Arthur Drews (1865 – 1935)

Deutscher Philosoph, der – beeinflusst von Eduard von Hartmann – eine pantheistische Metaphysik entwickelte und die geschichtliche Existenz Jesu verleugnete. In seiner Schrift »Die Christusmythe« versucht Drews zu beweisen, »dass so ziemlich alle Züge des historischen Jesusbildes einen rein mystischen Charakter tragen und keine Veranlassung besteht hinter der >Christusmythe< eine historische Gestalt zu suchen«. Nicht der »vermeintliche historische Jesus«, sondern Paulus sei »jene >große Persönlichkeit<, die das Christentum als eine neue Religion ins Leben gerufen und ihr durch den spekulativen Hochflug seines Geistes und die Tiefe seiner sittlichen Empfindungsweise die Kraft mit auf den Weg gegeben, die ihr den Sieg über die konkurrierenden Religionen verschafft« habe. Ohne Christus sei die Entstehung des Christentums sehr wohl verständlich, ohne Paulus jedoch nicht.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

 

Die Christusmythe

Die hellenistische Idee des Mittlers bei Philo
Der paulinische Jesus
Der evangelische Jesus
Der synoptische Jesus
  Anhang: Jesus in der Profanliteratur
Die Einwände gegen die Leugnung des synoptischen Jesus
Der wahre Charakter des synoptischen Jesus
Der Gnostizismus und der johanneische Jesus

Die hellenistische Idee des Mittlers bei Philo
Mit der Eroberung des persischen Weltreichs durch Alexander war auch Palästina in den Kulturbereich des Hellenismus hineingezogen worden. Es war zunächst Vasall des ptolemäischen Ägyptens gewesen und sodann zu Anfang des zweiten Jahrhunderts v. Chr. unter die Oberhoheit des seleukidischen Syriens gekommen. Griechische Sitten und griechisches Geistesleben drangen in die stille Abgeschlossenheit des jüdischen Priesterstaates ein und konnten auch durch die nationale Reaktion der Makkabäer gegen die fremden Einflüsse nicht wieder ausgeschaltet werden. Vor allem aber trug die Zerstreuung der Juden dazu bei, einen Ausgleich der entgegengesetzten Anschauungen herbeizuführen. Seit dem Exil hatten sich die Juden über den ganzen Bereich des östlichen Mittelmeerbeckens ausgebreitet. Ein Teil war in Babylonien geblieben, andere hatten sich als Gewerbetreibende, Bankiers und Kaufleute besonders in den Hafenstädten festgesetzt und beherrschten durch ihre emsige Betriebsamkeit, ihre kaufmännische Geriebenheit und Skrupellosigkeit und ihr zähes Zusammenhalten, worin sie durch den gemeinsamen Gottesdienst in der Synagoge unterstützt wurden, den gesamten Geldmarkt und Handel des Ostens. In der Atmosphäre der hellenischen Philosophie und Sittlichkeit ging auch mit Jahve eine noch weitere Umbildung und Läuterung vor. Er streifte alle grobmenschlichen und sinnlichen Züge ab und entwickelte sich zu einem geistigen und schlechthin guten Wesen, wie Plato die Gottheit beschrieben hatte. Damit aber sahen sich auch die Juden vor dieselbe Aufgabe gestellt, mit welcher sich die griechische Philosophie schon seit langem gemüht hatte, nämlich die überirdische Erhabenheit und beziehungslose Weltjenseitigkeit ihres Gottes mit den Forderungen des religiösen Bewusstseins in Einklang zu setzen, das nach unmittelbarer Gegenwart der Gottheit verlangte.

Zu denjenigen Vorstellungen, die vom Judentume der persischen Religion entlehnt waren, hatte auch diejenige des mittlerischen »Wortes« gehört. Als schöpferische Kraft der Gottheit, Überbringer der Offenbarung und Stellvertreter Gottes auf Erden, war das »Wort« bereits in der Spruchliteratur hervorgetreten. Hier hatte sich dafür unter ägyptisch-griechischem Einfluss der Ausdruck »Weisheit« (Sophia) eingebürgert. Die »Weisheit« hatte zur Bezeichnung der dem Menschen zugewandten Tätigkeit des der Welt entrückten Gottes gedient, wobei übrigens daran erinnert werden mag, dass die Weisheit auch nach persischer Vorstellung unter dem Namen der Spenta Armaiti als eine der sechs oder sieben Amesha Spentas (Amschaspands) galt, jener Geister, die als Trabanten dem Throne Gottes am nächsten stehen sollten und die den jüdischen »Erzengeln« entsprachen. Sie war von den Persern als die Tochter oder Gemahlin Ahuramazdas angesehen worden. Jetzt wurde sie in der sog. »Weisheit Salomos« von einem Juden zu Alexandria im letzten Jahrhundert v. Chr. für ein selbständiges Geistwesen neben Gott erklärt und im Sinne eines halb persönlichen, halb stofflichen Wesens, einer die ganze Natur durchwaltenden Kraft als Prinzip der Offenbarung Gottes in Schöpfung, Erhaltung und Regierung der Welt, als allgemeines göttliches Lebensprinzip und zugleich als vermittelndes Organ des religiösen Heils beschrieben. Wie Plato den Dualismus der Ideenwelt und Sinnenwelt durch die »Weltseele« hatte überwinden wollen, so sollte die »Weisheit« dazu dienen, zwischen dem Gegensatze des jüdischen Gottes und seiner Schöpfung zu vermitteln. Diese Bemühungen setzte der alexandrinische Jude Philo (30 vor bis 50 n. Chr.) fort, indem er den persisch-jüdischen Begriff des »Wortes« oder der »Weisheit« noch näher, als es der Verfasser des Weisheitsbuches bereits getan hatte, mit den Begriffen des hellenischen philosophischen Denkens zu bestimmen suchte.

Auch Philo ging von dem Gegensatze des über die Welt schlechthin erhabenen, unerkennbaren und unnennbaren Gottes und des sinnlichen, geschöpflichen Daseins aus. Er dachte sich diesen Gegensatz durch »Kräfte« vermittelt, die, als relativ selbständige Einzelwesen, Sendboten, Diener und Statthalter Gottes, bald mehr den persischen Engeln oder griechischen Dämonen, bald mehr den platonischen Ideen, den Ur- und Musterbildern Gottes bei der Schöpfung, glichen, im wesentlichen aber den Charakter der sog. »Samenkräfte«, der den unbestimmten Stoff von innen her beseelenden und bestimmenden schöpferischen Kräfte trugen, vermittels deren die stoische Philosophie das Dasein zu erklären suchte.

Als erste dieser mittlerischen Kräfte oder auch wohl als den Inbegriff aller betrachtete Philo den Logos, die wirksame Vernunft oder das schöpferische Wort der Gottheit. Er nannte ihn den »erstgeborenen Sohn Gottes« oder »zweiten Gott«, den Stellvertreter, Dolmetscher, Gesandten, Erzengel Gottes oder Engelfürst. Er betrachtete ihn als den Hohenpriester, der Fürbitte für die Welt bei Gott einlegt und deren Sache vor Gott vertritt, als den Paraklet, den Anwalt und Tröster der Welt, der ihr die göttlichen Gnadenverheißungen übermittelt, als das Werkzeug, vermittels dessen Gott die Welt geschaffen hat, das Urbild, die Idee der Welt, die Gott bei seiner Schöpfung verwirklicht hat, und die sich in allen Dingen auswirkt, mit einem Worte als die Seele oder den Geist der Welt, den die Stoiker mit ihrer Gottheit gleichgesetzt hatten, die aber Philo von der überweltlichen Gottheit unterschied und als deren Offenbarung und Erscheinung auffasste.

Seinem Wesen nach nur ein Ausdruck für die einheitliche Totalität aller göttlichen Kräfte und Tätigkeiten überhaupt, schillerte der Logos auch bei Philo zwischen einem unpersönlichen metaphysischen Prinzip, der göttlichen Wirksamkeit schlechthin, und einer selbständigen, von Gott verschiedenen Persönlichkeit, in derselben Weise, wie auch die Stoiker ihre Weltvernunft in dem Götterboten Hermes personifiziert, die Ägypter das schöpferische Zauberwort des Amun-Ra im Seelenführer Thot, die Babylonier das Schicksalswort des höchsten Gottes Marduk in der Gestalt des Nabu, die Perser das »Wort« des Ahuramazda außer in der Spenta Armaiti auch im Vohu mano, dem guten Gedanken des Schöpfergottes, zu einem selbständigen persönlichen Mittlerwesen erhoben hatten. Und wie nach persischer Vorstellung bald der göttliche »Sohn« und »Mittler« Mithra, der Inbegriff aller göttlichen Kräfte, bald der ideale Mensch Saoshyant als Heiland und Retter der Welt erschien und beide zu einer einzigen Gestalt zusammenflossen, so schilderte auch Philo den Logos jetzt als den Inbegriff aller schöpferischen Ideen überhaupt, jetzt wieder nur als die bloße Idee des Menschen, als den Idealmenschen, als unmittelbares göttliches Ebenbild und übersinnliches Urbild des abbildlichen sinnlichen Menschen, der in diesem als Subjekt aller religiösen Erlösung wirksam ist, ja, identifizierte ihn gelegentlich auch wohl mit dem Lebensbaum im Paradiese, da beide unvergänglich seien und »in der Mitte stehen«.

Aus eigener Kraft nämlich ist der Mensch nach Philo außerstande, sich aus den Banden des irdischen Daseins frei zu machen. Alle Erlösung beruht auf der Zurückziehung des Geistes vom Leibe und seiner sinnlichen Begehrlichkeit. Seiner wahren geistigen Natur gemäß, Gott gleich, vollkommen zu werden, wie er, das ist die höchste Tugend und zugleich die wahre Glückseligkeit, und diese wird erlangt durch Einsicht in die göttliche Wesenheit der Dinge, durch herzliches Vertrauen auf Gott, dankbare Anerkennung des von ihm gewährten Guten und Liebe sowohl in Gestalt der Frömmigkeit gegen Gott wie als Hilfsbereitschaft und Gerechtigkeit den andern Menschen gegenüber. Allein hierzu muss der Logos selbst in uns lebendig werden und uns die Einsicht in unsere göttliche Wesenheit erschließen. Der Logos muss uns leiten, er muss mit seiner übernatürlichen Kraft unserer menschlichen Schwäche im Kampfe gegen die Welt und ihre Sünde zu Hilfe kommen und uns zu Gott emporziehen. So ist die »Vergottung« des Menschen das Ziel, das von aller religiösen Betätigung angestrebt wird. Der Logos aber ist der alleinige Mittler dieses Zieles, sofern wir durch die Vereinigung mit ihm im Glauben und der Liebe zu unserem wahren Urquell und Lebensquell erhoben werden, »Gott schauen« und dadurch an dessen Leben teilnehmen
. S. 13-17
Aus: Arthur Drews, Die Christusmythe, Verbesserte und erweiterte Ausgabe/3.bis 5. Tausend/ Verlegt bei Eugen Diederichs Jena 1910


Der paulinische Jesus
Der Jesusglaube bestand schon lange bei zahlreichen mandäischen Sekten Vorderasiens, die sich voneinander vielfach unterschieden, ehe dieser Glaube in der Jesusreligion feste Gestalt gewann und seine Anhänger sich ihrer religiösen Eigenart und Sonderstellung gegenüber der offiziellen jüdischen Religion bewusst wurden. Das erste Zeugnis für ein solches Bewusstsein und zugleich der erste geniale Entwurf einer aus Jesus als Zentralbegriff entwickelten neuen Religion liegt in den Briefen des tarsischen Zeltwebers und Wanderapostels Paulus vor.

Von den unter seinem Namen uns überlieferten Briefen ist der Hebräerbrief ganz sicher nicht von Paulus. Aber auch der zweite Thessalonicherbrief, der Brief an die Epheser sowie die sog. Pastoralbriefe (an Timotheus, Titus und Philemon) gelten der überwiegenden Mehrzahl der Theologen als untergeschoben, und ebenso unterliegt die Echtheit des Kolosser- und Philipperbriefes gewichtigen Bedenken. Um so entschiedener hält die moderne kritische Theologie bei den vier großen Lehrbriefen, dem Galaterbrief, den beiden Korintherbriefen und dem Römerbriefe, an der Autorschaft des Paulus fest und pflegt alle Zweifel diesen Briefen gegenüber als eine »schwere Verirrung« der historischen Hyperkritik abzuweisen. (W. Wrede: Paulus, Religionsgesch. Volksb., 3.).

Dem gegenüber ist die Echtheit auch dieser Briefe außer von Bruno Bauer* besonders von holländischen Theologen, einem Pierson, Loman, van Manen, Meyboom, Matthes u. a., angefochten worden, und neuerdings haben auch der Berner Theologe R. Steck** und B. W. Smith, Professor der Mathematik an der Tulane University zu New Orleans, denen sich der verstorbene Bremer Pastor Albert Kalthoff zugesellt hat, die Tradition mit bemerkenswerten Einwänden bekämpft und die Briefe des Paulus als das literarische Erzeugnis, das Werk einer ganzen Schule von Theologen des zweiten Jahrhunderts zu erweisen unternommen, deren Verfasser entweder gleichzeitig oder nacheinander für die werdende Kirche geschrieben haben.
* Kritik der Apostelgeschichte 1850 und Kritik der paulinischen Briefe 1852.
**Der Galaterbrief nach seiner Echtheit untersucht nebst krit. Bemerkungen zu den vier paulinischen Hauptbriefen 1888.

So viel ist sicher: ein zwingender Beweis dafür, dass Paulus wirklich der Verfasser der auf seinen Namen lautenden Briefe sei, kann nicht geliefert werden. Verdächtig muss es in dieser Beziehung immer bleiben, dass Lukas, der Begleiter des Paulus auf seinen Missionsreisen, sich über jede Art literarischer Betätigung des Apostels ausschweigt, und das, obschon er den größten Teil seiner Darstellung in der Apostelgeschichte der Wirksamkeit des Paulus gewidmet hat.***
***Freilich ist und bleibt die Apostelgeschichte trotz aller modernen Rettungsversuche (Harnack) auch sonst ein sehr unzuverlässiges geschichtliches Dokument, und was sie uns aus dem Leben des Paulus mitteilt, ist zum großen Teile reine Dichtung. Man braucht nicht so weit zu gehen, wie Jensen, der die Existenz eines historischen Paulus überhaupt bestreitet (Moses, Jesus, Paulus. Die Sagenvarianten des babylonischen Gottmenschen Gilgamesch 2. Aufl. 1909), und wird sich doch der Einsicht nicht verschließen können, dass das Bild des Paulus, wie dies schon Bruno Bauer erkannt hat, ein jedenfalls stark überarbeitetes und in vieler Hinsicht nur eine Kopie des Originales darstellt, welches ihm in der Gestalt des »Apostelfürsten« Petrus voranschreitet (vgl. über den Geschichtswert der Apg. auch E. Zeller: Die Apg. nach ihrem Inhalt und Ursprung kritisch untersucht 1854)

Auch der von Smith gelieferte Nachweis, dass die paulinaschen Briefe während des ersten christlichen Jahrhunderts überhaupt noch nicht bekannt waren, dass insbesondere die Existenz des Römerbriefes nicht vor der Mitte des zweiten Jahrhunderts anderweitig bezeugt ist, muss gegen die Autorschaft des Paulus bedenklich stimmen und spricht dafür, dass jene Briefe nicht als primäre Quellen der paulinaschen Lehre gelten können. Davon kann jedenfalls gar keine Rede sein, dass die kritische Theologie des vergangenen Jahrhunderts die Echtheit des größten Teiles der paulinaschen Literatur »unzweifelhaft wissenschaftlich festgestellt« habe.*
* Vgl. H. Jordan: Jesus und die modernen Jesusbilder. Bibel. Zeit- u. Streitfragen 1909, 36.

Bekanntlich kannte das gesamte Altertum den Begriff des literarischen Eigentums in unserem Sinne überhaupt noch nicht. Zahlreiche Schriften liefen damals unter berühmten Namen um, deren Verfasser weder zeitlich noch gedanklich irgend etwas mit den Trägern jener Namen zu tun hatten. Wie viele Schriften waren nicht z. B. unter den Sektenmitgliedern des Altertums verbreitet, die auf den Namen des Orpheus, des Pythagoras, des Zoroaster usw. lauteten und dadurch ihrem Inhalte kanonische Geltung zu verschaffen suchten! Von den Schriften des Alten Testamentes hängen weder die Psalmen, noch die Sprüche, noch der sog. Prediger, noch das Buch der Weisheit mit den historischen Königen David und Salomo zusammen, deren Namen sie an der Spitze tragen, und der Prophet Daniel ist eine ebenso erfundene Persönlichkeit wie der Henoch und der Esra der unter ihren Namen gehenden Apokalypsen. Ja, auch die sog. fünf Bücher Mose sind das literarische Erzeugnis einer viel späteren Zeit als derjenigen, in welcher Moses gelebt haben soll, während Josua der Name eines altisraelitischen Gottes ist, nach welchem das bezügliche Buch benannt ist.**
**»Schriftsteller zu erdichten, die keinen Buchstaben geschrieben haben, ganze Reihen von Büchern unterzuschieben, das Neueste in ein graues Altertum zurückzudatieren, die bekannten Philosophen Ansichten aussprechen zu lassen, die ihrer wirklichen Meinung schnurstracks zuwiderlaufen: diese und ähnliche Dinge sind gerade in den letzten vorchristlichen und den ersten christlichen Jahrhunderten ganz gewöhnlich. Um den Verfasser einer Schrift machte man sich eben damals wenig Sorge, wenn nur ihr Inhalt dem Geschmack und Bedürfnis der Zeit zusagte« (E. Zeller: Vorträge u. Abhdlg. 1865, 298 f.). »Es war damals eine beliebte Stilübung, Briefe berühmter Männer zu schreiben. Dem Tyrannen Phalaris, der im 6. Jahrh. v. Chr. Agrigent beherrschte, wird eine Sammlung von nicht weniger als 148 Briefen zugeschrieben. Beyschlag hat nachgewiesen, dass sie im Zeitalter der Antonine ihm untergeschoben sind. Ebenso sind unecht die dem Plato, dem Euripides und andern zugeschriebenen Briefe. Es wäre ein wahres Wunder, wenn diese Sitte der Zeit nicht auch auf die werdende christliche Literatur Einfluss gewonnen hätte, denn gerade auf religiösem Gebiet macht sich solche Unterschiebung am leichtesten, da es hier nicht darauf ankommt, eigene Gedanken zu produzieren, sondern Organ des im Einzelnen wirkenden religiösen Gesamtgeistes zu werden (Steck: a. a. O.384 f.; vgl. auch Holtzmann: Einl, in das N. T. 2 Aufl. 223 ff.).

Einen Moses, wie er im Alten Testament geschildert wird, hat es überhaupt niemals gegeben. Die Möglichkeit, dass die sog. Briefe Pauli ein Werk späterer Theologen und nur zur Erhöhung ihres Ansehens in den Gemeinden auf den Namen des Heidenapostels Paulus getauft worden seien, ist somit durchaus nicht ausgeschlossen, zumal wenn man bedenkt, wie üppig in den ersten Jahrhunderten die literarische Fälschung und »fromme Lüge« auch sonst im Interesse der christlichen Kirche geblüht haben. Hat man sich doch damals sogar nicht gescheut, wie aus christlichen Schriften des zweiten Jahrhunderts hervorgeht, selbst den Text des Alten Testamentes zu verändern und ihn dadurch, wie man sich auszudrücken beliebte, zu »erläutern«. Schon der Gnostiker Marcion hat in der Mitte des zweiten Jahrhunderts der Kirche — ob wirklich mit Unrecht? — vorgeworfen, dass sie die Paulusbriefe überhaupt nur in einer Bearbeitung besitze, und er selbst hat es unternommen, durch Ausschaltung und Ergänzung den richtigen Text wiederherzustellen.*
* E. Vischer: Die Paulusbriefe, Rel. Volksb. 1904, 69f.

Aber lassen wir die Frage nach der Echtheit der paulinaschen Briefe ganz beiseite, über die wohl niemals volle Einigung erzielt werden wird aus dem einfachen Grunde, weil uns alle sicheren Anhaltspunkte zur Entscheidung dieser Frage fehlen. Sehen wir stattdessen lieber zu, was wir aus ihnen über den historischen Jesus erfahren!

Da stoßen wir zunächst auf die durch Paulus selbst bezeugte Tatsache, dass der Heiland sich ihm persönlich offenbart und ihn dadurch dazu veranlasst habe, in seinen Dienst zu treten (Gal. 1, 12). Es war, wie die Apostelgeschichte berichtet, eine Lichterscheinung, die ihn plötzlich auf dem Wege nach Damaskus von oben her umleuchtete, während eine Stimme ihm zurief, von seiner bisherigen Verfolgung der Messiasgemeinde abzulassen, und sich ihm als diejenige Jesu zu erkennen gab. Man braucht an der Tatsache selbst nicht zu zweifeln, aber in ihr einen Beweis für den historischen Jesus zu erblicken, das bleibt jenen Theologen vorbehalten, die den schönen Begriff einer »objektiven Vision« erfunden haben, um durch das Wüstenerlebnis des Paulus die objektive Realität der bezüglichen Erscheinung zu begründen. Handelt es sich hierbei doch offenbar nur um ein »inneres Gesicht«, das der »Visionär« und »Epileptiker« Paulus in einer entscheidenden Stunde seines Lebens gehabt hat und das von ihm auf Jesus gedeutet wurde, und darum beweist es auch für die Existenz eines historischen Jesus nichts, wenn er 1. Kor. 9, 1 fragt: »Habe ich nicht unsern Herrn Jesus gesehen?« und 1. Kor. 15, 9 bemerkt: »Zuletzt von allen ist er auch mir erschienen«.

Nicht anders steht es mit dem Hinweis des Paulus auf diejenigen, die gleich ihm den Heiland nach seinem Tode gesehen haben sollen (1 Kor. 15, 5ff.) Es ist möglich, dass die Betreffenden etwas, dass sie einen Jesus, den »Auferstandenen« in himmlischer Verklärung gesehen haben; dass aber dieser der Jesus der sog. historischen Theologie gewesen sei und hiermit dessen Existenz bewiesen werde, das werden deren Vertreter wohl selbst nicht behaupten wollen, da nach ihrer Ansicht der historische Jesus ja gar nicht auferstanden sein, sondern es sich auch in diesem Falle nur um eine rein subjektive Erscheinung der ekstatisch erregten Jünger handeln soll. Übrigens gibt sich die betreffende Stelle des Korintherbriefes deutlich als eine zum mindesten stark interpolierte, wenn nicht geradezu als ein nachträgliches Einschiebsel zu erkennen. So soll der Auferstandene u. a. von »mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal« gesehen worden sein. Davon wissen jedoch die sämtlichen Evangelien nichts, und auch »die Zwölf«, die nach 15, 5 das Gesicht gehabt haben sollen, unterliegen dem dringenden Verdachte, erst viel später in den Text hineingelangt zu sein.*

* Vgl. W. Seufert: Der Ursprung und die Bedeutung des Apostolates in der christlichen Kirche der ersten Jahrhunderte 1887, 46, 157.

Paulus selbst hat niemals ein Hehl daraus gemacht, dass er Jesus nicht mit leiblichen Augen, sondern rein mit den Augen des Geistes, als innerliche Offenbarung geschaut hat. »Es hat Gott gefallen,« sagt er Gal. 1, 16, »seinen Sohn in mir zu offenbaren.« Er gesteht, dass das von ihm gepredigte Evangelium »nicht menschlich« sei, dass er es von keinem Menschen empfangen noch gelernt, sondern direkt vom himmlischen Christus und dem Heiligen Geiste inspiriert erhalten habe. (Gal. 1, 11 und 12; 1. Kor. 2, 10; II. Kor. 4, 6.)

Er scheint auch gar kein Interesse daran gehabt zu haben, sich über die Persönlichkeit Jesu, über dessen Schicksale und Lehre genauer zu unterrichten. Denn als er drei Jahre nach seiner Bekehrung zuerst wieder nach Jerusalem kommt, besucht er während der vierzehn Tage seines dortigen Aufenthaltes nur den Petrus und macht die Bekanntschaft des Jakobus, kümmert sich aber um keinen der anderen Apostel (Gal. 1, 17—19.). Als er aber vierzehn Jahre später wieder zum sog. Apostelkonzil in Jerusalem mit den »Uraposteln« zusammentrifft, da tut er es nicht, um von diesen zu lernen, sondern um sie seinerseits zu belehren und sich von ihnen die Anerkennung seiner inzwischen geleisteten Missionstätigkeit zu verschaffen, und er selbst berichtet, dass er sich mit ihnen nur über die Art der Verkündigung des Evangeliums, aber nicht über dessen religiösen Inhalt und die Persönlichkeit des historischen Jesus besprochen habe (Gal. 2, 1ff.).

Nun wird allerdings jener Jakobus, dessen Bekanntschaft Paulus in Jerusalem gemacht haben will, von ihm als der »Bruder des Herrn« bezeichnet (Gal. 1, 19), und hieraus scheint hervorzugehen, dass Jesus eine historische Persönlichkeit gewesen sein muss. Indessen ist der Ausdruck »Bruder« auch in diesem Falle, wie so oft in den Evangelien (Matth. 28, 10; Mark. 3, 33ff.; Joh. 20, 17), möglicherweise nur ein Gesamtausdruck zur Bezeichnung der Anhänger Jesu, wie denn auch sonst die Mitglieder einer religiösen Kultgenossenschaft im Altertum sich untereinander »Brüder« und »Schwestern« nannten. 1. Kor. 9, 15 heißt es: »Haben wir (nämlich Paulus und Barnabas) nicht auch Macht, eine Schwester zum Weibe mit umherzuführen, wie die andern Apostel und des Herrn Brüder und KephasDa ist es deutlich, dass es sich bei jenem Ausdruck durchaus nicht notwendigerweise um leibliche Verwandtschaft zu handeln braucht, sondern »Bruder« eben nur zur Bezeichnung der Anhänger der Jesussekte dient. Hieronymus dürfte sonach durchaus das Richtige getroffen haben, wenn er, Gal. 1, 19 kommentierend, schreibt: »Jakobus hieß der Bruder des Herrn wegen seines großen Charakters (wovon freilich die paulinischen Briefe das Gegenteil zeigen), seines unvergleichlichen Glaubens und seiner außergewöhnlichen Weisheit«. Die andern Apostel werden zwar auch Brüder genannt, aber er heißt vorzüglich so, da ihm der Herr bei seinem Scheiden die Söhne seiner Mutter (d. h. die Glieder der Gemeinde zu Jerusalem) anvertraut hatte.*
* Ähnlich auch Origenes: Contra Celsum 1 35. Vgl. Smith: a.a. O. 18f.

Und wie sollte denn auch Paulus mit einem leiblichen Bruder desjenigen Jesus zusammengetroffen sein, von welchem er, wie sich zeigen wird, im Übrigen nur Mythisches zu berichten weiß. Die Sache ist, schon rein psychologisch angesehen, so unwahrscheinlich, dass aus dem Ausspruch über Jakobus als den »Bruder des Herrn« ein Schluss auf die historische Existenz Jesu jedenfalls nicht gezogen werden kann, zumal vom zweiten Jahrhundert an bis heute die Theologen sich über das wahre Verwandtschaftsverhältnis des Jakobus zu Jesus nicht zu einigen vermocht haben.*
*Vgl. hierüber Sieffert in Realenzyklop. f. prot. Theol. und Kirche unter »Jakobus«. Esr. 3,2 und 9 ist auch von »Brüdern« des Hohenpriesters Josua die Rede, womit nur die ihm unterstellten Priester gemeint zu sein scheinen, und bei Justin (Dial. c. Tryph. 106) heißen die sämtlichen Apostel »Jesu Brüder«.

Erwägt man übrigens, wie in antipaulinischen Kreisen des zweiten Jahrhunderts die Verherrlichung des Jakobus in Mode kam und es üblich wurde, das Haupt der Judenchristen zu Jerusalem möglichst nahe an Jesus selbst heranzurücken (z. B. bei Hegesipp, in den angeblichen Briefen des Clemens, im Evangelium der Nazarener usw.), so drängt sich der Verdacht auf, die paulinische Redewendung von Jakobus »dem Bruder des Herrn« sei vielleicht nur ein nachträglicher Zusatz im Galaterbriefe, um dadurch die leibliche Verwandtschaft zwischen Jakobus und Jesus durch Paulus selbst bestätigt sein zu lassen. Die Eltern Jesu sind keine historischen Persönlichkeiten (s. o. 75ff.); also wird es wohl mit seinen Geschwistern nicht anders sein. Und so beruft sich Paulus denn auch nirgends auf das Zeugnis des Bruders oder der Jünger Jesu über ihren Meister, wie dieses doch so nahe gelegen haben würde, falls jene wirklich etwas mehr von Jesus gewusst hätten als er selbst. »Er gründet«; wie Kalthoff mit Recht hervorhebt, »nie und nirgends seinen einschneidendsten polemischen Gedanken gegen die Gesetzeseiferer darauf, dass er den historischen Jesus auf seiner Seite habe, er gibt seine ausführlichen theologischen Darstellungen, ohne einen historischen Jesus zu erwähnen, er gibt ein Evangelium von Christus, nicht das Evangelium, das er von einem menschlichen Individuum Jesus aus erster, zweiter oder dritter Hand gehört hat.«*
* A. Kalthoff: Was wissen wir von Jesus? Eine Abrechnung mit Prof. D. Bousset 1904, 17.

Von Paulus ist daher auch nichts Näheres über den historischen Jesus zu erfahren. Zwar bezieht sich der Apostel gelegentlich auf Worte und Bestimmungen des »Herrn«, wie hinsichtlich des Verbotes der Ehescheidung (1. Kor. 7, 10), des Rechtes der Apostel, sich von den Gemeinden beköstigen zu lassen (1. Kor. 9, 14), allein ohne damit ausdrücklich auf ein historisches Individuum namens Jesus abzuzielen, unter Vermeidung des genaueren Wortlauts und so dass man die Überzeugung gewinnt, es hierbei mit bloßen Gemeinderegeln zu tun zu haben, wie solche auch sonst in den religiösen Vereinigungen als »Worte des Herrn«, d.h. des Schutzpatrons und Genius der Gemeinde, im Umlauf waren und kanonische Bedeutung hatten (vgl. das »autós épha: er selbst, nämlich der Meister, hat es gesagt«, der Pythagoreer). Nur einmal, 1. Kor. 11, 23—25, spielt Paulus, wie es scheint, auf ein Erlebnis des »historischen« Jesus an: »Der Herr Jesus, in der Nacht, da er verraten ward, nahm das Brot« usw. (1. Kor.11, 23) — Leider haben wir es nur hier mit einem offenbar späteren Einschiebsel zu tun. Denn nicht nur setzt die Stelle die Worte der Abendmahlseinsetzung bei Lukas voraus, die doch erst viel später geschrieben sein sollen, sie gibt sich auch schon durch ihre gewaltsame und sinnstörende Zerreißung des paulinischen Gedankenganges als eine nachträgliche Zutat zum Grundtexte zu erkennen, und dies zwar vielleicht von derselben Hand, die auch die angeführte Stelle über die Erscheinungen des Auferstandenen (1. Kor. 15.) in den ursprünglichen Text hineinkorrigiert hat, wie dies aus dem Hinweis des Paulus an beiden Stellen darauf erhellt, dass er die bezüglichen Tatsachen selbst von anderswoher, nämlich »vom Herrn« oder von der »Schrift«, empfangen habe.

Alle Äußerungen über Jesus, die sich bei Paulus finden, sind demnach für die Annahme einer geschichtlichen Persönlichkeit jenes Namens belanglos. Die von ihm angeführten sog. »Herrnworte« beziehen sich auf ganz nebensächliche Punkte der Lehre Jesu. Über dasjenige hingegen, worin die moderne kritische Theologie die eigentliche Größe und Bedeutung dieser Lehre findet, also z. B. über das Vertrauen Jesu in die göttliche Vatergüte, sein Gebot der Nächstenliebe als Erfüllung des Gesetzes, seine Predigt der Sanftmut und Barmherzigkeit, seine Warnung vor der Überschätzung der weltlichen Güter usw., schweigt Paulus sich ebenso aus, wie über die Persönlichkeit Jesu, seine sittliche Hoheit und Frömmigkeit, sein Gottvertrauen, seine Wirksamkeit in seinem Volke. Paulus hat sich nicht die geringste Mühe gegeben, den Heiland seinen Lesern menschlich näher zu bringen. Er scheint von einer Wundertätigkeit Jesu nichts zu wissen. Er erwähnt nichts von dessen Mitleid mit den Armen oder Bedrückten, obwohl doch gerade dies vorzüglich geeignet gewesen wäre, seinem Jesus die Herzen der Menschen zuzuwenden und auf die wundersüchtige Menge Eindruck zu machen. Ja, alle jene sittlich-religiösen Vorschriften und Ermahnungen Jesu werden von Paulus weder dazu verwendet, als Werbemittel für jenen zu dienen, noch überhaupt dazu benutzt, dessen »Einzigartigkeit« gegenüber seinen prophetischen Vorgängern ins rechte Licht zu setzen, wie dies in der heutigen christlichen Literatur der Fall ist. »Also gerade diejenigen Gedanken, welche die protestantische Theologie als die eigentliche Domäne ihres historischen Jesus in Anspruch nimmt, erscheinen in der Epistelliteratur unabhängig von diesem Jesus, als eigene sittliche Ergüsse des apostolischen Gewissens, während christliche Gesellschaftsregeln, welche dieselbe Theologie als von der Geschichte überwunden betrachtet, direkt als Herrnregeln eingeführt werden. Der Christus der paulinaschen Briefe kann deshalb vielmehr als eine Instanz gegen die kritische Theologie angerufen werden, als dass er einen Beweis für den historischen Jesus im Sinne dieser Theologie abgäbe.«*
*Kalthoff: Die Entstehung des Christentums 1904, 15.

Selbst ein so eifriger Verfechter dieser Theologie, wie Wernle, muss zugeben: »Wir erfahren von Paulus am allerwenigsten über Person und Leben Jesu. Wären alle seine Briefe verloren, wir wüssten von Jesus nicht viel weniger als jetzt.**
**P. Wernle: Die Quellen des Lebens Jesu, Religionsgesch. Volksbücher 2. Aufl., 4.

Allerdings tröstet sich derselbe Autor dann gleich hinterher damit, in gewissem Sinne gäbe uns Paulus doch mehr als die genauesten reichhaltigsten Protokolle zu geben vermöchten. »Wir erfahren von ihm, dass ein Mensch (?) Jesus trotz seines Kreuzestodes imstande war, über seinen Tod hinaus eine solche Kraft zu entfalten, dass ein Paulus sich von ihm bezwungen, erlöst, beseligt wusste derart, dass er sein eigenes Leben und die ganze Welt in zwei Teile zerriss: ohne Jesus mit Jesus. Eine Tatsache, die, wir mögen sie erklären, wie wir wollen, rein als Tatsache unser Staunen hervorruft (!) und uns nötigt, von Jesus unter allen Umständen groß zu denken«. Was unser Staunen hervorruft, ist diese Art von historischer »Beweisführung«. Denn wie eigentümlich doch, aus dem Schweigen eines Autors, wie des Paulus, über den historischen Jesus ein Argument für dessen Bedeutung herauszulesen! Als ob es nicht eher die Belanglosigkeit einer solchen Persönlichkeit für die Entstehung des Christentums bewiese! Als ob der Umstand, dass Paulus auf den Christusglauben ein religiös-metaphysisches Gedankengebäude von zweifelloser Großartigkeit errichtet hat, notwendig auf den »alles überwältigenden Eindruck der Person Jesu« zurückgeführt werden müsste, desselben Jesus, den Paulus gar nicht persönlich gekannt hat, dessen Jüngern, die jahrelang mit Jesus verkehrt haben sollen, er geflissentlich aus dem Wege gegangen ist, und von dessen Existenz sich keinerlei Spuren in seinen Briefen nachweisen lassen, die nicht auch ganz anders gedeutet werden könnten! Oder sollte Paulus, wie die historische Theologie es hinstellt, in der mündlichen Predigt mehr von Jesus offenbart haben, als wie dies in den Briefen der Fall ist? Aber das könnte doch höchstens nur behauptet werden, wenn schon vorher feststünde, dass Paulus bei seinen Darlegungen überhaupt einen historischen Jesus im Auge gehabt hat.

Die Sache erscheint völlig rätselhaft. Im Mittelpunkte der paulinaschen Anschauung steht die »Menschheit« Jesu. Und doch ist der Jesus, wie ihn Paulus schildert, gar kein Mensch, sondern eine rein göttliche Persönlichkeit, ein himmlisches Geistwesen ohne Fleisch und Blut, ein völlig individualitätsloser übermenschlicher Schemen. Er ist der in Paulus offenbar gewordene »Sohn Gottes«, der Messias, wie die jüdische Apokalyptik ihn verkündigte, der präexistestente »Menschensohn« des Daniel und seiner Geistesverwandten, der geistliche »Idealmensch«, wie er in den Köpfen der von platonischen Ideen beeinflussten Juden spukte, den auch Philo als metaphysisches Urbild des gewöhnlichen sinnlichen Menschen gekannt und in 1. Moses 1, 27 angedeutet gefunden haben wollte. Er ist der »große Mensch« der indischen Legende, der auch in Buddha und anderen Erlösergestalten erschienen sein sollte, der Purusha der vedischen Brahmanen, der Mandâ de hajjê und Hibil Ziwâ der von indischen Ideen beeinflussten mandäischen Religion, der Sektengott des synkretistischen Judentums. Die Kenntnis, die Paulus von diesem Wesen hat, ist daher auch nicht ein gewöhnliches Erfahrungswissen, sondern Gnosis, unmittelbares Wissen, »Weisheit« des »Inspirierten«, und alle seine Aussagen, die er hierüber macht, fallen in das Gebiet der Theosophie, der religiösen Spekulation oder Metaphysik, nicht aber in die Geschichte hinein. Der Glaube an einen solchen Jesus aber war, wie gesagt, schon lange das Eigentum jüdischer Sekten, als Paulus auf Grund erschütternder persönlicher Erfahrungen dazu gelangte, ihn aus der Verborgenheit des Kultgeheimnisses ans Licht zuziehen und in den Mittelpunkt einer neuen, vom Judentum verschiedenen Religion zu stellen.

»Die Herzen glaubten schon an einen göttlichen Offenbarer, ein göttlich-menschliches Tun, an eine Versicherung durch Sakramente.« Bei den heidnischen Nachbarvölkern bestand schon längst, in jüdischen Kreisen mindestens seit den Tagen der Propheten der Glaube an einen Mittlergott, einen göttlichen »Sohn«, einen »Erstgebornen aller Schöpfung«, in dem alles, was besteht, geworden ist, der auf die Erde hernieder steigt, sich in menschlicher Gestalt erniedrigt, für die Menschheit einen schmachvollen Tod erleidet, aber herrlich wieder aufersteht und in seiner eigenen Erhöhung und Verklärung die ganze Erde zugleich mit erneuert und vergeistigt. Da trat Paulus auf in einer Zeit, die, wie keine andere, von Sehnsucht nach Erlösung durchdrungen, die unter dem Drucke trauriger äußerer Verhältnisse von Dämonenfurcht besessen, von der Angst vor dem nahen Weltende durchschauert, die erwartungsvoll auf dies Ereignis hin gespannt war und den Glauben an die erlösende Kraft der bisherigen Religion verloren hatte, da gab er jenem Glauben einen Ausdruck, der ihn als den einzigen Ausweg aus der Verworrenheit des gegenwärtigen Daseins erscheinen ließ — sollte es wirklich der Annahme eines historischen Jesus im Sinne der traditionellen Auffassung bedürfen, um zu erklären, dass die Herzen dieser neuen Religion des Paulus im Sturme zuflogen? Ja, ist es auch nur wahrscheinlich, dass die intelligente Bevölkerung der kleinasiatischen und griechischen Hafenstädte, in denen Paulus das Evangelium von Jesus vorzugsweise predigte, sich dem Christentume deshalb sollten zugewendet haben, weil irgendwann einmal, vor zehn oder zwanzig Jahren, in Galiläa oder Jerusalem ein Wanderprediger namens Jesus durch sein persönliches Auftreten und seine Lehre auf ungebildete Fischer und Handwerker einen »überwältigenden« Eindruck ausgeübt haben und von ihnen für den erwarteten Messias, für den allbekannten göttlichen Mittler und Welterlöser gehalten sein sollte? Aber Paulus predigte ja gar nicht den Menschen Jesus, sondern eben das himmlische Geistwesen Christus.*
*»Nicht der Lehrer, nicht der Wundertäter, nicht der Freund der Zöllner und Sünder, nicht der Kämpfer gegen die Pharisäer ist für Paulus das Bedeutsame. Der gekreuzigte und auferstandene Sohn Gottes ist es allein.« Wernle: a. a. O. 5.

Das Publikum, an das sich Paulus wandte, bestand zum größten Teil aus Heiden; für diese aber schloss die Annahme eines metaphysischen Geistwesens keine Schwierigkeiten in sich ein. Es konnte durch den Hinweis auf den Menschen Jesus keine Verstärkung seines Glaubens, keinen Beweis für dessen Wahrheit erhalten. Wenn die Christen unseres eigenen historisch orientierten Zeitalters zum Glauben an den Gott Christus nur durch den Menschen Jesus gelangen können; Paulus würde die Aufmerksamkeit von dem, worauf es ihm einzig und allein ankam, abgelenkt, er würde den eigentlichen Sinn seines Evangeliums verdunkelt und seine ganze religiöse Spekulation in eine schiefe Stellung gebracht haben, wenn er dem Gottmenschen Jesus, wie er ihn verstand, einen Menschen Jesus untergeschoben haben würde.*
* »Der geschichtliche Christus etwa im Sinne der Ritschl‘schen Schule wäre für Paulus ein Nonsens gewesen. Die paulinische Theologie hat es vielmehr mit den Erlebnissen eines Himmelswesens zu tun, die für die Menschheit eine außerordentliche Bedeutung haben und noch haben sollen« (M. Bruckner: Die Entstehung der paulinaschen Christologie 1903, 12.) Auch für Brückner steht es fest »dass das Erdenleben Jesu für den Apostel Paulus gar kein Interesse hatte« (a. a.O.46). »Paulus hat sich um das Erdenleben Jesu nicht bekümmert, und was er davon hier und da erfahren haben mag, ist ihm mit wenigen Ausnahmen (welchen?) gleichgültig geblieben“ (42). Auch Brückner zeigt, dass die Stellen, die man als das Gegenteil hiervon etwa anzuführen pflegt, für eine nähere Bekanntschaft des Paulus mit dem Erdenleben Jesu nichts beweisen (41 ff.). Er beansprucht, in seinem Werke den »geschichtlichen Beweis dafür geliefert zu haben, dass die christliche Religion in ihrem Kerne unabhängig von ,zufälligen Geschichtswahrheiten‘ ist«. (Vorw.). Und trotzdem kommt auch er, als Theologe, von der Annahme eines historischen Jesus gerade auch im Hinblick auf Paulus nicht los, obschon er doch auch nicht imstande ist, anzugeben, wo und inwiefern denn nun eigentlich der historische Jesus auf Paulus entscheidend eingewirkt hat.

Paulus soll als Sohn jüdischer Eltern in der griechischen Stadt Tarsus in Cilicien geboren sein. Tarsus war damals neben Alexandria ein Hauptsitz der hellenistischen Bildung. Hier blühte die jüngere stoische Schule mit ihrer Mischung altstoischer, orphischer und platonischer Gedanken. Hier wurden die ethischen Grundsätze jener Schule in populärer Form von Volksrednern auf den Märkten und den Gassen gepredigt. Der in der Strenge der jüdischen Gesetzesreligion erzogene Paulus brauchte gar nicht selbst die Hörsäle der stoischen Lehrer besucht zu haben, um mit den Ansichten des Stoizismus bekannt zu werden, da gleichsam die Luft in Tarsus mit dieser Lehre angefüllt war. Und Paulus wurde mit ihr bekannt. Sie grub sich, ihm selbst vielleicht unbewusst, so tief in sein Bewusstsein ein, dass seine Briefe voll sind von Wendungen und Gedanken des stoischen Philosophen Seneca und man infolgedessen bald den Seneca zu einem Schüler des Paulus, bald umgekehrt, den Paulus zu einem Schüler des Seneca hat machen wollen und sogar ein, freilich gefälschter, Briefwechsel zwischen beiden Männern existiert.

Aber Tarsus war trotz seines im Grunde orientalischen Charakters nicht bloß eine von griechischer Bildung und Denkweise durchtränkte Stadt: auch die religiösen Gedanken und Bewegungen der Zeit fanden hier einen überaus fruchtbaren Boden. In Tarsus wurde der hethitische Sandan (Sardanapal) verehrt, eine männliche, dem Dionysos verwandte Gottheit des Lebens und der Fruchtbarkeit, die von den Griechen bald mit Zeus, bald mit Herakles, dem göttlichen »Sohne« des »Vaters« Zeus, identifiziert wurde. Er galt als der Gründer der Stadt und wurde als bärtiger Mann mit Weintrauben und Ähren dargestellt, die Doppelaxt (Labrys) in der Rechten, auf einem Löwen oder Scheiterhaufen stehend, und alljährlich pflegte ihm zu Ehren ein menschlicher Repräsentant des Gottes oder in späterer Zeit sein Bild auf einem Scheiterhaufen feierlich verbrannt zu werden.*
*Movers: a. a. O. 438ff.; Frazer: Adonis, Attis, Osiris 42, 43, 47, 6o, 79 f.

Tarsus war aber auch zugleich ein Mittelpunkt der orientalischen Mysterienreligionen. Besonders blühte hier der Mithrakultus mit seiner Lehre vom mystischen Sterben und Wiedergeborenwerden des in die Kultgemeinschaft Aufgenommenen, der hierdurch von der Schuld des alten Lebens entsühnt werden und ein neues unsterbliches Leben im »Geist« gewinnen sollte, mit seinen heiligen Mahlen, bei welchen der Gläubige durch den Genuss des geweihten Brotes und des Kelches in die Lebensgemeinschaft mit Mithra trat, mit seiner Auffassung von der magischen Wirkung des Opferblutes, das alle Sünden abwäscht, und seinem inbrünstigen Verlangen nach Erlösung, Reinigung und Heiligung der Seele.**
**Cumont: Textes et monuments etc. 1, 240; Pfleiderer: Urchristentun, 1. 29 ff.

Auch von diesen und ähnlichen Vorstellungen ist Paulus nicht unberührt geblieben. Das zeigt schon seine Ansicht von der mystischen Bedeutung des Todes Christi, in welcher diese ganze religiöse Gedankenwelt, nur in eigentümlicher Umformung, wieder anklingt. Scheint doch auch der Ausdruck Gal. 3,27, wonach die Getauften Christum »angezogen« haben, direkt den Mithramysterien entlehnt zu sein. Denn hier pflegten nach einem uralten animistischen Brauche die Geweihten der verschiedenen Grade in Tiermasken gegenwärtig zu sein und das Wesen des Gottes unter verschiedenen Attributen zu veranschaulichen, d. h. »angezogen« zu haben, um sich mit ihm in die innigste Gemeinschaft zu versetzen. Und auch der paulinische Ausdruck, dass der geweihte Kelch und das Brot beim Herrnmahle die »Gemeinschaft« seien »des Blutes und des Leibes Christi« (1. Kor. 10, 16), erinnert zu auffällig an die Vorstellungsweise der Mysterien, als dass diese Übereinstimmung eine rein zufällige sein könnte.

Wenn unter solchen Umständen der tarsische Bürger Paulus von einem jüdischen Sektengotte namens Jesus hörte, so konnten ihm auch die Vorstellungen, die sich an diesen anknüpften, keineswegs gänzlich neu und ungewohnt sein. Vorderasien war ja, wie wir gesehen haben, erfüllt von dem Gedanken eines jugendschönen Gottes, der durch seinen Tod die Natur neu belebt, von volkstümlichen Sagen, die sich an sein gewaltsames Ende und seine herrliche Wiederauferstehung knüpften; und nicht bloß in Tarsus, auch auf dem gegenüberliegenden Zypern und in zahlreichen andern Orten des westasiatischen Kulturkreises wurde alljährlich das Fest dieses Gottes, der bald Tammuz, bald Adonis, bald Attis, bald Dionysos, Osiris usw. hieß, in eindringlichster Weise begangen, nirgends großartiger vielleicht als zu Antiochia, der Hauptstadt Syriens. Hier wurde bei seinem Fest im Frühjahr der Tod des Adonis (Adonai), des »Herrn«, dramatisch vorgeführt, sein durch ein Bild vertretener Leichnam unter wilden Klagegesängen der Weiber feierlich bestattet und am folgenden Tage der wiederauferstandene Gott als Bürge für das religiöse Heil der an ihn Glaubenden begrüßt. »Der Herr lebt, Adonis ist wiedererstanden!« jubelte an diesem Tage ganz Antiochia. Aus dem Grabe ließ man sein Bild vermittels eines Mechanismus, wie es teilweise noch heute in der römisch-katholischen Kirche üblich ist, in die Höhe steigen, und dann salbte der Priester den Mund der vorher Klagenden mit Öl und sprach die Worte: »Getrost ihr Frommen! da der Gott gerettet ist, so wird auch uns aus unsern Nöten Rettung werden!«*

**Die Feier der Auferstehung des Gottes pflegte in den vorderasiatischen Religionen am dritten Tage oder drei Tage nach deren Tode begangen zu werden. So sollte Osiris am dritten, Attis am vierten Tage auferstanden sein. Pfleiderer hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, wie sich das gleiche Schwanken zwischen dem dritten und dem vierten Tage (»nach drei Tagen«) auch in den Evangelien hinsichtlich der Auferstehung Jesu findet (Entstehung des Christentums 147.)

Nun soll zu Antiochia, wenn wir der Apostelgeschichte in diesem Punkte glauben dürfen, das Evangelium von Jesus bereits vor Paulus gepredigt sein. Männer aus Zypern und Cyrene sollen dort nicht bloß den Juden, sondern auch den Heiden das Wort vom gestorbenen und wiederauferstandenen Christus verkündigt und auch manche von den Heiden zu dem neuen »Herrn« bekehrt haben. Die Apostelgeschichte teilt dies mit, nachdem sie die Verfolgung der Messiasgemeinde zu Jerusalem erzählt hat, wie sie denn überhaupt bemüht ist, die Verbreitung des Evangeliums als eine Folge der Zerstreuung der Messiasgemeinde auf Grund jener Verfolgung hinzustellen. Es scheint jedoch, dass Cypern, wo Adonis besonders zu Paphos verehrt wurde, und Cyrene sehr frühe Zentren waren, von denen aus der Christusglaube durch Missionare verbreitet wurde. Demnach war das Evangelium ursprünglich gar nichts anderes als ein judaisierter und vergeistigter Adoniskultus. Jene frühesten Missionare, von denen wir hören, werden den Glauben der syrischen Heiden selbst nicht angetastet, sie werden nur behauptet haben, Christus, der Messias, der Kultgott der jüdischen Sekten, sei Adonis: Christus ist der »Herr«! Sie werden nur versucht haben, die alteinheimische Adonisreligion in den Gedankenbereich des Judentums hereinzuziehen, und hiermit die überall am Werke befindliche jüdische Propaganda, die um die Wende unserer Zeitrechnung einen Eifer, wie nie zuvor, entwickelte, nicht im Sinne des strengen Gesetzesstandpunktes, sondern der jüdischen Apokalyptik und Sektenlehre ausgeübt haben.
»Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende«, lässt die Offenbarung des Johannes den Messias sprechen (1, 8). Ob darin nicht zugleich eine geheime Beziehung auf Adonis liegt? Das Alpha und das Omega, der erste und der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets, bilden in ihrer Zusammensetzung den Namen des Adonis: Ao (Aoos), wie die alten Dorier den Gott bezeichneten, und wovon das Land Cilicien auch Aoa hieß. — Ein Sohn des Adonis und der Aphrodite (Maia) soll nach Schol. Theokr. 15, 100 Golgos geheißen haben. Sein Name hängt mit den phallischen Kegeln (griech. golgoi) zusammen, wie sie zu Ehren der vorderasiatischen Muttergöttin auf Anhöhen errichtet waren, die hiernach wohl selber Golgoi und golgon anássa (»Herrin der golgoi«) hieß, und stimmt nach hebräischer Pluralform mit Golgatha überein (Sepp: Heidentum 1 157 f.). Sollte am Ende die »Schädelstätte« eine uralte jebusitische Kultstätte des Adonis unter dem Namen Golgos gewesen und der Felsenkegel, auf welchem unter Hadrian ein Standbild der Venus errichtet wurde, deshalb zur Richtstätte des christlichen Erlösers gewählt sein, weil sich an jenen die Erinnerung an das wirkliche Opfer eines Men¬schen in der Rolle des Adonis (Tammuz) knüpfte?

Ein Mann, wie Paulus, der in der Schule Gamaliels zum Gesetzeslehrer von der strengen pharisäischen Richtung ausgebildet war, konnte ja offenbar nicht ruhig zusehen, wie. der heidnische Adonisglaube, den er sicherlich schon in seiner Vaterstadt Tarsus als gotteslästerlichen Aberglauben verachtet haben wird, in der neuen religiösen Sekte sich mit der jüdischen Gedankenwelt verschwisterte. »Verflucht ist der am Holz Gehenkte«, so stand es im Gesetz geschrieben (Deut. 21,23), und die Zeremonie des Purimfestes, bei welchem ein Verbrecher unter dem Hohn des Volkes als der Harnan des alten Jahres gehenkt, während ein anderer Verbrecher als Mardachai frei gelassen, mit königlichen Ehren durch die Stadt geleitet und als die wiederauferstandene Natur, als Vertreter des neuen Jahres gefeiert wurde, musste in seinen Augen nur eine Bestätigung mehr für die Schmach des Holzes und den gotteslästerlichen Charakter eines Glaubens sein, der in dem Gehenk¬ten den göttlichen Welterlöser, den von den Juden erwarteten Messias verehrte. Da auf einmal kam es über ihn, wie eine Erleuchtung. Wie, wenn es sich bei den Feiern des syrischen Adonis, des phrygischen Attis usw. tatsächlich um das Selbstopfer eines Gottes handelte, der sein Leben für die Welt dahingab?

Der unschuldige Märtyrertod eines Gerechten als Sühnemittel zur Gerechtmachung seiner Volksgenossen war seit den Tagen der makkabäischen Blutzeugen auch den Eiferern für das Gesetz nicht fremd. Der »leidende Gottesknecht«, wie Jesaia ihn geschildert hatte, ließ doch ganz wohl die Auffassung zu, dass, ebenso wie bei den Heidenvölkern, auch in Israel ein Einzelner durch seinen freiwilligen Opfertod das Leben aller übrigen erneuerte. Warum konnte es nicht wahr sein, was die Anhänger der Jesussekte behaupteten, dass nämlich der Messias tatsächlich jener »Gottesknecht« war und das Erlösungswerk durch seinen eigenen freiwilligen Tod bereits vollzogen hatte? Durch das stellvertretende Opfer seines Gottes wurde nach heidnischer Anschauung das Volk entsühnt und fand jene »Gerechtmachung« aller vor der Gottheit statt, die der fromme Pharisäer von der strikten Erfüllung des jüdischen Gesetzes erhoffte. Und doch, wenn Paulus die tatsächlich von ihm selbst und andern geübte »Gerechtigkeit« mit dem angestrebten Ideale der Gerechtigkeit verglich, wie diese vom Gesetz gefordert wurde, dann musste ihn Entsetzen vor der Weite des Abstandes erfassen, der zwischen Ideal und Wirklichkeit bestand, dann mochte er aber zugleich auch wohl an der göttlichen Gerechtigkeit verzweifeln, die von ihrem Volke die Erfüllung des Gesetzes verlangte, ihm mit dem Gedanken des nahen Weltendes drohte und die es doch zugleich durch die Art und Beschaffenheit ihrer Gebote ausschloss, dass der Messias, wie er hätte tun sollen, ein »gerechtes« Volk bei seiner Ankunft antraf.

Sollten diejenigen wirklich so im Unrecht sein, welche die Heiligung des Menschen, anstatt von der Erfüllung des Gesetzes, unmittelbar von dem Eingreifen Gottes selbst erhofften? Dass ein Mensch als symbolischer Vertreter an Stelle der Gottheit geopfert wurde, war bei den Heiden nichts Ungewöhnliches, wenn schon zur Zeit des Paulus, statt eines wirklichen Menschen, im allgemeinen nur ein Bild den sich opfernden Gott zu vertreten pflegte. Aber das Wesentliche war auch nicht dies, sondern die Idee, die dem göttlichen Selbstopfer zugrunde lag. Diese aber wurde dadurch nicht berührt, dass der Geopferte ein Verbrecher war, der in der Rolle des unschuldigen Gerechten getötet wurde, und dass die Freiwilligkeit seines Todes durchaus nur eine fiktive war. Konnte es also nicht sein, wie die Jesusgläubigen behaupteten, dass der Messias nicht noch erst auf Grund der menschlichen Gerechtigkeit zu erwarten, dass er vielmehr bereits erschienen war und die für die Einzelnen unerreichbare Gerechtigkeit durch seinen schmachvollen Tod und seine glorreiche Auferstehung schon verwirklicht hatte?

Der Augenblick, in welchem in Paulus dieser Gedanke aufblitzte, war der Geburtsmoment des Christentums als einer Religion des Paulus. Es war die Form der Menschwerdung Gottes als solche, in welcher er jenen Gedanken ergriff, und diese Form war zugleich eine derartige, dass er mit ihr ein ganz neues Moment in die bisherige Anschauungsweise einführte. Nach heidnischer Auffassung opferte sich zwar ein Gott für sein Volk, allein ohne damit aufzuhören, Gott zu sein; hier wurde der an Gottes Statt geopferte Mensch nur für den zufälligen Vertreter des sich opfernden Gottes angesehen. Nach der bisherigen Anschauung des jüdischen Sektenglaubens war es zwar der »Menschensohn«, ein menschenartiges Wesen, das vom Himmel herabsteigen und das Erlösungswerk vollziehen sollte, jedoch ohne ein wirklicher Mensch zu sein und ohne in menschlicher Gestalt zu leiden und zu sterben. Nach Paulus hingegen lag der Nachdruck gerade darauf, dass der Erlöser wirklich selbst ein Mensch und also der an Gottes Stelle geopferte Mensch zugleich der in Menschengestalt erschienene Gott sein sollte: der Mensch vertritt nicht bloß die Stelle Gottes als eines himmlischen und überirdischen Wesens, sondern den in Menschengestalt erschienenen Gott als solchen. Gott selbst wird Mensch, damit ein Mensch zum Gott erhöht werden und als sühnender Stellvertreter für sein Volk die Menschen mit Gott vereinigen kann.*
* Man bemerke, wie in diesen Unterscheidungen bereits die Keime zu jenen endlosen und törichten Streitigkeiten über die »Natur« des Gottmenschen enthalten liegen, die dann später, in den ersten Jahrhunderten n. Chr., die Christenheit in zahllose Sekten und »Häresien« zerspalten und die Veranlassung zur Aufstellung des christlichen Dogmas liefern sollten.

Der Mensch, der für sein Volk geopfert wird, vertritt auf der einen Seite zwar dies Volk vor Gott, auf der andern jedoch den sich selbst für die Menschheit opfernden Gott vor diesem Volke. Damit wird in dem Gedanken des stellvertretenden Sühnopfers die Trennung zwischen Gott und Mensch getilgt und beide fließen im Begriff des »Gottmenschen« unmittelbar in eins zusammen. Gott wird Mensch, damit die Menschen hierdurch dazu befähigt werden, Gott zu werden. Der Mensch opfert sich sowohl an Gottes wie an der Menschen Statt und schließt so die beiden Gegensätze zur Einheit in sich selbst zusammen.

Man sieht: es war tatsächlich nur eine neue Fassung des alten Gedankens vom stellvertretenden Sühnopfer Gottes, wobei der Genitiv sowohl im subjektiven wie im objektiven Sinne zu nehmen ist. Es bedurfte durchaus keiner historischen Persönlichkeit, die den Gottmenschen sozusagen vorgelebt haben musste, um jene paulinische Auffassung der Jesusreligion hervorzubringen. Denn die zufällige Persönlichkeit des den Gott repräsentierenden Menschen kam für Paulus ebensowenig, wie für die Heiden, in Betracht; und wenn auch er mit den übrigen Juden den Messias Jesus als den leiblichen Nachkommen Davids »nach dem Fleisch«, d. h. als Menschen bezeichnete (Röm. 1,3), wenn er ihn »vom Weibe geboren« werden ließ, so dachte er hierbei doch nicht an irgendwelche konkrete Individualität, die zu einer bestimmten Zeit die Gott¬heit in sich verkörpert haben sollte, sondern einzig und allein an die Idee eines fleischlichen Messias, sowie auch der leidende Gottesknecht des Jesaia trotz der Anknüpfung dieser Idee an ein tatsächlich vollzogenes Menschenopfer eben nur eine ideale sinnbildliche oder typische Bedeutung besessen hatte.

Hier liegt denn auch die Erklärung dafür, dass der »Mensch« Jesus bei Paulus ein ungreifbarer Schemen bleibt und er von Christus als Menschen sprechen kann, ohne hierbei an eine historische Persönlichkeit im Sinne der heutigen liberalen Theologie zu denken. Der ideale Mensch, wie Paulus sich Jesus vorstellt, der Inbegriff alles menschlichen Seins, die als Person gedachte menschliche Gattung, die die Menschheit ebenso für Gott vertritt, wie der in ihrer Rolle geopferte Mensch die Gottheit für das Volk veranschaulicht, der »Mensch«, auf den allein es für die Erlösung ankommt, ist und bleibt eine metaphysische Wesenheit, sowie die Idee des Plato oder der Logos des Philo darum nicht weniger metaphysische Wesenheiten bleiben, weil sie in die Sinnenwelt herabsteigen und in dieser eine bestimmte individuelle Leiblichkeit annehmen; und was Paulus über den »Menschen« Jesus lehrt, das ist nur eine nähere Ausführung und Vertiefung desjenigen, was die Mandäer von ihrem Mandâ de hajjé oder Hibil Ziwâ, die apokalyptisch beeinflussten jüdischen Sekten von ihrem Messias als Geheimlehre glaubten. Es handelt sich also bei der Herabkunft, dem Tode und der Auferstehung Jesu für Paulus um eine ewige, nicht aber um eine wirkliche, zeitliche Geschichte, und darum heißt bei Paulus nach den Spuren eines geschichtlichen Jesus suchen, den Kern seiner religiösen Weltanschauung missverstehen.

Gott, der »Vater« unseres »Herrn« Jesus Christus, hat seinen Sohn »erweckt« und zur Erlösung der Menschheit auf die Erde herabgesendet. Wiewohl ursprünglich eins mit Gott und darum selbst ein göttliches Wesen, hat Christus nichtsdestoweniger seine ursprüngliche überirdische Wesenheit aufgegeben. Im Widerspruch zu seiner wahren Wesenheit hat er seine geistige Natur mit der Gestalt des »Sündenfleisches« vertauscht, seinen himmlischen Reichtum für die Armut und Armseligkeit des menschlichen Daseins dahingegeben und ist er »an Erscheinung wie ein Mensch«, in Knechtsgestalt zu den Menschen gekommen, um diesen die Erlösung zu bringen (Röm. 8, 3; 2. Kor. 8, 9; Phil. 2, 7f.).

Denn der Mensch ist unfähig, durch sich selbst das religiöse Heil zu erlangen. Bei ihm ist der Geist gebunden an das Fleisch, seine göttliche übersinnliche Wesenheit an die sinnlich-stoffliche Wirklichkeit, und darum ist er »von Natur« dem Übel und der Sünde unterworfen. Alles Fleisch nämlich ist als solches »Sündenfleisch«. Also ist auch der Mensch, sofern er ein fleischliches Wesen ist, zur Sünde geradezu genötigt. Und auch Adam ist nur aus dem Grunde der Urheber aller menschlichen Sünde, weil auch er »im Fleische«, d. h. ein endliches, der Leiblichkeit verhaftetes Wesen, war. Wohl hat Gott, um ihnen in ihrer Finsternis den rechten Weg zu zeigen, den Menschen das Gesetz gegeben und ihnen damit eine Möglichkeit eröffnet, durch die Ausübung seiner Gebote vor seinem Gerichte für gerecht erklärt oder »gerechtfertigt« zu werden. Allein die Gebote in voller Strenge zu erfüllen, ist unmöglich. Und doch vermöchte nur das Halten des ganzen Gesetzes ohne Rest die Menschen vor dem Gericht zu retten. Wir aber sind alle Sünder (1 Gal. 3, 10ff; Röm. 3, 9ff.).

So hat das Gesetz zwar das Bewusstsein der Schuld geweckt und durch seine Übertretung die Sünde offenbar gemacht (2 Röm. 3, 20; 4, 15; 5, 20; 7, 7ff.), aber es hat sie auch zugleich gesteigert. Es hat sich als ein strenger Erzieher und Zuchtmeister zur Gerechtigkeit erwiesen, jedoch ohne selbst die Gerechtigkeit herbeizuführen. Ja, so wenig hat es sich als das ersehnte Heilmittel erwiesen, dass man geradezu sa¬gen kann, es sei überhaupt nicht von Gott zu dem Zwecke gegeben worden, um die Menschen zu erretten, sondern nur, um sie noch elender zu machen. Paulus möchte daher auch die Übermittlung des Gesetzes an Moses lieber nicht Gott selbst, sondern vielmehr dessen Engeln zuschreiben, um Gott von der Schuld des Gesetzes zu entlasten (Gal. 3, 19ff.). Dieser Zustand ist aber für die Menschen um so verhängnisvoller, als die Sünde, wie sie durch das Gesetz geweckt wird, unweigerlich den Tod nach sich zieht und dieser ihnen auch die letzte Möglichkeit raubt, ihrer höheren geistigen Natur gemäß zu werden. So ist der Mensch, ein bejammernswertes Wesen, zwischen Licht und Finsternis mitten inne gestellt. Nach oben zieht ihn sein gottverwandter Geist; nach unten hin ziehen und zerren ihn die schlimmen Geister und Dämonen, die diese Welt beherrschen, ihn zur Sünde reizen, und die im Grunde nichts anderes sind als mythische Personifikationen der sündhaften fleischlichen Triebe des Menschen.


In diese Welt der Finsternis und der Sünde tritt nun Christus ein. Als Mensch unter Menschen, begibt auch er sich in den Machtbereich des Fleisches und der Sünde und muss sterben, wie die übrigen Menschen. Indessen für den menschgewordenen Gott ist der Tod kein solcher im gewöhnlichen Sinne. Für ihn ist er nur die Befreiung von der ihm unangemessenen Beschaffenheit des Fleisches. Wenn Christus stirbt, so streift er nur die Fessel des Fleisches ab und tritt er hervor aus dem Kerker des Leibes, hinaus aus der Sphäre, worin die Sünde, der Tod und die Dämonen herrschen. Er, der Gottmensch, stirbt der Sünde ein für allemal, die ihm ja nicht ureigentümlich ist. Indem er in seiner Auferstehung die Todesmächte überwindet, gewinnt der Sohn gerade durch den Tod sein eigentliches ursprüngliches Wesen, das ewige Leben in und bei dem Vater wieder (Röm. 6, 9f.). So wird er aber auch zugleich zum Herrn über das Gesetz, denn dieses herrscht ja nur insoweit, als es irdische, fleischliche Menschen gibt, und hört in dem Augenblicke für ihn auf, zu gelten, wo Christus sich über das Fleisch erhebt und zu seiner rein geistigen Natur zurückkehrt. Gäbe es für den Menschen eine Möglichkeit, in gleicher Weise ihrem Fleische abzusterben, so würden sie damit, ebenso wie Christus, von der Sünde, dem Tode und Gesetz erlöst sein.

Eine solche Möglichkeit gibt es. Sie liegt darin, dass Christus eben selbst nichts anderes ist als der als Persönlichkeit aufgefasste menschliche Gattungsbegriff, die personifizierte platonische Idee des Menschen, der Idealmensch als metaphysische Wesenheit und damit sich in seinem Schicksal das Schicksal der ganzen Menschheit erfüllt. In diesem Sinne gilt das Wort: »Ist einer für alle gestorben, so sind sie alle gestorben« (Röm. 5, 24.). Um der Früchte dieses Todes Jesu teilhaftig zu werden, dazu ist freilich nötig, dass der einzelne Mensch wirklich eins mit Christus wird, dass er in eine nicht bloß subjektiv gedachte, sondern objektive, reale, innerliche Einheit mit dem Repräsentanten, dem göttlichen Urbilde der menschlichen Gattung eintritt; und dies geschieht nach Paulus durch den »Glauben«.

Der Glaube, wie Paulus ihn versteht, ist also nicht ein bloßes äußerliches Fürwahrhalten der Tatsache des Opfertodes und der Auferstehung Jesu, sondern die Hinwendung des ganzen Menschen zu Jesus, die seelische Einswerdung mit ihm und die daraus von selbst sich ergebende göttliche Gesinnung, aus welcher die ihr entsprechende sittliche Betätigung von selbst hervorgeht. Nur in diesem Sinne ist es gemeint, wenn Paulus den Glauben über die Werke stellt, wie das Gesetz sie fordert. Ein Werk, das nicht aus dem Glauben, aus tiefster gottähnlicher Gesinnung entspringt, hat keinen religiösen Wert, und wenn es dem Wortlaute des Gesetzes nach so gemäß sein sollte.

Das ist eine Anschauungsweise, die Paulus durchaus mit der stoischen Philosophie seines Zeitalters teilt, und welche damals in den edleren Kreisen der antiken Menschheit sich mehr und mehr zur Herrschaft brachte. Der Mensch wird gerechtfertigt nicht durch das Gesetz, nicht durch die Werke, sondern durch den Glauben: der Glaube wird als Gerechtigkeit gerechnet auch ohne die Werke (Röm. 4, 3ff.). Es ist nur ein anderer Ausdruck für denselben Gedanken, wenn Paulus sagt, dass Gott den Menschen nicht nach Verdienst und Leistung, sondern »umsonst«, »aus Gnade« rechtfertige. Nach der Auffassung der jüdischen Gesetzesreligion hat der Begriff der Rechtfertigung eine rein juridische Bedeutung. Der Lohn entspricht hier genau der Leistung. Die Rechtfertigung ist nichts als eine durch eine unumstößliche Norm bedingte »Pflicht«. Nach der neuen Auffassung des Paulus hingegen ist sie ein selbstverständliches Ergebnis der göttlichen Gnade. Die Gnade aber besteht letzten Endes darin, dass Gott aus eigenen freien Stücken seinen Sohn geopfert hat, damit der Mensch durch den »Glauben« an ihn und die dadurch bedingte Einheit mit ihm an den beseligenden Wirkungen seines Erlösungswerkes teilnähme.


Aber der Glaube ist nur die eine Art, um mit Christus eins zu werden und die wesentliche Einheit mit ihm auch äußerlich zu betätigen. Zum Glauben müssen die Taufe und das Herrnmahl hinzukommen; damit schließt Paulus sich unmittelbar an die Mysterien und ihre sakramentale Auffassung der Vereinigung des Menschen mit der Gottheit an und bekundet er den Zusammenhang seiner eigenen Lehre mit derjenigen der heidnischen Kultgemeinden. Durch die Taufe, das Untertauchen und Verschwinden in der Wassertiefe, wird der Mensch mit Christus »begraben in den Tod«. Indem er dann wieder aus dem Wasser emportaucht, vollzieht sich in ihm nicht bloß in symbolischer, sondern zugleich in magisch-mystischer Weise die Auferstehung mit Christus zu einem neuen Leben (Röm. 6, 3ff.). Dabei wird Christus vom Täufling gleichsam »angezogen« (Gal. 3, 27.), so dass er hinfort nicht mehr bloß der Möglichkeit nach, sondern in Wirklichkeit mit Christus eins, Christus in ihm, er selbst in Christus ist.

Das Herrnmahl ist zwar einerseits ein brüderliches Liebes- und Gedächtnismahl zur Erinnerung an den Heiland, wie auch die Anhänger des Mithra ihre Agapen in Erinnerung an das Abschiedsmahl ihres Gottes von den Seinigen zu feiern pflegten. Auf der andern Seite aber ist es eine durch das Trinken des sakramentalen Kelchs und das Essen des sakramentalen Brotes vermittelte mystische Gemeinschaft des Blutes und Leibes Christi in keinem andern Sinne, als wie die Heiden durch die Opfermahle in eine innerliche Verbindung mit ihren Göttern zu treten meinten und die Naturvölker noch heute vielfach des Glaubens sind, durch das Essen vom Fleische eines andern, sei es Tieres oder Menschen, und Trinken seines Blutes der in jenem enthaltenen Kraft teilhaftig zu werden (1. Kor. 10, 16ff., 11, 23-27.) Ja, Taufe und Herrnmahl sind bis zu einem solchen Grade auch für Paulus rein natürliche Vorgänge, Zauberhandlungen, dass er an der heidnischen Sitte keinen Anstoß nimmt, lebende Christen zugunsten Verstorbener stellvertretend zu taufen, und unwürdiges Essen und Trinken beim Herrnmahl nach seiner Meinung Krankheit und Tod verursacht (1. Kor. 10, 3ff.; 16—21.). Von einer »Überwindung des Naturalismus der heidnischen Mysterien« kann folglich in dieser Hinsicht bei Paulus nicht die Rede sein; und wenn man ihm eine so viel höhere und geistigere Auffassung der Sakramente zuschreibt, als den Heiden, so erscheint dies mit seinen ausdrücklichen Darlegungen schwer vereinbar.


Nun ist Christus, wie gesagt, bei Paulus nur ein zusammenfassender Ausdruck für die ideale Gesamtheit aller Menschen, die darin zugleich als ein besonderes persönliches Wesen vorgestellt wird. Er ist die verselbständigte platonische Idee des Menschen, nicht anders, wie Philo die göttliche Vernunft personifiziert und diese mit dem »Idealmenschen«, der Idee des Menschen, hatte zusammenfließen lassen. Wie nach platonischer Ansicht die Vereinigung des Menschen mit der Idee durch den Eros, durch unmittelbare intellektuelle Anschauung auf Grund der begrifflichen Erkenntnis hergestellt, der Gegensatz von Sinnenwelt und Ideenwelt überwunden und der Mensch hiermit selbst zu einem Gliede des Ideenkosmos erhoben wird, genau so schließen sich nach Paulus die Christen durch den Glauben und die Sakramente zu konstituierenden Momenten der idealen Menschheit zusammen. So verwirklichen sie die Idee der Menschheit und treten mit Christus in eine mystische Gemeinschaft, der ja selbst, wie gesagt, nur diese Idee in ihrer einheitlichen Zusammenfassung darstellt. Die Folge hiervon ist, dass alles, was sich in Christus vollzieht, zugleich auch von den mit ihm vereinigten Menschen in geheimnisvoller Weise miterlebt wird. Demnach können sie nun selbst als die »Glieder des Einen Leibes Christi« bezeichnet werden, der ihr »Haupt« oder ihre »Seele« ist, und dies zwar in demselben Sinne, wie alle verschiedenen Ideen Platos nur Glieder und Momente der einheitlichen Ideenwelt bilden und ihre Vielheit sich zur Einheit der höchsten Idee, der übergreifenden und bestimmenden Idee des Einen oder Guten aufhebt.

Was bei Plato eine Erhebung des Geistes zur Ideenwelt ist, das ist bei Paulus die Vereinigung des Menschen mit Christus. Was bei jenem der im Besitze des Wissens Befindliche, der »Weise» ist, das ist hier der »Christ«. Was dort Eros heißt, der Vermittler der Einheit von Ideenwelt und Sinnenwelt, von Sein und Bewusstsein, von objektivem und subjektivem Denken und zugleich der Inbegriff aller objektiven Gedanken selbst, das heißt hier Christus. Eros wird von Plato der Sohn des Reichtums und der Armut genannt, der beider »Natur und Zeichen« trägt: »Er ist ganz arm, läuft barfuss und heimatlos herum und muss auf der nackten Erde ohne Decken, unter freiem Himmel, an den Türen und auf den Straßen schlafen, entsprechend der Natur seiner Mutter.« »Da er jedoch weder unsterblich noch sterblich ist, so blüht er bald und ist voll Leben, bald ist er müde und stirbt hin, und das alles oft an demselben Tage; aber immer wieder lebt er auf, entsprechend der Natur seines Vaters« (Plato: Gastmahl. c 22.).

So ist auch im paulinischen Christus die ganze Fülle der Gottheit enthalten (2 Kol. 2, 9.) und er selbst der »Sohn Gottes«, aber nichtsdestoweniger erniedrigt er sich, nimmt Christus Knechtsgestalt an, wird Mensch und stirbt und setzt sich damit in den vollkommensten Gegensatz zu seinem eigentlichen Wesen, jedoch nur, um in jedem einzelnen Menschen beständig wieder aufzuerstehen und die Menschen an seinem eigenen Leben teilnehmen zu lassen. Und wie Christus nach 1. Tim. 2, 5 der »Mittler« ist zwischen Gott und Mensch, so ist auch der platonische Eros »in der Mitte zwischen dem Unsterblichen und dem Sterblichen.« »Ein Dämon, Sokrates, ist Eros, ein großer Dämon, und alles Dämonische ist ein Mittelding zwischen Gott und Mensch. Der Dämon überbringt den Göttern, was von den Menschen kommt, und den Menschen, was von den Göttern kommt, von den einen die Bitten und Opfer, von den andern die Aufträge und die Vergeltungen der Opfer. In der Mitte beider füllt er die Kluft zwischen den Unsterblichen und den Sterblichen, und das All ist durch ihn zu einem Ganzen verbunden. Durch seine Vermittlung verbreitet sich alle Wahrsage- und priesterliche Kunst, welche die Opfer, die Weihungen, die heiligen Sprüche und jede Weissagung und Zauberei betrifft. Gott selbst aber vermischt sich nicht mit den Menschen, sondern in der angegebenen Weise kommt jeder Verkehr und jede Sprache zwischen Göttern und Menschen zustande, sowohl im Wachen, wie im Schlafe. Wer hierin erfahren ist, in dem ist der Dämon.« Wir erinnern uns auch hierbei wieder daran, dass der Eros im »Timäus« unter dem Namen der »Weltseele« erscheint und diese nach Plato die Gestalt eines schrägen Kreuzes haben soll.

Der platonische Eros ist die mythische Personifikation des Gedankens, dass das Denken des Seins (Gen. obj.) als solches zugleich ein Denken des Seins (Gen. subj.) ist, oder dass im Denken der Ideen der subjektive Gedanke des Philosophen und die objektive ideale Wirklichkeit sich gleichsam von zwei Seiten her begegnen und unmittelbar in eins zusammenfließen. So aber ist er nur der erkenntnistheoretische Ausdruck für den Grundgedanken des alten arischen Feuerkultus, wonach das Opfer Agnis, d. h. das Opfer, das der Mensch dem Gotte darbringt, als solches zugleich ein Opfer Agnis, d. h. ein Opfer ist, welches der Gott darbringt, und in welchem er sich selbst für den Menschen opfert. Dem entspricht es, wenn nach Paulus der Tod und die Auferstehung Christi, wie sich diese im Bewusstsein des gläubigen Menschen spiegeln, ein Sterben und Wiederauferstehen Christi als göttlicher Persönlichkeit darstellen, wenn der Mensch mit Christus stirbt und wiederauflebt und Gott und Mensch im Glauben unmittelbar in eins verschmelzen. Wie hierbei der Mensch nach Paulus zu einem »Gliede« des »Leibes Christi« wird, so werden auch nach vedischer Vorstellung die Teilnehmer am Opfer des Feuergottes durch den Genuss des Somatrankes und das Essen des Weihgebäckes zu einem mystischen Leib verbunden, vom Einen Hauch der Gottes beseelt, der ihre Sünden in seiner heiligen Glut vertilgt, und mit neuer Lebenskraft durchflutet. Und wie in Indien aus dem Kultus des Feuergottes und der hierin vollzogenen Vereinigung von Gott und Mensch sich das Brahmanentum entwickelt und die Herrschaft über die gesamte indische Menschheit erlangt hat, wie nach Plato die intellektuelle Anschauung den Stand der Wissenden begründet, den Weisen an die Spitze des sozialen Organismus stellt und den Philosophen als den einzig Würdigen zur Weltregierung befähigt, so schimmert auch bereits durch die paulinische Vorstellung der Gläubigen als des »Leibes Christi« die künftige Auffassung der Kirche als einer »Gemeinschaft der Heiligen« hindurch, in welchen sich der menschliche Gattungsbegriff (Christus) verwirklicht, als des Reiches Gottes auf Erden, als der wahren Menschheit, als der sinnlichen Erscheinung des himmlischen Idealmenschen selbst, der anzugehören für den Menschen Pflicht ist, und ohne welche es ihm nicht möglich ist, sein wahres ideales Wesen darzuleben.

Die antike Philosophie hatte sich bisher vergeblich bemüht, den Gegensatz von Ideenwelt und Sinnenwelt und die hierin begründete Unsicherheit des menschlichen Denkens und Lebens zu überwinden. Seit Plato hatte sie an dem Problem gearbeitet, Natur und Geist, deren gegensätzliche Beschaffenheit ihr durch den Begründer des metaphysischen Idealismus erstmalig zum Bewusstsein gebracht war, in widerspruchsloser Weise miteinander auszusöhnen. Die Religion hatte besonders in den Mysterienkulten das begrifflich unlösbar erscheinende Problem auf praktischem Wege zu lösen und den Menschen auf dem Wege der Hingebung und »Offenbarung«, durch mystische Versenkung in die Tiefen Gottes einen neuen Grund und Halt zu verschaffen gesucht. Aber erst das Christentum des Paulus gab diesem ganzen unklaren Sehnen und Suchen eine Form, die den Schauer und die Beseligung der mystischen Ekstase mit der Bestimmtheit einer umfassenden religiösen Weltanschauung verband und die Menschen über den tiefsten Sinn ihres gefühlsmäßigen Dranges nach Gewissheit aufklärte: nicht durch begriffliche Dialektik, wie Plato wollte, nicht durch vernünftige Einsicht den Weltzusammenhang im Sinne einer doch nur den Wenigsten erreichbaren abstrakten Verstandeserkenntnis erlangt der Mensch die Einheit mit Gott und die Gewissheit der wahren Wirklichkeit, sondern durch den Glauben, durch die göttliche Erlösungstat. Sich diese innerlich aneignen, sie dadurch selbst unmittelbar miterleben, dies allein setzt den Menschen in den Stand, aus der Unsicherheit und Finsternis der fleischlichen Existenz in die lichte Klarheit des geistigen Seins emporzutauchen.

Alle Gewissheit des wahren oder wesentlichen Seins ist somit Glaubensgewissheit, und eine höhere Gewissheit gibt es nicht, als wie sie dem Menschen im Glauben und durch die Frömmigkeit zu teil wird. Wie Christus gestorben und dadurch frei von den Banden des Leibes und der Erdenwelt geworden ist, so muss auch der Mensch im Geiste sterben. Er muss die Bürde dieses Leibes, der eigentlichen Ursache aller seiner ethischen und intellektuellen Unzulänglichkeit, ablegen. Er muss innerlich mit Christus auferstehen und wiedergeboren werden, so nimmt er damit auch an dessen geistiger Klarheit teil und gewinnt zugleich mit dem »Leben im Geiste« die Erlösung von aller ihm gegenwärtig anhaftenden Unzulänglichkeit. Es ist wahr, äußerlich besteht der Leib noch fort, auch nachdem die innere Erlösungstat vollbracht ist. Auch wenn der Mensch mit Christus gestorben, auferstanden und ein neuer Mensch geworden ist, ist er trotzdem noch den leiblichen Beschränkungen unterworfen. Auch der Erlöste ist noch in der Welt und muss mit ihren Einflüssen kämpfen. Allein was der Mensch durch die Eingliederung in Christi Leib gewinnt, das ist der »Geist« Christi, der die Glieder des Leibes zusammenhält, sich in allem wirksam zeigt, was dem Leibe zugehört, und sich im Menschen als übernatürliche Kraft betätigt. Und dieser Geist, wie er von nun an im Erlösten wohnt, wirkt und schafft und ihn zu allen Handlungen antreibt, hebt den Menschen in der Vorstellung über alle Beschränkungen seiner fleischlichen Natur hinaus, stärkt ihn in seiner Schwachheit, zeigt ihm das Dasein in einem neuen Lichte, so dass er sich hinfort nicht mehr gebunden fühlt, verleiht ihm den Sieg über die irdischen Gewalten und lässt ihn schon in diesem Leben die Seligkeit seiner endgültigen realen Erlösung in einem zukünftigen Jenseits vorempfinden (Gal 2, 20; Röm. 8, 24, 26.). Nun ist aber der Geist Christi als solcher zugleich der göttliche Geist. Indem sie also Christi Geist empfangen, sind die Erlösten selber Gottes »Söhne«, und dieses kommt darin zum Ausdruck, dass sie mit dem Geiste die »herrliche Freiheit der Kinder Gottes erben« (Röm. 8, 14 ff.). Denn, wie Paulus sagt: »Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist ist, da ist Freiheit«(2. Kor. 3, 17.).


Wenn so nach der Christ sich in eine »neue Schöpfung« umgewandelt fühlt, mit der Kraft wahren Erkennens und guten Handelns ausgerüstet, durch das Bewusstsein seiner siegreichen Macht über die fleischlichen Gelüste beseligt weiß und im Glauben seinen Frieden gewinnt, so ist dies die Folge eines mehr als menschlichen Geistes, der in ihm wirkt, wie denn übrigens auch die christlichen Tugenden der Bruderliebe, der Demut, des Gehorsams usw. ihre Begründung nur aus der Verpflichtung schöpfen, die der Besitz des Geistes einschließt:

»Leben wir im Geist, so lasst uns auch wandeln im Geist« (Gal. 5, 26.).

Und wenn die Gläubigen auf einmal eine Fülle neuer wunderbarer Kräfte entfalten, die über die gewöhnliche Natur des Menschen hinausgehen, wie die Fähigkeit des Zungenredens, der Weissagung und der Krankenheilung, so ist auch dies nach der abergläubischen Anschauung der Zeit nur aus der Einwohnung und der Wirksamkeit eines übernatürlichen, von außen in den Menschen hineingefahrenen Geistwesens zu erklären. Aber freilich, wie dieser himmlische Geist zugleich der Geist des Menschen sein, wie er im Menschen wirksam sein kann, ohne den eigentlichen ursprünglichen Geist des Menschen aufzuheben und das Individuum zu einem passiven Werkzeug, einer unlebendigen Marionette ohne eigene Selbstbestimmung und Verantwortlichkeit herabzudrücken, wie der von einem solchen Geiste »besessene« Mensch sich trotzdem frei und durch den Geist erlöst fühlen kann, das erscheint in der paulinischen Auffassung der Erlösung nicht verständlich. Denn es ist ja in der Tat ein fremder, ihm nicht wesentlich zugehöriger Geist, der durch die Vereinigung mit Christus in den Menschen einfährt.

Soll er doch nicht bloß des einzelnen Menschen Geist, sondern als solcher zugleich der persönliche Geist Christi sein. Ein und derselbe Geist soll einerseits, mit einem himmlischen Lichtleib angetan, zur Rechten des Vaters im Himmel thronen, und andrerseits auf Erden der Geist der an ihn Glaubenden sein, in ihnen als der Quell der Gnosis, der vollen mystischen Erkenntnis sich betätigen und als die Kraft des Guten, als Geist der Heiligkeit übernatürliche Wirkungen hervorbringen (1. Kor. 2, 9—14; Röm. 12, 2.). Es soll einerseits ein objektiv vorhandenes Geistwesen sein, das in Christus Mensch wird, stirbt und wiederaufersteht, und andrerseits eine innerliche, subjektive Kraft, die in jedem einzelnen Menschen das Absterben des Fleisches und die Wiedergeburt bewirkt, um den Gläubigen zugleich als Frucht ihrer individuellen Erlösungstat zuteil zu werden.


Das begreift sich allenfalls aus der Denkweise einer Zeit, für die der Begriff der Persönlichkeit noch gar keine feste Bedeutung hatte, die daher auch noch keinen Widerspruch darin fand, dass ein persönlicher Christusgeist gleichzeitig einer Vielheit von individuellen Geistern innewohnt, und die zwischen der einmaligen oder vielmehr ewigen Erlösungstat der Gottheit und ihrer beständigen zeitlichen Wiederholung in den Individuen noch gar nicht unterschied, allein selbst dies nur in dem Falle, dass der paulinische Christus ein rein metaphysisches Wesen ist; hingegen ist es völlig unverständlich, wenn Paulus seine Vorstellung des Erlösungsmittlers aus irgendwelcher Erfahrung eines historischen Jesus und seines zeitlichen Todes gewonnen haben sollte.

Nur weil Paulus bei seiner Lehre von der erlösenden Kraft des Christusgeistes an gar keine bestimmte menschliche Persönlichkeit gedacht hat, nur darum konnte er die Immanenz des Göttlichen in der Welt durch jenen Geist vermittelt sein lassen. Nur weil er mit der Persönlichkeit jenes Geistes keinen anderen Begriff verband als das Buch der Weisheit oder Philo mit den von ihnen vertretenen Immanenzprinzipien, nur darum stellte er die Behauptung auf, dass Christus die Erlösung bewirke.

Christus ist sonach, als Erlösungsprinzip, bei Paulus nur eine allegorische oder symbolische, keine wirkliche Persönlichkeit. Er ist eine Persönlichkeit, wie die heidnischen Gottheiten auch, die, unbeschadet ihrer Veranschaulichung in menschlicher Gestalt, als allgemeine, kosmische Mächte galten. Die Persönlichkeit ist für Paulus nur ein anderer Ausdruck für die übernatürliche Geistigkeit und zielstrebige Wirksamkeit des Erlösungsprinzips im Unterschiede von den blind wirkenden Kräften und stofflichen Wesenheiten des religiösen Naturalismus. Sie dient nur zur Bezeichnung der Geistigkeit in einer Zeit, die auch den Geist sich nur als ein stoffliches Fluidum vorzustellen vermochte. Sie entspricht nur einfach der populären Auffassung des Erlösungsprinzips, die sich dieses mit der Vorstellung eines menschenartigen Wesens verbunden dachte. Keineswegs aber bezieht sie sich auf ein reales historisches Individuum, sondern lässt gerade durch das Unbestimmte und Schillernde ihres Begriffs erkennen, wie weit der Christus der paulinischen Erlösungslehre davon entfernt war, einer bestimmten geschichtlichen Wirklichkeit anzugehören. —

Nicht also weil er Jesus als geschichtliche Persönlichkeit so hoch schätzte und verehrte, hat Paulus Christus zum Träger und Vermittler der Erlösung gemacht, sondern weil er von einem geschichtlichen Jesus, von einem menschlichen Individuum dieses Namens, auf den er das Erlösungswerk hätte übertragen können, überhaupt nichts wusste. »Vertraute Jünger«, meint Wrede, »konnten nicht so leicht glauben, der Mann, der mit ihnen in Kapernaum zu Tisch gesessen oder auf dem galiläischen See gefahren war, sei der Schöpfer der Welt (!). Für Paulus fiel dies Hindernis fort.«

Aber Paulus soll doch mit Jakobus, dem »Bruder des Herrn«, zusammengetroffen sein und Erfahrungen mit ihm gemacht haben, die ihn sicher in seiner Ansicht von Jesus hätten stutzig machen müssen, wenn es sich hierbei wirklich um leibliche Bruderschaft gehandelt hätte. Was für eine wunderliche Vorstellung müssen doch unsere Theologen von einem Manne wie Paulus haben, wenn sie glauben, es hätte ihm überhaupt jemals einfallen können, mit einem menschlichen Individuum Jesus, und mochte es ihm noch so verehrungswürdig erschienen sein, so ungeheuerliche Vorstellungen zu verknüpfen, wie Paulus es mit seinem Christus tut!

Gewiss, es gibt einen Grad der religiösen Schwärmerei, die den Unterschied von Mensch und Gott völlig aus den Augen verliert; und zumal um die Wende unserer Zeitrechnung, in der Zeit des Kaiserkultus und des tiefsten religiösen Aberglaubens war die Vergöttlichung eines verehrten Menschen nach ihrem Tode an sich nichts Ungewöhnliches. Aber man mache sich nur einmal klar, was für ein Übermaß von Kritiklosigkeit, gedanklicher Unklarheit und Verstiegenheit dazu gehört, einen vor noch nicht langer Zeit verstorbenen Menschen, der noch deutlich in der Erinnerung seiner Zeitgenossen und nächsten Angehörigen lebt, nicht nur zu einem göttlichen Heros oder Halbgott, nein, zum weltschöpferischen Geistprinzip, zum metaphysischen Erlösungsmittler und »zweiten Gott« empor zu phantasieren.

Und wenn, wie dies auch Wrede in den obigen Worten zugibt, die persönliche Bekanntschaft Jesu in der Tat ein »Hindernis« für die Apotheose des Menschen war, wie soll man es sich erklären, dass die »Urapostel« zu Jerusalem an jener Auffassung des Paulus keinen Anstoß nahmen? Sie wussten doch, wer Jesus gewesen war. Sie kannten ihn durch mehrjährigen beständigen Umgang mit dem Meister. Und wie hoch sie auch immer von dem Auferstandenen dachten, wie innig sich in ihrem Bewusstsein die Erinnerung an den Menschen Jesus mit den herrschenden Vorstellungen des Messias verknüpfen mochte: zu einer derartig maßlosen Vergötterung ihres Herrn und Meisters, wie Paulus sie schon verhältnismäßig so bald nach Jesu Tode vornahm, sollen doch auch sie nach der herrschenden theologischen Ansicht sich keineswegs verstiegen haben.

»Paulus glaubte bereits an ein solches Himmelswesen, an einen göttlichen Christus, ehe er an Jesus glaubte« (Wrede). Die Wahrheit ist, dass er an den Jesus der liberalen Theologie überhaupt nicht glaubte. Der »Mensch« Jesus gehörte von vornherein zu seinem Christusglauben, sofern ja die Erlösungstat des Christus eben in seiner Erniedrigung und Menschwerdung bestehen sollte — dazu bedurfte es keines historischen Jesus. Wie für die gesamte Heidenwelt, so war auch für Paulus der an Gottes Statt geopferte wirkliche Mensch besten Falles nur ein zufälliges Symbol des sich selbst als Opfer dar bringenden Gottes. Man kann daher auch nicht sagen, dass der Mensch Jesus eigentlich nur »der Träger all der gewaltigen Prädikate« wurde, die als solche bereits seit langem feststanden« (Wrede), oder, wie Gunkel es auffasst, dass auf jenen die begeisterte Jüngerschaft alles, was das bisherige Judentum von seinem Messias auszusagen wusste, übertragen habe und somit die neutestamentliche Christologie trotz ihrer unhistorischen Beschaffenheit doch »ein gewaltiger Hymnus« sei, »den die Geschichte auf Jesus singt« (!) (Wrede). Gibt man einmal die Existenz eines vorchristlichen Jesus zu, und gerade Gunkel hat, außer Robertson und Smith, am meisten zur Anerkennung dieser Tatsache beigetragen, dann kann dies zunächst nichts anderes als einen schweren Verdacht gegen den historischen Jesus erwecken, und es erscheint als eine geradezu verzweifelte Ausflucht der »kritischen« Theologie, aus der Existenz eines vorchristlichen Jesus umgekehrt Kapital für die »einzigartige« Bedeutung ihres »historischen« Jesus schlagen zu wollen.

Das Leben und der Tod Christi ist für Paulus weder die sittliche Tat eines Menschen, noch ist es ihm überhaupt eine geschichtliche Tatsache, sondern etwas Obergeschichtliches, ein Vorgang in der übersinnlichen Welt (Wrede). Auch der »Mensch« Jesus kommt für Paulus, ebenso wie der leidende Gottesknecht für Jesaja ausschließlich als Idee in Frage, und sein Tod ist, ebenso wie seine Auferstehung, nur die bloße ideale Bedingung, wodurch die Erlösung herbeigeführt wird.

»Ist Christus nicht auferstanden, so ist euer Glaube eitel« (1. Kor. 15, 17). Auf diesen Ausspruch hat man bisher den Hauptbeweis dafür gegründet, dass für Paulus ein geschichtlicher Jesus die Voraussetzung seiner Lehre sei. Indessen bedeutet jener Ausspruch im Munde des Paulus in Wahrheit gar nichts anderes als der Glaube seiner Zeitgenossen, die von der Auferstehung ihres Gottes, mochte dieser nun Adonis, Attis, Dionysos, Osiris oder wie immer heißen, das natürliche und religiöse Heil erhofften.


Die Tatsache steht also fest, dass Paulus von einem geschichtlichen Jesus nichts gewusst hat, und, wenn er etwas von ihm gewusst haben sollte, dieser Jesus bei ihm doch jedenfalls keine Rolle spielt und keinen Einfluss auf die Entwicklung seiner religiösen Weltanschauung ausgeübt hat. Man stelle sich vor! derjenige Mann, von dem wir die ersten schriftlichen Zeugnisse über das Christentum besitzen, der dieses als eine neue vom Judentum verschiedene Religion überhaupt erst begründet, an dessen Lehre allein die ganze weitere Entwicklung der christlichen Gedanken angeknüpft hat, Paulus kennt Jesus als historische Persönlichkeit überhaupt nicht. Ja, er hätte es sogar von seinem Standpunkte aus mit vollem Rechte ablehnen müssen, wenn andere ihn über eine solche Persönlichkeit hätten aufklären wollen! Von allen Einsichtigen wird heute zugestanden, was Eduard v. Hartmann schon vor mehr als dreißig Jahren behauptet hat, dass ohne Paulus die christliche Bewegung ganz ebenso, wie diejenige vieler anderer jüdischer Sekten, im Sande verlaufen wäre, um höchstens nur noch als eine historische Kuriosität die Geschichtsforscher zu beschäftigen — und Paulus weiß nichts von Jesus! Die Entstehung und Entwicklung der christlichen Religion hat lange vor dem Jesus der Evangelien begonnen und sich unabhängig vom geschichtlichen Jesus der historischen Theologie vollzogen. Schon hieraus erhellt zur Genüge die Berechtigungslosigkeit dieser Theologie, das Christentum rein als »Christentum Christi« aufzufassen und eine bloße Ansicht vom Leben und der Lehre, eines, »vorbildlichen« Menschen Jesus für christliche Religion auszugeben. —

Die im Anfang aufgeworfene Frage, was wir durch Paulus über den historischen Jesus erfahren, hat hiermit ihre Beantwortung gefunden: — nichts. Man ersieht hieraus, was davon zu halten ist, wenn von theologischer Seite den Gegnern eines solchen Jesus immer wieder mit besonders triumphierender Miene entgegengehalten wird, die historische Existenz Jesu sei durch Paulus »auf das sicherste bewiesen«, und dies zwar selbst von solchen, die im übrigen dem Neuen Testamente mit äußerst skeptischen Blicken gegenüberstehen. In Wahrheit enthalten die Briefe Pauli keinerlei Nötigung zur Annahme eines historischen Jesus, und kein Mensch würde vermutlich einen solchen darin finden, wenn ihm jene Annahme nicht schon vorher feststünde. Man stelle sich vor, die Briefe Pauli stünden in den Ausgaben des Neuen Testaments vor den Evangelien, wohin sie eigentlich gehören, so würde schwerlich jemand auf den Gedanken verfallen, dass der Jesus, wie er ihm hier entgegentritt, ein wirklicher Mensch gewesen sei, der in Fleisch und Blut, als geschichtliche Persönlichkeit auf der Erde gewandelt sei, sondern er würde darin aller Wahrscheinlichkeit nach nur eine nähere Ausführung der Idee des »leidenden Gottesknechtes« finden und auf ein Eindringen heidnischer Religionsvorstellungen in die jüdische Gedankenwelt schließen. Unsere Theologen sind jedoch a priori so sehr davon überzeugt, das Christusbild des Paulus müsse wesentlich nach dem Bilde des auf Erden wandelnden Jesus entstanden sein, dass selbst ein M. Brückner im Vorworte seiner erwähnten Schrift gesteht, von dem Resultate seiner Forschung, nämlich der Unabhängigkeit des paulinaschen Christusbildes von der geschichtlichen Persönlichkeit Jesu, »selbst überrascht« (!) worden zu sein.*
*Andere Theologen denken freilich auch hierüber anders, wie denn z. B. Feine in seinem Buche »Jesus Christus und Paulus« (1902) die Behauptung aufstellt, Paulus habe es sich »sehr angelegen sein lassen, ein deutliches und umfassendes Bild der Wirksamkeit und Persönlichkeit Jesu zu gewinnen« (!) (229).

Das Christentum ist eine synkretistische Religion. Es gehört auch seinerseits jenen vielgestaltigen religiösen Bewegungen an, die um die Wende unserer Zeitrechnung miteinander um die Vorherrschaft rangen. Aus der apokalyptischen Stimmung und der Messiashoffnung der jüdischen Sekten hervorgegangen, getragen von der Flutwelle einer mächtigen sozialen Bewegung, die in den religiösen Sekten und Mysteriengenossenschaften ihre Kernpunkte und Ausgangspunkte hatte, und deren Anhänger den Messias nicht bloß als Seelenheiland, sondern als Retter aus der Sklaverei, der Not der Armen und Bedrängten, als Bringer einer neuen Gerechtigkeit auffassten**,
**Auf diesen sozialen Einschlag des Christentums hat besonders Kalthoff in seinen Schriften den Nachdruck gelegt. Vgl. auch Steudel: Das Christentum und die Zukunft des Protestantismus. Deutsche Wiedergeburt, IV. 5909, 26f.; ferner Kautsky: Der Ursprung des Christentums, 1908.

hat es nichtsdestoweniger den Kern seiner Lehre, sein spezifisch Eigentümliches, wodurch es sich vom gewöhnlichen Judentume unterscheidet, die Zentralidee des sich selbst für die Menschheit opfernden Gottes, der Naturmystik der umwohnenden Völkerschaften entlehnt, die diesen Glauben im Zusammenhange mit dem Feuerkultus aus einer früheren nördlichen Heimat nach Asien übertragen haben. Nur sofern jener Glaube letzten Endes auf arischen Ursprung deutet, kann man sagen, dass Jesus »ein Arier« gewesen sei; alle weiteren Behauptungen nach dieser Richtung hin, wie z. B. Chamberlain in seinen »Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts« sie aufgestellt hat, sind reine Phantasie und beruhen auf einer völligen Verkennung der wahren Sachlage. So aber, als die Religion von Christus, dem »Herrn«, der das jüdische Gesetz durch seinen freiwilligen Sühnetod säkularisiert hat, ist das Christentum nicht in Jerusalem, sondern, wenn irgendwo, in der syrischen Hauptstadt Antiochia, einem der Hauptkultorte des Adonis, »entstanden«, wie es denn auch Antiochia war, wo nach der Apostelgeschichte (II, 26) der Name »Christen« für die Anhänger der neuen Sekte zuerst aufgekommen sein soll, die bis dahin gewöhnlich »Jessäer« oder »Nazoräer« hießen.*
* In derselben Weise sucht auch Vollers in seiner Schrift über »Die Weltreligionen« (1907) den Glauben der urchristlichen Sekte an den Tod und die Auferstehung Jesu aus einer Verschmelzung des Adonis- (Attis-) und Christusglaubens zu erklären. Auch er erblickt das Wesentliche jenes Glaubens darin, dass die bestehenden Ansichten vom Messias und der Auferstehung auf eine und dieselbe Person übertragen seien, und weist darauf hin, von wie großer Bedeutung es sein musste, dass dieser Glaube gerade in den Ländern, wohin er sich naturgemäß verbreiten musste und verbreitet hat, in Nordsyrien, Anatolien und Ägypten, auf einen wohl vorbereiteten Boden stieß. Als den natürlichen Vermittler der neuen Predigt oder »Heilsbotschaft« (Evangelium) aber betrachtet er die jüdische Diaspora dieser Länder und findet die Bestätigung für seine Ansicht darin, dass die Gebiete der größten Dichtigkeit der Diaspora fast genau zusammenfallen mit den Ländern, wo der sterbende und wiedererstehende junge Gott gefeiert wurde, und dass diese selben Gebiete auch die Stätten sind, an denen wir schon eine Generation nach dem Tode Jesu die zahlreichsten, blühendsten und fruchtbarsten Gemeinden der neuen Glaubensform antreffen: Syrien, Anatolien, Ägypten. Es ist die ostmediterrane oder levantinische Hufeisenlinie, die von Ephesus und Bithynien durch Anatolien nach Tarsus und Antiochia zieht, von dort durch Syrien und Palästina über die Kultzentren Bubastis und Sais nach Alexandrien. Fast genau in der Mitte dieser Länder liegt Aphaka, wo das Hauptheiligtum des »Herrn«Adonis lag, und wenig südlich von diesem Orte liegt der Gau, wo der Heiland der Evangelien geboren wurde« (a. a. O. 152).

Das steht nun freilich im schroffstem Widerspruche zur Tradition, nach welcher das Christentum in Jerusalem entstanden sein und sich von hier aus unter den Heiden verbreitet haben soll. Allein der Bericht des Lukas über die Entstehung der jerusalemischen Messiasgemeinde und die von ihr ausgegangene Verbreitung des Evangeliums kann auf historische Bedeutung keinen Anspruch machen. Schon die Erzählung von den Ostererlebnissen der Jünger und den ersten Erscheinungen des Auferstandenen erweisen sich durch ihren widerspruchsvollen und verworrenen Charakter als legendarische Erfindungen**.
** Vgl. O. Pfleiderer: Die Entstehung des Christentums 1905, 109ff.

Unhistorisch und in Widerspruch mit demjenigen, was Matthäus und Markus hierüber berichten, ist die Behauptung vom Bleiben der Jünger in Jerusalem nach dem Tode Jesu, die sogar von Lukas auf einen ausdrücklichen Befehl des verstorbenen Meisters zurückgeführt wird (Luk. 24, 33; 49, 52; Apg. 1, 4, 8, 12ff.). Unhistorisch ist die Pfingstversammlung mit dem wunderlichen »Wunder« der Ausgießung des Heiligen Geistes, die, wie dies selbst ein Clemen zugibt, vermutlich aus der jüdischen Legende entstanden ist, wonach die Gesetzgebung auf dem Sinai, um sie allen Völkern verständlich zu machen, in siebzig verschiedenen Sprachen erfolgt sein soll.*
* Religionsgesch. Erklärung d. N. 261. Vgl. übrigens auch die buddhistische Erzählung von der ersten Predigt Buddhas: Götter und Menschen strömten zu ihm hin, atemlos horchte alles auf die Worte des Lehrers. »Und da glaubte jeder der zahllosen Hörer, der Weise blicke auf ihn und spreche. zu ihm in seiner eigenen Sprache, und doch war es der Dialekt von Magadha, den er sprach«. Seydel: Evangelium von Jesus 248, Buddha-Legende 92 f.

Aber auch die Hinrichtung des Stephanus und die hieran sich anschließende Verfolgung der jerusalemischen Gemeinde sind legendarische Erfindungen.**
** Auch der sog. »Blutzeuge« Stephanus, dessen Fest auf den 26. Dezember, den Tag nach der Geburt Christi, fällt, verdankt der Astrologie seine Existenz und weist auf das Sternbild der Krone (gr. stéphanos) hin, das zur selben Zeit am östlichen Horizonte sichtbar wird (Dupuis: a. a. 0. 267). Daher die bekannte Redewendung: »die Märtyrerkrone erwerben«. Schon der Theologe Baur hat es auffällig gefunden, dass das jüdische Synedrium, welches kein Todesurteil ohne Genehmigung des römischen Statthalters vollziehen durfte, in der Sache des Stephanus diese Form vollständig hintansetzt, und er hat mit Recht darauf hingewiesen, wie die ganze Erzählung vom Märtyrertode des Stephanus durch die Parallele mit dem Tode Christi bestimmt ist (Baur: Paulus 52ff.).

Die große Mühe, die Lukas sich gibt, Jerusalem als den Ausgangspunkt der christlichen Bewegung hinzustellen, verrät deutlich die Tendenz des Verfassers der Apostelgeschichte, die tatsächlich von vielen Brennpunkten ausgegangene Tätigkeit der christlichen Propaganda in eine Ausbreitung des Evangeliums von Einem Brennpunkte aus umzudeuten. Es soll der Anschein hervorgerufen werden, als ob die neue Religion sich explosionsartig von Jerusalem aus über die ganze Welt verbreitet habe, und so ihr beinahe gleichzeitiges Auftreten in ganz Vorderasien erklärt werden. Darum müssen am Pfingsttage zu Jerusalem »andächtige Juden aus allerlei Volk« versammlet sein und sich trotz ihrer verschiedenen Sprache gegenseitig verstehen können. Darum muss Stephanus gesteinigt und damit der Anlass zu jener Verfolgung gegeben werden, welche die Gläubigen auf einmal in alle Winde zerstreut (Smith: a. a. O. 23—31.).

Nun ist es ja gewiss wahrscheinlich, dass auch zu Jerusalem, ebenso wie an vielen anderen Orten, sich eine Messiasgemeinde befand, die an Jesus im Sinne des sich selbst für die Menschheit opfernden Gottes glaubte. Die Frage jedoch ist, ob dieser Glaube sich bei der jerusalemischen Gemeinde auf einen wirklichen Menschen Jesus stützte, und ob somit ein Recht besteht, diese Gemeinde, deren Mitglieder zum Teil mit Jesus persönlich bekannt gewesen sein und dessen vertrauten Umgang genossen haben sollen, für die »Urgemeinde« im Sinne des ersten Keims und Ausgangszentrums der christlichen Bewegung anzusehen. Man könnte ja annehmen, und Frazer tut dies, dass ein jüdischer Prophet und Wanderprediger, der zufällig auch den Namen Jesus führte, von seinen Gegnern, den rechtgläubigen Juden, wegen revolutionärer Umtriebe gefangen gesetzt, als der Haman des betreffenden Jahres hingerichtet sei und dadurch die Veranlassung zur Begründung der jerusalemischen Gemeinde gegeben habe (Frazer: Golden bough III, 197.).

Indessen hiergegen spricht es schon, dass die Berichterstatter über den Anfang der christlichen Propaganda offenbar durchaus im Unsichern tappen, der eine diese, der andere jene Behauptung hierüber aufstellt, ohne besorgen zu müssen, widerlegt zu werden, und sie alle den Mangel einer bestimmten Kenntnis durch unverkennbare Phantasien zu ersetzen streben. Wenn die Lehre von Jesus, wie Smith behauptet, vorchristlich war, »ein Kultus, der an den Grenzen der Jahrhunderte (100 v. Chr. bis 100 n. Chr.) unter den Juden und besonders den Hellenisten mehr oder weniger geheim und in ,Mysterien‘ gehüllt, verbreitet war«, so versteht man sowohl das plötzliche Hervortreten des Christentums auf einem so weiten Gebiete, wie fast dem ganzen Vorderasien, als auch begreift man die Tatsache, dass schon die frühesten Berichterstatter über den Anfang der christlichen Bewegung nichts Sicheres mitzuteilen wussten. Dies scheint jedoch ganz unvereinbar mit der Annahme eines gewissen, bestimmten, lokalen und persönlichen Ausgangspunktes der neuen Lehre. Man wird einwenden: aber die Evangelien! Sie erzählen doch offenbar die Geschichte eines menschlichen Individuums und sind ohne die Annahme eines historischen Jesus nicht erklärlich!

Die Frage entsteht mithin, woher die Evangelien, auf die allein sich die Annahme eines geschichtlichen Jesus stützen kann, ihr Wissen von diesem Jesus haben
. S. 117-159
Aus: Arthur Drews, Die Christusmythe, Verbesserte und erweiterte Ausgabe /3.bis5. Tausend/ Verlegt bei Eugen Diederichs Jena 1910

Der evangelische Jesus
Wie weit auch die Ansichten auf dem Gebiete der Evangelienkritik noch immer auseinander gehen mögen: in einem stimmen doch gegenwärtig alle wirklich kompetenten Beurteiler mit seltener Einmütigkeit überein: die Evangelien sind keine Geschichtsurkunden im gewöhnlichen Sinne des Wortes, sondern Glaubensschriften, Erbauungsbücher, literarische Urkunden des christlichen Gemeindebewusstseins. Ihre Absicht ist daher auch nicht, einen der Wirklichkeit entsprechenden Bericht über das Leben und die Lehre Jesu zu liefern, sondern den Glauben an Jesus als den von Gott zur Erlösung seines Volkes gesandten Messias zu erwecken, zu befestigen und gegen Angriffe zu verteidigen. Als Glaubensschriften aber beschränken sie sich, wie selbstverständlich, auf die Mitteilung vor allem solcher Worte und Ereignisse, die für den Glauben irgendwelche Bedeutung haben, und haben sie zugleich das größte Interesse daran, die Tatsachen so zurechtzulegen und darzustellen, wie dies dem Inhalt des Glaubens entspricht. S. 159
Aus: Arthur Drews, Die Christusmythe, Verbesserte und erweiterte Ausgabe /3.bis 5. Tausend/ Verlegt bei Eugen Diederichs Jena 1910

Der synoptische Jesus
Von den zahllosen Evangelien, die noch während der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts im Umlauf waren, sind bekanntlich nur vier auf uns gekommen. Die übrigen sind von der Kirche nicht mit in den Kanon der neutestamentlichen Schriften aufgenommen worden und dadurch der Vergessenheit anheimgefallen.

Höchstens ein paar Namen sowie vereinzelte unbedeutende Trümmer sind uns von ihnen übrig geblieben. So wissen wir von einem Evangelium des Matthias, des Thomas, des Bartholomäus, Petrus, der zwölf Apostel usw. Was die vier uns vorliegenden Evangelien betrifft, so tragen zwei von ihnen die Namen von Aposteln selbst, nämlich Matthäus und Johannes, zwei die Namen von Begleitern und Schülern von Aposteln, nämlich Markus und Lukas. Damit ist jedoch keineswegs gesagt, dass sie auch wirklich von den betreffenden Persönlichkeiten geschrieben seien. Nach dem Kirchenlehrer Chrysostomus sind ihnen diese Namen erst gegen Ende des zweiten Jahrhunderts vorgesetzt worden. Auch heißen die Überschriften ja nicht: Evangelium des Matthäus, des Markus usw., sondern nach Matthäus, nach Markus, nach Lukas, nach Johannes, bezeichnen also höchstens nur diejenigen Personen und Jüngerkreise, deren eigentümliche Auffassung des Evangeliums sie darstellen.


Unter diesen Evangelien gilt nun wieder das Evangelium des Johannes als das späteste. Es setzt die übrigen voraus und trägt einen so ausgesprochen dogmatisch-tendenziösen Charakter, dass es als Geschichtsquelle nicht in Betracht kommen kann. Von den übrig bleibenden Evangelien aber, die wegen der Ähnlichkeit ihrer Darstellung nach Form und Inhalt als »synoptische«, d. h. als solche, bezeichnet werden, die zusammen betrachtet werden müssen und erst in ihrer Vereinigung eine wirkliche Anschauung der Persönlichkeit des Heilands liefern, pflegt dasjenige des Markus als das älteste angesehen zu werden. Matthäus und Lukas stützen sich auf Markus, und allen dreien liegt nach der herrschenden Ansicht noch eine gemeinsame aramäische Quelle zugrunde, worin die lehrhaften Aussprüche Jesu enthalten gewesen sein sollen. Die Tradition bezeichnet Johannes Markus, den Neffen des Barnabas, Schüler des Petrus, Begleiter des Paulus auf seiner ersten Missionsreise und späteren Gehilfen in der römischen Gefangenschaft, als den Verfasser des Markusevangeliums und nimmt an, dass dieses kurz nach der Zerstörung Jerusalems (70), also mindestens vierzig Jahre nach dem Tode Jesu (!) geschrieben sei. Sie stützt sich hierbei auf eine Notiz des Kirchenhistorikers Eusebius (gest. um 340 n.Chr.), wonach Papias, Bischof von Hierapolis in Kleinasien (um 140), von dem »Ältesten Johannes« in Erfahrung gebracht haben will, dass Markus aufgezeichnet habe, was er von Petrus gehört und dieser wiederum vom »Herrn« gehört habe.

Das ist bei ihrer vermittelten Beschaffenheit und der notorischen Unzuverlässigkeit des Eusebius gerade keine sehr vertrauenerweckende Notiz, und das Vertrauen zu ihrer Glaubwürdigkeit schwindet noch mehr angesichts der Tatsache, dass der Verfasser des Markusevangeliums keine Anschauung von den Orten hat, an denen Jesus geweilt haben soll. Und dabei soll Markus in Jerusalem geboren und Missionsreisender gewesen sein! Markus steht, wie Wernle in seiner Schrift über »Die Quellen des Lebens Jesu« es ausdrückt, sowohl zeitlich wie örtlich dem Leben Jesu recht fern gegenüber (!), ja, besitzt überhaupt keine klare Anschauung von Jesu Wirken und Lebensgang (a.a.O.58.), und dasselbe bestätigt Wrede in seinem Werke »Das Messiasgeheimnis« (1901), wohl der scharfsinnigsten und eingehendsten Untersuchung der Grundprobleme des Markusevangeliums, welche wir besitzen. Jesus ist für Markus ohne weiteres der Messias, der Sohn Gottes. »Für diesen Glaubenssatz soll Glauben geweckt werden, er soll bewiesen und verteidigt werden: das ganze Evangelium ist eine Verteidigung. Markus will alle seine Leser, die er sich unter Heiden und Heidenchristen denkt, zu dem Bekenntnis führen, das der heidnische Hauptmann ausspricht: ,Wahrlich, dieser Mensch war Gottes Sohn!‘ (15, 39.). Diesem Zweck ist die ganze Erzählung untergeordnet« (60.)


Der Hauptbeweis des Markus für diesen Gedanken ist der Wunderbeweis. Gegenüber seinen Wundern tritt die Lehre Jesu bei Markus so sehr zurück, dass wir nie genau erfahren, was Jesus gepredigt hat. »Infolgedessen ist das geschichtliche Bild stark getrübt, die Person Jesu ins Groteske, Phantastische verzerrt worden« (!) (ebd.). Nicht nur bringt Markus vielfach seine eigenen Gedanken an die Überlieferung von Jesus heran und berichtet dabei geradezu Verkehrtes, ja Absurdes, wohin nach Wernle z. B. der Ausspruch gehört, dass Jesus sich absichtlich einer dunklen Redeweise bedient und in Gleichnissen und Rätseln gesprochen habe, um von dem Volke nicht verstanden zu werden* auch die Verbindung, die er zwischen den Erzählungen hergestellt hat, wie sie erst lange Zeit einzeln für sich von Mund zu Mund gegangen sind, bevor Markus eine zusammenhängende Geschichte daraus gemacht hat, ist eine ganz lose, äußerliche.
* Die richtige Erklärung dieser Stelle dürfte darin liegen, dass der Jesusglaube Sektenglaube und nicht für »die da draußen« bestimmt war. 8 63ff. ,68.

Ursprünglich gingen die von Markus berichteten Geschichten sich untereinander gar nichts an. Es liegt auch nicht einmal eine Erinnerung daran vor, dass sie sich gerade in dieser Reihe folgten (!) (63ff.). Nur der Stoff selbst also, nicht was Markus aus ihm gemacht hat, ist geschichtlich wertvoll (68). Einzelgeschichten, Einzelgespräche, Einzelworte sind von Markus zu einem Ganzen verbunden worden, und oft genug lässt sich noch erkennen, dass es sich um Überlieferungen handelt, die sich erst lange nach Jesu Tode in der ältesten Christenheit gebildet, uni Erfahrungen, die sich erst allmählich zu einer Geschichte verdichtet haben, wie denn vor allem die Wundergeschichten in dieser Weise zustande gekommen sein dürften. Trotz aller dieser Zutaten und Veränderungen und trotzdem es weder bei den Worten Jesu noch bei den Erzählungen in den meisten Fällen mehr möglich ist, das Tatsächliche aus der Überlieferung herauszuschälen, deren erste schriftliche Aufzeichnung vierzig Jahre gewartet hat, soll der geschichtliche Wert der von Markus uns mitgeteilten Überlieferungen »sehr hoch« anzuschlagen sein (!). Denn »wertvoll« ist doch nicht bloß »der Gesamteindruck des Gewaltigen, Ursprünglichen, Schöpferischen«, der aus diesen Erzählungen des Markus spricht, sondern auch so mancher einzelne »der Wirklichkeit entnommene« Zug. Zahlreiche Erzählungen, Augenblicksbilder und Bemerkungen »sprechen für sich selbst«. Die Anspruchslosigkeit und Absichtslosigkeit (!), die Frische und Freudigkeit (!), womit Markus das alles wiedergibt, zeigen deutlich (?), »dass er hier der reine Mund guter Überlieferung ist und nicht anders schreibt, als Augenzeugen selbst ihm berichteten« (!). »Und so bleibt es zuletzt doch dabei, dass dieses Evangelium trotz allem ein außerordentlich wertvolles Werk ist, eine Sammlung alter und echter Stoffe, die lose geordnet und unter einige leitende Gedanken gestellt sind, verfasst vielleicht von jenem Markus, den das Neue Testament kennt, und von dem Papias aus dem Mund des Ältesten Johannes hörte« (70.).

Man traut seinen Augen nicht und fasst sich an den Kopf über diese Art, den Markus zu einer auch nur halbwegs glaubwürdigen »Geschichtsquelle« stempeln zu wollen. Nur zu sehr wird man durch dies Verfahren an die ironische Bemerkung des verstorbenen Wrede erinnert, wenn dieser über die »Geschmacksurteile« spottet, die in der Wissenschaft vom Leben Jesu blühen. »Diese Wissenschaft«, sagt Wrede, »krankt an der psychologischen Vermutung, und diese ist eine Art des historischen Ratens« (3.) Der eine glaubt dies, der andere jenes als historischen Kern aus dem Evangelium herausschälen zu können, aber objektive Beweise für seine Behauptungen hat keiner.*
* Es berührt den draußen stehenden Leser komisch, in den bezüglichen Darlegungen der Theologen die Dinge als »unzweifelhaft geschichtlich«, »eminent historische Tatsache«, »treue Wiedergabe des Geschichtlichen« usw. charakterisiert zu finden und dabei zu beobachten, dass, was dem einen für »geschichtlich sicher« gilt, von dem andern als »ganz sicher unhistorisch« abgetan wird. Wo ist hier die berühmte »Methode«, auf welche sich die »kritischen« Theologen den »Laien« gegenüber so viel zugute tun, die sich ein Urteil über den geschichtlichen Wert oder Unwert der Evangelien erlauben?

»Wenn man mit einem historischen Kerne arbeiten will, so muss man wirklich auf einen Kern stoßen. Es kommt gerade alles darauf an, dass in einer Geschichte oder einem Worte etwas nachgewiesen wird, was jede andere Erklärung des vorliegenden Gebildes unwahrscheinlich oder wenigstens zweifelhaft macht« (Wrede: a. a. O. 91.). Ob Wrede in demjenigen, was nach Wernle unmittelbar »für sich selbst« sprechen soll, einen derartigen »historischen Kern« erblickt haben würde, erscheint nach seiner radikalen Kritik der historischen Glaubwürdigkeit des Markusevangeliums sehr fraglich. Denn auch Wrede denkt über den »Historiker« Markus nicht wesentlich verschieden von Wernle. So sind z. B. nach seiner Meinung die Jünger Jesu, wie der Evangelist sie schildert, mit ihrer bis an Torheit grenzenden Verständnislosigkeit, ihrer Ratlosigkeit und ihrem zweideutigen Verhalten gegenüber ihrem Meister »keine Gestalten der Wirklichkeit« (104.). Auch er räumt, wie gesagt, ein, dass Markus keine wirkliche Anschauung mehr vom geschichtlichen Leben Jesu habe (129.), wenn auch »blasse Reste« (!) einer solchen in seine übergeschichtliche Glaubensauffassung eingegangen seien.»Das Markusevangelium«, sagt er, »gehört in diesem Sinne in die Dogmengeschichte« (131.). Der Gedanke, dass in ihm der Entwicklungsgang des öffentlichen Lebens Jesu noch erkennbar vorliege, erweist sich als morsch (148). »Wünschenswert wäre es in der Tat im höchsten Grade, dass ein solches Evangelium nicht das älteste ist« (ebd.).

So also steht es mit Markus als Geschichtsquelle. Wir dürfen hiernach kaum hoffen, in unserm Glauben an die geschichtliche Wirklichkeit Jesu durch die beiden andern Synoptiker wesentlich bestärkt zu werden. Von diesen soll das Evangelium des Lukas im Anfang des zweiten Jahrhunderts von einem unbekannten Heidenchristen geschrieben, dasjenige des Matthäus gar überhaupt nicht das Werk eines einzigen Verfassers, sondern in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts von verschiedenen Händen, und dies zwar unverkennbar im Interesse der Kirche, verfasst worden sein.*
* Vgl. Pfleiderer: Entstehung des Christentums 207, 213. Alle derartigen Angaben über die Abfassungszeit der Evangelien beruhen übrigens auf bloßen Vermutungen, bei denen noch dazu meist ganz andere Gesichtspunkte den Ausschlag zu geben pflegen als das rein geschichtliche Interesse. So pflegt auf katholischer Seite nicht Markus oder Lukas, sondern Matthäus für die älteste Quelle ausgegeben zu werden, und auch hierfür bringt man »Beweise« vor — natürlich, denn es ist ja das »kirchliche« Evangelium, es enthält ja die berühmte Stelle Kap. 16, 18 u. 19 über die »Schlüsselgewalt« des Petrus; wie sollte es also nicht das älteste sein? Neuerdings hat Harnack (Beiträge zur Einl. in das N. T. III. Die Apostelgeschichte 1908) Gründe dafür beizubringen versucht, dass die Apostelgeschichte mitsamt dem Evangelium des Lukas schon am Anfang der 6oer Jahre des ersten Jahrhunderts abgefasst sei. Allein eine wirkliche Entscheidung wagt auch er nicht zu treffen, und seinen Gründen stehen andere ebenso gewichtige gegenüber, die jener von ihm hervorgehobenen »Möglichkeit« widersprechen (a. a. 0. 219ff.).

Nun gründen sich aber beide, wie gesagt, auf Markus, und wenn sie außerdem auch noch ein gewisses »Sondergut«, das Markus fehlt, in ihre Darstellung hineingearbeitet haben, z. B. eine größere Anzahl von Gleichnissen und Einzelworten Jesu, wenn sie dessen Lebensgeschichte durch Hinzufugung ausgesprochen legendarischer Züge, wie z. B. der Vorgeschichte des Heilands, sämtlicher Zusätze der Leidens- und Auferstehungsgeschichte usw., ausgeschmückt haben, so ist auch dies nicht gerade geeignet, die Existenz eines historischen Jesus zu stützen. Wernle freilich ist der Ansicht, dass von beiden Evangelisten gerade in dieser Hinsicht »alte Überlieferungen mit besonderer Treue« aufbewahrt seien, jedoch ohne einen Beweis hierfür zu liefern, während er auf der andern Seite in Bezug auf gewisse Erzählungen des Lukas zugibt, dass, wenn dieser schon alte Überlieferungen benutzt habe, sie darum doch noch nicht schriftlich, vor allem aber »noch nicht geschichtlich zuverlässig« gewesen zu sein brauchten. Es nimmt sich eigentümlich aus, wenn er dann, die Geschichtlichkeit der Überlieferung völlig beiseite lassend, emphatisch erklärt, ein so starker Anteil des Evangelisten an Bildung und Gestaltung seiner Erzählung, wie dieser tatsächlich nach seiner Meinung vorhanden ist, sei doch keineswegs imstande, den »Wert seines großen reichen Schatzes köstlicher Gleichnisse und Geschichten herabzusetzen, durch die Jesus selber (!) frisch und ursprünglich (!) zu uns redet«, und wenn er am Ende das Fazit zieht, »dass das Sondergut beider Evangelien trotz seines sehr gemischten Charakters Anspruch genug auf unsere Dankbarkeit hat« (81.). Denn das heißt doch wohl nichts anderes, als die Dankbarkeit für den literarischen oder sonstigen Wert der Evangelien im Interesse des Glaubens für ihre geschichtliche Glaubwürdigkeit ausnutzen!

Aber da ist ja noch die Spruchsammlung, jene »große Redequelle«, aus welcher sämtliche Synoptiker und vor allem Lukas und Matthäus den Stoff zu ihren Aussprüchen Jesu genommen haben sollen. Leider ist nur diese ein uns völlig unbekanntes X, denn wir kennen weder den Umfang der »großen« Quelle, noch die Anordnung der Reden in ihr, noch deren Wortlaut. Wir können nur sagen, dass diese Sammlung in aramäischer Sprache geschrieben und die Anordnung der Reden in ihr nicht nach der Zeitfolge, sondern nach der Gleichartigkeit des Inhaltes getroffen war, während schon das wieder zweifelhaft ist, ob die Sammlung ein einheitliches Werk, von einem einzigen Manne verfasst war und ob sie eine Geschichte erlebt hat, bevor sie zu Lukas und Matthäus kam. Aber gleichviel — »die Spruchsammlung enthält eine so kostbare Fülle der Herrnworte, dass recht wohl ein Augenzeuge selbst ihr Verfasser sein könnte« (!) (71.). Und was die aus ihr geschöpften Reden Jesu anbetrifft, so sind sie zwar niemals von Jesus gehalten worden (!), sondern verdanken ihre Zusammenstellung durchaus der Hand des Sammlers, wie denn auch die viel bewunderte Bergpredigt Jesu aus einzelnen Worten, die allen Teilen seines Lebens angehören, vielleicht durch ein Jahr getrennt, nachträglich zusammengestellt ist und die verbindenden Grundgedanken überall nicht diejenigen Jesu, sondern vielmehr der Urgemeinde sind, »aber im ganzen ist der Geschichtswert dieser Reden doch der allergrößte. Zusammen mit den Herrnworten des Markus geben sie uns den treuesten Einblick in das Herz des Evangeliums« (74.).

Das also sind die Quellen für die Annahme eines geschichtlichen Jesus! Streicht man alles ab, was von den Evangelien geblieben ist, so sieht das übrige allerdings recht »ärmlich«, oder, gerade heraus gesagt, erbärmlich aus. »Wenn es aber nur fest und zuverlässig ist,« tröstet sich Wernle. Ja, wenn! »Und wenn es nur genügt, um uns auf die Hauptfrage: Wer war Jesus? Antwort zu geben!« (81 f.). So viel ist ja sicher: ein »Leben Jesu« kann auf Grund der vorhandenen Zeugnisse nicht geschrieben werden. Darin stimmen gegenwärtig wohl alle Theologen überein, was sie freilich nicht abhält, wenigstens für das »Volk« derartige Darstellungen doch immer wieder zu liefern und hierbei den Mangel an historischer Zuverlässigkeit durch erbauliche Ergüsse, Schönrednerei und Phrasen zu ersetzen. »Nicht an kostbarem geschichtlichem Einzelgut, an Bausteinen des Lebens Jesu fehlt es uns; sie sind in Fülle vorhanden. Aber der Bauplan ist uns verloren, gänzlich unfindbar, weil schon den ältesten Jüngern nichts an einem solchen geschichtlichen Zusammenhang gelegen war (!), sondern vielmehr alles an den einzelnen Worten und Taten, sofern sie Glauben erweckten, Gehorsam forderten.« Ob sie dies weniger getan haben würden, wenn sie im Zusammenhange berichtet worden wären, ob die Glaubwürdigkeit ihrer Erzählungen von Jesus wohl darunter gelitten haben würde und nicht vielmehr nur gesteigert worden wäre, wenn die Evangelisten sich die Mühe genommen hätten, uns etwas mehr von dem wirklichen Leben Jesu mitzuteilen? Wie jetzt die Dinge liegen, werden in den Evangelien kaum zwei Ereignisse in der gleichen Weise oder auch nur in demselben Zusammenhang berichtet, ja, die Verschiedenheiten und Widersprüche — und dies nicht bloß bei gleichgültigen Dingen, bei Namen, Zeit- und Ortsangaben usw. — sind so groß, dass diese literarischen Urkunden des Christentums an Verworrenheit kaum übertroffen werden können.*
* Der Laie hat bekanntlich hiervon meist nur eine sehr geringe Ahnung. Es sei ihm daher die »Vergleichende Übersicht der vier Evangelien« von S. E. Verus (1897) nebst dem Kommentar hierzu empfohlen.

Aber schließlich ist auch das nach Wernle »kein so großer Schade, sobald wir nur hinreichend klar ermitteln können, was Jesus in der Hauptsache tat und wollte« (83). Leider sind wir nicht einmal hierzu imstande. Denn die letzte Auskunftsstelle, die wir bei der Prüfung der Quellen erreichen, die aramäische Spruchsammlung und jene ältesten Überlieferungen, aus denen Markus geschöpft haben soll, und deren Nachlese uns Lukas und Matthäus aufbewahrt haben, sind uns gänzlich unbekannt. Kennten wir sie aber auch, so wären wir doch damit noch immer nicht »an Jesus selbst herangekommen«. »Sie enthalten die Möglichkeit der Trübung und Umbildung. Sie geben zunächst den Glauben der ältesten Christen wieder, einen Glauben, der im Laufe von vier Jahrzehnten gewachsen ist und sich auch gewandelt hat« (ebd.). Wir kennen also höchstens nur den Glauben der Urgemeinde. Wir sehen, wie diese sich von ihrem Auferstehungsglauben aus Jesus klar zu machen, wie sie die göttliche Beschaffenheit Jesu durch Anführung von Wundererzählungen usw. sich selbst und andern zu »beweisen« gesucht hat. Allein was Jesus selbst gedacht, was er getan, was er gelehrt, wie er gelebt und, dürfen wir hinzufügen, ob er überhaupt gelebt hat, das ist aus den Evangelien nicht zu ersehen und kann aus ihnen allem Vorangegangenen nach auch nicht einmal mittelbar mit ausreichender Bestimmtheit erschlossen werden.

Der liberale Theologe freilich, dem alles an der Existenz eines historischen Jesus gelegen ist, weiß sich zu helfen. Er erklärt, auch alles Bisherige sei noch nicht die Hauptsache sondern diese sei, wie Jesus Gott, die Welt, die Menschen angeschaut hat, welche Antwort er auf die Frage: worauf kommt es an vor Gott? und Was heißt Religion? gegeben hat. Man sollte meinen, die Antwort hierauf sei in dem Vorangegangenen bereits enthalten und laute, dass wir von alledem nichts wüssten. Aber weit gefehlt! Wernle weiß es und »schaut« es »im hellen Tageslicht«. »Aus der Fülle seiner Gleichnisse und Sprüche und aus zahlreichen Augenblickserinnerungen redet es zu uns so klar und bestimmt, als wäre Jesus unser Zeitgenosse (!). Kein Mensch auf der Erde kann sagen, es sei unsicher oder dunkel, wie Jesus über diese Hauptsache (!) gedacht hat, die uns (nämlich den liberalen Theologen) noch heute die Hauptsache ist.« »Und wenn die Christenheit jahrtausendelang das vergessen hat, was ihr Meister zuerst und vor allem wollte, heute (d. h. nach den Klarstellungen der kritischen Theologie!) leuchtet es uns aus den Evangelien wieder so klar und wunderbar entgegen, als wäre die Sonne eben erst aufgegangen und vertriebe durch ihre siegreichen Strahlen alle Gespenster und Schatten der Nacht« (85 f.). Und so hat denn auch Wernle selbst, dem wir diese trostreiche Versicherung verdanken, ein in theologischen Kreisen sehr geschätztes Werk über »Die Anfänge unserer Religion« (1901) geschrieben, in dem er eine so eingehende, im Tone überschwänglichster Begeisterung gehaltene Darstellung der innersten Gedanken, Absichten, Worte und Lehre Jesu und seiner Anhänger geliefert hat, als wäre er selbst unmittelbar dabei gewesen.

Man unterdrückt ein starkes Wort. Es sind ja doch die Ausführungen eines ernst zu nehmenden Mannes, mit dem man es bei dem Obigen zu tun hat, einer »Leuchte« seiner Wissenschaft! Die viel zitierte Schrift über »Die Quellen des Lebens Jesu« gehört der Sammlung »Religionsgeschichtlicher Volksbücher« an, welche die Quintessenz des gegenwärtigen theologischen Wissens zum Inhalte haben, und die für die weitesten Kreise der religiös Interessierten und Gebildeten bestimmt sind. Man darf also wohl mit Recht voraussetzen, dass jene Schrift zum Ausdruck bringt, was die liberale Theologie unserer Tage wünscht, dass die ihr unterstellten Gemeindemitglieder wissen und glauben möchten. Oder schätzen am Ende nur die Religionsgeschichtlichen Volksbücher das geistige Niveau ihrer Leser so niedrig ein, dass sie meinen, mit derartigen Ausführungen, wie denjenigen von Wernle, die Gebildeten in ihrem Glauben an einen historischen Jesus befestigen zu können? Man zieht die mehr »wissenschaftlich« gearteten Darstellungen anderer bedeutender Theologen über den gleichen Gegenstand zu Rate. Man greift zu Beyschlag, Harnack, Bernhard Weiß, zu Pfleiderer, Jülicher und Holtzmann. Man schlägt Bousset nach, der die Existenz eines historischen Jesus mit so großer Entschiedenheit und Wärme gegen einen Kalthoff verteidigt hat — überall das gleiche halb komische, halb traurige Schauspiel: auf der einen Seite entwertet man die evangelischen Quellen und zersetzt die vorhandenen Berichte mit seiner Kritik bis zu einem solchen Grade, dass kaum noch etwas Positives übrig bleibt, auf der andern versetzt man sich in pathetische Begeisterung für den so erhaltenen »historischen Kern«, rühmt die Verdienste und den »Wahrheitsmut« der sog. kritischen Theologie, der am Ende doch nur darin besteht, offenkundige Mythen und Legenden für dasjenige erklärt zu haben, wofür sie von den Unbefangenen schon längst gehalten wurden, und schwingt sich mit verzücktem Augenaufschlag zu einem Hymnus auf Jesus auf, als ob alles in den Evangelien über ihn Berichtete auch jetzt noch immer Geltung habe. Aber wie sagt doch Hausrath? »Die (evangelischen) Erzählungen ihrer wunderbaren Bestandteile entkleiden und dann den Rest für Geschichteausgeben, hat früher nicht für Kritik gegolten«.*
* Jesus u. d. neutestamentl. Schriftsteller II 43. Man nehme etwa die Schlusssätze E. Petersens in »Die wunderbare Geburt des Heilandes«, die in dem Nachweis der rein mythischen Beschaffenheit der evangelischen Geburtsgeschichten gipfelt: »Wenn wir, nicht aus Willkür, sondern durch die geschichtliche Notwendigkeit gezwungen, den Satz: Empfangen von dem hl. Geiste, geboren von der Jungfrau Maria, ablehnen, so bleibt Jesus uns doch der ,Sohn Gottes‘. Er bleibt es, weil er in Gott seinen Vater erlebt hat und weil er für uns auf der Seite Gottes steht. Auch wir haben ein gutes Recht, trotz unserer Ablehnung der Geschichtlichkeit der wunderbaren Geburt zu bekennen: ,Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes‘«. Ähnlich M. Brückner am Schlusse seiner übrigens ausgezeichneten Schrift »Der sterbende und auferstehende Gottheiland«. Wem bei solcher Phraseologie nicht — schlecht wird, dem ist nicht zu helfen.

Kann man es der katholischen Theologie unter solchen Umständen verdenken, wenn sie auf diese ganze protestantische »Kritik« mit unverhohlenem Mitleid, ja — Verachtung blickt und nicht müde wird, ihr die Inkonsequenz, Halbheit und Ergebnislosigkeit aller ihrer Bemühungen um die Aufhellung der Ursprünge des Christentumes vorzuhalten? Hat sie nicht recht, über das furchtbare Fiasko zu triumphieren, das der Protestantismus mit allen derartigen Versuchen erlitten hat und notwendig erleiden muss, die Evangelien im Sinne eines bloßen Geschichtsglaubens an Jesus auszumünzen? Freilich ist, was sie selbst zugunsten des historischen Jesus vorbringt, von aller Kritik, ja, selbst von allem guten Willen zur Ermittelung der Tatsachen so gänzlich verlassen, dass man ihr zu viel Ehre antun würde, auf ihre bezüglichen Ausführungen überhaupt auch nur genauer einzugehen. Für sie ist das ganze Problem einfach damit gelöst, dass die Existenz des historischen Jesus die unumgängliche Voraussetzung der — Kirche bildet, auch wenn alle Tatsachen der Geschichte dagegen ihr Veto einlegen sollten; und wie einer der ihrigen es formuliert hat, das ist im Grunde die bereits vorher feststehende einstimmige Ansicht aller ihrer Untersucher des betreffenden Gegenstandes: »Die geschichtlichen Zeugnisse für die Echtheit der Evangelien sind so alt, so zahlreich und so begründet, wie kaum für ein anderes Buch der antiken Literatur (!). Wenn man also nicht inkonsequent sein will, so darf man die Echtheit der Evangelien nicht in Frage ziehen. Dann steht aber auch ihre Glaubwürdigkeit außer Zweifel; denn ihre Verfasser waren Augen-und Ohrenzeugen der erzählten Begebenheiten (!) oder sie haben von solchen ihre Kunde empfangen; sie waren ebenso urteilsfähige (!) wie wahrheitsliebende Männer; sie konnten, wollten, ja, mussten die Wahrheit sagen.«*
*Schäfer: Die Evangelien und die Evangelienkritik 1908, 123. Die Geschichte der Entwicklung der Kirche in den ersten Jahrhunderten ist eine Geschichte der unverschämtesten literarischen Fälschungen, roher Gewalttätigkeit in Glaubenssachen und plumper Spekulation auf die Leichtgläubigkeit der großen Masse. Das Pochen auf die »Glaubwürdigkeit« der christlichen Schriftsteller jener Zeit kann daher bei den Kundigen höchstens nur ein ironisches Lächeln hervorrufen. Vgl. Robertson: Geschichte des Christentums (1910).

Wie anders nimmt sich gegenüber dieser Art von Theologie der gute, ehrliche Kalthoff aus! Es ist wahr, man wird seinen positiven Ausführungen über die Entstehung des Christentums, seinem Versuch, diese ganze Religion auf Grund der marxistischen Geschichtsbetrachtung rein aus sozialen Beweggründen zu erklären und Christus für das bloße Spiegelbild der christlichen Gemeinde und ihrer Erfahrungen auszugeben, für einseitig und unzulänglich ansehen müssen; und ganz sicherlich verfehlt ist seine Zusammenstellung des biblischen Pilatus mit Plinius, dem bithynischen Statthalter unter Trajan, und die auf sie gestützte Beweisführung, schon deshalb, weil der Brief des Plinius an den Kaiser aller Wahrscheinlichkeit nach eine spätere christliche Fälschung ist.*
* Vgl. Hochart: Études au sujet de la persécution des Chrétiens sous Néron 1885 cp. 4.

Allein in dem, was er über die moderne kritische Theologie und ihren historischen Jesus vorbringt, hat Kalthoff zehnmal recht, so sehr sich diese auch berechtigt glaubt, den unbequemen Gegner wegen seiner verfehlten Grundauffassung von oben herab behandeln und als »unzuständig« ignorieren zu können. Die ganzen von der historischen Theologie mit so unsäglichem Fleiße und so großem Scharfsinn unternommenen Bemühungen, aus den vorhandenen Quellen den Beweis für die Existenz eines Menschen Jesus im Sinne der Tradition zu schöpfen, haben, wie Kalthoff mit Recht nicht müde wird, hervorzuheben, zu einem rein negativen Ergebnis geführt. »Die zahlreichen Stellen in den Evangelien, die von dieser Theologie beiseite geschoben, für ihren historischen Jesus gestrichen werden müssen, stehen literarisch genau auf einer Linie mit denjenigen Stellen, aus denen die Theologie ihren historischen Jesus zusammensetzt, sie beanspruchen also auch den gleichen historischen Wert, wie diese. Der synoptische Christus, in dem die moderne Theologie durchweg die Züge des historischen Jesus zu haben meint, steht einer wirklich menschlichen Auffassung des Christentums nicht um ein Haar breit näher als der Christus des vierten Evangeliums. Was die Epigonen der freisinnigen Theologie aus diesem synoptischen Christus als historischen Extrakt glauben herausdestillieren zu können, das hat historischen Wert nur als Denkmal der virtuosen Sophistik, die unter dem Namen der theologischen Wissenschaft ihre üppigsten Schößlinge getrieben.«*
*A. Kalthoff: Das Christusproblem, Grundzüge zu einer Sozialtheologie 1902, 14 f.

»Wenn die Geschichtsforschung die Entstehungsgeschichte des Christentums nicht so lange als eine besondere Domäne der Theologie von der gesamten übrigen Geschichtsforschung ausgesondert und ihre Bearbeitung den Fachmännern der Kirche überlassen hätte, als wenn es zur Beurteilung der hier in Betracht kommenden Fragen einer ganz besonderen, von allen übrigen Wissensgebieten sich abhebenden, nur dem kirchlichen Theologen zugänglichen Begabung bedürfe, so würde die Welt mit der ganzen Leben-J esu-Literatur längst fertig sein. Die Quellen, welche von dem Ursprung des Christentums Kunde geben, sind derart, dass es bei dem heutigen Stande der Geschichtsforschung keinem Historiker mehr einfallen würde, auf Grund derselben den Versuch zur Abfassung der Biographie eines historischen Christus zu unternehmen.«*
* Kalthoff: Die Entstehung des Christentums. Neue Beiträge zum Christusproblem 1904, 8.

Sie sind, kann man hinzufügen, so beschaffen, dass ein wirklicher Historiker, der nicht schon mit der Überzeugung und der Absicht an sie herantritt, einen geschichtlichen Jesus in ihnen zu finden, keinen Augenblick darüber im unklaren sein kann, dass er es hier mit einer religiösen Dichtung, mit einem in ein historisches Gewand gehüllten Mythus zu tun hat, der sich prinzipiell in nichts von andern derartigen Mythen oder Sagen — man denke nur etwa an die Tellsage — unterscheidet. S. 159-176
Aus: Arthur Drews, Die Christusmythe, Verbesserte und erweiterte Ausgabe /3.bis 5. Tausend/ Verlegt bei Eugen Diederichs Jena 1910

Anhang: Jesus in der Profanliteratur
Es scheint bei dieser Sachlage wenig Aussicht zu sein, das Gewicht der Gründe, die für die historische Existenz Jesu sprechen, durch Belege aus der Profanliteratur erheblich zu verstärken. Als solche kommen bekanntlich nur zwei Zeugnisse des jüdischen Geschichtsschreibers Josephus sowie je eines der römischen Historiker Tacitus und Sueton in Frage.

Was zunächst die Zeugnisse des Josephus in seinen »Altertümern« anbetrifft, die im Jahre 93 n. Chr. geschrieben sind, so ist deren erstes, nämlich 18, 3, 3, ein so offenbares Einschiebsel der späteren Zeit, dass selbst die römisch-katholische Theologie, die doch sonst mit einer wahrhaft rührenden Naivität auf die Glaubwürdigkeit derartiger frühchristlicher Dokumente zu schwören pflegt, seine Echtheit nicht zu behaupten wagt.*
*Die Stelle lautet: »Um diese Zeit lebte Jesus, ein weiser Mensch, wenn man ihn einen Menschen nennen darf, denn er vollbrachte Wun¬der und war ein Lehrer der Menschen, die freudig die Wahrheit annehmen, und fand einen großen Anhang bei Juden und Hellenen. Dieser war der Christus. Obwohl ihn dann Pilatus auf die Anklage der Vornehmsten unseres Volkes mit dem Kreuze bestrafte, blieben ihm dennoch jene treu, die ihn zuerst geliebt hatten. Denn er erschien ihnen am dritten Tage wieder, zu neuem Leben auferstanden, wie die Propheten Gottes dieses und tausend andere Dinge von ihm geweissagt hatten. Nach ihm wurden die Christen genannt, deren Sekte seitdem nicht aufgehört hat«.

Aber auch die andere Stelle, 20, 9, 1, die den Jakobus unter dem Vorsitze des Priesters Ananos hingerichtet werden lässt (62 n. Chr.) und ihn dabei als den »Bruder des sog. Christus« bezeichnet, unterliegt nach der Ansicht hervorragender Theologen, wie Credner (Einl. ins N. T. 1836, 581.), Schürer (Gesch. d. jüd. Volkes 1, 548.) u. a., dem dringenen Verdachte, gefälscht zu sein*, und würde, selbst wenn ihre Echtheit feststünde, für den historischen Jesus doch nichts beweisen.
*Origines, der doch sonst alle Äußerungen des Josephus zusammengetragen hat, die zur Stütze des christlichen Glaubens dienen könnten, kennt die Stelle nicht, wohl aber eine andere, wonach die Zerstörung Jerusalems als Strafe für die Hinrichtung des Jakobus bezeichnet war, was sicherlich eine Fälschung ist.

Denn erstens lässt sie es in der Schwebe, ob mit dem »Bruder« Jesu leibliche Verwandtschaft oder aber, was wahrscheinlicher ist, eine bloße Sektenbruderschaft gemeint ist (s. o. 123 f.), und sodann besagt die Stelle doch nur, dass es einen Mann namens Jesus gegeben habe, den man Christus nannte, was in Anbetracht des Umstandes, dass zur Zeit des Josephus bis tief in das zweite Jahrhundert hinein viele Leute auf traten, die sich für den erwarteten Christus ausgaben, keineswegs etwas Besonderes war.*
*Vgl. Kalthoff: Entstehung d. Chr. 16f. Zum Ganzen: Schürer a. a. O. 544—549.

Nicht besser als mit den Zeugnissen des Josephus steht es mit denjenigen der römischen Geschichtsschreiber. Zwar schreibt Tacitus in seinen »Annalen« (15, 44) bei Gelegenheit der Christenverfolgung unter Nero (64), »der Gründer dieser Sekte, Christus, sei unter der Regierung des Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden«, und Sueton berichtet in seiner Biographie des Kaisers Claudius Kap. 25, dass dieser »die Juden, die auf Anstiften des Chrestus heftige Unruhen erregten, aus Rom vertrieb«. Indessen was ist hiermit bewiesen? Wissen wir denn so sicher, ob die angeführte Stelle des Tacitus gelegentlich der Christenverfolgung unter Nero nicht auch am Ende ein späteres Einschiebsel, eine Fälschung des ursprünglichen Textes ist? Das ist sie aber nach Hocharts ausgezeichneter und gründlicher Untersuchung (a. a. O.) tatsächlich, ja, alle Anzeichen sprechen dafür, dass die ganze »erste Christenverfolgung«, die vorher von keinem, weder christlichen noch jüdischen noch heidnischen Schriftsteller erwähnt ist, überhaupt nur das Phantasieerzeugnis eines Christen des fünften Jahrhunderts darstellt.

Die Echtheit der Äußerung des Tacitus aber selbst zugegeben und zugegeben auch, dass unter dem Chrestus des Sueton wirklich Christus und nicht ein beliebiger jüdischer Aufrührer jenes Namens zu verstehen ist oder die Unruhen der Juden mit ihrer Messiaserwartung in Verbindung standen, woraus alsdann der römische Geschichtsschreiber, in Unkenntnis der jüdischen Zukunftsträume, einen Anführer namens Christus gemacht hat (Vgl. Hochart: a. a. O. 280ff.): können Schriftsteller des ersten Viertels des zweiten Jahrhunderts n. Chr., wo die Tradition bereits gebildet und das Christentum als eine Macht in die Geschichte eingetreten war, als selbständige Zeugen für Tatsachen angesehen werden, die sich lange vor Entstehung der Tradition abgespielt haben sollen? Es ist nur ein Beweis für die Verlegenheit der liberalen Theologie in der ganzen Frage, wenn sie diese Zeugnisse noch immer wieder zur Verstärkung des Glaubens an einen historischen Jesus glaubt heranziehen zu dürfen, wie z.. B. Mehlhorn in seiner Schrift über »Wahrheit und Dichtung im Leben Jesu« (in »Aus Natur und Geisteswelt«, 1906), und damit den Anschein zu erwecken sucht, als verdienten sie überhaupt, berücksichtigt zu werden. Mit Recht spottet der Franzose Hochart über diese Art der theologischen Geschichtsschreibung: »Überlassen wir es den deutschen Theologen, Geschichte nach ihrer Facon zu studieren. Wir Franzosen wollen uns bei unsern Untersuchungen unsere Geistesklarheit und unsern gesunden Menschenverstand bewahren. Hüten wir uns, neue Legenden über Nero (und seinesgleichen) zu erfinden; es gibt an solchen wahrlich bereits zuviel« (a.a.O.227.). S. 173-176
Aus: Arthur Drews, Die Christusmythe, Verbesserte und erweiterte Ausgabe /3.bis 5. Tausend/ Verlegt bei Eugen Diederichs Jena 1910

Die Einwände gegen die Leugnung der Geschichtlichkeit des synoptischen Jesus
So bleibt es also dabei: wir wissen nichts von Jesus, von einer historischen Persönlichkeit dieses Namens, auf welche sich die in den Evangelien berichteten Geschehnisse und Worte beziehen. »In Ermangelung jeder historischen Bestimmtheit ist der Name Jesus für die protestantische Theologie ein leeres Gefäß geworden, in welches jeder Theologe seinen eigenen Gedankeninhalt hineingießt« (Kalthoff: Christusproblem 17.). Wenn sie hierfür eine Entschuldigung hat, so ist es die, dass jener Name überhaupt niemals etwas anderes als ein solches leeres Gefäß gewesen ist: Jesus, der Christus, der Retter, Heiland, Arzt der bedrängten Seelen, ist von Anfang an eine dem Mythus entnommene Gestalt gewesen, auf welche die Erlösungssehnsucht und der fromme Glaube der vorderasiatischen Völkerschaften alle ihre Vorstellungen des seelischen Heiles übertragen haben. Die »Geschichte« dieses Jesus hat schon vor dem evangelischen Jesus in ihren allgemeinen Zügen festgestanden. »Die Christologie«, gesteht selbst Weinel, einer der eifrigsten und schwärmerischsten Anhänger des modernen Jesuskultus, »war fast fertig, ehe Jesus auf die Erde kam« (Weinel: Jesus im 19. Jahrhundert 1907, 68.)

Indessen waren es keineswegs bloß die allgemeinen Umrisse und der Rahmen der »Geschichte« Jesu, die im Messiasglauben, der Vorstellung eines von Gott gesandten himmlischen Geistwesens, des »Menschensohnes« Daniels und der jüdischen Apokalyptik usw., festgelegt waren und durch den Erlöserkultus der heidnischen Nachbarvölker mit eigentümlich neuem Inhalt erfüllt wurden. Auch zahllose Einzelzüge des Jesusbildes lagen vor, teils in der heidnischen Mythologie, teils im Alten Testamente, und sind aus ihnen entnommen und in die Darstellung der Evangelien hineingearbeitet worden. So geht sowohl die Erzählung vom zwölfjährigen Jesus im Tempel (Luk. 2, 41 ff.), wie die Versuchungsgeschichte Jesu (Matth. 4, 1—11; Mark.1, 12f.; Luk. 4, 1—13.) auf buddhistischen Ursprung zurück (Vgl. Seydel: Buddha-Legende 13 ff.; 24ff.; ferner Jeremias: Babyl. i. N. T. 189f.), während Jesus sein Lehramt im dreißigsten Jahre angetreten haben soll (Luk. 3,23.), weil in diesem Jahre der Levit zum heiligen Amte befähigt wurde (Num. 4,3.).

Man weiß, wie die Christen der Frühzeit ihren Glauben in der Schrift wiederzufinden und vorausgesagt zu sehen gemeint und mit welchem Eifer sie daher das Alte Testament studiert und die »Geschichte« ihres Jesus im Sinne jener Verheißungen gewendet haben, um diese als Bestätigung für ihre eigenen Ansichten zu verwerten. Oben wurde darauf hingewiesen in welcher Weise der »Ritt des Bartlosen«, die Eintreibung der Kontribution und sein brüskes Vorgehen gegen die Ladeninhaber und Wechsler auf die evangelische Erzählung vom Auftreten Jesu im Tempel zu Jerusalem (Matth. 21, 12ff.) eingewirkt hat. Allein die nähere Ausgestaltung dieser Szene ist durch Sach. 9, 9 und Jes. 1, 10ff. bestimmt und die hierbei Jesus in den Mund gelegten Worte sind Jes. 56, 7 und Jerem. 7, 1ff. entnommen, so dass mithin auch dies »gewaltigste« Geschehnis aus dem Leben Jesu auf Geschichtlichkeit keinen Anspruch erheben kann.*
* Sach. 14,21 heißt in der Übersetzung des Targum: »Jeglicher Kessel zu Jerusalem wird dem Herrn geweiht sein usw., und es wird kein Krämer mehr sein im Hause des Herrn zu jener Zeit.« Darin mag für den Evangelisten eine weitere Veranlassung zu dem Zuge gelegen haben, dass Jesus die Händler aus dem Tempel jagt.

Aber auch die Erzählung vom Verrat den dreißig Silberlingen und dem Ende des Judas hat ihre Quelle im Alten Testamente, nämlich im Verrat und Ende des Ahitophel (2. Sam. 17, 23, vergl. auch Sach. 11,12f.). Inwieweit besonders die Gestalten eines Moses im Hinblick auf Deut. 18, 15 und 34, 10, eines Josua, Elias und Elisa das Bild des evangelischen Jesus beeinflusst haben, ist oft auch von theologischer Seite ausgeführt worden. Jesus muss auf dem Wasser wandeln, wie Moses, Josua und Elias trockenen Fußes durch das Wasser hindurchgegangen waren (Ex. 14, 21; Jos. 3, 6; 2. Kge. 2, 8. ). Er muss Tote auferwecken, wie Elisa (2. Kge. 4,19ff.), sich mit zwölf bezw. siebenzig Jüngern und Aposteln umgeben, wie Moses mit zwölf Stammesfürsten und siebenzig Ältesten, wie Josua zwölf Helfer beim Überschreiten des Jordan erwählt hatte (Num. z, 44; Jos. 3, 12; 4, 1ff. Vgl. Petruslegende 51f.), und er muss gen Himmel fahren, wie Moses (Josephus: Antiqu. IV 8, 48; Philo: Vita Mos. III.) und Elias (2. Kge. 2, 11.). Stimmen doch übrigens Elisa (Eli-scha) und Jeho-schua (Josua, Jesus) schon in ihrem Namen überein, so dass es schon aus diesem Grunde nicht verwunderlich ist, wenn der alttestamentliche Prophet seinem evangelischen Namensvetter vielfach als Vorbild gedient hat.*
* z. B. auch bei der Erzählung von der Gefangennahme Jesu Matth. 26, 51ff.,vgl. 2. Kge. 6, 10—22.

Dass ein Jesus, hinter dessen menschlicher Natur sich ein Gott verbergen sollte, und der dem umherwandernden »Heiland« Jason entsprach (s. o. 96.), seine wahre Beschaffenheit durch Wunder kundgeben und hierin hinter den verwandten heidnischen Erlösergottheiten nicht zurückstehen durfte, war für die Christen selbstverständlich. Wundern kann man sich höchstens darüber, dass auch hierbei das Alte Testament wieder Modell stehen musste (Ex. 16; 17, 1ff.; Num. 21, 1ff.; Ex. 7, 17ff.; 1. Kge. 17, 5ff.) und die Wunder Jesu nirgends über dasjenige hinausgehen, was auch die Heiden ihren Göttern und Heroen, z. B. dem Asklepios, nachrühmten.*
* Asklepios ist As-Caleb, der Feuerhund (Sirius) und dieser eine Form des Josua (s. o. 46f.), womit es auch von dieser Seite her den Evangelisten nahe gelegt wurde, ihrem Jesus die Wunder des heidnischen Heilgottes zuzuschreiben. Hierin dürfte auch eine Bestätigung dafür liegen, dass Jesus (Josua) der Name des Kultheros jener jüdischen Sekten war, die, wie die Therapeuten und Essener, die Heilkunst im leiblichen und seelischen Sinne ausübten (s. o. 24f.).

Sollte doch nach Tacitus (Hist. 4, 81.) sogar der Kaiser Vespasian zu Alexandria Wunder verrichtet haben, wo er auf das hartnäckige Drängen der Menge sowohl einen Lahmen wie einen Blinden heilte, und diesen zwar fast in derselben Weise, wie Jesus, indem er dessen Augen und Wangen mit seinem Speichel benetzte, eine Nachricht, die auch von Sueton (Vespasian 7.) und Dio Cassius (66, 8.) bestätigt wird. Am wunderbarsten aber ist es wohl, dass die Wunder Jesu auch selbst noch in der kritischen Theologie der Erwähnung wert gefunden werden und man ernsthaft nach einem »historischen Kerne« sucht, der ihnen wohl »zugrunde liegen« könnte.

Alle angeführten Einzelzüge sind nun aber belanglos gegenüber der Erzählung vom letzten Abendmahle, dem Leiden, dem Tod (am Holze) und der Auferstehung Jesu. Gerade hier aber liegt ganz sicher keine Geschichte vor, sondern diese Teile der Evangelien verdanken ihre Entstehung, wie gesagt, nur einfach der Kultsymbolik und dem Mythus vom sterbenden und auferstehenden Gottheiland der vorderasiatischen Religionen. Zu ihrer Erfindung bedurfte es also wahrlich keines »Genies«, denn hier war schlechthin alles gegeben: die Verspottung, die Geißelung, die beiden Schächer, der Aufschrei am Holze, der Lanzenstich, die um das Gewand des Verstorbenen würfelnden Soldaten, ferner die Weiber auf der Richtstätte und am Grabe, das Felsengrab, die sich ganz ebenso im Kultus des Attis, Mithra und Adonis finden. Ist doch sogar der das Kreuz tragende Heiland dem die Säulen kreuzweise tragenden Herakles (Simon Von Kyrene) sowie der Erzählung von Isaak nachgebildet, der sein eigenes Scheiterholz zum Altar trägt, auf dem er geopfert werden soll (Gen. 22, 6 vgl. auch Tertullian: Adv. Jud. 20.).Wo aber die Verfasser der Evangelien wirklich etwas neu hinzuzuerfinden hatten, z. B. bei der Darstellung des Prozesses Jesu, des römischen und jüdischen Gerichtsverfahrens, da haben sie dies in so ungeschickter Weise getan und verraten sie dem Kenner so deutlich das rein Fiktive ihrer Erzählung, dass hier wahrlich nichts zu bewundern ist als höchstens die Naivität derjenigen, die trotz allem jene Darstellung für Geschichte halten und sich hierbei etwas auf ihre »historische Exaktheit« und »wissenschaftliche Methode« einbilden.

Ob Robertson nicht am Ende recht hat, den ganzen Bericht der letzten Lebensschicksale Jesu für die Umschreibung eines dramatischen Mysterienspieles anzusehen, das sich bei den Heidenchristen der größeren Städte an die Osterfeier des sakramentalen Mahles anschloss? Wir wissen, welche große Rolle dramatische Veranstaltungen in zahlreichen Kulten des Altertums gespielt haben und besonders gerade bei der Verehrung der leidenden und sterbenden Erlösergottheiten zur Verwendung kamen. So wurde in Ägypten das Leiden, Sterben und die Auferstehung des Osiris und die Geburt des Horus, zu Eleusis die Klage und das Suchen der Demeter nach der verschwundenen Persephone und die Geburt des Jacchus, zu Lernae in Argolis und zahlreichen andern Orten das Schicksal des Dionysos (Zagreus), in Sikyon das Leiden des Adrastos, der seinem Vater Herakles auf den Scheiterhaufen nachgestürzt sein sollte, zu Amyklae das Absterben und Wiederaufleben der Natur im Schicksal des Hyacinthus in festlichen Aufzügen und szenischen Darstellungen gefeiert, von den Todes- und Auferstehungsfeiern des Mithra, Attis und Adonis ganz zu schweigen. Sicherlich macht die Erzählung Matth. 20—28 (mit Ausschluss von Vers 11 - 15 im letzten Kapitel) mit ihrer zusammenhängenden Folge von Ereignissen (Abendmahl, Gethsemane, Verrat, Passion, Verleugnung Petri, Kreuzigung, Begräbnis und Auferstehung), die so einander in der Wirklichkeit unmöglich gefolgt sein können, durchaus den Eindruck einer Kette dramatischer Einzelszenen. Und hiermit stimmt aufs beste der Schluss des Evangeliums zusammen, bei dem die Abschiedsworte und Ermahnungen Jesu an die Seinigen zugleich einen sehr passenden Abschluss des Dramas darstellen.*
* Dasselbe ist der Fall mit der entsprechenden Darstellung bei Markus, während bei Lukas die dramatische Vorlage mehr hinweggearbeitet erscheint und der Zusammenhang durch die Einstreuung von Beschreibungen und Episoden (Jünger zu Emmaus) einen mehr rein erzählenden Charakter trägt. Vgl. Robertson: Pagan Christs 186ff.; A short history 87ff. Was übrigens von dem geschichtlichen Werte der »Lebensdarstellungen« Jesu zu halten ist, beweist allein schon der Umstand, dass in fast allen derartigen Darstellungen auch die Szene zu Gethsemane und die hierbei von Jesus gesprochenen Worte zur Kennzeichnung seiner Persönlichkeit verwertet zu werden pflegen (z. B. auch von Bousset »Jesus«. Rel. Volksb. 1904, 56), und dies, obschon doch kein Zuhörer zugegen war und Jesus auch nicht hinterher sein Erlebnis den Jüngern mitgeteilt haben kann, da gleich darauf die Gefangennahme stattgefunden haben soll.

Lässt man dies gelten, so erklärt sich schon hierdurch die »Anschaulichkeit«, die von theologischer Seite und ihrer Gefolgschaft der Darstellungsweise der Evangelien nachgerühmt zu werden pflegt, und die nach der Meinung vieler schon allein imstande sein soll, die Geschichtlichkeit der synoptischen Jesusbilder zu beweisen.

Mit Recht hat freilich schon Wrede davor gewarnt, die Anschaulichkeit »nicht zu rasch und zu sorglos als Kennzeichen der Geschichtlichkeit zu betrachten. Eine Schrift kann einen stark sekundären, ja, ganz apokryphen Charakter haben und dennoch viel Anschaulichkeit zeigen. Es kommt immer darauf an, wie diese geartet ist« (Messiasgeheimnis 143.). Dass es übrigens mit der gerühmten Anschaulichkeit wenigstens bei dem Urzeugen Markus gar nicht einmal weit her ist, darin stimmen Wrede und Wernle völlig überein, während sich in den übrigen Evangelien die Anschaulichkeit vielfach gerade in Stücken findet, die zugestandenermaßen der Legende angehören. Und wie anschaulich und konkret wissen uns nicht unsere Verfasser der verschiedenen »Leben Jesu«, um Renan gar nicht zu erwähnen, oder unsere Geistlichen auf der Kanzel die Vorgänge der Evangelien auszumalen, mit wieviel kleinen, individuell reizvollen Zügen sie um der größeren Wirkung auf die Zuhörer willen auszuschmücken! Diese Art von Anschaulichkeit und individuell persönlichem Gepräge ist in der Tat bloß eine Sache der schriftstellerischen Geschicklichkeit und Phantasie der betreffenden Autoren. Auch die Schriften des Alten Testaments, und nicht bloß die historischen, sind voll anschaulichster Erzählungskunst und individuellstem Gepräge, die beweisen, wie sehr sich gerade die rabbinische Schriftstellerei in Palästina auf diese Seite der literarischen Betätigung verstand. Oder lässt etwa, worauf auch Kalthoff hingewiesen hat, die rührende Geschichte der Ruth, lässt die Schilderung des Propheten Jonas, der Judith, Esther, des Hiob usw. irgend etwas an Anschaulichkeit und individueller Charakteristik der betreffenden Personen vermissen? Und nun gar die Patriarchengeschichte — der fromme Abraham, der gutmütig beschränkte Esau, der schlaue Jakob und ihre bezüglichen Weiber — wie anschaulich ist nicht, um nur dies hervorzuheben, die Begegnung des Knechtes Abrahams mit der Rebekka am Brunnen! (Gen. 24.). Oder man denke an Moses, Elias, an Simson — lauter Gestalten, die nachweislich in ihren wesentlichsten Zügen dem Mythus und der religiösen Sage angehören!

Wenn schon unsere Geistlichen bei der Predigt sich nachempfindend in die Einzelheiten der Heilandsgeschichte so lebhaft hineinzuversetzen vermögen, dass sich Quellen der Poesie bei ihnen öffnen und ihre Lippen überströmen von anschaulichen Schilderungen der Herzensgüte, heroischen Größe und Opferwilligkeit Jesu, wie viel mehr wird dies erst in den christlichen Gemeinden der Fall gewesen sein, als die neue Religion noch jung war, als der Messiasglaube noch nicht durch skeptische Bedenken angekränkelt und die Seele der Menschen noch erfüllt war von der Sehnsucht nach unmittelbarer endgültiger Erlösung? Und wenn uns selbst eine Menge kleiner Einzelzüge in dem Bilde des evangelischen Jesus entgegentreten sollte, die aus religiösen Motiven und dichterischer Phantasie sich weniger leicht erklären lassen — müssen sich denn diese gerade alle auf eine und dieselbe wirkliche Persönlichkeit beziehen? Können ihnen nicht tatsächlich Erlebnisse zugrunde liegen, die darum noch lange nicht Erlebnisse des historischen Jesus der liberalen Theologie gewesen zu sein brauchen? Auch Eduard v. Hartmann, der im übrigen geneigt ist, am historischen Jesus festzuhalten, räumt doch die Möglichkeit ein, »dass mehrere geschichtliche Personen, die zu ganz verschiedenen Zeiten gelebt haben, konkrete Einzelzüge zu dem Jesusbilde beigesteuert haben«.*

* E. v. Hartmann: Das Christentum des Neuen Testaments 1905, 22.

Man spricht soviel von dem »Unerfindbaren« in der evangelischen Darstellung. Als ob es für Menschen mit Phantasie überhaupt etwas Unerfindbares gäbe! Und übrigens schrumpft auch das angeblich »Unerfindbare« immer mehr zusammen, je eingehender sich die Kritik mit den Evangelien beschäftigt, und bezieht sich schon jetzt fast nur noch auf Nebensächliches und Belangloses. Wir stehen somit vor der sonderbaren Tatsache, dass alles Wesentliche in den Evangelien, alles, worauf es dem religiösen Glauben ankommt, wie besonders das Leiden, der Tod und die Auferstehung Jesu, nachweislich erfunden und mythisch ist, dasjenige hingegen, was besten Falles historisch sein könnte, weil es »unerfindbar« sein soll, für den Heilscharakter der evangelischen Darstellung gleichgültig ist! Man weist darauf hin, dass das Jesusbild der Evangelien doch nicht schattenlos sei, und möchte in kleinen, herabsetzenden Einzelzügen, wie z.B. der zeitweiligen Unfähigkeit Jesu, Wunder zu verrichten (Mark. 6, 1f.), dem Umstande, dass er nicht als allwissend hingestellt wird (Mark. 13, 32.), dem Verhalten seiner Angehörigen ihm gegenüber (Mark.3, 20ff.) usw., einen Beweis für die Geschichtlichkeit der bezüglichen Geschehnisse erblicken.*
* Vgl. Herrn. Jordan: Jesus und die modernen Jesusbilder, Bibel. Zeit- u. Streitfragen 1909, 38. Der Theologe Schmiedel hat anfangs fünf, dann neun Schriftstellen als »schlechthin glaubwürdige« aufgestellt und für die »Grundsäulen eines wirklich wissenschaftlichen Lebens Jesu« erklärt; es sind die Stellen Mark. 10, 17ff. (»Warum nennst du mich gut ?« usw.); Matth. 12, 31ff. (»Die Sünde wider den hl. Geist wird nicht vergeben«); Mark. 3, 21 (»Er ist von Sinnen«); Mark. 13, 32 (»Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand«); Mark. 15,24 (»Mein Gott, warum hast du mich verlassen!«); Mark. 6, 5 (»er konnte allda nicht eine einzige Tat verrichten«); Mark. 8, 12 (»Es wird diesem Geschlecht kein Zeichen gegeben«); Mark. 8, 14—21 (Vorwurf gegen die Jünger bei Gelegenheit des Brotmangels); Matth. 11, 5 (»Die Blinden sehen, die Lahmen gehen« usw.). Alle die hier berichteten Geschehnisse und Worte sind historisch möglich; also, schließt Schmiedel, sind sie w irklic h und beweisen die Existenz eines geschichtlichen Jesus (!). Nach dieser »Methode« müsste, wenn uns in dem Mythus von Herakles bloß neun oder zehn mögliche Taten des letzteren berichtet wären, auch Herakles eine geschichtliche Persönlichkeit sein. Aber mit Recht hat schon Robertson hiergegen eingewendet, dass das Glaubhafte damit noch nichts wirklich Bewiesenes sei, und sich über jene neun »Grundsäulen« lustig gemacht, indem er darauf hingewiesen hat, dass der Glaube an den evangelischen Jesus sich vielmehr auf die hundert Unwahrscheinlichkeiten und Unmöglichkeiten in seiner Geschichte, als auf die Handvoll glaubhafter Möglichkeiten gründet (Pagan Christs 218— 234). Und dabei ist noch dazu Mark. 15, 24 dem 22. Psalm entnommen, während Matth. 11, 5 fast wörtlich mit den oben (65) angeführten Worten des Lalita Vistara übereinstimmt!

Als ob der Evangelist, wenn er Jesus als Menschen schildern wollte, hätte rein auf Goldgrund malen dürfen und derartige Züge nicht durch die Absicht gefordert wären, den Eindruck der menschlichen Beschaffenheit und damit Bedingtheit Jesu durch einen solchen Farbenauftrag zu verstärken!

Aus der Anschaulichkeit der Darstellung kann also nie und nimmer ein Beweis für die Geschichtlichkeit der betreffenden Vorgänge gewonnen werden. Und wie leicht wird die Anschaulichkeit nicht bloß von uns in die evangelischen Berichte hineingetragen, die wir in der Atmosphäre dieser Erzählungen aufgewachsen sind und unter dem Einflusse der uns rings umgebenden christlichen Kunst ein Phantasiebild von ihnen mit uns herumtragen, das wir unwillkürlich an die Lektüre der Evangelien heranbringen! Wie individuell bedingt übrigens und abhängig vom »Geschmack« des Lesers der Eindruck der Anschaulichkeit des evangelischen Jesusbildes ist, wie sehr hierbei persönliche Empfindungen mitsprechen, geht schon daraus hervor, dass ein Vollers z. B. in den Evangelien überhaupt keinen wirklichen Menschen mit Fleisch und Blut, sondern nur ein »schemenhaftes Bild« zu erblicken vermag, das er in ein thaumaturgisches (des Wundertäters) und ein soteriologisches (des Heilands) zerlegen möchte (a. a. O. 141.). Gegenüber den Bemühungen der historischen Theologie, Jesus eine »einzigartige« Stellung über allen übrigen Religionsstiftern zuzuschreiben, bemerkt daher auch Vollers mit Recht, wie schwer es der rein geschichtlichen Betrachtung fallen müsse, diese und ähnliche Behauptungen anzuerkennen. »Die innere Unwahrscheinlichkeit, um nicht zu sagen Unmöglichkeit des soteriologischen Bildes drängt sich zu stark auf. Im Grunde ist dies Bild der kritischen Theologie doch nichts anderes als die zeitgemäße Umgestaltung des Schleiermacherschen Idealmenschen; was vor hundert Jahren als das Erzeugnis eines geläuterten Herrnhutertums, in der Atmosphäre von Fichte, Schelling und Hegel begreiflich scheinen musste, ist in unseren Tagen nur dadurch zu halten, dass man die offene, ehrliche Auseinandersetzung mit der außerhalb der Theologie herrschenden, auf den Gebieten der Natur und der Geschichte prinzipiell anerkannten Weltanschauung nach Kräften meidet. Wer wollte leugnen, dass der Ton der Katechese und der Kanzel, dass die volltönenden, vieldeutigen Worte, ja, dass Vertuschung und Verschleierung unbequemer Erkenntnisse auf diesem Gebiet eine Rolle spielen, deren sie sich in keiner anderen Wissenschaft rühmen dürfen?« (a. a. O. 160f.).

So bleibt denn am Ende nur der Rückzug auf die einzelnen Aussprüche und Reden Jesu übrig und der Nachweis, dass diese nur aus der persönlichen Erfahrung und Denkweise eines einzigen überragenden Individuums heraus verständlich werden. Leider steht es nur, wie wir schon gesehen haben, gerade hiermit ganz besonders misslich. Denn was die Reden Jesu anbetrifft, so haben wir bereits von Wernle vernommen, dass sie so, wie sie uns überliefert worden, jedenfalls nicht von Jesus gehalten, sondern bloß nachträglich von den Evangelisten aus vereinzelten und gelegentlichen Aussprüchen Jesu zusammengestoppelt sind.*
* Hiermit stimmt auch Bousset in seiner Schrift »Was wissen wir von Jesus?« (1904) überein: »Die Reden Jesu sind zum guten Teil Schöpfungen der Gemeinden, von der Gemeinde aus einzelnen Worten Jesu zusammengestellt.« »Dabei ging, von allem übrigen abgesehen, mit den Reden eine gewaltige und einschneidende Veränderung vor.« (47ff.)

Diese Einzelworte und Augenblicksäußerungen Jesu aber sollen letzten Endes teils aus mündlicher Überlieferung, teils aber auch aus der aramäischen Spruchsammlung, der »großen Redequelle« Wernles, geschöpft sein, die von dem Evangelisten ins Griechische übersetzt, deren Existenz nur mittelbar erschlossen ist, und von welcher wir im übrigen rein gar nichts wissen. Nun ist es aber selbstverständlich, dass schon durch die Übersetzung aus einer Sprache in die andere sehr viel von der Ursprünglichkeit jener »Herrnworte« verloren gehen musste, wie denn nachgewiesenermaßen die verschiedenen Evangelisten dieselben »Worte« auch ganz verschieden »übersetzt« haben. Ob es möglich sein wird, aus dem vorhandenen Materiale, wie die kritische Theologie sich abmüht, die ursprüngliche Fassung wiederherzustellen, erscheint sehr fraglich und bietet doch selbst günstigsten Falles keine Gewähr dafür, dass wir es wirklich mit einem »Herrnworte«, so wie es in der aramäischen Spruchsammlung enthalten war, und nicht mit etwas ganz anderem zu tun haben.

Aber selbst wenn der Evangelist den ursprünglichen Sinn wirklich getroffen haben sollte — wer bürgt uns dafür, dass dieses Wort gerade so und nicht anders von Jesus gesprochen worden ist? Ja, wenn wir sicher wären, dass die Worte, sofort nachdem sie dem Gehege der Zähne entflohen waren, von dem Verfasser der Spruchsammlung aufgezeichnet wurden! Allein dies soll zugestandenerweise nicht früher geschehen sein als nach dem Tode Jesu, nachdem dessen messianische Bedeutung inzwischen klar erkannt und man bemüht war, aus der Erinnerung sich das Bild des Meisters zurückzurufen und von seinen Aussprüchen zu retten, was noch irgendwie zu retten war.

Bousset hat zwar in seinem gegen Kalthoff gerichteten Vortrag »Was wissen wir von Jesus?« auf das »gute orientalische Gedächtnis der Jünger« hingewiesen. Indessen stimmen so ziemlich alle, die den Orient aus persönlicher Anschauung kennen, darin überein, wie wenig gerade der Orientale imstande ist, Gehörtes oder Erlebtes in wahrheitsgetreuer, objektiver Weise wiederzugeben, wie es im Orient infolgedessen auch gar keine geschichtliche Überlieferung in unserm Sinne gibt, sondern alle bedeutsamen Geschehnisse gleich romanhaft ausgeschmückt und nach den jeweiligen Bedürfnissen des Augenblicks verändert werden. Zwar solche Aussprüche wie »Liebet eure Feinde«, »Geben ist seliger als Nehmen«, »Niemand ist gut außer Gott«, »Selig sind die Armen«, »Ihr seid das Licht der Welt«, »Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist« usw., die mochten sich immerhin, »einmal gehört, nicht so leicht wieder vergessen lassen«, wie die theologische Wendung lautet. Allein sie sind auch wahrlich nicht derartig, dass es zu ihrer Erfindung des Jesus der liberalen Theologie bedürfte. Dabei ist noch gar nicht in Betracht gezogen, wie viel von den Worten Jesu aus dem Mysteriendrama, mit dessen Vorhandensein doch gerechnet werden muss, in die Evangelien eingedrungen und in Aussprüche des »geschichtlichen« Jesus umgewandelt sein können. Solche dunklen und hochtrabenden Redewendungen, wie z.B. Matth. 10, 32f.; 11, 15—30; 26, 64 u. 28, 18 machen durchaus den Eindruck, als ob sie aus dem Munde der Bühnengestalt des Gottes herstammten, und diese Wahrscheinlichkeit erhöht sich noch, wenn wir in den Mysterien des Mithra oder der Isis ganz ähnlichen Worten, wie denen von der »leichten Last« und dem »sanften Joch«, begegnen (Vgl. Robertson: Christianity and Mythology 424ff., 429.).


Im Übrigen gibt auch Bousset zu, alle einzelnen Worte, die wir als Aussprüche Jesu überliefert erhalten haben, seien »vermittelt durch eine Gemeindetradition, hindurchgegangen durch viele Hände.« (a. a O.43.). Sie gleichen, wie schon Strauß bemerkt hat, Kieselsteinen, welche die Meereswogen der Tradition gerollt, geglättet, hierhin und dorthin abgesetzt, zu diesem und jenem Konglomerat vereinigt haben. »Wir haben«, sagt Steck, »für kein einziges Wort der Evangelien die unumstößliche Gewissheit, es sei gerade so und nicht anders von Jesus gesprochen worden.« (Protest. Monatshefte 1903, Märzheft.)

»Es dürfte schwer halten«, meint Vollers, »auch nur Eine Äußerung, Ein Gleichnis, Eine Handlung dieses Idealmenschen mit geschichtlicher Sicherheit auf Jesus von Nazareth zurückzuführen, sagen wir, mit derselben Sicherheit, mit der wir den Galaterbrief dem Apostel Paulus zuschreiben oder den johanneischen Logos aus der griechischen Philosophie erklären« (a.a.O.161f.). Ja sogar einer der Führer der protestantischen Orthodoxie, Professor Kähler in Halle, hat, wie das kirchliche Monatsblatt für Rheinland und Westfalen meldete, auf einem in Dortmund gehaltenen theologischen Diskussionsabend zugestanden, dass wir »kein einziges authentisches Wort Jesu« besitzen. Jeder Versuch, wie Chamberlain es getan hat, aus der Überlieferung einen festen Kern von »Worten Jesu« auszuscheiden, ist daher auch in sich selbst verfehlt, und wenn man als Kriterium für die »echten« Worte Jesu nichts anderes hat als sein persönliches Gefühl, so sollte man lieber gleich eingestehen, dass von irgend einer methodischen Entscheidung hier in keiner Weise die Rede sein kann.

Wenn es also feststeht, dass wir keinen einzigen der auf uns gekommenen Aussprüche des »Herrn« mit Sicherheit auf einen historischen Jesus zurückführen können, wenn bereits die älteste Quelle, die aramäische Spruchsammlung, bloße Gemeindetradition enthalten haben kann, so, sollte man denken, dürfte es von den Vertretern einer »historischen« Theologie nicht mehr als ein so »grober Verstoß gegen alle historische Methode«, als etwas so Ungeheuerliches, von aller Wissenschaftlichkeit Entblößtes angesehen werden, wenn jemand nur die einfache Konsequenz jenes Ergebnisses der bisherigen Evangelienkritik zieht und die Existenz eines »historischen« Jesus überhaupt bestreitet. Mag es immerhin eine derartige Sammlung von »Herrnworten« in den ältesten christlichen Gemeinden gegeben haben: müssen darunter notwendig die Aussprüche eines bestimmten menschlichen Individuums verstanden werden, und könnten es nicht vielmehr Worte gewesen sein, die eine autoritative, kanonische Geltung in der Gemeinde hatten, die ihr besonders wichtig oder sympathisch waren und aus diesem Grunde dem »Herrn«, nämlich dem Vereins- oder Kultheros Jesus, zugeschrieben wurden, wie dies z. B. bei den Bestimmungen über das Verhalten im Falle von Streitigkeiten unter den Gemeindemitgliedern (Matth. 18, 15ff.), über Ehescheidung (Matth. 19, 3ff.) auch vielfach zugestanden wird? Man erinnere sich wiederum der »Herrnworte« in den übrigen antiken Kultgemeinden, des autós épha der Pythagoreer! Und wie viele besonders volkstümliche, eindringliche und beliebte Sprüche gingen nicht im Altertume unter dem Namen eines der »Sieben Weisen« um, ohne dass es jemandem einfällt, ihnen im Ernste eine derartige historische Bedeutung beizulegen. Wie sollte es also nicht voreilig und kritiklos sein, die »Herrnworte« der Spruchsammlung, die den Reden Jesu in den Evangelien zugrunde liegen, für Aussprüche eines einzigen bestimmten Rabbi, nämlich eben des »historischen« Jesus, auszugeben. Man mag von den Worten Jesu so hoch denken, wie man will: die Frage ist, ob Jesus, und zwar der Jesus der liberalen Theologie, ihr geistiger Vater ist, oder ob es sich mit ihnen nicht auch am Ende nur verhält, wie mit den Psalmen oder den Sprüchen des Alten Testaments, die auf die Namen Davids und Salomos lauten, und von denen wir doch ganz sicher wissen, dass sie weder den einen, noch den andern zum Verfasser haben.

Aber vielleicht sind jene Aussprüche und Reden so beschaffen, dass sie nur von dem »historischen Jesus« herstammen können? Indessen wissen wir von einer großen Anzahl sowohl vereinzelter Aussprüche wie Gleichnisse Jesu, und zwar zum Teil der allerschönsten, am meisten bewunderten, wie z. B. dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter, dessen moralischer Gehalt sich mit Deut. 29, 1—4 deckt, vom verlornen Sohn (Vgl. Pfleiderer: Urchristentum 1, 447f.; van den Bergh von Eysinga: a.a.O. 57ff.), vom Säemann (Smith: a. a. O. 107 ff.), dass sie teils der jüdischen Spruchweisheit, teils der mündlichen Überlieferung des Talmud, teils aber auch anderen Quellen entlehnt sind und jedenfalls auf Originalität keinen Anspruch erheben können (Vgl. Nork: Rabbinische Quellen und Parallelen zu neutestamentlichen Schriftstellen 1839).

Ja, dieses gilt sogar von der Bergpredigt! Sie ist, wie dies besonders auch von jüdischen Gelehrten des öfteren nachgewiesen ist und Robertson von neuem dargetan hat, ein bloßes Flickwerk aus der älteren jüdischen Literatur, und enthält mitsamt dem »Vaterunser« nicht einen einzigen Gedanken, der nicht sein Vorbild im Alten Testament und der sonstigen Spruchweisheit des jüdischen Volkes besäße (Robertson: Christianity and Mythology 440—457.).

Indessen auch das Übrigbleibende, dessen anderweitige Entstehung bis jetzt wenigstens noch nicht nachgewiesen ist, ist doch keineswegs so beschaffen, dass es nur im Kopfe einer Persönlichkeit, wie des theologischen Jesus von Nazareth, hätte entstehen können. Im Grunde nämlich hat dieser nichts gesagt oder gelehrt, was über den Standpunkt der reineren Sittlichkeit des Judentums seiner Zeit hinaus¬geht, von den Stoikern und den übrigen Sittenlehren des Altertums, sowie zumal auch von den Indern ganz zu schweigen. Ja, es erweckt sogar den stärksten Verdacht gegen ihre Neuheit und Ursprünglichkeit, wenn die Evangelien durch das »die Alten haben gesagt — ich aber sage euch« die Neuheit und Bedeutsamkeit der Aussprüche Jesu geflissentlich unterstreichen und damit einen künstlichen Gegensatz gegen den bisherigen geistigen und sittlichen Standpunkt des Judentums zu konstruieren suchen, selbst da, wo es nur eines Blickes in das Alte Testament bedarf, um sich zu überzeugen, dass ein solcher gar nicht vorhanden ist, wie z. B. im Punkte der Gottes- und Nächstenliebe.*
* Vgl. v. Hartmann: a. a. O. 131—143. Es wird immer ein gewichtiges Argument gegen die Geschichtlichkeit der Aussprüche Jesu bleiben, dass Paulus von ihnen nichts zu wissen scheint, sie nirgends anführt und damit jedenfalls soviel bekundet, dass er ihnen keineswegs die Bedeutung zugeschrieben hat, die zu ihrer frühzeitigen Niederschrift die Veranlassung gegeben haben soll. Vgl. auch Robertson: Pagan Christs, 234ff.

Auch hat die anerzogene Pietät vor Jesus und die überschwängliche Verherrlichung alles dessen, was mit ihm zusammenhängt, einen großen Teil der »Herrnworte« mit einem Schimmer von Bedeutsamkeit umkleidet, der zu ihrem wahren Werte in gar keinem Verhältnis steht, und den sie niemals erlangt haben würden, wenn sie uns in einem andern Zusammenhange oder unter einem andern Namen überliefert wären. Man bedenke nur, wieviel an sich ganz Unbedeutendes und Belangloses allein schon durch die Praxis der Kanzel und die Weihe des Gottesdienstes zu einer ganz unverhältnismäßigen Wichtigkeit und Größe aufgebauscht wird. Und wenn unsere Theologen denn schon nicht müde werden, die »Einzigartigkeit«, Unübertrefflichkeit und Hoheit der Worte und Gleichnisse Jesu herauszustreichen, so mögen sie doch auch einmal in Betracht ziehen, wieviel Minderwertiges, Verfehltes, geistig Unbedeutendes und sittlich Unzulängliches, ja, geradezu Bedenkliches in den Auslassungen Jesu enthalten ist (v. Hartmann: a. a. 0. 44ff.). In dieser Beziehung pflegt man aber immer nur beschönigend die Überlieferung der Ungenauigkeit zu zeihen oder aber die bezüglichen Stellen durch gewundene Erklärungen, nichtssagende Hinweise auf die zeitliche und kulturelle Bedingtheit auch des »Übermenschen« und Vertuschen des Unliebsamen aller wahrhaft historischen Methode ins Gesicht zu schlagen.

Wieviel Mühe haben sich nicht unsere Theologen gegeben und geben sie sich noch immer, in Jesu Lehre auch nur einen einzigen Punkt von Bedeutung aufzuzeigen, der es rechtfertigte, seine »Einzigartigkeit« in dem von ihnen verstandenen Sinne mit gutem Gewissen zu behaupten und ihren rein menschlichen Jesus möglichst hoch über seine ganze Zeit hinauszuheben! Es hat sich nichts von allem zu diesem Zwecke Angeführten halten lassen. Weder hat der Jesus der Synoptiker eine neue höhere Sittlichkeit, noch eine »neue Frömmigkeit«, noch ein vertieftes Gottesbewusstsein, weder den »unersetzlichen Wert der einzelnen Menschenseele« im heutigen individualistischen Sinne des Wortes, noch auch nur die Freiheit gegenüber dem jüdischen Gesetz, weder die Immanenz des Gottesreiches, noch irgend etwas sonst gelehrt, was über die Fähigkeiten eines andern geistig hervorragenden Menschen seiner Zeit hinausging. Selbst die Liebe, die allgemeine Nächstenliebe, deren Predigt bei der großen Masse der Laien als der größte Ruhmestitel des historischen Jesus gilt, spielt bei den Synoptikern in Jesu sittlicher Lebensauffassung keineswegs eine so zentrale Rolle, sondern erhebt sich bei ihnen nicht über dasjenige Niveau, das ihr auch schon im Alten Testamente zugestanden wurde.*
* Man höre dagegen Clemen: »In seiner Zurückführung des Gesetzes auf das Gebot der Liebe ist das Christentum, ob wo hl dieses ja bereits im Alten Testament vorkam (!) und hier und da (!) schon früher als das vornehmste Gebot bezeichnet worden war, doch duchau s originell (!). Auch die Unterordnung der religiösen Pflichten unter die sittlichen ergab sich für Jesus von da aus, obwohl er in dieser Beziehung zugleich von den al ttestamentlichen Propheten beeinflusst worden sein wird« (a. a. O. 135 f.).

Und wenn die Kanzelberedsamkeit von neunzehnhundert Jahren trotzdem auf diesen Punkt den Nachdruck zu legen versucht, so rechnet sie damit, dass die Gläubigen die Unterschiede der Evangelien nicht gegenwärtig haben und es ruhig dulden werden, wenn man ihnen das Johannesevangelium, das einzige und alleinige »Evangelium der Liebe«, das aber nicht »historisch« sein soll, an Stelle der »historischen« Synoptiker unterschiebt.

Und so sehen wir denn auch tatsächlich die vor kurzem noch so üppig blühende Verherrlichung der Lehre Jesu neuerdings in immer bescheidenerem Maße auftreten. So war es eine Zeitlang in der Theologie unter dem Einflusse Holtzmanns und Harnacks üblich, in der ethischen Vertiefung und Hervorkehrung der »Vaterliebe« Gottes das wesentlich Neue und Bedeutsame der »frohen Botschaft« Jesu zu erblicken und sich hierüber mit salbungsvollen Phrasen auszulassen. Neuerdings scheint man auch hiervon zurückzukommen, wie denn z. B. Wrede in Bezug auf die »Gotteskindschaft« offen eingesteht, dass diese Auffassung schon längst vor Jesus im Judentum bestanden, auch nicht erst Jesus Gott als den liebenden »Vater« jedes einzelnen gelehrt, ja, den Vaternamen Gottes nicht einmal in den Vordergrund gestellt habe (Wrede: Paulus 91.).

Aber dafür beruft man sich nun um so entschiedener auf die »ungeheuren Wirkungen«, die das Auftreten Jesu im Gefolge gehabt habe, und sucht aus ihnen dessen überragende Größe, »Einzigartigkeit« und geschichtliche Wirklichkeit zu erweisen, als ob Zarathustra, Buddha und Mohammed eine weniger große Wirksamkeit ausgeübt hätten, als ob die Wirkungen, die von einer Persönlichkeit ausgehen, in genauem Verhältnis zu ihrer menschlichen Bedeutung stehen müssten, und als ob jene Wirkungen dem »historischen« und nicht vielmehr dem mythischen Jesus, d. h. der Idee des sich selbst für die Menschheit opfernden Gottes, zuzuschreiben wären!

In Wahrheit ist dasjenige, was an dem überlieferten Jesus wirklich »einzigartig« ist, sein Glaube an die unmittelbare Nähe des messianischen Gottesreiches und die hierauf gegründete Forderung der Sinnesumwandlung für uns ohne alle religiöse und ethische Bedeutung und höchstens nur noch von kultur-historischem Interesse. Was aber auch für uns an seiner Lehre noch von Bedeutung ist, das ist nicht »einzigartig« und besitzt diesen Ruhm nur, weil man durch die theologische Erziehung daran gewöhnt ist, es im Lichte der dogmatischen Erlösungsmetaphysik des Christentums zu betrachten. Ein Plato, ein Seneca, ein Epiktet, ein Laotse oder Buddha stehen in ihren ethischen Anschauungen hinter Jesus nicht zurück mit seiner egoistischen Pseudomoral, seiner Begründung des sittlichen Handelns durch die Aussicht auf Lohn und Strafe im Jenseits, seinem engherzigen Nationalismus, den die Theologie vergebens hinweg zu disputieren und zu vertuschen bemüht ist, und seinem unklaren Mystizismus, der seinen Aussprüchen durch geheimnistuerische Bezugnahme auf seinen »himmlischen Vater« eine besondere Wichtigkeit zu verleihen sucht. Was aber den »gewaltigen Eindruck« betrifft, den Jesus auf die Seinigen und die Folgezeit ausgeübt haben, und ohne welchen die Geschichte des Christentums nicht erklärlich sein soll, so hat Kautsky mit Recht darauf hingewiesen, dass die Evangelien ja gar nicht den Eindruck, den die Persönlichkeit, sondern nur jenen spiegeln, den die Erzählungen von der Persönlichkeit Christi auf die Glieder der Christengemeinde hervorriefen. »Über die historische Wahrheit dieser Erzählungen besagt aber selbst der stärkste Eindruck nichts. Auch die Erzählung von einer fingierten Person kann den tiefsten Eindruck in der Gesellschaft hervorrufen, wenn die historischen Bedingungen dafür gegeben sind. Welchen Eindruck machte nicht Goethes Werther, und doch wusste alle Welt, dass man es da nur mit einem Roman zu tun habe. Trotzdem erweckte er zahllose Jünger und Nachfolger« (Kautsky: Ursprung des Christentums 17.).

Hiermit widerlegt sich denn auch zugleich der beliebte Einwand, als ob die historische Existenz Jesu leugnen heiße »die Bedeutung der Persönlichkeit im geschichtlichen Leben der Völker und der Religionen« verkennen. Gewiss entzündet sich, wie Mehlhorn sagt, lebendige Frömmigkeit vor allem an Persönlichkeiten, in denen sie uns in anschaulicher, erhebender, begeisternder Weise entgegentritt (a. a. O.3.). Allein um die Frömmigkeit, den Glauben an Jesus Christus zu entzünden, dazu genügte die begeisternde Persönlichkeit eines Paulus, mag dieser nun der Verfasser der auf seinen Namen lautenden Briefe sein oder nicht, dazu genügte die Missionsarbeit der gleich ihm im Dienste des Jesusglaubens tätigen Apostel, die von Ort zu Ort zogen und oft unter großen persönlichen Opfern und Entbehrungen, mit Gefahr ihres eigenen Lebens zur Verehrung des neuen Gottes aufriefen. Einen wirklichen religiösen Halt jedoch konnten die Erlösungsbedürftigen immer nur in dem Glauben an den göttlichen Erlöser, eine religiöse Befriedigung und Befreiung nur in dem Gedanken des sich selbst für die Menschheit opfernden Gottes finden, dessen erlösende Kraft und überragende Vorzüglichkeit im Vergleiche mit den übrigen Mysteriengöttern ihnen die Apostel in so lebendiger und packender Weise zu schildern wussten. Es ist eine abgestandene Redensart, dass eine Idee nur durch eine große Persönlichkeit wirksam und fruchtbar werden könne.*
*»Wie wäre es denkbar«, fragt selbst ein Pfleiderer, »dass aus dem Chaos der Massen die neue Gemeinde sich von selbst gebildet haben sollte, ohne eine entscheidende Tat, ohne ein grundlegendes Erlebnis, das den Kern für die Entstehung der neuen Ideen bilden konnte? Ist es doch überall sonst bei geschichtlichen Neubildungen so, dass die in der Masse vorhandenen Kräfte und Strebungen erst durch die zielsetzende Tat heroischer Persönlichkeiten in eine bestimmte Richtung gebracht und zu einem lebensfähigen Organismus verbunden werden; ebenso muss auch der Anstoß zur Bildung der christlichen Gemeinde von einem bestimmten Punkt ausgegangen sein, den wir nach den Zeugnissen des Apostels Paulus und den ältesten Evangelien nur in der Person, dem Leben und Tod Jesu finden können“ (Entsteh. d. Chr. 11). Aber dass die angeführten »Zeugnisse« für einen historischen Jesus keine sind und jene »entscheidende Tat«, jenes »grundlegende Erlebnis«, wenn irgendwo, bei Paulus selbst und sonst nirgends zu suchen ist, das eben bildet den Kern dieser ganzen Auseinandersetzung.

Wenn die liberale Theologie auf dies Argument ihren Glauben an einen geschichtlichen Jesus meint stützen zu können, so macht sie sich dabei nur eine zufällige moderne Gassenweisheit zu nutze, ohne zu bemerken, dass diese doch in ihrem Falle gar nichts beweist. Oder wo ist die »große Persönlichkeit«, die dem Mithraismus eine solche Wirksamkeit verliehen hat, dass er in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung sich von Osten her fast das ganze Abendland erobern und es eine Zeitlang zweifelhaft sein konnte, ob die Welt mithrisch oder christlich werden würde? Aber auch bei der so einflussreichen Dionysos- und Osirisreligion oder gar beim Brahmanismus können wir nicht von einer großen Persönlichkeit als ihren »Stiftern« reden, und was Zarathustra, den angeblichen Begründer der persischen, und Moses, den Stifter der israelitischen Religion, betrifft, so sind auch diese keine geschichtlichen Persönlichkeiten, während über die Geschichtlichkeit des angeblichen Begründers des Buddhismus die Ansichten der verschiedenen Forscher auseinander gehen. Selbstverständlich werden ja auch in den genannten Religionen die vorhandenen Ideen von hervorragenden Individuen getragen und die entsprechenden Bewegungen von energischen und zielbewussten Einzelnen organisiert und dadurch erst wirksam gemacht worden sein. Allein die Frage ist, ob derartige Persönlichkeiten gerade »groß«, ja, »einzigartig« im Sinne der liberalen Theologie sein mussten, um ihre Erfolge zu erzielen, und es heißt daher, den entscheidenden Gesichtspunkt verschieben und sich im Kreise drehen, wenn man Paulus, dessen begeisternde und organisatorisch veranlagte Persönlichkeit wir aus seinen Briefen kennen, zugunsten eines imaginären Jesus bei Seite schiebt, die Bedeutung der christlichen Religion auf die »Einzigartigkeit« ihres vermeintlichen Stifters und die letztere wiederum auf die Bedeutung der von ihm ausgegangenen religiösen Bewegung gründet. Mit dem modischen Gerede von der »großen Einzelpersönlichkeit« ist also jedenfalls kein Beweis für die geschichtliche Existenz Jesu zu führen.

Und nun vergleiche man die Lobpreisungen des Buddha im Lalita Vistara mit der Schilderung der Persönlichkeit Jesu im Neuen Testamente, und man wird sich überzeugen, wie gleichartig, selbst wenn man die Hypothese einer direkten Beeinflussung ausschließt, unter ähnlichen Voraussetzungen das Verwandte sich gestalten musste: »In der Welt der Geschöpfe, die längst gequält war von den Übeln der natürlichen Verderbnis, bist du erschienen, König der Ärzte, der uns erlös t von allen Übeln. Mit deiner Ankunft, o Führer, verschwindet die Unruhe und werden Menschen und Götter erfüllt mit Wohlsein. Du bist der Beschützer, der feste Grund, das Haupt, der Führer der Welt, mit deinem sanften wohlwollenden Sinn. Du bist der beste der Ärzte, der das vollkommene Heilmittel bringt und sicherlich das Leiden heilt. Hervorragend durch deine Barmherzigkeit und dein Mitleid, ordnest du die Dinge der Welt. Hervorragend durch Sittenstrenge und gute Werke, aus dir selbst handelnd, vollkommen rein, bist du zur Vollkommenheit gelangt und, selbst erlöst, wirst du als der Verkündiger der vier Wahrheiten auch die anderen Geschöpfe erlösen. Die Macht des Dämons ist besiegt worden durch Weisheit, Tapferkeit und Sanftmut. Du hast sie erlangt, die höchste und unsterbliche Würde. Wir begrüßen dich als den Besieger des Heeres des Lügners. Du, dessen Wort ohne Fehl ist, der frei von Irrtum und Leidenschaft den Pfad des ewigen Lebens betreten hat, verdienst im Himmel und auf Erden Ehre und Huldigung ohnegleichen. Du erquickest die Götter und Menschen mit deinen durchaus klaren Worten. Durch die Strahlen, die von dir ausgehen (!), bist du der Besieger dieses Alls, der Herr der Götter und Menschen. Du bist erschienen, Licht des Gesetzes, Zerstörer der Unseligkeit und Unwissenheit, ganz erfüllt mit Demut und Majestät. Sonne, Mond und Feuer glänzen nicht mehr vor dir und deiner Fülle unvergänglicher Herrlichkeit. Du, der du erkennen lehrst, was wahr ist und was falsch, geistlicher Führer mit der süßesten Stimme, dessen Geist beruhigt, dessen Sinne gebändigt, dessen Herz vollkommen stille ist, der du lehrst, was man lehren soll, der du unterrichtest die Versammlung der Götter und Menschen: ich grüße dich, Sakhyamuni, als den Größten der Menschen, als das Wunder der dreitausend Welten, dem Ehre und Huldigung gebührt im Himmel und auf Erden, von Göttern und von Menschen!«

Wo bleibt unter solchen Umständen die »Einzigartigkeit« Jesu, bis zu welcher sich für die moderne kritische Theologie die einstige Gottheit des Welterlösers verflüchtigt hat, und in welche sie allen Gefühlsgehalt hineinzulegen bemüht ist, der früher einmal dem »Gottmenschen« im Sinne des kirchlichen Dogmas galt? »Es gibt nichts Negativeres als das Ergebnis der Leben-Jesu-Forschung. Der Jesus von Nazareth, der als Messias auftrat, die Sittlichkeit des Gottesreiches verkündete, das Himmelreich auf Erden gründete und starb, um seinem Werke die Weihe zu geben, hat nie existiert. Er ist eine Gestalt, die vom Rationalismus entworfen, vom Liberalismus belebt und von der modernen Theologie mit geschichtlicher Wissenschaft überkleistert worden«. Mit diesen Worten des Theologen Schweitzer (Von Reimarus bis Wrede 396.) kann sich auch die vorliegende Untersuchung einverstanden erklären. —

In der Tat haben wir in den Evangelien nichts anderes als den Ausdruck des Gemeindebewusstseins vor uns. In dieser Hinsicht besteht die von Kalthoff vertretene Auffassung durchaus zu Recht und ist auch durch die Einwände seiner Gegner in keiner Weise erschüttert worden. Das Leben Jesu, wie die Synoptiker es schildern, bringt nur in historischem Gewande die me taphysischen Vorstellungen, religiösen Hoffnungen, die äußeren und inneren Erlebnisse der auf Jesus als Kultgott gegründeten Gemeinde zum Ausdruck. Seine Aussprüche, Reden und Gleichnisse spiegeln nur die religiös-sittlichen Grundanschauungen, die jeweiligen Stimmungen, die Niedergeschlagenheit und die Siegesfreudigkeit, den Hass und die Liebe, die Urteile und die Vorurteile der Gemeindemitglieder wieder, und die Verschiedenheiten und Widersprüche der Evangelien erklären sich als Entwicklungsstufen des Messiasgedankens in verschiedenen Gemeinden und zu verschiedenen Zeiten.

Christus nimmt folglich in den religiös-sozialen Genossenschaften, die sich nach ihm benennen, genau dieselbe Stellung ein, wie Attis in den phrygischen, Adonis in den syrischen, Osiris in den ägyptischen, Dionysos, Herakles, Hermes, Asklepios usw., in den hellenischen Kultgenossenschaften: er ist nur eine andere Form dieser Vereinsgötter oder Gemeindepatrone selbst, und der ihm gewidmete Kultus zeigt im wesentlichen die gleichen Formen, wie derjenige der genannten Wesen. Die Stätte der blutigen Sühnopfer der Attisgläubigen, wo diese bei der jährlichen Märzfeier die »Bluttaufe« empfingen, die Vergebung ihrer Sünden erhielten und zu einem neuen Leben »wiedergeboren« wurden, war in Rom der vatikanische Hügel, und zwar genau die Stelle, wo sich mit dem Christentume die Peterskirche über dem so genannten Grabe des Apostels erhob. Es war im Grunde nur eine Veränderung des Namens, nicht der Sache, wenn der Oberpriester des Attis seine Rolle mit derjenigen des Oberpriesters des Christus vertauschte und der Christuskultus sich von diesem neuen Mittelpunkte aus über die andern Teile des römischen Imperiums verbreitete. S.176-198
Aus: Arthur Drews, Die Christusmythe, Verbesserte und erweiterte Ausgabe /3.bis 5. Tausend/ Verlegt bei Eugen Diederichs Jena 1910

Der wahre Charakter des synoptischen Jesus
Die synoptischen Evangelien lassen die Frage offen, ob wir es in ihnen mit einem gottgewordenen Menschen oder mit einem menschgewordenen Gott zu tun haben. Die vorangegangene Darstellung hat gezeigt, dass der Jesus der Evangelien nur als vermenschlichter Gott zu verstehen ist.

Seine Lebensgeschichte, wie sie in den Evangelien dargestellt ist, ist eine Vergeschichtlichung eines ursprünglich religiösen Mythus. Die meisten großen Helden der Sage, die sich selbst für Geschichte ausgibt, sind derartige vermenschlichte Götter; man denke nur an Jason, Herakles, Achilleus, Theseus, an Perseus, Siegfried usw., in denen wir nichts anderes als den alten arischen Sonnenkämpfer in seiner Gegnerschaft gegen die Mächte der Finsternis und des Todes vor uns haben. Ja, der Prozess, dass ursprüngliche Götter in der Anschauung einer späteren Zeit zu Menschen werden, ohne übrigens aufzuhören, mit dem Schimmer der Göttlichkeit umkleidet zu bleiben, ist so sehr der gewöhnliche, dass der umgekehrte Vorgang, die Erhebung von Menschen zu Göttern, im allgemeinen nur den Urzeiten der menschlichen Kultur oder den Zeiten des sittlichen und staatlichen Verfalles angehört, wo hündischer Knechtssinn und würdelose Schmeichelei nicht davor zurückscheuen, einen hervorragenden Menschen, sei es schon bei seinen Lebzeiten, sei es nach seinem Tode, zu einem göttlichen Wesen emporzuschwindeln. Gerade die sog. »biblische Geschichte« enthält zahlreiche Beispiele derartiger vermenschlichter Götter: es sei hier nur an die Patriarchen, an Joseph, Josua, Simson, Esther, Mardachai, Haman, an Simon Magus, den Zauberer Elymas usw. erinnert, die ursprünglich reine Götter waren, und in deren Lebensbeschreibungen alte semitische Gestirn- und Sonnenmythen eine geschichtliche Einkleidung erhalten haben. Und wenn wir nicht daran zweifeln können, dass Moses, der Begründer des alten Bundes, eine erdichtete Gestalt und seine »Geschichte« von den Priestern zu Jerusalem nur zu dem Zweck erfunden ist, um das nach ihm benannte Priestergesetz zu sanktionieren und durch seine Autorität zu stützen, wenn zu diesem Zwecke sogar die ganze israelitische Geschichte umgefälscht und das Ende der religiösen Entwicklung Israels, nämlich die Gesetzgebung, an den Anfang der Ereignisse gestellt ist—warum könnte, was bei Moses möglich war, sich nicht bei Jesus wiederholt haben, warum könnte nicht auch der Begründer des neuen Bundes als historische Persönlichkeit ganz und gar der frommen Sage angehören?

Haben doch nach Herodot (II, 44.) sogar die Griechen einen alten phönizischen Gott Herakles aus nationalen Gründen in einen einheimischen Heros, den Sohn des Amphitryon, umgewandelt und ihn damit ihrem eigenen Gedankenkreise einverleibt. Und nun bedenke man, wie stark erst bei den Orientalen der Hang zur Vergeschichtlichung rein innerlicher Erlebnisse und Gedanken ist.

Geschichtliches in das Gebiet des Mythus zu übertragen und Mythisches als Geschichte aufzufassen, ist, wie sich immer deutlicher herausstellt und durch die Forschungen eines Winckler, Schrader, Jensen usw. in ein immer helleres Licht gerückt wird, dem Orientalen etwas so Selbstverständliches, dass es schon den Erzählungen des Alten Testamentes gegenüber kaum möglich ist, ihren wirklich »historischen Kern« aus der scheinbar historischen Einkleidung herauszuschälen. Und zumal gerade das semitische Denken des Altertums zeigt sich völlig außerstande, mythische Phantasien von wirklichen Vorgängen zu unterscheiden! Es ist sicherlich zu viel gesagt, dass der Semit keine eigene Mythologie geschaffen und besessen habe, wie Renan dies behauptet hat. Allein dass er die mythischen Gestalten und Begebenheiten, auch wo sie ihm von anderswoher überliefert wurden, nicht als solche festzuhalten und zu behandeln vermocht, sondern stets dazu geneigt hat, sie ins Menschliche zu übersetzen und an bestimmte Orte und Zeiten anzuknüpfen, daran ist gar kein Zweifel möglich. »Der Gott der Semiten ist an Ort und Gegenstand gebunden, er ist ein Genius loci«, sagt Winckler (Gesch. Israels II, 1ff.). Wenn aber irgendein Mythus geradezu dazu aufforderte, ihn in ein örtliches Gewand zu kleiden und die in ihm enthaltene metaphysische Idee in eine Folge historischer Geschehnisse auseinanderzuziehen, so war es offenbar der Mythus des sich selbst für die Menschheit opfernden Erlösergottes, der in Menschengestalt unter Menschen wandelt, mit den übrigen Menschen leidet und stirbt und nach siegreicher Überwindung der finsteren Todesmächte zu seinem göttlichen Ausgangspunkt zurückkehrt.

Man versteht, wie der Gott Jesus infolge der symbolischen Verschmelzung mit dem an seiner Stelle geopferten Menschen vermenschlicht werden und auf dieser Grundlage sich der Glaube an das Herabsteigen des Gottes in der Gestalt einer historischen Persönlichkeit bilden konnte.

Wie aber umgekehrt der Mensch Jesus zum Gott erhöht oder auch nur mit einem bereits existierenden Gotte gleichen Namens zum gottmenschlichen Erlöser, ja, zum vollen Gottwesen zusammenfließen konnte, das ist und bleibt, wie gesagt, ein psychologisches Rätsel, für dessen Lösung nur übrig bleibt, sich auf die »unerforschlichen Geheimnisse des göttlichen Ratschlusses« zu berufen. Oder wie sollen wir es uns erklären, dass »jenes einfache Menschenkind, wie es uns geschildert wird«, schon sobald nach seinem Tode zu jenem »mystischen Fabelwesen«, zu jenem »himmlischen Christus« erhöht werden konnte, wie uns dieser in den Briefen des Paulus entgegentritt? Höchstens sieben, wahrscheinlich drei Jahre, nach neueren Kombinationen kaum ein Jahr, soll zwischen dem Tode Jesu und dem Beginne der Wirksamkeit des Paulus dazwischen liegen (Holtzmann: Zum Thema ,Jesus und Paulus‘, Prot. Monatshft. IV, 1900, 465.).

Und diese kurze Zeit soll ausgereicht haben, um den Menschen Jesus in den paulinischen Christus umzuwandeln! Und nicht nur Paulus soll hierzu imstande gewesen sein: auch die unmittelbaren Jünger Jesu, die mit diesem an demselben Tische gesessen, mit ihm gegessen und getrunken hatten, die da wussten, wer Jesus gewesen war, sollen sich hiermit einverstanden erklärt und zu ihm, den sie selbst immer zum »Vater« hatten beten sehen, gebetet haben! Gewiss war die Vergöttlichung eines Menschen im Altertum nichts Außergewöhnliches: ein Plato, ein Aristoteles sind nach ihrem Tode von ihren Schülern als gottähnliche Wesen verehrt, ein Demetrius Poliorketes, ein Alexander, die Ptolemäer usw. haben sich schon bei ihren Lebzeiten göttliche Ehren erweisen lassen. Allein diese Art der Vergöttlichung ist doch ganz und gar verschieden von derjenigen, die Jesus zuteil geworden sein soll. Sie ist nur ein Ausdruck persönlicher Dankbarkeit und Anhänglichkeit, vorübergehenden Überschwanges des Gefühls und gesinnungsloser Schmeichelei und hat keine nähere theologische Ausgestaltung erhalten, keine neue Religion begründet.

Mit Recht hat daher schon Schopenhauer auf den Gegensatz der Apotheose Jesu bei Paulus gegen die sonstige geschichtliche Erfahrung hingewiesen und bemerkt, man könne aus ihm ein Argument gegen die Echtheit der paulinischen Briefe entnehmen (Parerga II § 18o.).

Ja, Holtzmann hält im Hinblick auf diesen Ausspruch des Philosophen die Frage, »ob nicht die Gestalt Jesu im Sehwinkel des Paulus schon zu kolossale Dimensionen aufweist, als dass die Entfernung zwischen Objekt und Subjekt nur auf einige Jahre angesetzt, überhaupt nächste zeitliche Berührung beider angenommen werden dürfte«, für »das Erwägenswerteste, was uns die Kritik der holländischen Schule zu raten oder zu denken aufgegeben hat«.*
* Neutestamentl. Theol. II, 4, Anm. Vgl. R. H. Grützmacher: Ist das liberale Christusbild modern? Bibel. Zeit- und Streitfragen 39f.

Nach der herrschenden Ansicht der kritischen Theologie, wie sie selbst von einem Pfleiderer vertreten wird, sollen die Erscheinungen des »Herrn«, die den aus Jerusalem geflüchteten Jüngern nach Jesu Tode zuteil wurden, die »ekstatisch-visionären Erlebnisse, in denen sie ihren gekreuzigten Meister als lebend und zu himmlischer Herrlichkeit erhöht zu schauen glaubten«, die Veranlassung zu ihrem Glauben an die Auferstehung und damit an die göttliche Erlöserrolle Jesu geliefert haben
(Pfleiderer: Entstehung d. Chr. 108 ff.).

Pathologische Zustände exaltierter Männer und hysterischer Weiber also sollen die »historische Grundlage« für die Entstehung der christlichen Religion bilden! Und mit solchen Ansichten glaubt man sich berechtigt, auf die rationalistischen Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts mit souveräner Verachtung herabblicken zu dürfen und auf die Höhe seiner religionsgeschichtlichen Einsicht zu pochen! Gesteht man der historischen Theologie aber auch wirklich diese mehr als bedenkliche Erklärung zu, die das Christentum zu einem bloß zufälligen Ergebnis der seelischen Überspanntheit herabdrückt, so erhebt sich nun sofort die weitere Frage, nämlich wie die neue Religion der kleinen Messiasgemeinde zu Jerusalem sich mit so erstaunlicher Schnelligkeit verbreiten konnte, dass wir schon so bald, höchstens zwei Jahrzehnte nach dem Tode Jesu in ganz Vorderasien nicht bloß, nein, auch auf den Inseln des Mittelmeeres, in den griechischen Küstenstädten, ja in Italien, zu Puteoli, in Rom auf christliche Gemeinden stoßen, und dieses zwar zu einer Zeit, als noch keine Zeile über den jüdischen Rabbi geschrieben war (vgl. Steudel: a. a. O. 22.).

Hier muss auch der Theologe Schweitzer von der historischen Theologie gestehen: »Bis sie einigermaßen begreiflich gemacht hat, wie unter dem Einfluss der jüdischen Messiassekte im Nu, auf allen Punkten zugleich griechisch-römisches Volkschristentum entstand, muss sie alle n Hypothesen, welche dieses Problem erfassen und zu lösen versuchen, auch den extravagantesten ihr formelles Daseinsrecht zugestehen (Von Reimarus bis Wrede 313.). —

Wenn hiermit die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit erwiesen ist, dass wir in dem Jesus der Evangelien es nicht mit einem vergöttlichten Menschen, sondern vielmehr mit einem vermenschlichten Gott zu tun haben, so bleibt nur noch die Frage zu beantworten, welche äußeren Gründe die Veranlassung dazu gegeben haben mögen, dass der Gott Jesus auf den Boden der geschichtlichen Wirklichkeit verpflanzt und das ewige oder übergeschichtliche Faktum seines Erlösungstodes und seiner Auferstehung in eine Folge von zeitlichen Ereignissen auseinander gezogen wurde.


Diese Frage beantwortet sich alsbald, sowie wir die Bewegungen in den frühesten uns bekannten Christengemeinden ins Auge fassen, wie uns diese in der Apostelgeschichte und den Briefen des Paulus entgegentreten. Wir wissen aus diesen Quellen, wie frühzeitig sich ein Gegensatz zwischen dem Heidenchristentum des Paulus und den Judenchristen herausgebildet hat, die ihren Hauptsitz zu Jerusalem hatten und aus diesem Umstande, wie begreiflich, eine besondere Autorität für sich in Anspruch nahmen. Solange der frühere Verfolger der Christengemeinden, über dessen Bekehrung man sich anfangs nicht genug hatte freuen können (Gal. 1, 24.), den übrigen nicht im Wege stand und durch seine Erfolge in der Heidenwelt die Berechtigung seiner apostolischen Tätigkeit zu beweisen schien, hatte man ihn ruhig gewähren lassen. Als jedoch Paulus durch seine Zurückhaltung gegenüber den »Brüdern« zu Jerusalem seine Selbständigkeit bewies und durch seine Außerkraftsetzung des mosaischen Gesetzes das jüdische Gefühl der Jerusalemiten reizte, da fingen diese an, ihn mit Argwohn zu betrachten, seiner Missionstätigkeit allerlei Hindernisse in den Weg zu legen und unter der Führerschaft des zelotischen Jakobus den Versuch zu machen, die paulinischcn Gemeinden unter die eigene Leitung zu bringen. Jetzt suchte man nach einem Rechtstitel für die Ausübung des Apostelberufes und fand ihn darin, dass jemand, der von Christus zeugen wollte, den Auferstandenen selbst gesehen haben müsse. Allein hiergegen konnte Paulus mit Recht einwenden, dass ja auch ihm der verklärte Jesus erschienen sei (1. Kor. 2, 1; 2. Kor. 19, 9.).

So machte man die Berechtigung zum Apostelberufe davon abhängig, dass ein Apostel den Auferstandenen nicht bloß gesehen, sondern mit ihm zusammen gegessen und getrunken haben müsse (Apg. 1, 3; 10, 41.). Dies traf nun aber doch wiederum nicht auf Judas zu, der nach Apg. 1, 16 f. nichtsdestoweniger zu den Aposteln gerechnet wurde; und auch von Matthias, den man an dessen Stelle wählte, wird nirgends gesagt, dass er ein Zeuge der Auferstehung Jesu gewesen sei. Noch viel weniger freilich scheint er die Bedingung erfüllt zu haben, zu der man im weiteren Verfolge des ursprünglichen Gedankens fort ging, nämlich, dass ein Apostel Jesu mit dem lebenden Jesus persönlich bekannt gewesen sein, dass er zu den »Uraposteln« sich gehalten haben und von der Taufe des Johannes an bis zur Auferstehung und Himmelfahrt als Augen- und Ohrenzeuge dabei gewesen sein müsse (Apg. 1,21f.). Nun hat Seufert gezeigt, dass es sich in den angeführten Stellen der Apg. um eine reine Konstruktion, um eine Übertragung späterer Verhältnisse in eine frühere Epoche handelt, deren ganze Absicht darauf hinausläuft, die Heidenmission des Paulus lahm zu legen und das höhere Recht der jerusalemischen Judenchristen gegenüber dessen Anhängern zu begründen. Wenn aus dieser Absicht, wie Seufert gezeigt hat, die Einrichtung des Zwölfapostolates entstanden ist, die in den Evangelien und den paulinischen Briefen keinen tragfähigen Grund und Boden hat, so wird hier auch die Hauptursache dafür zu suchen sein, dass aus dem Gotte Jesus ein menschlicher Begründer des Apostelamtes wurde. »Apostel sollte nur sein dürfen, wer Jesum selbst gesehen und gehört oder doch von denen gelernt hatte, welche seine unmittelbaren Jünger gewesen waren. Eine Literatur des Judaismus entstand, welche schon früher das naheliegendste Interesse an der geschichtlichen Fixierung des Lebens Jesu hatte, und diese bildete die unterste Schicht, auf welcher sere kanonischen Evangelien ruhen«.*
* Seufert: Der Ursprung und die Bedeutung des Apostolates in der christlichen Kirche der ersten Jahrhunderte 1887, 143. Vgl. auch meine »Petruslegende«, worin die Ungeschichtlichkeit der Jünger und Apostel dargelegt ist, 50ff.

Das Judentum im allgemeinen und dasjenige zu Jerusalem im besonderen bedurfte eines Rechtsgrundes, um seine eigene überragende Stellung gegenüber dem Heidenchristentum des Paulus darauf zu stützen: dazu mussten seine Begründer den persönlichen Umgang Jesu genossen haben und von diesem selbst zu ihrem Berufe auserwählt sein; und darum konnte Jesus kein bloßer Gott bleiben, sondern musste er in die geschichtliche Wirklichkeit herabgezogen werden. Seufert nimmt an, die Zurückführung des Zwölfapostolats unmittelbar auf den »historischen« Jesus selbst und die Aufstellung der Forderung, dass ein Apostel Jesu persönlichen Umgang genossen haben müsse, habe noch zu Lebzeiten des Paulus, im sechsten oder vielleicht schon im fünften Dezennium stattgefunden (a. a. O. 42.). Indessen setzt er hierbei die Existenz eines historischen Jesus voraus, während die Briefe des Paulus selbst keine Nötigung zu der Annahme enthalten, dass die Vergeschichtlichung des Jesusglaubens noch zu Lebzeiten des Paulus stattgefunden habe. Es vollzog sich somit hier, in der Frühzeit des Christentums, auf palästinensischem Boden und zu Jerusalem genau der gleiche Vorgang, wie später im »ewigen« Rom, als der Bischoff dieser Stadt, um seine Hoheitsrechte in der Kirche zu begründen, sich für den unmittelbaren Nachfolger des Apostels Petrus ausgab und diesem die »Schlüsselgewalt« durch Jesus selbst übertragen werden ließ.

Sehr weltliche, sehr praktische Gründe also waren es, die letzten Endes den Ausschlag dafür gaben, dass aus dem anfänglichen Gotte Jesus ein historisches Individuum und der Schwerpunkt seiner Wirksamkeit, das entscheidende Faktum seines Lebens, sein Tod und seine Auferstehung, worauf allein es der religiösen Betrachtung ankam, in die Hauptstadt des jüdischen Staates, die »Gottesstadt«, die heilige Stadt Davids, des »Ahnherrn« des Messias, verlegt wurde, an welche nun einmal für das Bewusstsein der Juden das religiöse Heil geknüpft war. Wie aber konnte die hierin enthaltene Fiktion sich durchsetzen und behaupten, so dass sie geradezu zu einer Lebensfrage der neuen Religion, einem unerschütterlichen Dogma, zu einer selbstverständlichen »Tatsache« werden konnte und ihre Anzweifelung selbst dem kritischsten Theologen unserer Zeit als eine schlechthinige Absurdität erscheint?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst die gnostische Bewegung und ihr Verhältnis zur werdenden Kirche ins Auge fassen
. S. 198-206
Aus: Arthur Drews, Die Christusmythe, Verbesserte und erweiterte Ausgabe /3.bis 5. Tausend/ Verlegt bei Eugen Diederichs Jena 1910

Der Gnostizismus und der Johanneische Jesus
Das Christentum war ursprünglich aus dem Gnostizismus (Mandaismus) hervorgegangen. Die paulinische Religion war nur eine Form der allgemeinen synkretistischen Bestrebungen, durch eine Verschmelzung aus verschiedenen Quellen stammender religiöser Vorstellungen das Erlösungsbedürfnis der damaligen Menschheit zu befriedigen Um so größer war die Gefahr, die der jungen Kirche von dieser Seite her zu erwachsen drohte.

Der Gnostizismus stimmte mit dem Christentum überein in der pessimistischen Bewertung der Welt, in dem Glauben an die Unfähigkeit des Menschen, von sich aus das religiöse Heil zu erlangen, und die Notwendigkeit einer göttlichen Vermittlung des »Lebens«. Wie das Christentum, erwartete er die Rettung der bedrängten Menschenseele von einer überweltlichen Erlösergestalt, die vom Himmel auf die Erde herabkommt, sich des Menschen annimmt, durch mystische Vereinigung mit ihm die Verbindung zwischen der himmlischen und irdischen Sphäre herstellt und dem Menschen damit ein ewiges Leben in einem seligen Jenseits verbürgt. Auch er huldigte mit seinem Gegensatze von Gott und Welt, Geist und Stoff, Seele und Leib usw., einer durch und durch dualistischen Weltanschauung, aber sein ganzes Bestreben zielte darauf ab, diese Gegensätze durch eine übernatürliche Vermittlung und magische Veranstaltung zu überwinden. Und zwar betrachtete er die »Gnosis«, die Erkenntnis, die richtige Einsicht in den Zusammenhang der Dinge als die notwendige Bedingung der Erlösung. Der Mensch muss wissen, dass seine Seele aus Gott stammt, dass sie nur zeitweilig in diesen Kerker des Leibes gebannt und zu etwas Höherem ersehen ist, als hier in der Finsternis der Unwissenheit, des Übels und der Sünde zu versinken, so ist er auch schon der Fesseln seines Fleisches ledig und beginnt für ihn ein neues Leben. Dies Wissen den Menschen mitzuteilen, ist der Erlösergott auf die Erde herabgekommen; und der Gnostizismus macht sich anheischig, auf Grund der von Gott unmittelbar empfangenen »Offenbarung« denjenigen, die nach der höchsten Erkenntnis streben, alle Tiefen des Himmels und der Erde aufzuschließen.

Es war ein wunderbar buntschillerndes und verwirrendes Gebilde, dieser Gnostizismus der ersten Jahrhunderte n. Chr., halb philosophische Spekulation, halb Religion, eine Vereinigung von Theosophie, kritiklosem mythologischem Aberglauben und tiefsinniger religiöser Mystik. Babylonischer Götter- und Gestirnglaube, parsische Mythologie und indische Seelenwanderungs- und Karmalehre verschlangen sich in ihm mit jüdischer Theologie und vorderasiatischen Mysteriengebräuchen, und durch das Ganze wehte ein Hauch der hellenistischen Philosophie und bekundete sich vor allem in dem Bestreben, die phantastischen Gebilde der Spekulation in begriffliche Gestalt zu bannen und das Durcheinander orientalischer Zügellosigkeit und Verstiegenheit des Denkens in die Form einer philosophischen Weltanschauung hineinzuarbeiten.

Auch die Gnostiker nannten ihre Mittlergottheit, wie wir dieses schon von der mandäischen Sekte der Naassener gesehen haben, »Jesus« und ergingen sich in breiter Ausmalung seiner vorweltlichen Existenz und überirdischen göttlichen Herrlichkeit. Sie waren mit den Christen darin einig, dass Jesus »Mensch« geworden sei. Aber die verstiegene metaphysische Auffassung, die sie von Jesus hatten, verhinderte sie doch zugleich daran, mit dem Gedanken seiner Menschheit wirklich Ernst zu machen. So behaupteten sie entweder, der himmlische Christus habe sich mit dem Menschen Jesus bloß äußerlich, und zwar erst bei Gelegenheit der Jordantaufe, und nur zeitweilig, nämlich bis zum Todesleiden, verbunden, so dass also nur der »Mensch« Jesus den Tod erlitten habe (Basilides, Kerinth), oder sie ließen Jesus sich nur einen Scheinleib angezaubert haben und demnach alle seine menschlichen Verrichtungen auch nur als bloßen Schein sich abspielen (Saturnin, Valentinus, Marcion). Wie wenig sie aber in den Kern der christlichen Heilslehre einzudringen und die grundsätzliche Bedeutung der Christusgestalt zu würdigen vermochten, bewiesen sie dadurch, dass sie Christus nur als Ein Mittelwesen neben zahllosen anderen auffassten und die romanhaft ausgeschmückte Schilderung der Geister oder »Äonen«, die zwischen Himmel und Erde auf- und niedersteigen und ihr Eigenleben für sich führen sollten, einen breiten Raum in den gnostischen Systemen einnahm.

Dass der christliche Glaube an einer so phantastischen und äußerlichen Auffassung des Gedankens der Gottmenschheit den größten Anstoß nehmen musste, ist selbstverständlich. Unterschied sich doch das Christentum des Paulus gerade dadurch vom Gnostizismus, mit dem es selbst aufs Engste zusammenhing, dass es mit der »Menschheit« Jesu Ernst machte. Noch bedenklicher jedoch war es, dass die Gnostiker mit ihrem extremen Dualismus einen ausgesprochen antijüdischen Charakter verbanden. Denn dies musste bei der nahen Verwandtschaft zwischen Gnostizismus und Christentum die Juden notwendig auch vom Evangelium zurückschrecken und nur zu viele gegen die junge Religion in Harnisch bringen. Die Juden aber waren das Element, mit welchem das Christentum der Frühzeit vor allem zu rechnen hatte. Dazu kam, dass die Gnostiker vom Standpunkte ihrer spiritualistischen Gottesauffassung aus sich in Weltverachtung und Askese gefielen. Sie empfahlen die geschlechtliche Enthaltsamkeit, verwarfen die Ehe und wollten von einer leiblichen Auferstehung weder in Bezug auf Christus noch auf die Menschen etwas wissen. Mit einer asketischen Religion aber ließ sich im Abendlande keine Propaganda treiben. Und dabei schlug auch bei ihnen, wie so oft, die Askese nur zu häufig in zügellose Sinnenlust und Libertinage um, und der geistliche Hochmut der von Gott zum Wissen Begnadigten, der sich über das mosaische Gesetz erhob, drohte durch seine radikale Kritik des Alten Testamentes den Zusammenhang mit dem Judentume vollends zu zerreißen. Hiermit untergrub aber der Gnostizismus nicht bloß das sittliche Leben der Gemeinden, sondern brachte das Evangelium auch bei der übrigen Welt in Misskredit. Als selbständige Religion, die alle übrigen Kulte ausdrücklich bekämpfte, und deren Anhänger sich den kultischen Verrichtungen des Staates, ja, aller politischen Tätigkeit überhaupt entzogen, würde das Christentum den Verdacht der Behörden, den Hass des Volkes gegen sich heraufbeschworen haben und dem Verbote neuer Religionen und Geheimsekten (lex Julia majestatis) verfallen sein. (Vgl. Hausrath: Jesus und die neutestamentl. Schriftsteller II, 203).

Durch seine Loslösung dieser Religion vom jüdischen Mutterboden trieb so der Gnostizismus das Christentum geradezu hinein in einen Konflikt mit den römischen Staatsgesetzen.

Alle diese Gefahren, die dem Christentume von der gnostischen Bewegung her drohten, beseitigte mit Einem Schlage die Anerkennung der wahren Menschheit Christi, die Behauptung des »historischen« Jesus. Sie wahrte den für die unbehinderte Verbreitung des Christentums im römischen Reiche so wichtigen Zusammenhang mit dem Judentume und seiner »geoffenbarten« Gesetzlichkeit, deren heteronomer und ritueller Charakter zwar durch Paulus aufgehoben war, deren sittlicher Gehalt jedoch auch weiterhin von den Christen festgehalten wurde. Sie ermöglichte es, in vorläufiger Ermangelung einer schriftlichen Offenbarungsurkunde das Alte Testament auch fernerhin in seinen wesentlichsten Bestandteilen als autoritatives Grundbuch des neuen Glaubens und als vorbereitenden Hinweis auf die in Jesus erschienene endgültige Offenbarung anzusehen. Und vor allem, sie tat der gnostischen Phantastik Einhalt, indem sie die verwirrende Vielheit der gnostischen Äonen in die Eine Gestalt des Welterlösers und Heilandes Christus zusammenzog, das Schwergewicht des Glaubens in den erlösenden Opfertod des Messias verlegte und die ganze Aufmerksamkeit des religiösen Menschen auf diesen Haupt- und Wendepunkt des gesamten geschichtlichen Verlaufes konzentrierte. Dies war der Grund, warum die Apologeten und »Väter« des Christentums, ein Ignatius, Polykarp, Justinus, Irenäus usw., mit solcher Entschiedenheit für die Geschichtlichkeit und wahre Menschheit Jesu eintraten. Es war nicht etwa ein besseres historisches Wissen, was ihnen hierzu die Veranlassung gab, sondern der Lebensinstinkt der Kirche, die nur zu wohl erkannte, wie ihr eigener Bestand und die Durchführung ihrer religiösen Aufgabe den Umtrieben und verführerischen Welterklärungsversuchen des Gnostizismus gegenüber von der Annahme eines geschichtlichen Erlösers abhing. So ist der historische Jesus von Anfang an ein Dogma, eine aus religiösen und politisch-praktischen Bedürfnissen zusammengewobene Dichtung der werdenden und kämpfenden christlichen Kirche gewesen. So hat er sie wirklich zum Siege geführt, aber nicht als geschichtliche Realität, sondern als Idee, oder mit andern Worten: nicht ein historischer Jesus im eigentlichen Sinne, ein wirkliches menschliches Individuum, sondern die bloße Idee eines solchen ist der Schutzpatron, der Genius des kirchlichen Christentums gewesen, der es ihm ermöglicht hat, über den Gnostizismus ebenso wie über den Mithrakultus und die übrigen Religionen der verwandten vorderasiatischen Heilsgötter obzusiegen. —

Die Bedeutung des vierten Evangeliums beruht darin, diese Bemühungen der Kirche um die Vergeschichtlichung der christlichen Erlösergestalt zu einem einstweiligen Abschluss gebracht zu haben. Unter dem sichtlichen Einflusse der gnostischen Auffassung des Heilsprozesses entstanden, kommt es dem Gnostizismus weiter als irgend ein anderes Evangelium entgegen, ja, zeigt sich ganz und gar durchtränkt von gnostischer Stimmung und Weltanschauung. Es teilt mit ihm bis zu einem gewissen Grade den antijüdischen Charakter. Aber es hält doch zugleich mit den Synoptikern an der geschichtlichen Wirksamkeit Jesu fest und sucht, eine Art Vermittlung zwischen der wesentlich metaphysischen Auffassung der Gnostiker und der wesentlich menschlichen Auffassung der synoptischen Evangelien herzustellen.

Mit dem Gnostizismus stimmt der Verfasser, der das Evangelium unter dem Namen des Johannes, des »Lieblingsjüngers Jesu«, vermutlich zu Ephesus um 140 n. Chr. geschrieben hat, in der dualistischen Auffassung des Weltganzen überein. Dem göttlichen Lichtreich, dem Reich der Wahrheit und des Lebens, auf der einen Seite steht die Welt als das Reich der Finsternis, der Lüge und des Bösen in gegenseitiger tödlicher Feindschaft gegenüber. An der Spitze des himmlischen Reiches steht Gott, der selbst nach parsischem Vorbild als Licht, Wahrheit, Leben und Geist bestimmt wird. An der Spitze des Erdreichs steht der Satan (Angromainyu). In der Mitte zwischen beiden befindet sich der Mensch. Aber auch die Menschheit zerfällt, ebenso wie das übrige gesamte Dasein, in zwei wesentlich verschiedene Arten. Die Seele des einen Teils der Menschen nämlich stammt von Gott, diejenige des anderen vom Satan. Die »Gotteskinder« sind von Natur zum Guten ausersehen und der Erlösung fähig. Die »Satanskinder«, zu denen Johannes in Übereinstimmung mit den Gnostikern vor allem auch die Juden rechnet, sind für alles Göttliche unempfänglich und der ewigen Verdammnis verfallen. Um nun die Erlösung ins Werk zu setzen, hat Gott, und zwar aus reiner »Liebe« für die Welt, den Monogenes ausersehen, seinen einziggezeugten Sohn, d. h. das einzige Wesen, welches, als Gotteskind, nicht von andern Wesen, sondern von Gott selbst gezeugt ist. Der Verfasser des Evangeliums verschmilzt den Monogenes mit dem philonischen Logos, der nach gnostischer Anschauung nur einer unter den zahlreichen andern Äonen und ein Sohn des Monogenes, der göttlichen Vernunft, also nur ein Enkel Gottes sein soll. Er überträgt zugleich das ganze »Pleroma«, die Vielheit der Äonen, worin nach gnostischer Ansicht die göttliche Wirklichkeit zerfallen soll, auf das eine Prinzip des Logos, erklärt den Logos für den alleinigen Träger der ganzen Fülle göttlicher Herrlichkeit, für den präexistenten Schöpfer der Welt und bestimmt auch ihn, da er mit Gott, seinem »Vater«, wesentlich identisch sein soll, als die Lebensquelle, das Licht, die Wahrheit und den Geist des Weltalls.

Und wie vollzieht nun der Logos die Erlösung? Er wird Fleisch, d.h. er nimmt die Gestalt des »Menschen« Jesus an, ohne übrigens damit aufzuhören, der übermenschliche Logos zu sein, und bringt als solcher den Menschen das »Leben«, das er selbst ist, durch die Offenbarung der Weisheit und der Liebe. Als Offenbarer der Weisheit ist Christus das »Licht der Welt«: er eröffnet den Menschen das Geheimnis ihrer Gotteskindschaft; er lehrt sie, durch Erkenntnis Gottes sich selbst und die Welt verstehen, sammelt die in der Welt zerstreuten Gotteskinder, wie ein Hirte seine Schafe, zu einer einträchtigen und brüderlichen Gemeinschaft um sich und lässt sie in der Nachfolge seiner eigenen Persönlichkeit das »Licht des Lebens« haben, d.h. innerlich erleuchtet und erhoben werden.

Als Offenbarer der Liebe nimmt er nicht bloß menschliche Gestalt und den hiermit verbundenen Verzicht auf seine göttliche Seligkeit auf sich, sondern setzt, als ein »guter Hirte«, sein Leben ein für seine Herde; er errettet sie aus der Macht des Satans, den Schrecken der Finsternis, und opfert sich für die Seinen, um durch diesen höchsten Erweis seiner Liebe zu den Menschen, durch die völlige Hingabe seines Lebens das Leben wiederzugewinnen, dass er wesentlich ist, und zu seiner himmlischen Herrlichkeit zurückzukehren. Und das ist nun der Sinn des Erlösungswerkes Christi, dass die Menschen durch Glaube und Liebe innerlich mit ihm und dadurch zugleich mit Gott vereinigt werden, wodurch alsdann auch sie das »Leben« in erhöhter Geistigkeit gewinnen. Denn mag auch Christus selbst zu Gott zurückkehren: sein Geist bleibt doch auf Erden lebendig. Als der »andere Paraklet« oder Anwalt führt der Geist das Erlösungswerk des Heilands fort, erweckt und stärkt er den Glauben an Christus und die Liebe zu ihm und zu den Brüdern, vermittelt ihnen dadurch das »Leben« und führt auch sie nach ihrem Tode der Seligkeit im Jenseits entgegen.


In alledem ist der Einfluss des Gnostizismus und der philonischen Logoslehre unverkennbar, und es ist sehr wahrscheinlich, dass der Verfasser des vierten Evangeliums durch die zu Ephesus lebendige Erinnerung an den Logos des Ephesiers Heraklit zu seiner Anlehnung an Philo und die von diesem näher ausgeführte Gestalt der hellenistischen Logosphilosophie gelangt ist. Wodurch er sich aber grundsätzlich von Philo und dem Gnostizismus unterscheidet, ist die Behauptung, dass der Logos »Fleisch geworden«, in der Gestalt Jesu von Nazareth auf Erden gewandelt sei und den Tod erlitten habe. Freilich bleibt es mehr bei der Behauptung, als dass es dem Evangelisten gelungen wäre, trotz seiner Verwertung der von den Synoptikern berichteten persönlichen Lebensschicksale Jesu das Bild eines wirklichen Menschen zu zeichnen. Der Gedanke der göttlichen Wesenheit des Heilands ist der seine Darstellung beherrschende. Ihm zuliebe wird das überkommene »geschichtliche Bild« gewaltsam zurechtgestutzt und die Persönlichkeit Jesu so sehr ins Wunderbare, Außergewöhnliche und Übernatürliche gesteigert, dass, wenn wir nur das vierte Evangelium besäßen, wohl schwerlich jemand auf den Gedanken verfallen würde, es handelte sich hier um die Lebensgeschichte eines historischen Individuums. Und doch ist in dieser Beziehung der Unterschied des Johannesevangeliums von den Synoptikern eben nur ein gra du eller. Denn auch der Jesus der Synoptiker ist im Grunde gar kein Mensch, sondern ein »Übermensch«, der Gottmensch, der Kultheros und Heilsvermittler der ursprünglichen christlichen Gemeinde. Und wenn es denn schon feststeht, dass der Streit der kirchlichen Lehrer mit den gnostischen Häretikern sich nicht um die Gottheit Christi, in der man einig war, sondern vielmehr um die Art und den Grad seiner Menschheit drehte, so sollte diese »paradoxe Tatsache« allein schon genügen, um es zu erhärten, dass die Gottheit des Erlösungsmittlers das ursprünglich allein Feststehende und die selbstverständliche Voraussetzung des gesamten christlichen Glaubens, hingegen seine Menschheit schon in jenen frühesten Zeiten zweifelhaft war und nur aus diesem Grunde zu einem Gegenstande der erbittertsten Kämpfe werden konnte.


Eine wirkliche Verschmelzung der mythologischen Persönlichkeit des gnostischen Gottessohnes, der auch in der Gestalt des Logos bei Philo zwischen einem unpersönlichen Geistwesen und allegorischer Persönlichkeit hin und her schwankte, mit der menschlichen Persönlichkeit Jesu hat freilich auch der Verfasser des vierten Evangeliums nicht zustande gebracht. Alle seine Bemühungen, »das Ineinander des Göttlichen und Menschlichen in der Einheit des persönlichen, seinem Grunde (Wesen) nach göttlichen, seiner Erscheinung nach menschlichen Lebens Jesu« begreiflich zu machen, scheitern auch bei dem sog. Johannes daran, dass ein persönlich gedachter Logos niemals zugleich eine menschliche Persönlichkeit und eine menschliche Persönlichkeit, die eine göttliche Persönlichkeit zu ihrem Grund und Wesen hat, von dieser immer nur dämonisch besessen, aber niemals und auf keine Weise diese letztere unmittelbar selbst sein kann. Und so schillert denn auch, wie Pfleiderer sagt, der johanneische Christus durchweg »zwischen erhabener Wahrheit und gespenstischer Unnatur: jenes, sofern er das Ideal des Gottessohnes, also der menschheitlichen Religion, losgelöst von allen Zufälligkeiten und Schranken der Individualität und Nationalität, des Raumes und der Zeit darstellt — dieses aber, sofern er es darstellt unter der mythischen Hülle eines in Menschengestalt über die Erde wandelnden Gottes« (Entstehung d. Chr. 239.).

Es ist wahr: erst diese Verschmelzung des gnostischen Gottsohnes und philonischen Logos mit dem Jesus der Synoptiker hat die nebelhafte Unbestimmtheit der mythologischen Spekulation und Abstraktheit des Gedankens zur anschaulichen Gestalt und lebendigen Individualität des persönlichen Erlösungsmittlers verdichtet. Sie hat diese Persönlichkeit dem Gemüte der Gläubigen näher als irgend eine andere Gestalt des religiösen Glaubens gebracht und damit dem christlichen Kultgotte Jesus in seiner reinen Menschlichkeit, seiner überströmenden Güte und Liebenswürdigkeit ein solches Übergewicht über seine göttlichen Konkurrenten, einen Mithra, Attis usw. verschafft, dass diese neben Jesus zu inhaltsleeren Schemen verblassten. Der gnostische Idealmensch, d. h. die platonische Idee, und das sittliche Ideal des Menschen flossen in ihm unmittelbar in eins zusammen. Das Wunder der Vereinigung von Gott und Mensch, um die sich die antike Welt so heiß und so vergeblich bemüht hatte, schien in Christus seine Verwirklichung gefunden zu haben. Christus war der »Weise« der stoischen Philosophie, in welchem sich für diese alles Edelste im Menschen zusammenfasste; ja, mehr als dies, er war der Gottmensch, wie Seneca ihn um der sittlichen Erhebung der Menschheit willen verkündet und gefordert hatte (Vgl. oben S. 1 f.).

Die Welt war demnach für seinen Grundgedanken so aufnahmefähig und wohl vorbereitet, dass wir leicht begreifen, warum das kirchliche Christentum auf die menschliche Persönlichkeit seines Erlösungsprinzips mit fast noch größerer Entschiedenheit bestand als auf den göttlichen Charakter Jesu. Und dennoch, trotz ihrer Größe und Erhabenheit, trotz aller unermesslichen Bedeutung, welche die Betonung der wahren Menschheit Christi für die Entwicklung des Christentums gehabt hat, bleibt es wahr, dass auf der anderen Seite gerade sie die Quelle aller unlösbaren Widersprüche, aller unüberwindbaren Schwierigkeiten darstellt, an denen die christliche Weltanschauung krankt, dass sie die große neue Idee, die das Christentum in das religiöse Bewusstsein der abendländischen Menschheit eingeführt und wodurch es das Judentum überwunden hat, die Idee der Gottmenschheit, in ihrem Kern verdorben und den Wahrheitsgehalt dieser Religion in so heilloser Weise getrübt, verbogen und entstellt hat, dass es heute nicht mehr möglich ist, ohne Opfer des Intellekts seiner Erlösungslehre zuzustimmen. S. 206-216
Aus: Arthur Drews, Die Christusmythe, Verbesserte und erweiterte Ausgabe/3.bis 5. Tausend/ Verlegt bei Eugen Diederichs Jena 1910