Hermann Ebbinghaus (1850 – 1909)
Deutscher
Psychologe, der zuletzt in Breslau und Halle Professor war. Ebbinghaus förderte insbesondere die experimentelle Erforschung von Aufmerksamkeit
und Gedächtnis. Aus der »Ebbinghaus-Kurve« des Vergessens
zeigt, dass Gelerntes zunächst schnell, dann aber fortschreitend langsamer
vergessen wird, wobei sich die Quotienten aus Behaltenem und Vergessenem
sich etwa umgekehrt wie die Logarithmen der verstrichenen Zeit verhalten. In Bezug auf das Leib-Seele-Verhältnis vertrat er die Auffassung, dass
ein »psychophysischer Parallelismus« ohne Wechselwirkung zwischen Seele und Leib (Gehirn) besteht. Leib und Seele müssen als »ein Wesen gedacht
werden«, das auf »zweifache Weise« - »unmittelbar
und ohne weitere Vermittlung« - »von sich Kunde zu geben vermag«.
Die Religion ist eine »Anpassungserscheinung der Seele«, in der sie sich »Hilfe gegen das undurchdringliche Dunkel der Zukunft und die unüberwindliche
Macht feindlicher Gewalten« schafft. Siehe auch Wikipedia |
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Inhaltsverzeichnis
Psychphysischer Parallelismus, Die Religion
Psychophysischer
Parallelismus.
Auf alle Weise führt mithin die populäre Anschauung von den Beziehungen
zwischen Seele und Gehirn in Schwierigkeiten und Unmöglichkeiten. Wie sollen
wir denn aber von den beiden sagen, daß sie sich zueinander verhalten?
Nun, wenn sie nicht zwei selbständig einander gegenüberstehende und
aufeinander einwirkende Wesen sind, so bleibt wohl nichts anderes übrig,
als daß sie ein Wesen sind. In gewisser
Hinsicht natürlich nur, da ja ihre gleichzeitige Zweiheit und Verschiedenheit,
wenn irgend etwas, doch eine gegebene Tatsache ist. Sie
müssen als ein Wesen gedacht werden, das auf zweifache Weise von sich Kunde
zu geben vermag. Es hat zunächst von sich selber Kunde, unmittelbar und
ohne weitere Vermittlung. Da stellt es sich dar als ein unräumlicher,
unablässig wechselnder und doch vielfach identischer Verband von sinnlichen
Eindrücken, Gedanken, Gefühlen, Wünschen, Idealen, Bestrebungen;
wir nennen es Seele. Dasselbe Wesen aber
vermag auch anderen gleichartigen Wesen Kunde von seinem Dasein zu geben, in
diesem Falle durch mancherlei Vermittlungen, Gesichtssinn und Tastsinn, Mikroskop
und andere Apparate. Wird nun auf solche Weise von ihm Kenntnis genommen, so
erscheint eben das, was unmittelbar und für sich selbst ein Verband von
Empfindungen, Vorstellungen, Gefühlen war, als etwas völlig anderes,
als ein Ausgedehntes, Weiches, Windungsreiches, kunstvoll aufgebaut aus zahllosen
Zellen und Fasern, eben als Gehirn oder überhaupt als Nervensystem. Seele und Nervensystem sind nicht zwei getrennte
und nur äußerlich in Wechselwirkung stehende Parteien, sie sind nur eine Partei, sind
ein und dasselbe Reale, nur dieses ein Mal so, wie es unmittelbar von sich selber
weiß und für sich ist, das andere Mal so, wie es sich anderen gleich¬artigen
Realen darstellt, wenn es von diesen erleidet, was wir gesehen werden oder getastet
werden nennen.
Wenn es so aussieht, als ob äußere Eindrücke auf die Seele wirkten
und sie zu äußerlich hervortretenden Gegenwirkungen veranlaßten,
z. B. wenn jemand auf eine Frage sich besinnt und dann eine Antwort gibt, so
ist das wahre Verhältnis ganz anders aufzufassen. Soweit diese Vorgänge
gesehen oder getastet werden (oder als sichtbare und tastbare
gedacht werden), so weit bilden sie eine lückenlose
Reihe materieller Umsetzungen durch das Nervensystem hindurch; sie verfliegen
nicht in Unsichtbares, noch entstehen sie aus solchem, sondern bleiben eine
völlig geschlossene Folge rein materieller Prozesse, bei denen das Endglied
von dem Anfangsglied zwar unter außerordentlich viel größeren
Verwicklungen, aber doch prinzipiell nach völlig den gleichen physikalisch-chemischen
Gesetzen hervorgebracht wird wie bei einer kunstvollen Maschine. Dieselben
Vorgänge aber haben zugleich, soweit sie durch das Nervensystem hindurchziehen,
unabhängig von ihrem materiellen Aussehen und sozusagen neben ihm noch
ein anderes Leben; sie sind gleichzeitig eine Reihe ganz andersartiger Umsetzungen:
von sinnlichen Wahrnehmungen in Gedanken, Gefühle, Vermutungen, Wollungen.
Die Glieder beider Reihen rufen einander nicht hervor,
noch greifen sie ineinander ein; sie bleiben einander in ihrer Kausalverkettung
völlig fremd. Dennoch gehören sie zugleich Glied für Glied
aufs engste zusammen; sie sind einander parallel,
wie man uneigentlich sagt, denn sie sind vielmehr ihrem eigentlichen Wesen nach
durchaus dasselbe. Und der Schein, als ob die beiden Bekundungsweisen
dieses Selben einander wechselseitig beeinflußten und hervorriefen, beruht
allein auf dem, wenn man will, zufälligen Umstand, daß ihre je zusammengehörigen
Glieder nicht von demselben Bewußtsein zugleich erlebt werden. D. h. wer Gedanken und Gefühle hat, vermag nicht zugleich die Gehirnprozesse
wahrzunehmen, als welche diese Gedanken äußerlich erscheinen oder
doch erscheinen könnten, und umgekehrt weiß der, der bestimmte Gehirnprozesse
studiert, nichts von den seelischen Dingen, die da das unsichtbare Leben dieser
Prozesse ausmachen. Diejenigen materiellen Vorgänge aber, die von
demselben Bewußtsein zusammen mit seelischen Erlebnissen umfaßt
werden können, nämlich die außerhalb des Organismus verlaufenden
Ursachen und Folgen der Gehirnprozesse gehen in der Tat wie ein Bewirkendes
den seelischen Erlebnissen voran oder folgen wie ein Bewirktes ihnen nach.
Natürlich ist es nun nicht erforderlich,
wenn man sich des wahren Verhältnisses der Dinge bewußt ist, ihm
in Worten überall Rechnung zu tragen. Da die einmal gegebenen sprachlichen
Bezeichnungen durchweg der Anschauung einer Wechselwirkung von Leib und Seele
entstammen, so würde eine solche Genauigkeit sogar höchst störend
sein. Man denke sich, man wollte aufhören, von Aufgang und Untergang der
Sonne zu sprechen, seit man weiß, daß die Sonne überhaupt nicht
geht. So wird denn auch hier zwanglos von den Einwirkungen der Außenwelt
auf die Seele oder von den äußeren Folgen seelischer Vorgänge
die Rede sein, ohne daß deshalb die geringste Inkonsequenz des Gedankens
bestünde. S.45f.
Aus: Hermann Ebbinghaus, Abriss der Psychologie, Verlag von Veit & Comp.
In Leipzig 1909
Die
Religion.
Hilfe gegen das undurchdringliche Dunkel der Zukunft und
die unüberwindliche Macht feindlicher Gewalten schafft sich die Seele in
der ReIigion. Unter dem Druck der Ungewißheit und in den Schrecken
großer Gefahren drängen sich dem Menschen nach Analogie der Erfahrungen,
die er in Fällen des Nichtwissens und Nichtkönnens sonst gemacht hat,
naturgemäß Vorstellungen zu, wie auch hier geholfen werden könnte,
so wie man in Feuersnot an das rettende Wasser, in Kampfesnot an den helfenden
Kameraden denkt. Die natürliche Handhabe dazu bietet ihm eine andere,
wie jedes Kind zeigt, überaus naheliegende analogische Übertragung:
der Mensch betrachtet ursprünglich alle Dinge als belebt und beseelt wie
sich selbst und alles Geschehen nach Analogie seines eignen absichtsvollen oder
auch launenhaften Handelns. Sich selbst aber lernt er sehr früh durch eine
seinem primitiven Denken entsprechende Deutung verbreiteter Erfahrungen als
ein Doppelwesen auffassen, als bestehend aus dem äußeren, jedermann
sichtbaren schwerfälligen Leibe und einem darin sitzenden beweglichen,
feinen, schattenhaften Wesen, der Seele. Im Traum z. B. glaubt er die Unabhängigkeit
der beiden voneinander deutlich zu erkennen: da verläßt
die Seele den Leib, fliegt anderswohin in bekannte und unbekannte Gegenden und
erlebt die seltsamsten Dinge. Ebenso in der eindrucksvollen Erscheinung des
Todes.
Heute spricht der Mensch, bewegt sich, schadet einem oder nützt einem,
morgen liegt er starr da, und von alledem ist keine Rede mehr. Freilich kann
man nicht sehen, was denn diesen ungeheuren Unterschied hervorgebracht hat,
aber es ist doch zweifellos etwas vorhanden, was in dem Lebenden gegenwärtig
war, der eigentliche Träger seiner Kräfte, seiner
Bedürfnisse, seiner feindlichen und freundlichen Gesinnungen, und nun aus
dem Toten davongeflogen ist und sich unsichtbar anderswo aufhält. Gibt
es ferner nicht Besessene, die es unmittelbar empfinden, daß ein anderes
Wesen in sie hineingefahren ist und sie nun zwingt, sich in Krämpfen auf
dem Boden zu wälzen oder auf andere loszufahren? Die plötzlich mit
fremdklingender Stimme verzückt und prophetisch zu reden vermögen
und nach einiger Zeit wieder ruhig werden, wenn eben jener Dämon sie wieder
verlassen hat?
In Übertragung dieser Vorstellungen bevölkert der Mensch nun alle
Dinge zwischen Himmel und Erde, nicht nur Tiere und Pflanzen, sondern auch Felsblöcke
und Holzstücke, Seen und Wasserläufe, die Witterungserscheinungen
und Gestirne mit einer Fülle von Dämonen, Geistern, abgeschiedenen
Seelen, Gespenstern, die, mit menschenähnlichen Kräften ausgerüstet,
aber seinem eignen Wissen und Können vielfach weit überlegen, bei
allem Geschehen ihre Hand im Spiele haben. Aber nicht etwa aus Vergnügen
an theoretischen Spekulationen verfährt er so, um einem Bedürfnis
nach Erklärung zu genügen, wie wohl gesagt wird; davon wird der primitive
Mensch wenig gedrückt. Sondern um der lebendigsten praktischen Interessenwillen:
um die Dinge behandeln zu können,
um mit ihnen nach seiner kindlichen Kenntnis oder vielmehr Unkenntnis ihres
Verhaltens fertig zu werden. Indem er nämlich die Dinge vermenschlicht,
gewinnt er die Möglichkeit, mit ihnen zu verfahren, wie er es mit Menschen
gewohnt ist, kann er sich ihrer Gunst und ihrer Hilfe für seine Zwecke
versichern, erhält er also eine gewisse Gewalt über sie. Und da er
dessen dringend bedarf, gewinnen diese Geister ohne weiteres reale Existenz
für ihn. Wie das Bedürfnis, sich aufrechtzuerhalten und nicht
zu verzweifeln, bei jener Mutter den Glauben an die Zukunft ihres Sohnes
erzeugte (S.145) so schafft es hier den Glauben
an die Wirklichkeit der von dem Assoziationsspiel der Gedanken hervorgerufenen
Geister. Sie müssen existieren, weil sie aufs
notwendigste gebraucht werden; ohne sie wäre überall Ratlosigkeit
und Ohnmacht.
Naturgemäß entstehen sie von vornherein in zwei Arten,
denselben, die auch die Menschen in ihrem Verhalten gegeneinander unterscheiden.
Die einen sind feindlich, tückisch, bösartig. Sie bringen eben all
das Ungemach an Krankheiten und Gefahren über den Menschen, dessen er sich
aus eigner Kraft nicht zu erwehren vermag. Was man von ihnen erlangen kann,
ist bestenfalls, daß sie aufhören, zu schaden. Die Gefühle,
die sie einflößen, sind Furcht und Angst; man zittert vor ihnen.
Die anderen dagegen sind freundlich, hilfreich, gütig. Sie unterstützen
den Menschen in der Abwehr der von jenen Unholden verursachten Übel, leisten
ihm Beistand in den Kämpfen gegen seinesgleichen, lassen ihn namentlich
auch teilnehmen an ihrem Wissen um die Geheimnisse der Zukunft. Man kann sich
ihnen vertrauend und hoffend hingeben; man ist ihnen dankbar und kann sie lieben.
Auf den niedersten Kulturstufen, wo der Mensch sich noch sehr machtlos und auf
Schritt und Tritt von unheimlichen Gefahren umlauert fühlt, überwiegt
begreiflicherweise durchaus das Gefühl der Furcht und dementsprechend der
Glaube an böse Geister und Dämonen. Auf höheren Stufen dagegen,
wo der reiferen Einsicht in den Zusammenhang der Dinge und der größeren
Macht über sie ein gewisses Selbstvertrauen und ein stärkeres Hoffen
entspringt, tritt auch das Gefühl des Zutrauens zu den unsichtbaren Mächten
in den Vordergrund und eben damit der Glaube an gute und
wohlwollende Geister. Aber im ganzen bleiben beide, Furcht und Liebe nebeneinander,
dauernd charakteristisch für das Fühlen des Menschen gegenüber
seinen Göttern, nur eben je nach Umständen beide in verschiedenem
Verhältnis zueinander.
Um nun die erwünschte Hilfe dieser Götter zu erlangen, muß man
sich ihnen, so gestaltet sich der Glaube sinngemäß weiter, ganz in
derselben Weise nahen, wie Menschen, deren Gunst man gewinnen will. Man muß
sie eindringlich bitten, ihnen schmeicheln, vielleicht auch drohen, muß
ihnen für den Fall der geleisteten Hilfe Gegengaben, weitere Verehrung
und treuen Gehorsam versprechen, namentlich aber nicht versäumen, ihnen
vorweg schon Geschenke darzubringen. Gebet also, Gelübde und Opfer sind
die je nach Umständen anzuwendenden Mittel. Sehr früh schon tritt
ein weiterer Gedanke hinzu. In Fällen, in denen dem primitiven Denken die
Einwirkung dämonischer Wesen besonders deutlich ist, bei der Behandlung
von Krankheiten nämlich, vor allem von Geisteskrankheiten, erweisen sich
einzelne Personen wesentlich geschickter als die übrigen. Offenbar verstehen
sie also die Kunst des Verkehrs mit jenen Geistern besonders gut, vielleicht
weil sie ihnen in ihrem eignen Wesen besonders nahestehen; auf alle Fälle
tut man gut, sich ihrer Vermittlung zu bedienen. So erwächst aus dem Medizinmann
der Priester, der bald den richtigen Verkehr mit den Göttern durch mannigfache
Zeremonien und geheimnisvolle Gebräuche oder auch durch die Notwendigkeit
des Verständnisses heiliger Schriften zu einer verwickelten und nur ihm
geläufigen Angelegenheit ausbildet. Aber sein Ansehen beruht darauf, daß
er nun jenes Zwiefache auch leistet, was man von den Göttern erwartet.
Weissagen und Zaubern müssen die
Priester können, die Zukunft vorhersagen und Hilfe gegen die großen
Gefahren bringen: das ist ihr Amt und zugleich auch ihre Beglaubigung. Noch
die Apostel legitimieren sich durch Weissagungen und Wunder.
Das sind die Wurzeln der Religion. Sie ist eine Anpassungserscheinung
der Seele an bestimmte üble Folgen ihres vorausschauenden Denkens
und zugleich eine Abwehr dieser Folgen mit den ihr zur Verfügung stehenden
Mitteln. Furcht und Not sind ihre Mütter; und obwohl sie im wesentlichen
durch Autorität fortgepflanzt wird, nachdem sie einmal entstanden ist,
so wäre sie doch längst ausgestorben, wenn sie aus jenen beiden nicht
immer wieder neugeboren würde. Ist die Not groß und die Furcht, so
erstarkt auch die Religion. Die Kirchen füllen sich und die Wallfahrten
mehren sich in Kriegszeiten und bei verheerenden Epidemien. Im Drange der Schlacht,
bei schwerer Erkrankung, auf dem sinkenden Schiff findet mancher ein Stoßgebet,
dessen Lippen sich sonst dazu nicht bewegten. Aber auch wenn nicht besonders
groß, irgendwie sind Furcht und Not immer da. Die
weitestgehende Einsicht und die höchste Macht vermögen immer nur,
die Grenzen etwas weiter zurückzuschieben, hinter denen sie anfangen, nie,
sie völlig zu beseitigen, und immer bringen
sie daher auch, zu jeder Zeit wie noch zu aller Zeit, die Religion hervor,
vorausgesetzt, daß man ihnen nicht täppisch dazwischenfährt.
Natürlich bedarf nun die Aufrechterhaltung des Glaubens an die Götter
der Übereinstimmung mit der Erfahrung oder doch der Vermeidung allzu starker
Widersprüche mit ihr, namentlich bei der Frage nach den Erfolgen
des göttlichen Wirkens. Stimmt die erhaltene Aufklärung über
die Zukunft mit dem Lauf der Dinge überein, wird die drohende Gefahr glücklich
bestanden, so ist handgreiflich der klarste Beweis erbracht für die Hilfe
des Gottes, für seine Macht, für die Wahrheit des Glaubens an ihn.
Vielfach indes entspricht der Erfolg der Gebete und Opfer nicht den Erwartungen.
Aber da erbetene Hilfe von Menschen auch nicht immer gewährt wird, so bieten
sich dafür mannigfache Erfahrungen als Erklärung dar. Vielleicht war
das Gebet nicht stark genug, das Opfer nicht in den richtigen Formen dargebracht
oder nicht am richtigen Orte; »Jerusalem ist die
Stätte, da man anbeten soll.« Oder der Bittende hat Gott beleidigt,
erzürnt; es geschieht ihm ganz recht, daß er jetzt dafür durch
Nichterhörung gestraft wird; »meinest du, daß
Gott unrecht richte?« Oder wenn er selbst
glaubt, gerecht gegen Gott bestehen zu können, gegen Gott, der doch auch
seine geheimsten Verfehlungen kennt, vielleicht hat ihm Gott eine Prüfung
schicken wollen, ob auch sein Glaube standhielte und seine Frömmigkeit
nicht wiche, wenn Gesundheit und äußere Güter sie nicht belohnen.
Oder endlich: die Wege und Gerichte Gottes sind unerforschlich;
»wer hat des Herrn Sinn erkannt?« wer
ihm etwas vorweg gegeben, dessen Wiedervergeltung er fordern dürfte?
Er handelt nach seiner Weisheit; der Mensch hat sich in Demut zu beugen. Bisweilen
freilich wird diese Unterwerfung und die Anpassung des Glaubens an widerstreitende
Erfahrungen sehr schwer. Wenn der Gläubige und Gott
untadelig Dienende doch dauernd leidet, die Gottlosen dagegen und Gottes Spottenden
nicht geplagt werden, sondern »glückselig
sind in der Welt und reich werden«, so ist es nicht leicht, ein
Straucheln der Gedanken zu verhüten und ein Irrewerden
an Gott. Doch der Glaube findet die Lösung, nicht überall,
aber an manchen Stellen, und schon seit Jahrhunderten ist sie jetzt aus einer
Geheimlehre hellenischer Sekten zu einer über den ganzen Erdball verkündeten
Botschaft geworden: selbst die bis hin zum Grabe nicht befriedigte Hoffnung
auf Gott findet noch ihre volle Erfüllung. Über das Grab hinaus trägt
der Glaube die Jenseitshoffnung. Gerade jenes Unbegreifliche
ist die von Gott gewollte Ordnung. Der Fromme
muß leiden. Sein gegenwärtiges Leben ist nur ein einleitender
und untergeordneter Teil seines ganzen Daseins. Die Seele
lebt ewig, vorübergehend an den Leib und seine Bedürfnisse
gebunden, hinterher dauernd ohne ihn. Wer nun in dem jenseitigen,
leibfreien Dasein des darin bereiteten Glückes teilhaftig werden
will, muß sich in diesem schon darauf vorbereiten durch Hinwendung
zu Gott und Abkehr von dem Fleisch und seinen Genüssen, d. h. eben durch
Leiden. Dafür wird er dann dort durch ewige Freuden belohnt werden, ganz
anders, als sie die Welt zu bieten vermag, durch Teilnahme an der wunschlosen
Seligkeit Gottes; den Gottlosen dagegen treffen ewige Strafen.
In der bestimmteren Ausgestaltung der Vorstellungen vom
Wesen der Götter hängt der Glaube, wie oben von jedem Bedürfnisglauben
gesagt, aufs engste zusammen mit dem jeweiligen Wissen, überhaupt mit der
Gesamtheit der jeweiligen Anschauungen und dem ganzen Kulturzustand. Dadurch
werden außerordentliche Verschiedenheiten der einzelnen Religionen hervorgebracht,
so daß die Betrachtung, die sich zumeist auf die uns nahestehenden höheren
Formen beschränkte, das wahre Wesen der gesamten hierher gehörigen
Bildungen bis in die neuere Zeit meist gar nicht erkannt hat. In primitiven
Verhältnissen, in denen jeder für seine sämtlichen Bedürfnisse
selbst zu sorgen hat, die Einsicht in die gesetzmäßige Verkettung
der Dinge gering ist, das Ganze eine ungegliederte Vielheit selbständiger
kleiner Einheiten bildet, gilt dasselbe von den Göttern. Jeder kann in
der Hauptsache alles, wenn auch vielleicht nicht alles gleich gut, und gebraucht
seine Macht ganz nach Laune und Willkür. Einzelne sind etwas stärker,
andere etwas schwächer, aber mit geringen Unterschieden; im ganzen bilden
sie eine unorganisierte Masse gleichberechtigter Individuen, sich bekriegend,
sich verbündend, ganz wie die Menschen, nach deren Vorbild sie geschaffen
sind. Aus den kleineren Einheiten werden größere, Stämme, Clans;
entsprechend werden die Götter zu Stammesgottheiten, mit größeren
Unterschieden voneinander je nach den besonderen Lebensbedingungen ihres Stammes.
Die Gesellschaft gliedert sich; von oben nach unten gibt es Herrschende und
Dienende verschiedenen Grades; alsbald bilden auch die Götter ein hierarchisch
abgestuftes Reich. Verschiedene Berufsstände treten auseinander: Handwerker,
Ackerbauer, Händler; wieder folgen die Götter: der eine besorgt das
Kriegswesen, ein anderer den Weinbau usw. Mannigfache Verwicklungen im einzelnen,
die Unterjochung eines Volkes und Assimilierung seiner Religion, die Erweiterung
des Gesichtskreises durch Handelsbeziehungen, ändern wenig an dem großen
Gange dieser Entwicklung. Von der größten Bedeutung für sie
aber wird ein Zwiefaches.
Erstlich die Ausbildung eines höheren sittlichen Bewußtseins: die
Erweiterung der sittlichen Forderungen über die ihnen ursprünglich
allenthalben gesteckten nationalen Schranken, die Schätzung der Handlungen
nach der Gesinnung. Was der Mensch als Ideal für sich zu fordern beginnt,
das trägt er sogleich sich selbst zum Vorbild in seine Götter:
sie werden sittliche Gestalten. Das aber hat für sie eine doppelte
Folge. Einmal eine Vertiefung und Verinnerlichung ihres Wesens. Ihre äußere
Menschenähnlichkeit, der niedere Anthropomorphismus wird abgestreift. Die
Götter wohnen nicht in Tempeln von Händen gemacht; sie sehen, hören
und bewegen sich auch nicht wie menschliche Wesen; sie sind rein geistiger Natur.
Auch die äußere Gottesverehrung, die strenge Befolgung kultischer
Vorschriften tritt zurück. Was die Götter wollen, ist nicht das Blut
von Opfertieren und die Heilighaltung bestimmter Tage, sondern ein reines und
auf das Gute gerichtetes Herz, frommer Wandel und gute Taten. Sodann aber steht
die Versittlichung der Götter in enger Beziehung zu ihrer Vereinheitlichung.
Die Sittlichkeit ist nur eine, und wenn sie das Hauptattribut der Götter
ausmacht, so verlieren sie ihre Gegensätzlichkeit. Hört die Sittlichkeit
außerdem auf, nur für die Volksgenossen zu gelten, muß man
Gerechtigkeit auch gegen den Feind walten lassen, so wird für die Götter
als ihre Träger die nationale Schranke gleichfalls aufgehoben. Leicht verlieren
sie dann überhaupt ihre Vielheit: sie werden zu einem
Gott. Wegen dieses Zusammenhanges sind alle die
großen Versittlicher und Verinnerlicher der Religion, die
jüdischen Propheten, Zarathustra,
Plato, zugleich auch Vertreter
einer einheitlichen Gottheit. Andere Gründe kommen hinzu: ein starkes
Stammesbewußtsein bei den Juden — unser Gott
ist stärker als euer Gott, euer Gott ist überhaupt kein Gott —,
theoretische Erwägungen bei den Griechen; so tendieren die
höheren Religionen nach dem Monotheismus, obwohl es ihnen, wie die halbgottähnlichen
Bildungen des Christentums zeigen, schwer wird, ihn gegen die widerstrebenden
Bedürfnisse der Masse zu erreichen.
Das andere überaus bedeutungsvolle Moment ist die Erweiterung des Wissens.
Der Mensch merkt allmählich: die Dinge sind vielfach weit davon entfernt,
so von Laune und Willkür hin und her geworfen zu werden, wie er es an sich
selbst freilich beobachten kann. In immer weiterem Umfange lernt er feste Regeln
kennen, denen sie folgen, und durch deren Beobachtung er die erwünschte
Gewalt über sie in die eignen Hände bekommt. Kühne Pioniere des
Denkens behaupten bald: so verhält es sich nicht nur vielfach, sondern
ausnahmslos, und nicht nur das materielle Geschehen, sondern auch das geistige
folgt unverbrüchlichen festen Gesetzen. Weitere Erfahrungen bestätigen
die Behauptung; es wird bald schwer, sich ihrer Anerkennung zu entziehen. Damit
scheint der Religion jeglicher Boden genommen, denn wenn die Gottheit nicht
willkürlich eingreift in die Dinge und die Herzen der Menschen, wie kann
sie helfen? Indes das unverändert bleibende religiöse Bedürfnis
vermag sich auch dieser Wandlung der Anschauungen anzupassen. Die Formen und
Begriffe, in denen es sich ausgeprägt hat, bilden sich um, sie ändern
ihren Sinn, zum Teil büßen sie ihn ein; es entsteht die höchste
Form der Religion, wie sie mit mehr oder weniger Folgerichtigkeit von
manchen Philosophen ausgebildet ist; aber das innere Wesen der neu eingekleideten
Bildung bleibt dasselbe, und so behält sie auch die gleiche Bedeutung.
Das Gebet z. B. erhält einen rein seelischen Wert
für den Bittenden; es erfüllt ihn mit Hoffnung, Zuversicht, Mut, und
vielleicht leistet er nun wirklich aus eigner Kraft, wozu er, verzweifelnd an
sich, fremder Hilfe zu bedürfen glaubte. Das Weissagen wird eine
Sache der Gelehrten, freilich in anderem Sinne als zuvor. Aber in dem ursprünglichen
Sinn beschränkt schon das Christentum — offenbar sehr zweckmäßig
— es auf die Propheten und Apostel. Auch das Zaubern in dem ursprünglichen
Sinne wird unmöglich; in einem neuen Sinne geht es gleichfalls auf die
Gelehrten, namentlich aber auf die Techniker über. Allein auch hier hat
schon das Christentum, zögernder zwar als bei dem Weissagen — das
Zaubern ist für den praktischen Bedarf die wichtigere Sache — stark
vorgearbeitet.
Zauberische Eingriffe in die Vorgänge der äußeren Welt kennt
es zum Teil gar nicht mehr, zum Teil nur noch als eine Fähigkeit der Heiligen.
Die Zaubermacht des Priesters dagegen beschränkt es auf rein geistige Wirkungen:
in den Sakramenten vollbringt er eine Art magischer Heiligung. Die
Gottheit endlich, die in Gefahr steht, bei der Leugnung freier Eingriffe in
die Welt dieser ganz entfremdet zu werden, wird, altem Sehnen vieler Gläubigen
folgend, vielmehr ganz in sie hineingezogen. Gott
ist die Welt, d. h. die Welt an der einigen Wurzel ihres Daseins
gefaßt, die Fülle der Dinge an ihrer Quelle. Die
Gesetze des Verhaltens der Dinge sind nicht äußere Wirkungen Gottes,
sondern seine eigensten Betätigungen, auch die Gesetze der Seele; er ist
in dir, in mir, überall. Die Hilfe, die er
gewährt, besteht nicht in äußeren Vorteilen, sondern in innerem
Gewinn:
Verständnis des Wesens Gottes, des Zusammenhangs
der Dinge in ihm und ihres notwendigen Hervorgehens aus ihm und dadurch Anerkennung
und Geltenlassen der Dinge, auch wo sie uns Unheil bringen, oder auch
(mystisch gewandt): Versenkung in Gott, Erhebung zu ihm und Einswerden
mit ihm, dem Übersinnlichen und dadurch Befreiung von den sinnlichen Dingen
und ihren Leiden.
Aber wie ungeheuer der Unterschied auch sein möge zwischen dem Glauben
Luthers, der seinem Herrgott »den
Sack vor die Tür wirft« und ihn energisch darauf hinweist,
daß er nach den gegebenen Verheißungen sein Gebet um die Erhaltung
Melanchthons durchaus erhören müsse, wenn man ihm anders noch trauen
solle, der dem Teufel mit der Gebärde eines Landsknechts seine vollkommenste
Verachtung ausdrückt, und dem Glauben Spinozas,
dessen Gott sich zu demjenigen
Luthers verhält »wie
das Sternbild des Hundes zu dem irdischen heilenden Hund«, dessen
Leben in Gott gleich ist der Betrachtung des großen
vernünftigen Zusammenhangs aller Dinge das, was beide in ihrem Glauben
suchen und was sie in ihm finden, ist genau dasselbe, eben das, was
aller Religion gemeinsam ist: Schutz vor dem unheimlichen Unbekannten und vor
den Schrecken des Übergewaltigen, Ruhe für das unruhige Herz.
Allein, das Leben ist wie eine Hydra. Zwei dräuende Köpfe schlägt
die Seele siegreich ab mit Hilfe der Religion, zwei andere wachsen nach, schwerer
zu überwinden als jene. Durch einige ihrer Grundeigenschaften tritt die
Religion hier in einen Gegensatz, dort in ein freundliches Verhältnis zu
anderen Bildungen, jenes durch ihr eigentümliches Verhältnis zum Wissen,
dieses durch ihre Wirkung. Beides führt in eine Reihe neuer Schwierigkeiten.
1) Aus begreiflichen Gründen
hat die Religion von allen Schöpfungen des Seelenlebens die stärkste
Beharrungstendenz. Ihre Lehren, Vorschriften, Gebräuche umkleiden sich
mit göttlicher Autorität, und Gott ist unwandelbar.
Aber das Wissen ist nicht unwandelbar; wieviel gilt für uns noch
von dem, was vor 1000, 500, 100 Jahren galt? Nun hat die Religion sich mancherlei
Wissen angegliedert, zögernd vielleicht, etwas hinterher hinkend. Aber
was sie einmal aufgenommen und zu ihrer Lehre gemacht hat, das muß sie
dann zähe festhalten und energisch verteidigen. Schichtenweise liegen in
einer älteren Religion Wissensreste und Anschauungsreste längst vergangener
Generationen, die sie nun ohne einen gewaltsamen Bruch nicht leicht abstoßen
kann.
Daraus ergibt sich ein tiefer Zwiespalt, der im Grunde immer klafft, höchstens
einmal etwas weniger klafft. Immer rütteln die Wissenden an dem altehrwürdigen
schlichten Glauben der Vorfahren, den sie, ohne ein inneres Doppelleben zu führen,
nicht teilen können, und immer verkünden die Priester, daß nur
bei ihnen ewige Wahrheit sei und bei jenen Besserwissern nichts als umstrittene
Hypothesen. Welch schwerer Kämpfe hat es bedurft, um von der geozentrischen
Weltanschauung loszukommen, und wie erbittert und unsinnig ist gegenwärtig
wieder die Bekämpfung der biologischen Entwicklungslehre! Wie
unwürdig sind die jämmerlichen, aber nicht aufhörenden Versuche,
die gewaltige Poesie des dem Christentum angegliederten jüdischen Schöpfungsmythus
auf moderne Kosmologie und Geologie hinauszuspielen oder sonstwie um seine schlichte
Anerkennung als Mythus herumzukommen! Im späteren Altertum hatte
man über die Gottheit in ihrem Verhältnis zu den Dingen die Vorstellung,
daß sie gleichzeitig gleichsam hier und dort sein könne. Was man
meinte, sah man anschaulich verwirklicht in zahlreichen Vorgängen, z. B.
in der Sonne, die ihre Strahlen ewig überquellend hinaussendet durch die
ganze Welt und dabei doch unerschöpflich und ewig dieselbe an ihrer Stelle
verharrt, oder in der Pflanze, deren Triebkräfte sich durch ihren ganzen
Bau, in Zweigen, Blättern und Blüten entfalten, aber doch zugleich
ungeschwächt und unvermindert in der Wurzel beisammen bleiben.
Die christlichen Theologen erwiesen sich als moderne und dem höchsten Denken
ihrer Zeit Rechnung tragende Männer, indem sie diese Vorstellung auch für
ihre Zwecke verwandten und den Begriff der
Dreieinigkeit ausbildeten. So kennt die philonische
Philosophie vor ihnen eine Art Zweieinigkeit, die neuplatonische zu ihren Zeiten
eine Viereinigkeit. Aber die Anschauungen haben sich gewandelt; jene
Vorstellung von sich ausstrahlenden Realitäten, die zugleich unbeeinträchtigt
bei sich bleiben, ist dahin und hat für unser Denken der Dinge keinerlei
Bedeutung mehr. Jeder Schüler weiß, daß die Strahlungsenergie,
die die Sonne hinaussendet, ihr selbst verloren geht, und daß sie an ihr
unrettbar zugrunde geht, soweit ihr kein Ersatz zugeführt wird. Und
so ist denn die Trinität für uns zu einer völlig toten Formel
geworden. Einzelne wenige wissen historisch, was mit ihr einmal gemeint
war; wahrhaft lebendige und auch sonst für die Betrachtung der Dinge wirksame
Kraft hat sie für niemand. Aber die For¬mel ist da; sie verhindert
die Angliederung anderer und nun unserem
Denken entsprechender Vorstellungen an die christlichen Lehren, aber offenbar
führt ihre Herauslösung aus dem Dogma in die größten Schwierigkeiten.
2) Die Religion ist für den,
der sie besitzt, wie gezeigt, ein Mittel in dem großen Erhaltungskampf.
Aber wie alles, was die Seele hervorbringt, wird sie alsbald nach ihrem Entstehen
auch ein Mittel des Erhaltungskampfes für andere,
ganz unabhängig davon, ob sie sie selbst besitzen und also ihre Frucht
aus jenen allgemeinen Gründen mitgenießen oder nicht. Daß sie
es für die Priester wird, ist selbstverständlich so wird es die Heilkunde
für den Arzt, der Kriegsdienst für den Soldaten. Auch daß ihre
Verwertung als Mittel bei diesen dann bisweilen zur Heran¬ziehung seltsamer
Hilfen führt, ist erklärlich und nicht ohne Parallele bei anderen
Berufen. Viel wichtiger ist ein anderes. Die Religion
ist ihrer Natur nach, aber man kann hinzufügen zu ihrem Unglück, ein
vorzügliches Kampfmittel in jenem Kampf der Herren gegen die Sklaven,
von dem oben (S. 168) die Rede war. Sie gibt dem
Menschen Ruhe. Ruhige Menschen aber sind eher zufrieden mit ihrem Lose als unruhige
und daher leichter zu behandeln.
Sie lehrt unter Umständen, daß es auf Glanz
und Reichtum in diesem Leben gar nicht ankomme; im Gegenteil, daß es dem
Armen und Bedrückten dort in dem Folgeleben, das ihn erwarte, nur um so
besser gehe. Ja, sie betont mit Nachdruck, obwohl nicht entstanden, um Furcht
zu erregen, sondern um Furcht zu überwinden, daß dem an solche Lehre
nicht Glaubenden und ihren Vorschriften nicht Folgenden einmal schwere Strafen
bevorstehen. Das war freilich nicht der ursprüngliche Sinn dieser
Lehren, die als Wohltat für den Leidenden sich bildeten, daß er durch
sie in seinen Leiden festgehalten würde, aber daß sie diese Anwendung
gestatten, ist zweifellos. Daher haben sich von jeher
die Herren mit Eifer der Religion bemächtigt als eines gewaltigen Mittels,
die unruhigen Untergebenen niederzuhalten, eines Mittels wirksamer als die rohe
Gewalt, weil es minder leicht gewaltsame Reaktionen hervorruft. »Wie
sollen wir die Leute vor der Sozialdemokratie behüten, wenn sie nicht mehr
in die Kirche gehen?« sagt der Gutsherr. »Ein
Soldat ohne Gottesfurcht ist nur ein Matz« sagt der General . »Thron
und Altar« wird der Wahlspruch der Könige. Diese ungeheure
praktische Bedeutung der Religion wirkt natürlich zurück auf ihre
Vertreter. Die Macht, die sie an sich schon besitzen, wird aufs höchste
gesteigert, und indem sie nun dadurch wiederum leichter in Widerstreit geraten
mit anderen Mächten, entstehen die schwersten Verwicklungen und Probleme
des Gesellschaftslebens.
Ob und wie die Seele auch alle diese Schwierigkeiten einmal durch erneute Anpassungen
überwinden wird, läßt sich nicht sagen, da es ihr noch nicht
gelungen ist. Vielleicht geschieht es einmal durch Ausbildung
der Einsicht als allererster und selbstverständlicher Weisheit der
Diener der Religion, daß sie, um die Religion
zu erhalten, nicht Geologie, Astronomie, Biologie und am allerwenigsten
Psychologie und Politik betreiben müssen, sondern Religion. S.169ff.
Aus: Hermann Ebbinghaus, Abriss der Psychologie, Verlag von Veit & Comp.
In Leipzig 1909