Johannes Duns Scotus (um 1266 – 1308)

  In Duns (Schottland) geborener scholastischer Theologe und Philosoph der in Cambridge Oxford, seit 1302 in Paris und seit 1307 in Köln lehrte. Duns Scotus – auch »doctor subtilis« genannt - war der bedeutendste Denker der Franziskanerschule. Er suchte eine neue, selbständige Synthese des Augustinismus der älteren Franziskanerschule (Bonaventura) mit den Grundlehren des Aristoteles, dem er kritischer als Thomas von Aquino gegenüberstand und daher auch dem Thomismus in vielen Punkten entgegentrat. So schränkte er den Bereich der natürlichen Vernunft und der Philosophie stärker gegenüber dem Glauben und der Theologie ein als Thomas und bewertete den Willen und die Liebe höher als die Einsicht; er neigte daher dazu, den Bereich der freien Willensentscheidungen eher zu erweitern als einzuschränken. Der von ihm begründete Scotismus ist daher philosophisch eine mittelalterliche Vorstufe des subjektiven und traditionskritischen Denkens der Neuzeit gewesen.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

 

Das erste Bewirkende und letzte Ziel
Herr unser Gott, gar viele Vollkommenheiten, welche den Philosophen von Dir bekannt waren, können nach dem Gesagten die Katholiken von Dir vielfältig erschließen. Du bist das erste Bewirkende, Du das letzte Ziel, Du der Höchste an Vollkommenheit, alles überschreitest Du. Du bist völlig unverursacht, daher unerzeugbar und unvergänglich; ja Du kannst ganz unmöglich nicht sein, denn Du bist aus Dir selbst Notwendigsein; und so auch ewig, denn zugleich besitzest Du die Unbeendbarkeit der Dauer ohne das Vermögen zu einem Nacheinander; denn ein Nacheinander kann nur sein in einem ständig Verursachten oder wenigstens im Sein von einem anderen Abhängenden, und diese Abhängigkeit ist weit entfernt vom im Sein aus sich Notwendigen.

Du lebst das Leben höchsten Ranges, denn Du bist verstehend und wollend. Du bist selig, ja wesentlich Seligkeit, denn Du bist Begreifen Deiner selbst. Du bist klare Schau Deiner selbst und freudvollste Liebe; und wenngleich Du, allein in Dir selig, Dir selbst in höchstem Maße genügst, verstehst Du doch zugleich alles Verstehbare aktuell. Du kannst zugleich alles Verursachbare kontingent
[»von der Möglichkeit her wirklich«] und frei wollen und wollend verursachen; in wahrstem Sinne bist Du also von unendlichem Vermögen. Du bist unbegreifbar, unendlich; denn nichts Allwissendes ist endlich, nichts von unendlichem Vermögen ist endlich, und weder das Höchste im Seienden noch das letzte Endziel ist endlich, noch ist vollends das durch sich existierende Einfache endlich.

Du bist am Ende der Einfachheit; keine Teile hast Du, die sachlich geschieden wären, keine Sachwirklichkeiten hast Du in Deinem Wesen, die nicht der Sache nach selbig wären. In Dir ist keine Quantität, kein Akzidens zu finden; und so auch bist Du nicht in den Akzidentien veränderlich, so wie ich oben schon ausdrücklich sagte, dass Du in Deiner Wesenheit unveränderlich bist.

Du allein bist schlechthin vollkommen; nicht vollkommener Engel oder Körper, sondern vollkommenes Seiendes, dem nichts an Seiendheit fehlt, die überhaupt einem Seienden innewohnen kann. Nicht jede Seiendheit kann einem Seienden als Formbestimmtheit innewohnen; doch kann sie (entweder) als Formbestimmtheit oder in der Weise des Vorrangs in einem besessen werden, so wie Du, Gott, sie besitzest, der Du der Höchste von allem Seienden, ja allein unter den Seienden unendlich bist.

Du bist gut ohne Grenze, die Strahlen Deiner Güte teilst Du aufs sa freigebigste mit; zu Dir dem Liebenswürdigsten eilt jedes Einzelne zurück, je auf seine Weise, als zu seinem letzten Ziel.

Du allein bist die erste Wahrheit; denn was nicht ist, als was es erscheint, ist falsch; also ist ein anderes ihm Grund seines Erscheinens, denn wenn allein seine Natur ihm Erscheinensgrund wäre, erschiene es als das, was es ist. Dir ist nichts anderes Grund des Erscheinens, denn (alles erscheint) in Deiner Wesenheit, die Dir zu allererst erscheint; und dadurch ist Dir nichts Späteres Grund des Erscheinens.

In jener Wesenheit, sage ich, ist jegliches Verstehbare durch den vollkommensten Verstehensgrund Deinem Verstand gegenwärtig. Du bist also die strahlendste verstehbare Wahrheit und die untäuschbare Wahrheit und begreifst jede verstehbare Wahrheit aufs gewisseste. Das andere nämlich, was in Dir erscheint, erscheint nicht als Dir innewohnend, um Dich dadurch zu täuschen, dass es in Dir erscheint; denn dieser Erscheinensgrund hindert nicht, daß der eigene Grund des durch ihn Gezeigten Deinem Verstande erscheine. Wie unser Sehen getäuscht wird, wenn das Erscheinen eines ihm Äußeren jenes, was ist, am Erscheinen hindert, so ist es nicht (der Fall) in Deinem Verstande; vielmehr, wenn Deine Wesenheit erscheint, dann erscheint Dir jedes in ihr Aufleuchtende aus ihrer vollkommensten Klarheit in seinem ihm eigentümlichen Grunde.

Aus: Johannes Duns Scotus: Abhandlung über das erste Prinzip (Tractatus de primio principio) Lateinisch/Deutsch (S.125-127) Herausgegeben und übersetzt von Wolfgang Kluxen
Texte zur Forschung Band 20, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt © by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt
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