine Person« Wahrheit liegt, das Gegenteil ist der
Fall. Ich fühle es, in der Behauptung: »Er ist Person«, liegt
etwas Entweihendes. Ihn als Person sich vorstellen, bedeutet, ihn aus meinem
Bewußtsein ausschließen. S.112
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 202, Ralph Waldo Emerson,
Die Tagebücher. Ausgewählt von Bliss Perry. Übertragen von Dr.
Franz Riederer.
©1954 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart
Gottesdienst
Ist es nicht richtig, daß die innere Versenkung
unsere eigentliche Sache ist und es nur deshalb äußerlichen
Gottesdienst gibt, weil eben unsere Vernunft im
Zwiespalt mit unserem Verstande liegt? Und daß, sobald wir ein rechtes
Leben führen, das Selbstbesinnen schon im Alltagstun zum Ausdruck kommt,
und zwar so vollständig, daß ein besonderes Tun, das heißt
ein solches in religiöser Form, keinerlei Berechtigung mehr hat?
Ist nicht Salomons Tempel gebaut worden, weil Salomon
selbst kein Tempel ist, sondern ein Hurenhaus und eine Wechslerbude? Hat nicht
ein Gemeindehaus seine Weihe erhalten, weil sie eben die Menschen nicht besitzen?
Ist die Kirche nicht darum sonntags offen und voll besucht, weil die Gebote
schon montags von den Andächtigen nicht mehr gehalten werden? Wenn aber,
wer dort betet, die Wahrheit spricht, der Wahrheit folgt, der Wahrheit ist,
wenn er in wirklicher Communio zu dem Glauben erweckt
wird, daß Gott in ihm ist, wird er dann noch ein Gotteshaus, ein Beten
brauchen?
Die Tatsache des Betens zeigt ja gerade, daß Gott
nicht als der eine bei ihm ist, sondern daß da zwei Götter sind.
Nun, klingt das nicht wie Hochverrat und muß das schließlich nicht
alle Religion mattsetzen? Es bedroht tatsächlich unsere äußeren
Formen; aber klingt nicht gerade das Wort »Form«
schon hohl? Obwohl äußere Formen bedroht werden, wird die
Religion an sich nicht angegriffen. Wäre es echte Religion, bestünde
dann überhaupt Gefahr?
Wenn der Lehrsatz, Gott wohnt in den Menschen,
gläubig gelehrt und aufgenommen würde, wenn ich lebte, die Wahrheit
zu künden und ihr Geltung zu verschaffen, wenn ich jedem edlen Gefühl
nachginge wie ein Verliebter, wenn die Majestät der Güte ihre Verehrung
fände: hülfe mir dann letzten Endes nicht ein solcher Grundsatz statt
eines öffentlichen Gebotes ebensoviel wie ein Connecticut-Sonntag?
Aber die Leute, die Leute! Ihr haltet an eurer Religion von Pappe den Leuten
zuliebe fest, die für eine echte Religion gar nicht geschaffen sind. So
meint ihr wohl. Aber sofort wird dann ein Geschlecht von Predigern aufstehen,
die so Besitz nehmen werden von der Allgewalt der Wahrheit, daß sie die
alten Lügen mit dem Hauch ihres Mundes zu Fetzen blasen. Kein irdisches
Schauspiel ist so glänzend, keine Dichtung so reich an Wohlklang wie das
große Gesetz des Ausgleichs in unserer sittlichen Natur.
Wenn ein feuriger Geist einmal einen Schimmer dieser
vollendeten Schönheit verspürt, wenn er merkt, wie sie ihn umschlingt,
wie sie sein ganzes Wesen bestimmt, wird er dann leichten Sinnes zurückgleiten
zu dem periodischen Rufen nach »Sühne durch
Blut«?
Ich fürchte, die religiöse Geschichte der Gesellschaft sollte
erweisen, wie rasch die Formen des Gottesdienstes verblassen werden und daß
nun eine Erneuerung und Erhöhung der Predigt zu wirklicher
besorgter Lehre eintritt. S.78f.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 202, Ralph Waldo Emerson,
Die Tagebücher. Ausgewählt von Bliss Perry. Übertragen von Dr.
Franz Riederer.
©1954 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart
Leben
Leben ist ein Spiel zwischen Gott und dem Menschen. Der
eine spaltet sich und geht scheinbar in einen Granatapfel,
eine Königskrone, eine Menschengestalt ein.
Sogleich erblickt der Mensch die herrlichen Dinge und will sie sich verschaffen.
Und wie er jedes an sich reißt, lächelt der Herr und sagt: das bist
du ja selbst, und wenn er sie alle hat, wirst es nur du selber sein. Wir leben
und sterben für eine Schönheit, der wir selber Schaden tun, indem
wir glauben, es sei eine uns fremde Sache. S.197f.
Gott hat uns unbegrenzte Zeit gegeben, wie aber hat er sie gegeben? In
der gewaltigen Strecke eines langsam dahinschleichenden Jahrtausends? Nein,
er hat sie aufgeteilt zu einer Reihe von neuen Morgen, jedesmal mit einer neuen
Idee, neuen Erfindungen und neuen Anwendungsmöglichkeiten. S.299
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 202, Ralph Waldo Emerson,
Die Tagebücher. Ausgewählt von Bliss Perry. Übertragen von Dr.
Franz Riederer.
©1954 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart
Fortwirken
der Heiligen
Ich glaube an das Fortwirken
der Heiligen.
Ich glaube an ihre wirksame
Anrufung.
Ich glaube an ein ewiges Leben.
S.270
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 202, Ralph Waldo Emerson,
Die Tagebücher. Ausgewählt von Bliss Perry. Übertragen von Dr.
Franz Riederer.
©1954 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart