Arthur Drews (1865 – 1935)
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Deutscher
Philosoph, der – beeinflusst von Eduard
von Hartmann – eine pantheistische Metaphysik entwickelte und
die geschichtliche Existenz Jesu verleugnete. In seiner Schrift
»Die Christusmythe« versucht Drews zu beweisen, »dass so ziemlich alle Züge
des historischen Jesusbildes einen rein mystischen Charakter tragen und
keine Veranlassung besteht hinter der >Christusmythe< eine historische
Gestalt zu suchen«. Nicht der »vermeintliche
historische Jesus«, sondern Paulus sei »jene >große Persönlichkeit<,
die das Christentum als eine neue Religion ins Leben gerufen und ihr durch
den spekulativen Hochflug seines Geistes und die Tiefe seiner sittlichen
Empfindungsweise die Kraft mit auf den Weg gegeben, die ihr den Sieg über
die konkurrierenden Religionen verschafft« habe. Ohne Christus sei die Entstehung des Christentums sehr wohl verständlich, ohne
Paulus jedoch nicht. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
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Die Christusmythe
Die
hellenistische Idee des Mittlers bei Philo
Mit der Eroberung des persischen Weltreichs durch Alexander
war auch Palästina in den Kulturbereich des Hellenismus hineingezogen worden.
Es war zunächst Vasall des ptolemäischen Ägyptens gewesen und
sodann zu Anfang des zweiten Jahrhunderts v. Chr. unter die Oberhoheit des seleukidischen
Syriens gekommen. Griechische Sitten und griechisches Geistesleben drangen in
die stille Abgeschlossenheit des jüdischen Priesterstaates ein und konnten
auch durch die nationale Reaktion der Makkabäer gegen die fremden Einflüsse
nicht wieder ausgeschaltet werden. Vor allem aber trug die Zerstreuung der Juden
dazu bei, einen Ausgleich der entgegengesetzten Anschauungen herbeizuführen.
Seit dem Exil hatten sich die Juden über den ganzen Bereich des östlichen
Mittelmeerbeckens ausgebreitet. Ein Teil war in Babylonien geblieben, andere
hatten sich als Gewerbetreibende, Bankiers und Kaufleute besonders in den Hafenstädten
festgesetzt und beherrschten durch ihre emsige Betriebsamkeit, ihre kaufmännische
Geriebenheit und Skrupellosigkeit und ihr zähes Zusammenhalten, worin sie
durch den gemeinsamen Gottesdienst in der Synagoge unterstützt wurden,
den gesamten Geldmarkt und Handel des Ostens. In der Atmosphäre der hellenischen
Philosophie und Sittlichkeit ging auch mit Jahve eine noch weitere Umbildung
und Läuterung vor. Er streifte alle grobmenschlichen und sinnlichen Züge
ab und entwickelte sich zu einem geistigen und schlechthin guten Wesen, wie
Plato die Gottheit beschrieben hatte. Damit aber
sahen sich auch die Juden vor dieselbe Aufgabe gestellt, mit welcher sich die
griechische Philosophie schon seit langem gemüht hatte, nämlich die
überirdische Erhabenheit und beziehungslose Weltjenseitigkeit ihres Gottes
mit den Forderungen des religiösen Bewusstseins in Einklang zu setzen,
das nach unmittelbarer Gegenwart der Gottheit verlangte.
Zu denjenigen Vorstellungen, die vom Judentume der persischen Religion entlehnt
waren, hatte auch diejenige des mittlerischen »Wortes« gehört.
Als schöpferische Kraft der Gottheit, Überbringer der Offenbarung
und Stellvertreter Gottes auf Erden, war das »Wort«
bereits in der Spruchliteratur hervorgetreten. Hier hatte sich dafür
unter ägyptisch-griechischem Einfluss der Ausdruck »Weisheit«
(Sophia) eingebürgert. Die »Weisheit«
hatte zur Bezeichnung der dem Menschen zugewandten Tätigkeit des der Welt
entrückten Gottes gedient, wobei übrigens daran erinnert werden mag,
dass die Weisheit auch nach persischer Vorstellung unter dem Namen der Spenta
Armaiti als eine der sechs oder sieben Amesha Spentas
(Amschaspands) galt, jener Geister, die
als Trabanten dem Throne Gottes am nächsten stehen sollten und die den
jüdischen »Erzengeln« entsprachen.
Sie war von den Persern als die Tochter oder Gemahlin Ahuramazdas angesehen
worden. Jetzt wurde sie in der sog. »Weisheit Salomos«
von einem Juden zu Alexandria im letzten Jahrhundert v. Chr. für ein selbständiges
Geistwesen neben Gott erklärt und im Sinne eines halb persönlichen,
halb stofflichen Wesens, einer die ganze Natur durchwaltenden Kraft als Prinzip
der Offenbarung Gottes in Schöpfung, Erhaltung und Regierung der Welt,
als allgemeines göttliches Lebensprinzip und zugleich als vermittelndes
Organ des religiösen Heils beschrieben. Wie Plato
den Dualismus der Ideenwelt und Sinnenwelt durch die »Weltseele«
hatte überwinden wollen, so sollte die »Weisheit«
dazu dienen, zwischen dem Gegensatze des jüdischen Gottes und seiner Schöpfung
zu vermitteln. Diese Bemühungen setzte der alexandrinische Jude Philo
(30 vor bis 50 n. Chr.) fort, indem er den persisch-jüdischen
Begriff des »Wortes« oder der »Weisheit«
noch näher, als es der Verfasser des Weisheitsbuches bereits getan hatte,
mit den Begriffen des hellenischen philosophischen Denkens zu bestimmen suchte.
Auch Philo ging von dem Gegensatze des über
die Welt schlechthin erhabenen, unerkennbaren und unnennbaren Gottes und des
sinnlichen, geschöpflichen Daseins aus. Er dachte sich diesen Gegensatz
durch »Kräfte« vermittelt, die, als relativ selbständige
Einzelwesen, Sendboten, Diener und Statthalter Gottes, bald mehr den persischen
Engeln oder griechischen Dämonen, bald mehr den platonischen Ideen, den
Ur- und Musterbildern Gottes bei der Schöpfung, glichen, im wesentlichen
aber den Charakter der sog. »Samenkräfte«,
der den unbestimmten Stoff von innen her beseelenden und bestimmenden schöpferischen
Kräfte trugen, vermittels deren die stoische Philosophie das Dasein zu
erklären suchte.
Als erste dieser mittlerischen Kräfte oder auch wohl als den Inbegriff
aller betrachtete Philo den Logos,
die wirksame Vernunft oder das schöpferische Wort der Gottheit. Er nannte
ihn den »erstgeborenen Sohn Gottes« oder
»zweiten Gott«, den Stellvertreter,
Dolmetscher, Gesandten, Erzengel Gottes oder Engelfürst. Er betrachtete
ihn als den Hohenpriester, der Fürbitte für die Welt bei Gott einlegt
und deren Sache vor Gott vertritt, als den Paraklet,
den Anwalt und Tröster der Welt, der ihr die göttlichen Gnadenverheißungen
übermittelt, als das Werkzeug, vermittels dessen Gott die Welt geschaffen
hat, das Urbild, die Idee der Welt, die Gott bei seiner Schöpfung verwirklicht
hat, und die sich in allen Dingen auswirkt, mit einem Worte als die Seele oder
den Geist der Welt, den die Stoiker mit ihrer Gottheit gleichgesetzt hatten,
die aber Philo von der überweltlichen Gottheit
unterschied und als deren Offenbarung und Erscheinung auffasste.
Seinem Wesen nach nur ein Ausdruck für die einheitliche Totalität
aller göttlichen Kräfte und Tätigkeiten überhaupt, schillerte
der Logos auch bei Philo
zwischen einem unpersönlichen metaphysischen Prinzip, der göttlichen
Wirksamkeit schlechthin, und einer selbständigen, von Gott verschiedenen
Persönlichkeit, in derselben Weise, wie auch die Stoiker ihre Weltvernunft
in dem Götterboten Hermes personifiziert, die Ägypter das schöpferische
Zauberwort des Amun-Ra im Seelenführer
Thot, die Babylonier das Schicksalswort des höchsten Gottes Marduk
in der Gestalt des Nabu, die Perser das »Wort«
des Ahuramazda außer in der
Spenta Armaiti auch im Vohu mano, dem guten Gedanken des Schöpfergottes,
zu einem selbständigen persönlichen Mittlerwesen erhoben hatten. Und
wie nach persischer Vorstellung bald der göttliche
»Sohn« und »Mittler« Mithra,
der Inbegriff aller göttlichen Kräfte, bald der ideale Mensch Saoshyant
als Heiland und Retter der Welt erschien und beide zu einer einzigen Gestalt
zusammenflossen, so schilderte auch Philo den Logos
jetzt als den Inbegriff aller schöpferischen Ideen überhaupt, jetzt
wieder nur als die bloße Idee des Menschen, als den Idealmenschen, als
unmittelbares göttliches Ebenbild und übersinnliches Urbild des abbildlichen
sinnlichen Menschen, der in diesem als Subjekt aller religiösen Erlösung
wirksam ist, ja, identifizierte ihn gelegentlich auch wohl mit dem Lebensbaum
im Paradiese, da beide unvergänglich seien und »in
der Mitte stehen«.
Aus eigener Kraft nämlich ist der Mensch nach Philo
außerstande, sich aus den Banden des irdischen Daseins frei zu machen.
Alle Erlösung beruht auf der Zurückziehung des Geistes vom Leibe und
seiner sinnlichen Begehrlichkeit. Seiner wahren geistigen Natur gemäß,
Gott gleich, vollkommen zu werden, wie er, das ist die höchste Tugend und
zugleich die wahre Glückseligkeit, und diese wird erlangt durch Einsicht
in die göttliche Wesenheit der Dinge, durch herzliches Vertrauen auf Gott,
dankbare Anerkennung des von ihm gewährten Guten und Liebe sowohl in Gestalt
der Frömmigkeit gegen Gott wie als Hilfsbereitschaft und Gerechtigkeit
den andern Menschen gegenüber. Allein hierzu muss der Logos selbst in uns
lebendig werden und uns die Einsicht in unsere göttliche Wesenheit erschließen.
Der Logos muss uns leiten, er muss mit seiner übernatürlichen
Kraft unserer menschlichen Schwäche im Kampfe gegen die Welt und ihre Sünde
zu Hilfe kommen und uns zu Gott emporziehen. So ist die »Vergottung«
des Menschen das Ziel, das von aller religiösen Betätigung angestrebt
wird. Der Logos aber ist der alleinige Mittler
dieses Zieles, sofern wir durch die Vereinigung mit ihm im Glauben und der Liebe
zu unserem wahren Urquell und Lebensquell erhoben werden,
»Gott schauen« und dadurch an dessen Leben teilnehmen.
S. 13-17
Aus: Arthur Drews, Die Christusmythe, Verbesserte und erweiterte Ausgabe/3.bis
5. Tausend/ Verlegt bei Eugen Diederichs Jena 1910
Der
paulinische Jesus
Der Jesusglaube bestand
schon lange bei zahlreichen mandäischen Sekten Vorderasiens, die sich voneinander
vielfach unterschieden, ehe dieser Glaube in der Jesusreligion
feste Gestalt gewann und seine Anhänger sich ihrer religiösen
Eigenart und Sonderstellung gegenüber der offiziellen jüdischen Religion
bewusst wurden. Das erste Zeugnis für ein solches Bewusstsein und zugleich
der erste geniale Entwurf einer aus Jesus als Zentralbegriff entwickelten neuen
Religion liegt in den Briefen des tarsischen Zeltwebers und Wanderapostels Paulus
vor.
Von den unter seinem Namen uns überlieferten Briefen
ist der Hebräerbrief ganz sicher nicht von Paulus.
Aber auch der zweite Thessalonicherbrief, der Brief an die Epheser sowie die
sog. Pastoralbriefe (an Timotheus, Titus und Philemon)
gelten der überwiegenden Mehrzahl der Theologen als untergeschoben,
und ebenso unterliegt die Echtheit des Kolosser- und Philipperbriefes gewichtigen
Bedenken. Um so entschiedener hält die moderne kritische Theologie bei
den vier großen Lehrbriefen, dem Galaterbrief, den beiden Korintherbriefen
und dem Römerbriefe, an der Autorschaft des Paulus fest und pflegt alle
Zweifel diesen Briefen gegenüber als eine »schwere
Verirrung« der historischen Hyperkritik abzuweisen.
(W. Wrede: Paulus, Religionsgesch. Volksb., 3.).
Dem gegenüber ist die Echtheit auch dieser Briefe
außer von Bruno Bauer*
besonders von holländischen Theologen, einem Pierson,
Loman, van Manen, Meyboom, Matthes u. a., angefochten worden, und neuerdings
haben auch der Berner Theologe R. Steck** und B.
W. Smith, Professor der Mathematik an der Tulane University zu New Orleans,
denen sich der verstorbene Bremer Pastor Albert Kalthoff
zugesellt hat, die Tradition mit bemerkenswerten Einwänden bekämpft
und die Briefe des Paulus als das literarische Erzeugnis, das Werk einer ganzen
Schule von Theologen des zweiten Jahrhunderts zu erweisen unternommen, deren
Verfasser entweder gleichzeitig oder nacheinander für die werdende Kirche
geschrieben haben.
* Kritik der Apostelgeschichte 1850
und Kritik der paulinischen Briefe 1852.
**Der Galaterbrief nach seiner Echtheit untersucht nebst krit. Bemerkungen zu
den vier paulinischen Hauptbriefen 1888.
So viel ist sicher: ein zwingender
Beweis dafür, dass Paulus wirklich der Verfasser
der auf seinen Namen lautenden Briefe sei, kann nicht geliefert werden. Verdächtig
muss es in dieser Beziehung immer bleiben, dass Lukas,
der Begleiter des Paulus auf seinen Missionsreisen,
sich über jede Art literarischer Betätigung des Apostels ausschweigt,
und das, obschon er den größten Teil seiner Darstellung in der Apostelgeschichte
der Wirksamkeit des Paulus gewidmet hat.***
***Freilich ist und bleibt die Apostelgeschichte
trotz aller modernen Rettungsversuche (Harnack)
auch sonst ein sehr unzuverlässiges geschichtliches Dokument, und was sie
uns aus dem Leben des Paulus mitteilt, ist zum
großen Teile reine Dichtung. Man braucht nicht so weit zu gehen, wie Jensen,
der die Existenz eines historischen Paulus überhaupt bestreitet (Moses,
Jesus, Paulus. Die Sagenvarianten des babylonischen
Gottmenschen Gilgamesch 2. Aufl. 1909), und wird sich doch der Einsicht nicht
verschließen können, dass das Bild des Paulus,
wie dies schon Bruno Bauer erkannt hat, ein jedenfalls
stark überarbeitetes und in vieler Hinsicht nur eine Kopie des Originales
darstellt, welches ihm in der Gestalt des »Apostelfürsten«
Petrus voranschreitet (vgl. über den Geschichtswert
der Apg. auch E. Zeller: Die Apg. nach ihrem Inhalt und Ursprung kritisch untersucht
1854)
Auch der von Smith
gelieferte Nachweis, dass die paulinaschen Briefe während des ersten
christlichen Jahrhunderts überhaupt noch nicht bekannt waren, dass insbesondere
die Existenz des Römerbriefes nicht vor der Mitte des zweiten Jahrhunderts
anderweitig bezeugt ist, muss gegen die Autorschaft des Paulus
bedenklich stimmen und spricht dafür, dass jene Briefe nicht als primäre
Quellen der paulinaschen Lehre gelten können. Davon kann jedenfalls gar
keine Rede sein, dass die kritische Theologie des vergangenen Jahrhunderts die
Echtheit des größten Teiles der paulinaschen Literatur »unzweifelhaft
wissenschaftlich festgestellt« habe.*
* Vgl. H. Jordan: Jesus und die modernen
Jesusbilder. Bibel. Zeit- u. Streitfragen 1909, 36.
Bekanntlich kannte das gesamte
Altertum den Begriff des literarischen Eigentums in unserem Sinne überhaupt
noch nicht. Zahlreiche Schriften liefen damals unter berühmten Namen um,
deren Verfasser weder zeitlich noch gedanklich irgend etwas mit den Trägern
jener Namen zu tun hatten. Wie viele Schriften waren nicht z. B. unter den Sektenmitgliedern
des Altertums verbreitet, die auf den Namen des Orpheus,
des Pythagoras, des Zoroaster
usw. lauteten und dadurch ihrem Inhalte kanonische Geltung zu verschaffen suchten!
Von den Schriften des Alten Testamentes hängen weder die Psalmen, noch
die Sprüche, noch der sog. Prediger, noch das Buch der Weisheit mit den
historischen Königen David und Salomo
zusammen, deren Namen sie an der Spitze tragen, und der Prophet Daniel
ist eine ebenso erfundene Persönlichkeit wie der
Henoch und der Esra der unter ihren Namen
gehenden Apokalypsen. Ja, auch die sog. fünf Bücher Mose
sind das literarische Erzeugnis einer viel späteren Zeit als derjenigen,
in welcher Moses gelebt haben soll, während Josua
der Name eines altisraelitischen Gottes ist, nach welchem das bezügliche
Buch benannt ist.**
**»Schriftsteller zu erdichten,
die keinen Buchstaben geschrieben haben, ganze Reihen von Büchern unterzuschieben,
das Neueste in ein graues Altertum zurückzudatieren, die bekannten Philosophen
Ansichten aussprechen zu lassen, die ihrer wirklichen Meinung schnurstracks
zuwiderlaufen: diese und ähnliche Dinge sind gerade in den letzten vorchristlichen
und den ersten christlichen Jahrhunderten ganz gewöhnlich. Um den Verfasser
einer Schrift machte man sich eben damals wenig Sorge, wenn nur ihr Inhalt dem
Geschmack und Bedürfnis der Zeit zusagte« (E. Zeller: Vorträge
u. Abhdlg. 1865, 298 f.). »Es war damals eine beliebte Stilübung,
Briefe berühmter Männer zu schreiben. Dem Tyrannen Phalaris, der im
6. Jahrh. v. Chr. Agrigent beherrschte, wird eine Sammlung von nicht weniger
als 148 Briefen zugeschrieben. Beyschlag
hat nachgewiesen, dass sie im Zeitalter der Antonine ihm untergeschoben sind.
Ebenso sind unecht die dem Plato, dem Euripides
und andern zugeschriebenen Briefe. Es wäre ein wahres Wunder, wenn diese
Sitte der Zeit nicht auch auf die werdende christliche Literatur Einfluss gewonnen
hätte, denn gerade auf religiösem Gebiet macht sich solche Unterschiebung
am leichtesten, da es hier nicht darauf ankommt, eigene Gedanken zu produzieren,
sondern Organ des im Einzelnen wirkenden religiösen Gesamtgeistes zu werden
(Steck: a. a. O.384 f.; vgl. auch Holtzmann: Einl, in das N. T. 2 Aufl. 223
ff.).
Einen Moses, wie er im Alten
Testament geschildert wird, hat es überhaupt niemals gegeben. Die Möglichkeit,
dass die sog. Briefe Pauli ein Werk späterer Theologen und nur zur Erhöhung
ihres Ansehens in den Gemeinden auf den Namen des Heidenapostels Paulus
getauft worden seien, ist somit durchaus nicht ausgeschlossen, zumal wenn man
bedenkt, wie üppig in den ersten Jahrhunderten die literarische Fälschung
und »fromme Lüge« auch sonst im Interesse der christlichen
Kirche geblüht haben. Hat man sich doch damals sogar nicht gescheut, wie
aus christlichen Schriften des zweiten Jahrhunderts hervorgeht, selbst den Text
des Alten Testamentes zu verändern und ihn dadurch, wie man sich auszudrücken
beliebte, zu »erläutern«. Schon der Gnostiker Marcion
hat in der Mitte des zweiten Jahrhunderts der Kirche — ob wirklich mit
Unrecht? — vorgeworfen, dass sie die Paulusbriefe überhaupt nur in
einer Bearbeitung besitze, und er selbst hat es unternommen, durch Ausschaltung
und Ergänzung den richtigen Text wiederherzustellen.*
* E. Vischer: Die Paulusbriefe, Rel.
Volksb. 1904, 69f.
Aber lassen wir die Frage nach
der Echtheit der paulinaschen Briefe ganz beiseite, über die wohl niemals
volle Einigung erzielt werden wird aus dem einfachen Grunde, weil uns alle sicheren
Anhaltspunkte zur Entscheidung dieser Frage fehlen. Sehen wir stattdessen lieber
zu, was wir aus ihnen über den historischen Jesus
erfahren!
Da stoßen wir zunächst auf die durch Paulus
selbst bezeugte Tatsache, dass der Heiland sich ihm persönlich offenbart
und ihn dadurch dazu veranlasst habe, in seinen Dienst zu treten
(Gal. 1, 12). Es war, wie die Apostelgeschichte berichtet, eine
Lichterscheinung, die ihn plötzlich auf dem
Wege nach Damaskus von oben her umleuchtete, während eine Stimme ihm zurief,
von seiner bisherigen Verfolgung der Messiasgemeinde abzulassen, und sich ihm
als diejenige Jesu zu erkennen gab. Man braucht an der Tatsache selbst nicht
zu zweifeln, aber in ihr einen Beweis für den historischen Jesus zu erblicken,
das bleibt jenen Theologen vorbehalten, die den schönen Begriff einer »objektiven
Vision« erfunden haben, um durch das Wüstenerlebnis des
Paulus die objektive Realität der bezüglichen Erscheinung zu
begründen. Handelt es sich hierbei doch offenbar nur um ein »inneres
Gesicht«, das der »Visionär«
und »Epileptiker« Paulus
in einer entscheidenden Stunde seines Lebens gehabt hat und das von ihm auf
Jesus gedeutet wurde, und darum beweist es auch für die Existenz eines
historischen Jesus nichts, wenn er 1. Kor. 9, 1
fragt: »Habe ich nicht unsern Herrn Jesus gesehen?«
und 1. Kor. 15, 9 bemerkt:
»Zuletzt von allen ist er auch mir erschienen«.
Nicht anders steht es mit dem Hinweis des Paulus auf
diejenigen, die gleich ihm den Heiland nach seinem Tode gesehen haben sollen
(1 Kor. 15, 5ff.) Es ist möglich, dass die Betreffenden etwas,
dass sie einen Jesus, den »Auferstandenen«
in himmlischer Verklärung gesehen haben; dass aber dieser der Jesus
der sog. historischen Theologie gewesen sei und hiermit dessen Existenz bewiesen
werde, das werden deren Vertreter wohl selbst nicht behaupten wollen, da nach
ihrer Ansicht der historische Jesus ja gar nicht
auferstanden sein, sondern es sich auch in diesem Falle nur um eine rein subjektive
Erscheinung der ekstatisch erregten Jünger handeln soll. Übrigens
gibt sich die betreffende Stelle des Korintherbriefes deutlich als eine zum
mindesten stark interpolierte, wenn nicht geradezu als ein nachträgliches
Einschiebsel zu erkennen. So soll der Auferstandene u. a. von
»mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal« gesehen
worden sein. Davon wissen jedoch die sämtlichen Evangelien nichts, und
auch »die Zwölf«, die nach
15, 5 das Gesicht gehabt haben sollen, unterliegen dem dringenden
Verdachte, erst viel später in den Text hineingelangt zu sein.*
* Vgl. W. Seufert: Der Ursprung und
die Bedeutung des Apostolates in der christlichen Kirche der ersten Jahrhunderte
1887, 46, 157.
Paulus selbst hat niemals ein
Hehl daraus gemacht, dass er Jesus nicht mit leiblichen Augen, sondern rein
mit den Augen des Geistes, als innerliche Offenbarung geschaut hat. »Es
hat Gott gefallen,« sagt er Gal. 1, 16,
»seinen Sohn in mir zu offenbaren.«
Er gesteht, dass das von ihm gepredigte Evangelium »nicht
menschlich« sei, dass er es von keinem Menschen empfangen noch
gelernt, sondern direkt vom himmlischen Christus
und dem Heiligen Geiste inspiriert erhalten habe.
(Gal. 1, 11 und 12; 1. Kor. 2, 10; II. Kor. 4, 6.)
Er scheint auch gar kein Interesse
daran gehabt zu haben, sich über die Persönlichkeit Jesu, über
dessen Schicksale und Lehre genauer zu unterrichten. Denn als er drei Jahre
nach seiner Bekehrung zuerst wieder nach Jerusalem kommt, besucht er während
der vierzehn Tage seines dortigen Aufenthaltes nur den
Petrus und macht die Bekanntschaft des Jakobus,
kümmert sich aber um keinen der anderen Apostel (Gal.
1, 17—19.). Als er aber vierzehn Jahre später wieder
zum sog. Apostelkonzil in Jerusalem mit den »Uraposteln«
zusammentrifft, da tut er es nicht, um von diesen zu lernen, sondern
um sie seinerseits zu belehren und sich von ihnen die Anerkennung seiner inzwischen
geleisteten Missionstätigkeit zu verschaffen, und er selbst berichtet,
dass er sich mit ihnen nur über die Art der Verkündigung des Evangeliums,
aber nicht über dessen religiösen Inhalt und die Persönlichkeit
des historischen Jesus besprochen habe (Gal.
2, 1ff.).
Nun wird allerdings jener Jakobus, dessen Bekanntschaft Paulus in Jerusalem
gemacht haben will, von ihm als der »Bruder des Herrn« bezeichnet
(Gal. 1, 19), und hieraus scheint hervorzugehen,
dass Jesus eine historische Persönlichkeit gewesen sein muss. Indessen
ist der Ausdruck »Bruder« auch in diesem Falle, wie so oft in den
Evangelien (Matth. 28, 10; Mark. 3, 33ff.; Joh. 20,
17), möglicherweise nur ein Gesamtausdruck zur Bezeichnung
der Anhänger Jesu, wie denn auch sonst die Mitglieder einer religiösen
Kultgenossenschaft im Altertum sich untereinander »Brüder«
und »Schwestern« nannten. 1. Kor. 9, 15
heißt es: »Haben wir (nämlich
Paulus und Barnabas)
nicht auch Macht, eine Schwester zum Weibe mit umherzuführen, wie die andern
Apostel und des Herrn Brüder und Kephas?«
Da ist es deutlich, dass es sich bei jenem Ausdruck durchaus nicht notwendigerweise
um leibliche Verwandtschaft zu handeln braucht, sondern »Bruder«
eben nur zur Bezeichnung der Anhänger der Jesussekte dient. Hieronymus
dürfte sonach durchaus das Richtige getroffen haben, wenn er,
Gal. 1, 19 kommentierend, schreibt: »Jakobus
hieß der Bruder des Herrn wegen seines großen Charakters (wovon
freilich die paulinischen Briefe das Gegenteil zeigen), seines unvergleichlichen
Glaubens und seiner außergewöhnlichen Weisheit«. Die
andern Apostel werden zwar auch Brüder genannt, aber er heißt vorzüglich
so, da ihm der Herr bei seinem Scheiden die Söhne seiner Mutter
(d. h. die Glieder der Gemeinde zu Jerusalem) anvertraut hatte.*
*
Ähnlich auch Origenes: Contra Celsum 1 35.
Vgl. Smith: a.a. O. 18f.
Und wie sollte denn auch Paulus
mit einem leiblichen Bruder desjenigen Jesus zusammengetroffen
sein, von welchem er, wie sich zeigen wird, im Übrigen nur Mythisches zu
berichten weiß. Die Sache ist, schon rein psychologisch angesehen, so
unwahrscheinlich, dass aus dem Ausspruch über Jakobus als den
»Bruder des Herrn« ein Schluss auf die historische Existenz
Jesu jedenfalls nicht gezogen werden kann, zumal vom zweiten Jahrhundert an
bis heute die Theologen sich über das wahre Verwandtschaftsverhältnis
des Jakobus zu Jesus nicht
zu einigen vermocht haben.*
*Vgl. hierüber Sieffert in Realenzyklop.
f. prot. Theol. und Kirche unter »Jakobus«.
Esr. 3,2 und 9 ist auch von »Brüdern« des Hohenpriesters Josua
die Rede, womit nur die ihm unterstellten Priester gemeint zu sein scheinen,
und bei Justin (Dial. c. Tryph. 106) heißen
die sämtlichen Apostel »Jesu Brüder«.
Erwägt man übrigens,
wie in antipaulinischen Kreisen des zweiten Jahrhunderts die Verherrlichung
des Jakobus in Mode kam und es üblich wurde,
das Haupt der Judenchristen zu Jerusalem möglichst nahe an Jesus selbst
heranzurücken (z. B. bei Hegesipp, in den angeblichen
Briefen des Clemens, im Evangelium der Nazarener usw.), so drängt
sich der Verdacht auf, die paulinische Redewendung von Jakobus »dem Bruder
des Herrn« sei vielleicht nur ein nachträglicher Zusatz im Galaterbriefe,
um dadurch die leibliche Verwandtschaft zwischen Jakobus
und Jesus durch Paulus
selbst bestätigt sein zu lassen. Die Eltern Jesu sind keine historischen
Persönlichkeiten (s. o. 75ff.); also wird
es wohl mit seinen Geschwistern nicht anders sein. Und so beruft sich Paulus
denn auch nirgends auf das Zeugnis des Bruders oder der Jünger Jesu über
ihren Meister, wie dieses doch so nahe gelegen haben würde, falls jene
wirklich etwas mehr von Jesus gewusst hätten
als er selbst. »Er gründet«; wie
Kalthoff mit Recht hervorhebt, »nie
und nirgends seinen einschneidendsten polemischen Gedanken gegen die Gesetzeseiferer
darauf, dass er den historischen Jesus auf seiner Seite habe, er gibt seine
ausführlichen theologischen Darstellungen, ohne einen historischen Jesus
zu erwähnen, er gibt ein Evangelium von Christus, nicht das Evangelium,
das er von einem menschlichen Individuum Jesus aus erster, zweiter oder dritter
Hand gehört hat.«*
* A. Kalthoff: Was wissen wir von
Jesus? Eine Abrechnung mit Prof. D. Bousset 1904, 17.
Von Paulus
ist daher auch nichts Näheres über den historischen Jesus zu erfahren.
Zwar bezieht sich der Apostel gelegentlich auf Worte und Bestimmungen des »Herrn«,
wie hinsichtlich des Verbotes der Ehescheidung (1.
Kor. 7, 10), des Rechtes der Apostel, sich von den Gemeinden beköstigen
zu lassen (1. Kor. 9, 14), allein ohne
damit ausdrücklich auf ein historisches Individuum namens Jesus
abzuzielen, unter Vermeidung des genaueren Wortlauts und so dass man
die Überzeugung gewinnt, es hierbei mit bloßen Gemeinderegeln zu
tun zu haben, wie solche auch sonst in den religiösen Vereinigungen als
»Worte des Herrn«, d.h. des Schutzpatrons und Genius der Gemeinde,
im Umlauf waren und kanonische Bedeutung hatten (vgl.
das »autós épha: er
selbst, nämlich der Meister, hat es gesagt«, der Pythagoreer).
Nur einmal, 1. Kor. 11, 23—25, spielt
Paulus, wie es scheint, auf ein Erlebnis des »historischen«
Jesus an: »Der Herr Jesus, in der Nacht,
da er verraten ward, nahm das Brot« usw. (1.
Kor.11, 23) — Leider haben wir es nur hier mit einem offenbar
späteren Einschiebsel zu tun. Denn nicht nur setzt die Stelle die Worte
der Abendmahlseinsetzung bei Lukas voraus, die doch erst viel später geschrieben
sein sollen, sie gibt sich auch schon durch ihre gewaltsame und sinnstörende
Zerreißung des paulinischen Gedankenganges als eine nachträgliche
Zutat zum Grundtexte zu erkennen, und dies zwar vielleicht von derselben Hand,
die auch die angeführte Stelle über die Erscheinungen des Auferstandenen
(1. Kor. 15.) in den ursprünglichen Text hineinkorrigiert
hat, wie dies aus dem Hinweis des Paulus an beiden
Stellen darauf erhellt, dass er die bezüglichen Tatsachen selbst von anderswoher,
nämlich »vom Herrn« oder von der
»Schrift«, empfangen habe.
Alle Äußerungen über
Jesus, die sich bei Paulus
finden, sind demnach für die Annahme einer geschichtlichen Persönlichkeit
jenes Namens belanglos. Die von ihm angeführten sog. »Herrnworte«
beziehen sich auf ganz nebensächliche Punkte der Lehre Jesu. Über
dasjenige hingegen, worin die moderne kritische Theologie die eigentliche Größe
und Bedeutung dieser Lehre findet, also z. B. über das Vertrauen Jesu
in die göttliche Vatergüte, sein Gebot der Nächstenliebe
als Erfüllung des Gesetzes, seine Predigt der Sanftmut und Barmherzigkeit,
seine Warnung vor der Überschätzung der weltlichen Güter usw.,
schweigt Paulus sich ebenso aus, wie über
die Persönlichkeit Jesu, seine sittliche Hoheit und Frömmigkeit, sein
Gottvertrauen, seine Wirksamkeit in seinem Volke. Paulus hat sich nicht die
geringste Mühe gegeben, den Heiland seinen Lesern menschlich näher
zu bringen. Er scheint von einer Wundertätigkeit Jesu nichts zu wissen.
Er erwähnt nichts von dessen Mitleid mit den Armen oder Bedrückten,
obwohl doch gerade dies vorzüglich geeignet gewesen wäre, seinem Jesus
die Herzen der Menschen zuzuwenden und auf die wundersüchtige Menge Eindruck
zu machen. Ja, alle jene sittlich-religiösen Vorschriften und Ermahnungen
Jesu werden von Paulus weder dazu verwendet, als
Werbemittel für jenen zu dienen, noch überhaupt dazu benutzt, dessen
»Einzigartigkeit« gegenüber seinen
prophetischen Vorgängern ins rechte Licht zu setzen, wie dies in der heutigen
christlichen Literatur der Fall ist. »Also gerade
diejenigen Gedanken, welche die protestantische Theologie als die eigentliche
Domäne ihres historischen Jesus in Anspruch nimmt, erscheinen in der Epistelliteratur
unabhängig von diesem Jesus, als eigene sittliche Ergüsse des apostolischen
Gewissens, während christliche Gesellschaftsregeln, welche dieselbe Theologie
als von der Geschichte überwunden betrachtet, direkt als Herrnregeln eingeführt
werden. Der Christus der paulinaschen Briefe kann deshalb vielmehr als eine
Instanz gegen die kritische Theologie angerufen werden, als dass er einen Beweis
für den historischen Jesus im Sinne dieser Theologie abgäbe.«*
*Kalthoff: Die Entstehung des Christentums
1904, 15.
Selbst ein so eifriger Verfechter
dieser Theologie, wie Wernle, muss zugeben: »Wir
erfahren von Paulus am allerwenigsten über
Person und Leben Jesu. Wären alle
seine Briefe verloren, wir wüssten von Jesus nicht viel weniger als jetzt.**
**P. Wernle: Die Quellen des Lebens
Jesu, Religionsgesch. Volksbücher 2. Aufl., 4.
Allerdings tröstet sich derselbe
Autor dann gleich hinterher damit, in gewissem Sinne gäbe uns Paulus
doch mehr als die genauesten reichhaltigsten Protokolle zu geben vermöchten.
»Wir erfahren von ihm, dass ein Mensch (?) Jesus
trotz seines Kreuzestodes imstande war, über seinen Tod hinaus eine solche
Kraft zu entfalten, dass ein Paulus sich von ihm bezwungen, erlöst, beseligt
wusste derart, dass er sein eigenes Leben und die ganze Welt in zwei Teile zerriss:
ohne Jesus —
mit Jesus. Eine
Tatsache, die, wir mögen sie erklären, wie wir wollen, rein als Tatsache
unser Staunen hervorruft (!) und uns nötigt, von Jesus unter allen Umständen
groß zu denken«. Was unser Staunen hervorruft, ist diese
Art von historischer »Beweisführung«.
Denn wie eigentümlich doch, aus dem Schweigen eines Autors, wie des Paulus,
über den historischen Jesus ein Argument
für dessen Bedeutung herauszulesen! Als ob es nicht eher die Belanglosigkeit
einer solchen Persönlichkeit für die Entstehung des Christentums bewiese!
Als ob der Umstand, dass Paulus auf den Christusglauben
ein religiös-metaphysisches Gedankengebäude von zweifelloser Großartigkeit
errichtet hat, notwendig auf den »alles überwältigenden
Eindruck der Person Jesu« zurückgeführt
werden müsste, desselben Jesus, den Paulus
gar nicht persönlich gekannt hat, dessen Jüngern, die jahrelang mit
Jesus verkehrt haben sollen, er geflissentlich
aus dem Wege gegangen ist, und von dessen Existenz sich keinerlei Spuren in
seinen Briefen nachweisen lassen, die nicht auch ganz anders gedeutet werden
könnten! Oder sollte Paulus, wie die historische
Theologie es hinstellt, in der mündlichen Predigt mehr von Jesus offenbart
haben, als wie dies in den Briefen der Fall ist? Aber das könnte doch höchstens
nur behauptet werden, wenn schon vorher feststünde, dass
Paulus bei seinen Darlegungen überhaupt einen historischen Jesus
im Auge gehabt hat.
Die Sache erscheint völlig
rätselhaft. Im Mittelpunkte der paulinaschen Anschauung steht die »Menschheit«
Jesu. Und doch ist der Jesus, wie ihn Paulus
schildert, gar kein Mensch, sondern eine rein göttliche Persönlichkeit,
ein himmlisches Geistwesen ohne Fleisch und Blut, ein völlig individualitätsloser
übermenschlicher Schemen. Er ist der in Paulus
offenbar gewordene »Sohn
Gottes«, der Messias, wie die jüdische Apokalyptik ihn verkündigte,
der präexistestente »Menschensohn« des
Daniel und seiner Geistesverwandten, der geistliche
»Idealmensch«, wie er in den Köpfen der von platonischen
Ideen beeinflussten Juden spukte, den auch Philo
als metaphysisches Urbild des gewöhnlichen sinnlichen Menschen gekannt
und in 1. Moses 1, 27 angedeutet gefunden
haben wollte. Er ist der »große Mensch« der indischen Legende,
der auch in Buddha und anderen Erlösergestalten
erschienen sein sollte, der Purusha der vedischen
Brahmanen, der Mandâ de hajjê und Hibil
Ziwâ der von indischen Ideen beeinflussten mandäischen Religion,
der Sektengott des synkretistischen Judentums. Die Kenntnis, die Paulus
von diesem Wesen hat, ist daher auch nicht ein gewöhnliches Erfahrungswissen,
sondern Gnosis, unmittelbares
Wissen, »Weisheit« des »Inspirierten«,
und alle seine Aussagen, die er hierüber macht, fallen in das Gebiet der
Theosophie, der
religiösen Spekulation oder Metaphysik, nicht aber in die Geschichte hinein.
Der Glaube an einen solchen Jesus aber war, wie
gesagt, schon lange das Eigentum jüdischer Sekten, als Paulus
auf Grund erschütternder persönlicher Erfahrungen dazu gelangte, ihn
aus der Verborgenheit des Kultgeheimnisses ans Licht zuziehen und in den Mittelpunkt
einer neuen, vom Judentum verschiedenen Religion zu stellen.
»Die Herzen glaubten schon
an einen göttlichen Offenbarer, ein göttlich-menschliches Tun, an
eine Versicherung durch Sakramente.« Bei
den heidnischen Nachbarvölkern bestand schon längst, in jüdischen
Kreisen mindestens seit den Tagen der Propheten der Glaube an einen Mittlergott,
einen göttlichen »Sohn«, einen
»Erstgebornen aller Schöpfung«, in dem alles, was besteht,
geworden ist, der auf die Erde hernieder steigt, sich in menschlicher Gestalt
erniedrigt, für die Menschheit einen schmachvollen Tod erleidet, aber herrlich
wieder aufersteht und in seiner eigenen Erhöhung und Verklärung die
ganze Erde zugleich mit erneuert und vergeistigt. Da trat Paulus
auf in einer Zeit, die, wie keine andere, von Sehnsucht nach Erlösung durchdrungen,
die unter dem Drucke trauriger äußerer Verhältnisse von Dämonenfurcht
besessen, von der Angst vor dem nahen Weltende durchschauert, die erwartungsvoll
auf dies Ereignis hin gespannt war und den Glauben an die erlösende Kraft
der bisherigen Religion verloren hatte, da gab er jenem Glauben einen Ausdruck,
der ihn als den einzigen Ausweg aus der Verworrenheit des gegenwärtigen
Daseins erscheinen ließ — sollte es wirklich der Annahme eines historischen
Jesus im Sinne der traditionellen Auffassung
bedürfen, um zu erklären, dass die Herzen dieser neuen Religion des
Paulus im Sturme zuflogen? Ja, ist es auch nur
wahrscheinlich, dass die intelligente Bevölkerung der kleinasiatischen
und griechischen Hafenstädte, in denen Paulus
das Evangelium von Jesus vorzugsweise predigte,
sich dem Christentume deshalb sollten zugewendet haben, weil irgendwann einmal,
vor zehn oder zwanzig Jahren, in Galiläa oder Jerusalem ein Wanderprediger
namens Jesus durch sein persönliches Auftreten und seine Lehre auf ungebildete
Fischer und Handwerker einen »überwältigenden« Eindruck
ausgeübt haben und von ihnen für den erwarteten Messias, für
den allbekannten göttlichen Mittler und Welterlöser gehalten sein
sollte? Aber Paulus predigte ja gar nicht den Menschen
Jesus, sondern eben das himmlische Geistwesen Christus.*
*»Nicht der Lehrer, nicht der
Wundertäter, nicht der Freund der Zöllner und Sünder, nicht der
Kämpfer gegen die Pharisäer ist für Paulus das Bedeutsame. Der
gekreuzigte und auferstandene Sohn Gottes ist es allein.« Wernle: a. a.
O. 5.
Das Publikum, an das sich Paulus
wandte, bestand zum größten Teil aus Heiden; für diese aber
schloss die Annahme eines metaphysischen Geistwesens keine Schwierigkeiten in
sich ein. Es konnte durch den Hinweis auf den Menschen
Jesus keine Verstärkung seines Glaubens,
keinen Beweis für dessen Wahrheit erhalten. Wenn die Christen unseres eigenen
historisch orientierten Zeitalters zum Glauben an den Gott Christus
nur durch den Menschen Jesus gelangen können;
Paulus würde die Aufmerksamkeit von dem, worauf es ihm einzig und
allein ankam, abgelenkt, er würde den eigentlichen Sinn seines Evangeliums
verdunkelt und seine ganze religiöse Spekulation in eine schiefe Stellung
gebracht haben, wenn er dem Gottmenschen
Jesus, wie er ihn verstand, einen Menschen Jesus untergeschoben haben würde.*
* »Der geschichtliche Christus
etwa im Sinne der Ritschl‘schen Schule
wäre für Paulus ein Nonsens gewesen.
Die paulinische Theologie hat es vielmehr mit den Erlebnissen eines Himmelswesens
zu tun, die für die Menschheit eine außerordentliche Bedeutung haben
und noch haben sollen« (M. Bruckner: Die Entstehung der paulinaschen Christologie
1903, 12.) Auch für Brückner steht es
fest »dass das Erdenleben Jesu für den Apostel
Paulus gar kein Interesse hatte« (a. a.O.46).
»Paulus hat sich um das Erdenleben Jesu nicht bekümmert, und was
er davon hier und da erfahren haben mag, ist ihm mit wenigen Ausnahmen (welchen?)
gleichgültig geblieben“ (42). Auch Brückner zeigt, dass
die Stellen, die man als das Gegenteil hiervon etwa anzuführen pflegt,
für eine nähere Bekanntschaft des Paulus mit dem Erdenleben Jesu nichts
beweisen (41 ff.). Er beansprucht, in seinem Werke den »geschichtlichen
Beweis dafür geliefert zu haben, dass die christliche Religion in ihrem
Kerne unabhängig von ,zufälligen Geschichtswahrheiten‘ ist«.
(Vorw.). Und trotzdem kommt auch er, als Theologe, von der Annahme eines historischen
Jesus gerade auch im Hinblick auf Paulus nicht los, obschon er doch auch nicht
imstande ist, anzugeben, wo und inwiefern denn nun eigentlich der historische
Jesus auf Paulus entscheidend eingewirkt hat.
— Paulus
soll als Sohn jüdischer Eltern in der griechischen Stadt Tarsus in Cilicien
geboren sein. Tarsus war damals neben Alexandria ein Hauptsitz der hellenistischen
Bildung. Hier blühte die jüngere stoische Schule mit ihrer Mischung
altstoischer, orphischer und platonischer Gedanken. Hier wurden die ethischen
Grundsätze jener Schule in populärer Form von Volksrednern auf den
Märkten und den Gassen gepredigt. Der in der Strenge der jüdischen
Gesetzesreligion erzogene Paulus brauchte gar nicht
selbst die Hörsäle der stoischen Lehrer besucht zu haben, um mit den
Ansichten des Stoizismus bekannt zu werden, da gleichsam die Luft in Tarsus
mit dieser Lehre angefüllt war. Und Paulus
wurde mit ihr bekannt. Sie grub sich, ihm selbst vielleicht unbewusst, so tief
in sein Bewusstsein ein, dass seine Briefe voll sind von Wendungen und Gedanken
des stoischen Philosophen Seneca und man infolgedessen
bald den Seneca zu einem Schüler des Paulus,
bald umgekehrt, den Paulus zu einem Schüler
des Seneca hat machen wollen und sogar ein, freilich
gefälschter, Briefwechsel zwischen beiden Männern existiert.
Aber Tarsus war trotz seines im
Grunde orientalischen Charakters nicht bloß eine von griechischer Bildung
und Denkweise durchtränkte Stadt: auch die religiösen Gedanken und
Bewegungen der Zeit fanden hier einen überaus fruchtbaren Boden. In Tarsus
wurde der hethitische Sandan (Sardanapal)
verehrt, eine männliche, dem Dionysos verwandte
Gottheit des Lebens und der Fruchtbarkeit, die von den Griechen bald mit Zeus,
bald mit Herakles, dem göttlichen »Sohne«
des »Vaters« Zeus,
identifiziert wurde. Er galt als der Gründer der Stadt und wurde
als bärtiger Mann mit Weintrauben und Ähren dargestellt, die Doppelaxt
(Labrys) in der Rechten, auf einem Löwen oder
Scheiterhaufen stehend, und alljährlich pflegte ihm zu Ehren ein menschlicher
Repräsentant des Gottes oder in späterer Zeit sein Bild auf einem
Scheiterhaufen feierlich verbrannt zu werden.*
*Movers: a. a. O. 438ff.; Frazer:
Adonis, Attis, Osiris 42, 43, 47, 6o, 79 f.
Tarsus war aber auch zugleich
ein Mittelpunkt der orientalischen Mysterienreligionen. Besonders blühte
hier der Mithrakultus mit seiner Lehre vom
mystischen Sterben und Wiedergeborenwerden des in die Kultgemeinschaft
Aufgenommenen, der hierdurch von der Schuld des alten Lebens entsühnt werden
und ein neues unsterbliches Leben im »Geist«
gewinnen sollte, mit seinen heiligen Mahlen, bei welchen der Gläubige
durch den Genuss des geweihten Brotes und des Kelches in die Lebensgemeinschaft
mit Mithra trat, mit seiner Auffassung von der
magischen Wirkung des Opferblutes, das alle Sünden abwäscht, und seinem
inbrünstigen Verlangen nach Erlösung, Reinigung und Heiligung der
Seele.**
**Cumont: Textes et monuments etc.
1, 240; Pfleiderer: Urchristentun, 1. 29 ff.
Auch von diesen und ähnlichen
Vorstellungen ist Paulus nicht unberührt geblieben.
Das zeigt schon seine Ansicht von der mystischen Bedeutung des Todes Christi,
in welcher diese ganze religiöse Gedankenwelt, nur in eigentümlicher
Umformung, wieder anklingt. Scheint doch auch der Ausdruck Gal.
3,27, wonach die Getauften Christum »angezogen«
haben, direkt den Mithramysterien entlehnt zu sein. Denn hier pflegten nach
einem uralten animistischen Brauche die Geweihten der verschiedenen Grade in
Tiermasken gegenwärtig zu sein und das Wesen des Gottes unter verschiedenen
Attributen zu veranschaulichen, d. h. »angezogen«
zu haben, um sich mit ihm in die innigste Gemeinschaft zu versetzen. Und auch
der paulinische Ausdruck, dass der geweihte Kelch und das Brot beim Herrnmahle
die »Gemeinschaft« seien »des
Blutes und des Leibes Christi« (1. Kor.
10, 16), erinnert zu auffällig an die Vorstellungsweise der
Mysterien, als dass diese Übereinstimmung eine rein zufällige sein
könnte.
Wenn unter solchen Umständen der tarsische Bürger Paulus
von einem jüdischen Sektengotte namens Jesus
hörte, so konnten ihm auch die Vorstellungen, die sich an diesen anknüpften,
keineswegs gänzlich neu und ungewohnt sein. Vorderasien war ja, wie wir
gesehen haben, erfüllt von dem Gedanken eines jugendschönen Gottes,
der durch seinen Tod die Natur neu belebt, von volkstümlichen Sagen, die
sich an sein gewaltsames Ende und seine herrliche Wiederauferstehung knüpften;
und nicht bloß in Tarsus, auch auf dem gegenüberliegenden Zypern
und in zahlreichen andern Orten des westasiatischen Kulturkreises wurde alljährlich
das Fest dieses Gottes, der bald Tammuz, bald Adonis,
bald Attis, bald Dionysos,
Osiris usw. hieß, in eindringlichster Weise begangen, nirgends
großartiger vielleicht als zu Antiochia, der Hauptstadt Syriens. Hier
wurde bei seinem Fest im Frühjahr der Tod des Adonis
(Adonai), des »Herrn«, dramatisch vorgeführt, sein durch
ein Bild vertretener Leichnam unter wilden Klagegesängen der Weiber feierlich
bestattet und am folgenden Tage der wiederauferstandene Gott als Bürge
für das religiöse Heil der an ihn Glaubenden begrüßt. »Der
Herr lebt, Adonis ist wiedererstanden!« jubelte
an diesem Tage ganz Antiochia. Aus dem Grabe ließ man sein Bild vermittels
eines Mechanismus, wie es teilweise noch heute in der römisch-katholischen
Kirche üblich ist, in die Höhe steigen, und dann salbte der Priester
den Mund der vorher Klagenden mit Öl und sprach die Worte: »Getrost
ihr Frommen! da der Gott gerettet ist, so wird auch uns aus unsern Nöten
Rettung werden!«*
**Die Feier der Auferstehung des Gottes
pflegte in den vorderasiatischen Religionen am dritten Tage oder drei Tage nach
deren Tode begangen zu werden. So sollte Osiris am dritten, Attis am vierten
Tage auferstanden sein. Pfleiderer hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht,
wie sich das gleiche Schwanken zwischen dem dritten und dem vierten Tage (»nach
drei Tagen«) auch in den Evangelien hinsichtlich der Auferstehung Jesu
findet (Entstehung des Christentums 147.)
Nun soll zu Antiochia, wenn wir
der Apostelgeschichte in diesem Punkte glauben dürfen, das Evangelium von
Jesus bereits vor Paulus
gepredigt sein. Männer aus Zypern und Cyrene sollen dort nicht bloß
den Juden, sondern auch den Heiden das Wort vom gestorbenen und wiederauferstandenen
Christus verkündigt und auch manche von den Heiden zu dem neuen »Herrn«
bekehrt haben. Die Apostelgeschichte teilt dies mit, nachdem sie die Verfolgung
der Messiasgemeinde zu Jerusalem erzählt hat, wie sie denn überhaupt
bemüht ist, die Verbreitung des Evangeliums als eine Folge der Zerstreuung
der Messiasgemeinde auf Grund jener Verfolgung hinzustellen. Es scheint jedoch,
dass Cypern, wo Adonis besonders zu Paphos verehrt
wurde, und Cyrene sehr frühe Zentren waren, von denen aus der Christusglaube
durch Missionare verbreitet wurde. Demnach war das Evangelium ursprünglich
gar nichts anderes als ein judaisierter und vergeistigter
Adoniskultus. Jene frühesten Missionare, von denen wir
hören, werden den Glauben der syrischen Heiden selbst nicht angetastet,
sie werden nur behauptet haben, Christus, der Messias,
der Kultgott der jüdischen Sekten, sei Adonis: Christus ist der »Herr«!
Sie werden nur versucht haben, die alteinheimische Adonisreligion in den Gedankenbereich
des Judentums hereinzuziehen, und hiermit die überall am Werke befindliche
jüdische Propaganda, die um die Wende unserer Zeitrechnung einen Eifer,
wie nie zuvor, entwickelte, nicht im Sinne des strengen Gesetzesstandpunktes,
sondern der jüdischen Apokalyptik und Sektenlehre ausgeübt haben.
»Ich
bin das A und das O, der Anfang und das Ende«, lässt die Offenbarung
des Johannes den Messias sprechen (1, 8). Ob darin nicht zugleich eine geheime
Beziehung auf Adonis liegt? Das Alpha und das Omega, der erste und der letzte
Buchstabe des griechischen Alphabets, bilden in ihrer Zusammensetzung den Namen
des Adonis: Ao (Aoos), wie die alten Dorier den Gott bezeichneten, und wovon
das Land Cilicien auch Aoa hieß. — Ein Sohn des Adonis und der Aphrodite
(Maia) soll nach Schol. Theokr. 15, 100 Golgos geheißen haben. Sein Name
hängt mit den phallischen Kegeln (griech. golgoi) zusammen, wie sie zu
Ehren der vorderasiatischen Muttergöttin auf Anhöhen errichtet waren,
die hiernach wohl selber Golgoi und golgon anássa (»Herrin der
golgoi«) hieß, und stimmt nach hebräischer Pluralform mit Golgatha
überein (Sepp: Heidentum 1 157 f.). Sollte am Ende die »Schädelstätte«
eine uralte jebusitische Kultstätte des Adonis unter dem Namen Golgos gewesen
und der Felsenkegel, auf welchem unter Hadrian ein Standbild der Venus errichtet
wurde, deshalb zur Richtstätte des christlichen Erlösers gewählt
sein, weil sich an jenen die Erinnerung an das wirkliche Opfer eines Men¬schen
in der Rolle des Adonis (Tammuz) knüpfte?
Ein Mann, wie Paulus, der
in der Schule Gamaliels zum Gesetzeslehrer von
der strengen pharisäischen Richtung ausgebildet war, konnte ja offenbar
nicht ruhig zusehen, wie. der heidnische Adonisglaube, den er sicherlich schon
in seiner Vaterstadt Tarsus als gotteslästerlichen Aberglauben verachtet
haben wird, in der neuen religiösen Sekte sich mit der jüdischen Gedankenwelt
verschwisterte. »Verflucht ist der am Holz Gehenkte«, so stand es
im Gesetz geschrieben (Deut. 21,23), und
die Zeremonie des Purimfestes, bei welchem ein Verbrecher unter dem Hohn des
Volkes als der Harnan des alten Jahres gehenkt,
während ein anderer Verbrecher als Mardachai frei gelassen, mit königlichen
Ehren durch die Stadt geleitet und als die wiederauferstandene Natur, als Vertreter
des neuen Jahres gefeiert wurde, musste in seinen Augen nur eine Bestätigung
mehr für die Schmach des Holzes und den gotteslästerlichen Charakter
eines Glaubens sein, der in dem Gehenk¬ten den göttlichen Welterlöser,
den von den Juden erwarteten Messias verehrte. Da auf einmal kam es über
ihn, wie eine Erleuchtung. Wie, wenn es sich bei den Feiern des syrischen Adonis,
des phrygischen Attis usw. tatsächlich um das Selbstopfer
eines Gottes handelte, der sein Leben für die Welt dahingab?
Der unschuldige Märtyrertod eines Gerechten als Sühnemittel zur Gerechtmachung
seiner Volksgenossen war seit den Tagen der makkabäischen Blutzeugen auch
den Eiferern für das Gesetz nicht fremd. Der »leidende
Gottesknecht«, wie Jesaia ihn geschildert
hatte, ließ doch ganz wohl die Auffassung zu, dass, ebenso wie bei den
Heidenvölkern, auch in Israel ein Einzelner durch seinen freiwilligen Opfertod
das Leben aller übrigen erneuerte. Warum konnte es nicht wahr sein, was
die Anhänger der Jesussekte behaupteten, dass nämlich der Messias
tatsächlich jener »Gottesknecht«
war und das Erlösungswerk durch seinen eigenen freiwilligen Tod bereits
vollzogen hatte? Durch das stellvertretende Opfer seines
Gottes wurde nach heidnischer Anschauung das Volk entsühnt und fand
jene »Gerechtmachung« aller vor der Gottheit statt, die der fromme
Pharisäer von der strikten Erfüllung des jüdischen Gesetzes erhoffte.
Und doch, wenn Paulus die tatsächlich von
ihm selbst und andern geübte »Gerechtigkeit«
mit dem angestrebten Ideale der Gerechtigkeit verglich, wie diese vom Gesetz
gefordert wurde, dann musste ihn Entsetzen vor der Weite des Abstandes erfassen,
der zwischen Ideal und Wirklichkeit bestand, dann mochte er aber zugleich auch
wohl an der göttlichen Gerechtigkeit verzweifeln, die von ihrem Volke die
Erfüllung des Gesetzes verlangte, ihm mit dem Gedanken des nahen Weltendes
drohte und die es doch zugleich durch die Art und Beschaffenheit ihrer Gebote
ausschloss, dass der Messias, wie er hätte tun sollen, ein
»gerechtes« Volk bei seiner Ankunft antraf.
Sollten diejenigen wirklich so im Unrecht sein, welche die Heiligung des Menschen,
anstatt von der Erfüllung des Gesetzes, unmittelbar von dem Eingreifen
Gottes selbst erhofften? Dass ein Mensch als symbolischer Vertreter an Stelle
der Gottheit geopfert wurde, war bei den Heiden nichts Ungewöhnliches,
wenn schon zur Zeit des Paulus, statt eines wirklichen
Menschen, im allgemeinen nur ein Bild den sich opfernden Gott zu vertreten pflegte.
Aber das Wesentliche war auch nicht dies, sondern die
Idee, die dem göttlichen Selbstopfer zugrunde lag. Diese
aber wurde dadurch nicht berührt, dass der Geopferte ein Verbrecher war,
der in der Rolle des unschuldigen Gerechten getötet wurde, und dass die
Freiwilligkeit seines Todes durchaus nur eine fiktive war. Konnte es also nicht
sein, wie die Jesusgläubigen behaupteten, dass der Messias nicht noch erst
auf Grund der menschlichen Gerechtigkeit zu erwarten, dass er vielmehr bereits
erschienen war und die für die Einzelnen unerreichbare Gerechtigkeit durch
seinen schmachvollen Tod und seine glorreiche Auferstehung schon verwirklicht
hatte?
Der Augenblick, in welchem in
Paulus dieser Gedanke aufblitzte, war der Geburtsmoment des Christentums
als einer Religion des Paulus. Es war die Form
der Menschwerdung Gottes als solche,
in welcher er jenen Gedanken ergriff, und diese Form war zugleich eine derartige,
dass er mit ihr ein ganz neues Moment in die bisherige Anschauungsweise einführte.
Nach heidnischer Auffassung opferte sich zwar ein Gott für sein Volk, allein
ohne damit aufzuhören, Gott zu sein; hier wurde der an Gottes Statt geopferte
Mensch nur für den zufälligen Vertreter des sich opfernden Gottes
angesehen. Nach der bisherigen Anschauung des jüdischen Sektenglaubens
war es zwar der »Menschensohn«, ein menschenartiges Wesen, das vom
Himmel herabsteigen und das Erlösungswerk vollziehen sollte, jedoch ohne
ein wirklicher Mensch zu sein und ohne in menschlicher Gestalt zu leiden und
zu sterben. Nach Paulus hingegen lag der Nachdruck gerade darauf, dass der Erlöser
wirklich selbst ein Mensch und also der an Gottes Stelle geopferte Mensch zugleich
der in Menschengestalt erschienene Gott sein sollte: der Mensch vertritt nicht
bloß die Stelle Gottes als eines himmlischen und überirdischen Wesens,
sondern den in Menschengestalt erschienenen Gott als solchen. Gott selbst wird
Mensch, damit ein Mensch zum Gott erhöht werden und als sühnender
Stellvertreter für sein Volk die Menschen mit Gott vereinigen kann.*
* Man bemerke, wie in diesen Unterscheidungen
bereits die Keime zu jenen endlosen und törichten Streitigkeiten über
die »Natur« des Gottmenschen enthalten liegen, die dann später,
in den ersten Jahrhunderten n. Chr., die Christenheit in zahllose Sekten und
»Häresien« zerspalten und die Veranlassung zur Aufstellung
des christlichen Dogmas liefern sollten.
Der Mensch, der für sein
Volk geopfert wird, vertritt auf der einen Seite zwar dies Volk vor Gott, auf
der andern jedoch den sich selbst für die Menschheit opfernden Gott vor
diesem Volke. Damit wird in dem Gedanken des stellvertretenden
Sühnopfers die Trennung zwischen Gott und Mensch getilgt und beide
fließen im Begriff des »Gottmenschen«
unmittelbar in eins zusammen. Gott wird Mensch, damit die Menschen
hierdurch dazu befähigt werden, Gott zu werden. Der Mensch opfert sich
sowohl an Gottes wie an der Menschen Statt und schließt so die beiden
Gegensätze zur Einheit in sich selbst zusammen.
Man sieht: es war tatsächlich
nur eine neue Fassung des alten Gedankens vom stellvertretenden Sühnopfer
Gottes, wobei der Genitiv sowohl im subjektiven wie im objektiven Sinne zu nehmen
ist. Es bedurfte durchaus keiner historischen Persönlichkeit, die den Gottmenschen
sozusagen vorgelebt haben musste, um jene paulinische Auffassung der Jesusreligion
hervorzubringen. Denn die zufällige Persönlichkeit des den Gott repräsentierenden
Menschen kam für Paulus ebensowenig, wie für die Heiden, in Betracht;
und wenn auch er mit den übrigen Juden den Messias Jesus als den leiblichen
Nachkommen Davids »nach dem Fleisch«, d. h. als Menschen bezeichnete
(Röm. 1,3), wenn er ihn »vom Weibe geboren« werden ließ,
so dachte er hierbei doch nicht an irgendwelche konkrete Individualität,
die zu einer bestimmten Zeit die Gott¬heit in sich verkörpert haben
sollte, sondern einzig und allein an die Idee
eines fleischlichen Messias, sowie auch der leidende Gottesknecht des Jesaia
trotz der Anknüpfung dieser Idee an ein tatsächlich vollzogenes Menschenopfer
eben nur eine ideale sinnbildliche oder typische Bedeutung besessen hatte.
Hier liegt denn auch die Erklärung dafür, dass der »Mensch«
Jesus bei Paulus ein
ungreifbarer Schemen bleibt und er von Christus als Menschen sprechen kann,
ohne hierbei an eine historische Persönlichkeit im Sinne der heutigen liberalen
Theologie zu denken. Der ideale Mensch, wie Paulus sich
Jesus vorstellt, der Inbegriff alles menschlichen
Seins, die als Person gedachte menschliche Gattung, die die Menschheit ebenso
für Gott vertritt, wie der in ihrer Rolle geopferte Mensch die Gottheit
für das Volk veranschaulicht, der »Mensch«, auf den allein
es für die Erlösung ankommt, ist und bleibt eine metaphysische Wesenheit,
sowie die Idee des Plato oder der Logos des Philo
darum nicht weniger metaphysische Wesenheiten bleiben, weil sie in die
Sinnenwelt herabsteigen und in dieser eine bestimmte individuelle Leiblichkeit
annehmen; und was Paulus über den »Menschen«
Jesus lehrt, das ist nur eine nähere Ausführung
und Vertiefung desjenigen, was die Mandäer von ihrem Mandâ
de hajjé oder Hibil Ziwâ,
die apokalyptisch beeinflussten jüdischen Sekten von ihrem
Messias als Geheimlehre glaubten. Es handelt sich also bei der Herabkunft, dem
Tode und der Auferstehung Jesu für Paulus
um eine ewige, nicht aber um eine wirkliche, zeitliche Geschichte, und darum
heißt bei Paulus nach
den Spuren eines geschichtlichen Jesus suchen,
den Kern seiner religiösen Weltanschauung missverstehen.
Gott, der
»Vater« unseres »Herrn«
Jesus Christus, hat seinen Sohn
»erweckt« und zur Erlösung
der Menschheit auf die Erde herabgesendet. Wiewohl ursprünglich eins mit
Gott und darum selbst ein göttliches Wesen,
hat Christus nichtsdestoweniger seine ursprüngliche
überirdische Wesenheit aufgegeben. Im Widerspruch zu seiner wahren Wesenheit
hat er seine geistige Natur mit der Gestalt des
»Sündenfleisches« vertauscht,
seinen himmlischen Reichtum für die Armut
und Armseligkeit des menschlichen Daseins dahingegeben und ist er »an
Erscheinung wie ein Mensch«, in Knechtsgestalt
zu den Menschen gekommen, um diesen die Erlösung zu bringen (Röm.
8, 3; 2. Kor. 8, 9; Phil. 2, 7f.).
Denn der Mensch ist unfähig, durch sich selbst das
religiöse Heil zu erlangen. Bei ihm ist der Geist
gebunden an das Fleisch, seine göttliche übersinnliche Wesenheit
an die sinnlich-stoffliche Wirklichkeit, und darum ist er »von
Natur« dem Übel und der Sünde unterworfen. Alles Fleisch
nämlich ist als solches »Sündenfleisch«.
Also ist auch der Mensch, sofern er ein fleischliches Wesen ist, zur Sünde
geradezu genötigt. Und auch Adam ist nur aus dem Grunde der Urheber aller
menschlichen Sünde, weil auch er »im Fleische«, d. h. ein endliches,
der Leiblichkeit verhaftetes Wesen, war. Wohl hat Gott,
um ihnen in ihrer Finsternis den rechten Weg zu zeigen, den Menschen
das Gesetz gegeben und ihnen damit eine Möglichkeit eröffnet, durch
die Ausübung seiner Gebote vor seinem Gerichte
für gerecht erklärt oder »gerechtfertigt« zu werden. Allein
die Gebote in voller Strenge zu erfüllen, ist unmöglich. Und doch
vermöchte nur das Halten des ganzen Gesetzes ohne Rest die Menschen vor
dem Gericht zu retten. Wir aber sind alle Sünder (1
Gal. 3, 10ff; Röm. 3, 9ff.).
So hat das Gesetz zwar das Bewusstsein der Schuld geweckt und durch seine Übertretung
die Sünde offenbar gemacht (2 Röm. 3, 20;
4, 15; 5, 20; 7, 7ff.), aber es hat sie auch zugleich gesteigert.
Es hat sich als ein strenger Erzieher und Zuchtmeister
zur Gerechtigkeit erwiesen, jedoch ohne selbst die Gerechtigkeit herbeizuführen.
Ja, so wenig hat es sich als das ersehnte Heilmittel erwiesen, dass man geradezu
sa¬gen kann, es sei überhaupt nicht von Gott zu dem Zwecke gegeben
worden, um die Menschen zu erretten, sondern nur, um sie noch elender zu machen.
Paulus möchte daher auch die Übermittlung des Gesetzes an
Moses lieber nicht Gott selbst, sondern vielmehr dessen Engeln zuschreiben,
um Gott von der Schuld des Gesetzes zu entlasten
(Gal. 3, 19ff.). Dieser Zustand ist aber
für die Menschen um so verhängnisvoller, als die Sünde, wie sie
durch das Gesetz geweckt wird, unweigerlich den Tod nach sich zieht und dieser
ihnen auch die letzte Möglichkeit raubt, ihrer höheren geistigen Natur
gemäß zu werden. So ist der Mensch, ein bejammernswertes Wesen, zwischen
Licht und Finsternis mitten inne gestellt. Nach oben zieht ihn sein gottverwandter
Geist; nach unten hin ziehen und zerren ihn die schlimmen
Geister und Dämonen, die diese Welt beherrschen, ihn zur Sünde
reizen, und die im Grunde nichts anderes sind als mythische Personifikationen
der sündhaften fleischlichen Triebe des Menschen.
In diese Welt der Finsternis und
der Sünde tritt nun Christus ein. Als Mensch
unter Menschen, begibt auch er sich in den Machtbereich
des Fleisches und der Sünde und muss sterben, wie die übrigen
Menschen. Indessen für den menschgewordenen Gott ist der Tod kein solcher
im gewöhnlichen Sinne. Für ihn ist er nur die Befreiung von der ihm
unangemessenen Beschaffenheit des Fleisches. Wenn Christus stirbt, so streift
er nur die Fessel des Fleisches ab und tritt er hervor aus dem Kerker des Leibes,
hinaus aus der Sphäre, worin die Sünde, der Tod und die Dämonen
herrschen. Er, der Gottmensch,
stirbt der Sünde ein für allemal, die ihm ja nicht ureigentümlich
ist. Indem er in seiner Auferstehung die Todesmächte überwindet, gewinnt
der Sohn gerade durch den Tod sein eigentliches ursprüngliches Wesen, das
ewige Leben in und bei dem Vater wieder (Röm.
6, 9f.). So wird er aber auch zugleich zum Herrn über das Gesetz,
denn dieses herrscht ja nur insoweit, als es irdische, fleischliche Menschen
gibt, und hört in dem Augenblicke für ihn auf, zu gelten, wo Christus
sich über das Fleisch erhebt und zu seiner rein geistigen Natur zurückkehrt.
Gäbe es für den Menschen eine Möglichkeit, in gleicher Weise
ihrem Fleische abzusterben, so würden sie damit, ebenso wie Christus,
von der Sünde, dem Tode
und Gesetz erlöst
sein.
Eine solche Möglichkeit gibt
es. Sie liegt darin, dass Christus eben selbst nichts anderes ist als der als
Persönlichkeit aufgefasste menschliche Gattungsbegriff, die personifizierte
platonische Idee des Menschen, der Idealmensch als metaphysische Wesenheit und
damit sich in seinem Schicksal das Schicksal der ganzen Menschheit erfüllt.
In diesem Sinne gilt das Wort: »Ist einer für
alle gestorben, so sind sie alle gestorben« (Röm.
5, 24.). Um der Früchte dieses Todes Jesu
teilhaftig zu werden, dazu ist freilich nötig, dass der einzelne
Mensch wirklich eins mit Christus
wird, dass er in eine nicht bloß subjektiv gedachte, sondern objektive,
reale, innerliche Einheit mit dem Repräsentanten, dem
göttlichen Urbilde der menschlichen Gattung eintritt; und dies geschieht
nach Paulus durch den »Glauben«.
Der Glaube, wie Paulus ihn versteht, ist also nicht
ein bloßes äußerliches Fürwahrhalten
der Tatsache des Opfertodes und der Auferstehung
Jesu, sondern die Hinwendung des ganzen Menschen zu Jesus,
die seelische Einswerdung mit ihm und die
daraus von selbst sich ergebende göttliche Gesinnung,
aus welcher die ihr entsprechende sittliche Betätigung von selbst
hervorgeht. Nur in diesem Sinne ist es gemeint, wenn Paulus den Glauben
über die Werke stellt, wie das Gesetz sie fordert. Ein Werk, das
nicht aus dem Glauben, aus
tiefster gottähnlicher Gesinnung entspringt,
hat keinen religiösen Wert, und wenn es dem Wortlaute des Gesetzes nach
so gemäß sein sollte.
Das ist eine Anschauungsweise, die Paulus durchaus
mit der stoischen Philosophie seines Zeitalters teilt, und welche damals in
den edleren Kreisen der antiken Menschheit sich mehr und mehr zur Herrschaft
brachte. Der Mensch wird gerechtfertigt nicht durch das Gesetz, nicht durch
die Werke, sondern durch den Glauben: der Glaube wird als Gerechtigkeit gerechnet
auch ohne die Werke (Röm. 4, 3ff.).
Es ist nur ein anderer Ausdruck für denselben Gedanken, wenn Paulus sagt,
dass Gott den Menschen nicht nach Verdienst und Leistung, sondern »umsonst«,
»aus Gnade« rechtfertige. Nach der Auffassung der jüdischen
Gesetzesreligion hat der Begriff der Rechtfertigung eine rein juridische Bedeutung.
Der Lohn entspricht hier genau der Leistung. Die Rechtfertigung ist nichts als
eine durch eine unumstößliche Norm bedingte »Pflicht«.
Nach der neuen Auffassung des Paulus hingegen
ist sie ein selbstverständliches Ergebnis der göttlichen
Gnade. Die Gnade aber besteht letzten Endes darin, dass Gott
aus eigenen freien Stücken seinen Sohn
geopfert hat, damit der Mensch durch den »Glauben«
an ihn und die dadurch bedingte Einheit mit ihm
an den beseligenden Wirkungen seines Erlösungswerkes teilnähme.
Aber der
Glaube ist nur die eine Art, um mit Christus
eins zu werden und die wesentliche Einheit
mit ihm auch äußerlich zu betätigen. Zum Glauben müssen
die Taufe und das Herrnmahl hinzukommen; damit schließt Paulus
sich unmittelbar an die Mysterien und ihre sakramentale Auffassung der
Vereinigung des Menschen mit der Gottheit an und bekundet er den Zusammenhang
seiner eigenen Lehre mit derjenigen der heidnischen Kultgemeinden. Durch die
Taufe, das Untertauchen und Verschwinden in der Wassertiefe, wird der Mensch
mit Christus »begraben
in den Tod«. Indem er dann wieder aus dem Wasser emportaucht, vollzieht
sich in ihm nicht bloß in symbolischer, sondern zugleich in magisch-mystischer
Weise die Auferstehung mit Christus zu einem neuen Leben
(Röm. 6, 3ff.). Dabei wird Christus vom
Täufling gleichsam »angezogen«
(Gal. 3, 27.), so dass
er hinfort nicht mehr bloß der Möglichkeit nach, sondern in Wirklichkeit
mit Christus eins, Christus in ihm, er selbst in Christus ist.
Das Herrnmahl ist zwar einerseits ein brüderliches
Liebes- und Gedächtnismahl zur Erinnerung an den Heiland, wie auch die
Anhänger des Mithra ihre Agapen in Erinnerung an das Abschiedsmahl ihres
Gottes von den Seinigen zu feiern pflegten. Auf der andern Seite aber ist es
eine durch das Trinken des sakramentalen Kelchs und das Essen des sakramentalen
Brotes vermittelte mystische Gemeinschaft des Blutes und Leibes Christi in keinem
andern Sinne, als wie die Heiden durch die Opfermahle in eine innerliche Verbindung
mit ihren Göttern zu treten meinten und die Naturvölker noch heute
vielfach des Glaubens sind, durch das Essen vom Fleische eines andern, sei es
Tieres oder Menschen, und Trinken seines Blutes der in jenem enthaltenen Kraft
teilhaftig zu werden (1. Kor. 10, 16ff., 11, 23-27.)
Ja, Taufe und Herrnmahl sind bis zu einem solchen Grade auch für
Paulus rein natürliche Vorgänge, Zauberhandlungen, dass er an der
heidnischen Sitte keinen Anstoß nimmt, lebende Christen zugunsten Verstorbener
stellvertretend zu taufen, und unwürdiges Essen und Trinken beim Herrnmahl
nach seiner Meinung Krankheit und Tod verursacht (1.
Kor. 10, 3ff.; 16—21.). Von einer »Überwindung
des Naturalismus der heidnischen Mysterien« kann folglich in dieser
Hinsicht bei Paulus nicht die Rede sein; und wenn
man ihm eine so viel höhere und geistigere Auffassung der Sakramente zuschreibt,
als den Heiden, so erscheint dies mit seinen ausdrücklichen Darlegungen
schwer vereinbar.
Nun ist Christus,
wie gesagt, bei Paulus nur ein zusammenfassender
Ausdruck für die ideale Gesamtheit aller Menschen,
die darin zugleich als ein besonderes persönliches Wesen vorgestellt wird.
Er ist die verselbständigte platonische Idee des Menschen, nicht anders,
wie Philo die göttliche
Vernunft personifiziert und diese mit dem »Idealmenschen«,
der Idee des Menschen, hatte zusammenfließen lassen. Wie nach platonischer
Ansicht die Vereinigung des Menschen mit der Idee durch den Eros, durch unmittelbare
intellektuelle Anschauung auf Grund der begrifflichen Erkenntnis hergestellt,
der Gegensatz von Sinnenwelt und Ideenwelt überwunden und der Mensch hiermit
selbst zu einem Gliede des Ideenkosmos erhoben wird, genau so schließen
sich nach Paulus die Christen durch den Glauben
und die Sakramente zu konstituierenden Momenten der idealen Menschheit zusammen.
So verwirklichen sie die Idee der Menschheit und treten mit Christus
in eine mystische Gemeinschaft, der ja selbst,
wie gesagt, nur diese Idee in ihrer einheitlichen Zusammenfassung darstellt.
Die Folge hiervon ist, dass alles, was sich in Christus
vollzieht, zugleich auch von den mit ihm vereinigten Menschen in geheimnisvoller
Weise miterlebt wird. Demnach können sie nun selbst als die »Glieder
des Einen Leibes Christi« bezeichnet werden, der ihr »Haupt«
oder ihre »Seele« ist, und dies zwar
in demselben Sinne, wie alle verschiedenen Ideen Platos
nur Glieder und Momente der einheitlichen Ideenwelt bilden und ihre Vielheit
sich zur Einheit der höchsten Idee, der übergreifenden und bestimmenden
Idee des Einen oder Guten aufhebt.
Was bei Plato
eine Erhebung des Geistes zur Ideenwelt ist, das ist bei Paulus
die Vereinigung des Menschen mit Christus. Was
bei jenem der im Besitze des Wissens Befindliche, der »Weise» ist,
das ist hier der »Christ«. Was dort Eros heißt, der Vermittler
der Einheit von Ideenwelt und Sinnenwelt, von Sein und Bewusstsein, von objektivem
und subjektivem Denken und zugleich der Inbegriff aller objektiven Gedanken
selbst, das heißt hier Christus. Eros wird von Plato
der Sohn des Reichtums und der Armut genannt, der beider
»Natur und Zeichen« trägt: »Er
ist ganz arm, läuft barfuss und heimatlos herum und muss auf der nackten
Erde ohne Decken, unter freiem Himmel, an den Türen und auf den Straßen
schlafen, entsprechend der Natur seiner Mutter.« »Da er jedoch weder
unsterblich noch sterblich ist, so blüht er bald und ist voll Leben, bald
ist er müde und stirbt hin, und das alles oft an demselben Tage; aber immer
wieder lebt er auf, entsprechend der Natur seines Vaters« (Plato:
Gastmahl. c 22.).
So ist auch im paulinischen Christus die ganze
Fülle der Gottheit enthalten (2 Kol. 2, 9.) und
er selbst der »Sohn Gottes«, aber nichtsdestoweniger
erniedrigt er sich, nimmt Christus Knechtsgestalt
an, wird Mensch und stirbt und setzt sich damit in den vollkommensten
Gegensatz zu seinem eigentlichen Wesen, jedoch nur, um in jedem einzelnen Menschen
beständig wieder aufzuerstehen und die Menschen an seinem eigenen Leben
teilnehmen zu lassen. Und wie Christus nach 1.
Tim. 2, 5 der »Mittler«
ist zwischen Gott und Mensch, so ist auch der platonische Eros »in
der Mitte zwischen dem Unsterblichen und dem Sterblichen.« »Ein
Dämon, Sokrates, ist Eros, ein großer Dämon, und alles Dämonische
ist ein Mittelding zwischen Gott und Mensch. Der Dämon überbringt
den Göttern, was von den Menschen kommt, und den Menschen, was von den
Göttern kommt, von den einen die Bitten und Opfer, von den andern die Aufträge
und die Vergeltungen der Opfer. In der Mitte beider füllt er die Kluft
zwischen den Unsterblichen und den Sterblichen, und das All ist durch ihn zu
einem Ganzen verbunden. Durch seine Vermittlung verbreitet sich alle Wahrsage-
und priesterliche Kunst, welche die Opfer, die Weihungen, die heiligen Sprüche
und jede Weissagung und Zauberei betrifft. Gott selbst aber vermischt sich nicht
mit den Menschen, sondern in der angegebenen Weise kommt jeder Verkehr und jede
Sprache zwischen Göttern und Menschen zustande, sowohl im Wachen, wie im
Schlafe. Wer hierin erfahren ist, in dem ist der Dämon.« Wir
erinnern uns auch hierbei wieder daran, dass der Eros
im »Timäus« unter dem
Namen der »Weltseele« erscheint und
diese nach Plato die Gestalt eines schrägen
Kreuzes haben soll.
Der platonische Eros ist die mythische
Personifikation des Gedankens, dass das Denken des Seins (Gen.
obj.) als solches zugleich ein Denken des Seins (Gen.
subj.) ist, oder dass im Denken der Ideen der subjektive Gedanke des
Philosophen und die objektive ideale Wirklichkeit sich gleichsam von zwei Seiten
her begegnen und unmittelbar in eins zusammenfließen. So aber ist er nur
der erkenntnistheoretische Ausdruck für den Grundgedanken des alten arischen
Feuerkultus, wonach das Opfer Agnis,
d. h. das Opfer, das der Mensch dem Gotte darbringt, als solches zugleich ein
Opfer Agnis, d. h. ein Opfer ist, welches der Gott
darbringt, und in welchem er sich selbst für den Menschen opfert. Dem entspricht
es, wenn nach Paulus der Tod und die Auferstehung
Christi, wie sich diese im Bewusstsein des gläubigen
Menschen spiegeln, ein Sterben und Wiederauferstehen Christi
als göttlicher Persönlichkeit darstellen, wenn der Mensch mit
Christus stirbt und wiederauflebt und Gott und Mensch im Glauben unmittelbar
in eins verschmelzen. Wie hierbei der Mensch nach Paulus zu einem »Gliede«
des »Leibes Christi« wird, so werden
auch nach vedischer Vorstellung die Teilnehmer am Opfer des Feuergottes durch
den Genuss des Somatrankes und das Essen des Weihgebäckes zu einem mystischen
Leib verbunden, vom Einen Hauch der Gottes beseelt, der ihre Sünden in
seiner heiligen Glut vertilgt, und mit neuer Lebenskraft durchflutet. Und wie
in Indien aus dem Kultus des Feuergottes und der hierin vollzogenen Vereinigung
von Gott und Mensch sich das Brahmanentum entwickelt
und die Herrschaft über die gesamte indische Menschheit erlangt hat, wie
nach Plato die intellektuelle Anschauung den Stand
der Wissenden begründet, den Weisen an die Spitze des sozialen Organismus
stellt und den Philosophen als den einzig Würdigen zur Weltregierung befähigt,
so schimmert auch bereits durch die paulinische Vorstellung der Gläubigen
als des »Leibes Christi« die künftige
Auffassung der Kirche als einer »Gemeinschaft der
Heiligen« hindurch, in welchen sich der menschliche Gattungsbegriff
(Christus) verwirklicht, als des Reiches Gottes auf Erden, als der wahren Menschheit,
als der sinnlichen Erscheinung des himmlischen Idealmenschen selbst, der anzugehören
für den Menschen Pflicht ist, und ohne welche es ihm nicht möglich
ist, sein wahres ideales Wesen darzuleben.
Die antike Philosophie hatte sich
bisher vergeblich bemüht, den Gegensatz von Ideenwelt und Sinnenwelt und
die hierin begründete Unsicherheit des menschlichen Denkens und Lebens
zu überwinden. Seit Plato hatte sie an dem Problem gearbeitet, Natur und
Geist, deren gegensätzliche Beschaffenheit ihr durch den Begründer
des metaphysischen Idealismus erstmalig zum Bewusstsein gebracht war, in widerspruchsloser
Weise miteinander auszusöhnen. Die Religion hatte besonders in den
Mysterienkulten das begrifflich unlösbar erscheinende Problem auf
praktischem Wege zu lösen und den Menschen auf dem Wege der Hingebung und
»Offenbarung«, durch mystische
Versenkung in die Tiefen Gottes
einen neuen Grund und Halt zu verschaffen gesucht. Aber erst das Christentum
des Paulus gab diesem ganzen unklaren Sehnen und
Suchen eine Form, die den Schauer und die Beseligung der mystischen
Ekstase mit der Bestimmtheit einer umfassenden religiösen Weltanschauung
verband und die Menschen über den tiefsten Sinn ihres gefühlsmäßigen
Dranges nach Gewissheit aufklärte: nicht durch begriffliche Dialektik,
wie Plato wollte, nicht durch vernünftige
Einsicht den Weltzusammenhang im Sinne einer doch nur den Wenigsten erreichbaren
abstrakten Verstandeserkenntnis erlangt der Mensch
die Einheit mit Gott und die Gewissheit der wahren Wirklichkeit, sondern durch
den Glauben, durch die göttliche Erlösungstat.
Sich diese innerlich aneignen, sie dadurch selbst unmittelbar miterleben, dies
allein setzt den Menschen in den Stand, aus der Unsicherheit und Finsternis
der fleischlichen Existenz in die lichte Klarheit des
geistigen Seins emporzutauchen.
Alle Gewissheit des wahren oder wesentlichen Seins ist somit Glaubensgewissheit,
und eine höhere Gewissheit gibt es nicht, als wie sie dem Menschen im Glauben
und durch die Frömmigkeit zu teil wird. Wie Christus
gestorben und dadurch frei von den Banden des Leibes und der Erdenwelt
geworden ist, so muss auch der Mensch im Geiste sterben. Er muss die Bürde
dieses Leibes, der eigentlichen Ursache aller seiner ethischen und intellektuellen
Unzulänglichkeit, ablegen. Er muss innerlich mit Christus
auferstehen und wiedergeboren werden, so nimmt er damit auch an dessen
geistiger Klarheit teil und gewinnt zugleich mit dem »Leben
im Geiste« die Erlösung von aller ihm gegenwärtig anhaftenden
Unzulänglichkeit. Es ist wahr, äußerlich besteht der Leib noch
fort, auch nachdem die innere Erlösungstat vollbracht ist. Auch wenn der
Mensch mit Christus gestorben, auferstanden und
ein neuer Mensch geworden ist, ist er trotzdem noch den leiblichen Beschränkungen
unterworfen. Auch der Erlöste ist noch in der Welt und muss mit ihren Einflüssen
kämpfen. Allein was der Mensch durch die Eingliederung in Christi
Leib gewinnt, das ist der »Geist« Christi,
der die Glieder des Leibes zusammenhält, sich in allem wirksam zeigt,
was dem Leibe zugehört, und sich im Menschen als übernatürliche
Kraft betätigt. Und dieser Geist, wie er von nun an im Erlösten wohnt,
wirkt und schafft und ihn zu allen Handlungen antreibt, hebt den Menschen in
der Vorstellung über alle Beschränkungen seiner fleischlichen Natur
hinaus, stärkt ihn in seiner Schwachheit, zeigt ihm das Dasein in einem
neuen Lichte, so dass er sich hinfort nicht mehr gebunden fühlt, verleiht
ihm den Sieg über die irdischen Gewalten und lässt ihn schon in diesem
Leben die Seligkeit seiner endgültigen realen Erlösung in einem zukünftigen
Jenseits vorempfinden (Gal 2, 20; Röm. 8, 24,
26.). Nun ist aber der Geist Christi als solcher zugleich der göttliche
Geist. Indem sie also Christi Geist empfangen, sind die Erlösten selber
Gottes »Söhne«,
und dieses kommt darin zum Ausdruck, dass sie mit dem Geiste die »herrliche
Freiheit der Kinder Gottes erben« (Röm.
8, 14 ff.). Denn, wie Paulus sagt:
»Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist ist,
da ist Freiheit«(2. Kor. 3, 17.).
Wenn so nach der Christ sich in
eine »neue Schöpfung« umgewandelt
fühlt, mit der Kraft wahren Erkennens und guten Handelns ausgerüstet,
durch das Bewusstsein seiner siegreichen Macht über die fleischlichen Gelüste
beseligt weiß und im Glauben seinen Frieden gewinnt, so ist dies die Folge
eines mehr als menschlichen Geistes, der in ihm wirkt, wie denn übrigens
auch die christlichen Tugenden der Bruderliebe, der Demut, des Gehorsams usw.
ihre Begründung nur aus der Verpflichtung schöpfen, die der Besitz
des Geistes einschließt:
»Leben wir im Geist, so
lasst uns auch wandeln im Geist«
(Gal. 5, 26.).
Und wenn die Gläubigen auf
einmal eine Fülle neuer wunderbarer Kräfte entfalten, die über
die gewöhnliche Natur des Menschen hinausgehen, wie die Fähigkeit
des Zungenredens, der Weissagung und der Krankenheilung, so ist auch dies nach
der abergläubischen Anschauung der Zeit nur aus der Einwohnung und der
Wirksamkeit eines übernatürlichen,
von außen in den Menschen hineingefahrenen Geistwesens zu erklären.
Aber freilich, wie dieser himmlische Geist zugleich
der Geist des Menschen sein, wie er im Menschen wirksam sein kann, ohne den
eigentlichen ursprünglichen Geist des Menschen aufzuheben und das Individuum
zu einem passiven Werkzeug, einer unlebendigen Marionette
ohne eigene Selbstbestimmung
und Verantwortlichkeit
herabzudrücken, wie der von einem solchen Geiste »besessene«
Mensch sich trotzdem frei und durch den Geist erlöst fühlen kann,
das erscheint in der paulinischen Auffassung der Erlösung nicht verständlich.
Denn es ist ja in der Tat ein fremder, ihm nicht wesentlich zugehöriger
Geist, der durch die Vereinigung mit Christus in
den Menschen einfährt.
Soll er doch nicht bloß des einzelnen Menschen Geist, sondern als solcher
zugleich der persönliche Geist Christi sein.
Ein und derselbe Geist soll einerseits, mit einem himmlischen
Lichtleib angetan, zur Rechten des Vaters im Himmel thronen, und andrerseits
auf Erden der Geist der an ihn Glaubenden sein, in ihnen als der Quell der Gnosis,
der vollen mystischen Erkenntnis sich betätigen und als die Kraft des Guten,
als Geist der Heiligkeit übernatürliche Wirkungen hervorbringen (1.
Kor. 2, 9—14; Röm. 12, 2.). Es soll einerseits ein objektiv
vorhandenes Geistwesen sein, das in Christus Mensch wird, stirbt und wiederaufersteht,
und andrerseits eine innerliche, subjektive Kraft, die in jedem einzelnen Menschen
das Absterben des Fleisches und die Wiedergeburt
bewirkt, um den Gläubigen zugleich als Frucht ihrer individuellen Erlösungstat
zuteil zu werden.
Das begreift sich allenfalls aus
der Denkweise einer Zeit, für die der Begriff der Persönlichkeit noch
gar keine feste Bedeutung hatte, die daher auch noch keinen Widerspruch darin
fand, dass ein persönlicher Christusgeist gleichzeitig einer Vielheit von
individuellen Geistern innewohnt, und die zwischen der einmaligen oder vielmehr
ewigen Erlösungstat der Gottheit und ihrer beständigen zeitlichen
Wiederholung in den Individuen noch gar nicht unterschied, allein selbst dies
nur in dem Falle, dass der paulinische Christus ein
rein metaphysisches Wesen ist; hingegen ist es
völlig unverständlich, wenn Paulus seine Vorstellung des Erlösungsmittlers
aus irgendwelcher Erfahrung eines historischen Jesus und seines zeitlichen Todes
gewonnen haben sollte.
Nur weil Paulus
bei seiner Lehre von der erlösenden Kraft des Christusgeistes
an gar keine bestimmte menschliche Persönlichkeit
gedacht hat, nur darum konnte er die Immanenz des Göttlichen in der Welt
durch jenen Geist vermittelt sein lassen. Nur weil er mit der Persönlichkeit
jenes Geistes keinen anderen Begriff verband als das Buch der Weisheit oder
Philo mit den von ihnen vertretenen Immanenzprinzipien, nur darum stellte
er die Behauptung auf, dass Christus die Erlösung
bewirke.
Christus ist
sonach, als Erlösungsprinzip, bei Paulus nur
eine allegorische oder symbolische, keine wirkliche Persönlichkeit. Er
ist eine Persönlichkeit, wie die heidnischen Gottheiten auch, die, unbeschadet
ihrer Veranschaulichung in menschlicher Gestalt, als allgemeine, kosmische Mächte
galten. Die Persönlichkeit ist für Paulus nur
ein anderer Ausdruck für die übernatürliche
Geistigkeit und zielstrebige Wirksamkeit des Erlösungsprinzips im
Unterschiede von den blind wirkenden Kräften und stofflichen Wesenheiten
des religiösen Naturalismus. Sie dient nur zur Bezeichnung der Geistigkeit
in einer Zeit, die auch den Geist sich nur als ein stoffliches Fluidum vorzustellen
vermochte. Sie entspricht nur einfach der populären Auffassung des Erlösungsprinzips,
die sich dieses mit der Vorstellung eines menschenartigen Wesens verbunden dachte.
Keineswegs aber bezieht sie sich auf ein reales historisches Individuum, sondern
lässt gerade durch das Unbestimmte und Schillernde ihres Begriffs erkennen,
wie weit der Christus der paulinischen Erlösungslehre
davon entfernt war, einer bestimmten geschichtlichen Wirklichkeit anzugehören.
—
Nicht also weil er Jesus
als geschichtliche Persönlichkeit so hoch schätzte und verehrte,
hat Paulus Christus zum Träger und Vermittler
der Erlösung gemacht, sondern weil er von einem geschichtlichen
Jesus, von einem menschlichen Individuum dieses Namens, auf den er das
Erlösungswerk hätte übertragen können,
überhaupt nichts wusste. »Vertraute
Jünger«, meint Wrede,
»konnten nicht so leicht glauben,
der Mann, der mit ihnen in Kapernaum zu Tisch gesessen oder auf dem galiläischen
See gefahren war, sei der Schöpfer der Welt (!). Für Paulus fiel dies
Hindernis fort.«
Aber Paulus soll doch mit Jakobus,
dem »Bruder des Herrn«, zusammengetroffen
sein und Erfahrungen mit ihm gemacht haben, die ihn sicher in seiner Ansicht
von Jesus hätten stutzig machen müssen, wenn es sich hierbei wirklich
um leibliche Bruderschaft gehandelt hätte.
Was für eine wunderliche Vorstellung müssen doch unsere Theologen
von einem Manne wie Paulus haben, wenn sie glauben,
es hätte ihm überhaupt jemals einfallen können, mit einem
menschlichen Individuum Jesus, und mochte
es ihm noch so verehrungswürdig erschienen sein, so ungeheuerliche Vorstellungen
zu verknüpfen, wie Paulus es mit seinem Christus
tut!
Gewiss, es gibt einen Grad der religiösen Schwärmerei, die den Unterschied
von Mensch und Gott völlig aus den Augen verliert; und zumal um die Wende
unserer Zeitrechnung, in der Zeit des Kaiserkultus und des tiefsten religiösen
Aberglaubens war die Vergöttlichung eines verehrten Menschen nach ihrem
Tode an sich nichts Ungewöhnliches. Aber man mache sich nur einmal klar,
was für ein Übermaß von Kritiklosigkeit, gedanklicher Unklarheit
und Verstiegenheit dazu gehört, einen vor noch nicht langer Zeit verstorbenen
Menschen, der noch deutlich in der Erinnerung seiner Zeitgenossen und nächsten
Angehörigen lebt, nicht nur zu einem göttlichen
Heros oder Halbgott, nein, zum weltschöpferischen
Geistprinzip, zum metaphysischen Erlösungsmittler und
»zweiten Gott« empor zu phantasieren.
Und wenn, wie dies auch Wrede in den obigen Worten
zugibt, die persönliche Bekanntschaft Jesu
in der Tat ein »Hindernis« für
die Apotheose des Menschen war, wie soll man es
sich erklären, dass die »Urapostel«
zu Jerusalem an jener Auffassung des Paulus keinen
Anstoß nahmen? Sie wussten doch, wer Jesus gewesen
war. Sie kannten ihn durch mehrjährigen beständigen Umgang mit dem
Meister. Und wie hoch sie auch immer von dem Auferstandenen dachten, wie innig
sich in ihrem Bewusstsein die Erinnerung an den Menschen Jesus mit den herrschenden
Vorstellungen des Messias verknüpfen mochte:
zu einer derartig maßlosen Vergötterung ihres Herrn und Meisters,
wie Paulus sie schon verhältnismäßig
so bald nach Jesu Tode vornahm, sollen doch auch sie nach der herrschenden theologischen
Ansicht sich keineswegs verstiegen haben.
»Paulus glaubte bereits
an ein solches Himmelswesen, an einen göttlichen Christus, ehe er an Jesus
glaubte« (Wrede).
Die Wahrheit ist, dass er an den Jesus der liberalen
Theologie überhaupt nicht glaubte. Der
»Mensch« Jesus
gehörte von vornherein zu seinem Christusglauben, sofern ja die
Erlösungstat des Christus eben in seiner Erniedrigung und Menschwerdung
bestehen sollte — dazu bedurfte es keines historischen Jesus. Wie für
die gesamte Heidenwelt, so war auch für Paulus
der an Gottes Statt geopferte wirkliche Mensch besten Falles nur ein zufälliges
Symbol des sich selbst als Opfer dar bringenden Gottes. Man kann daher auch
nicht sagen, dass der Mensch Jesus eigentlich nur
»der Träger all der gewaltigen Prädikate«
wurde, die als solche bereits seit langem feststanden« (Wrede),
oder, wie Gunkel es auffasst, dass auf jenen die
begeisterte Jüngerschaft alles, was das bisherige Judentum von seinem Messias
auszusagen wusste, übertragen habe und somit die neutestamentliche Christologie
trotz ihrer unhistorischen Beschaffenheit doch »ein
gewaltiger Hymnus« sei, »den die Geschichte
auf Jesus singt« (!) (Wrede). Gibt
man einmal die Existenz eines vorchristlichen Jesus zu, und gerade
Gunkel hat, außer Robertson
und Smith, am meisten zur Anerkennung dieser Tatsache
beigetragen, dann kann dies zunächst nichts anderes als einen schweren
Verdacht gegen den historischen Jesus erwecken, und es erscheint als eine geradezu
verzweifelte Ausflucht der »kritischen« Theologie,
aus der Existenz eines vorchristlichen Jesus umgekehrt Kapital für die
»einzigartige« Bedeutung ihres »historischen« Jesus
schlagen zu wollen.
Das Leben und der Tod Christi
ist für Paulus weder die sittliche Tat eines
Menschen, noch ist es ihm überhaupt eine geschichtliche Tatsache, sondern
etwas Obergeschichtliches, ein Vorgang in der übersinnlichen Welt (Wrede).
Auch der »Mensch« Jesus
kommt für Paulus, ebenso wie der leidende
Gottesknecht für Jesaja ausschließlich
als Idee in Frage, und sein Tod ist, ebenso wie seine Auferstehung, nur die
bloße ideale Bedingung, wodurch die Erlösung herbeigeführt wird.
»Ist Christus nicht auferstanden, so ist
euer Glaube eitel« (1. Kor.
15, 17). Auf diesen Ausspruch hat man bisher den Hauptbeweis dafür
gegründet, dass für Paulus ein geschichtlicher
Jesus die Voraussetzung seiner Lehre sei. Indessen bedeutet jener Ausspruch
im Munde des Paulus in Wahrheit gar nichts anderes als der Glaube seiner Zeitgenossen,
die von der Auferstehung ihres Gottes, mochte dieser nun Adonis,
Attis, Dionysos, Osiris oder wie immer heißen, das natürliche
und religiöse Heil erhofften.
Die Tatsache steht also fest,
dass Paulus von einem geschichtlichen
Jesus nichts
gewusst hat, und, wenn er etwas von ihm gewusst haben sollte, dieser
Jesus bei ihm doch jedenfalls keine Rolle spielt und keinen Einfluss auf die
Entwicklung seiner religiösen Weltanschauung ausgeübt hat. Man stelle
sich vor! derjenige Mann, von dem wir die ersten schriftlichen Zeugnisse über
das Christentum besitzen, der dieses als eine neue vom Judentum verschiedene
Religion überhaupt erst begründet, an dessen Lehre allein die ganze
weitere Entwicklung der christlichen Gedanken angeknüpft hat, Paulus
kennt Jesus als historische
Persönlichkeit überhaupt nicht.
Ja, er hätte es sogar von seinem Standpunkte aus mit vollem Rechte ablehnen
müssen, wenn andere ihn über eine solche Persönlichkeit hätten
aufklären wollen! Von allen Einsichtigen wird heute zugestanden, was Eduard
v. Hartmann schon vor mehr als dreißig Jahren behauptet hat, dass
ohne Paulus die christliche Bewegung ganz ebenso, wie diejenige vieler anderer
jüdischer Sekten, im Sande verlaufen wäre, um höchstens nur noch
als eine historische Kuriosität die Geschichtsforscher zu beschäftigen
— und Paulus weiß nichts
von Jesus! Die Entstehung und Entwicklung
der christlichen Religion hat lange vor dem Jesus
der Evangelien begonnen und sich unabhängig vom geschichtlichen Jesus der
historischen Theologie vollzogen. Schon hieraus erhellt zur Genüge die
Berechtigungslosigkeit dieser Theologie, das Christentum rein als »Christentum
Christi« aufzufassen und eine bloße Ansicht vom Leben und
der Lehre, eines, »vorbildlichen« Menschen
Jesus für christliche Religion auszugeben.
—
Die im Anfang aufgeworfene Frage,
was wir durch Paulus über den historischen
Jesus erfahren, hat hiermit ihre Beantwortung gefunden: — nichts.
Man ersieht hieraus, was davon zu halten ist, wenn von theologischer Seite den
Gegnern eines solchen Jesus immer wieder mit besonders triumphierender Miene
entgegengehalten wird, die historische Existenz Jesu sei durch Paulus
»auf das sicherste bewiesen«, und dies zwar selbst von solchen,
die im übrigen dem Neuen Testamente mit äußerst skeptischen
Blicken gegenüberstehen. In Wahrheit enthalten die Briefe Pauli keinerlei
Nötigung zur Annahme eines historischen
Jesus, und kein Mensch würde vermutlich einen
solchen darin finden, wenn ihm jene Annahme nicht schon vorher feststünde.
Man stelle sich vor, die Briefe Pauli stünden in den Ausgaben des Neuen
Testaments vor den Evangelien, wohin sie eigentlich gehören, so würde
schwerlich jemand auf den Gedanken verfallen, dass der Jesus, wie er ihm hier
entgegentritt, ein wirklicher Mensch gewesen sei, der in Fleisch und Blut, als
geschichtliche Persönlichkeit auf der Erde gewandelt sei, sondern er würde
darin aller Wahrscheinlichkeit nach nur eine nähere Ausführung der
Idee des »leidenden Gottesknechtes«
finden und auf ein Eindringen heidnischer Religionsvorstellungen in die jüdische
Gedankenwelt schließen. Unsere Theologen sind jedoch a priori so sehr
davon überzeugt, das Christusbild des Paulus müsse wesentlich nach
dem Bilde des auf Erden wandelnden Jesus entstanden sein, dass selbst ein M.
Brückner im Vorworte seiner erwähnten Schrift gesteht, von
dem Resultate seiner Forschung, nämlich der Unabhängigkeit des paulinaschen
Christusbildes von der geschichtlichen Persönlichkeit Jesu, »selbst
überrascht« (!) worden zu sein.*
*Andere Theologen denken freilich
auch hierüber anders, wie denn z. B. Feine
in seinem Buche »Jesus Christus und Paulus« (1902) die Behauptung
aufstellt, Paulus habe es sich »sehr angelegen
sein lassen, ein deutliches und umfassendes Bild der Wirksamkeit und Persönlichkeit
Jesu zu gewinnen« (!) (229).
Das Christentum ist eine synkretistische
Religion. Es gehört auch seinerseits jenen vielgestaltigen religiösen
Bewegungen an, die um die Wende unserer Zeitrechnung miteinander um die Vorherrschaft
rangen. Aus der apokalyptischen Stimmung und der Messiashoffnung der jüdischen
Sekten hervorgegangen, getragen von der Flutwelle einer mächtigen sozialen
Bewegung, die in den religiösen Sekten und Mysteriengenossenschaften ihre
Kernpunkte und Ausgangspunkte hatte, und deren Anhänger den Messias nicht
bloß als Seelenheiland, sondern als Retter aus der Sklaverei, der Not
der Armen und Bedrängten, als Bringer einer neuen Gerechtigkeit auffassten**,
**Auf diesen sozialen Einschlag des
Christentums hat besonders Kalthoff in seinen Schriften den Nachdruck gelegt.
Vgl. auch Steudel: Das Christentum und die Zukunft des Protestantismus. Deutsche
Wiedergeburt, IV. 5909, 26f.; ferner Kautsky: Der Ursprung des Christentums,
1908.
hat es nichtsdestoweniger den
Kern seiner Lehre, sein spezifisch Eigentümliches, wodurch es sich vom
gewöhnlichen Judentume unterscheidet, die Zentralidee des sich selbst für
die Menschheit opfernden Gottes, der Naturmystik der umwohnenden Völkerschaften
entlehnt, die diesen Glauben im Zusammenhange mit dem Feuerkultus aus einer
früheren nördlichen Heimat nach Asien übertragen haben. Nur sofern
jener Glaube letzten Endes auf arischen Ursprung deutet, kann man sagen, dass
Jesus »ein Arier« gewesen sei; alle weiteren Behauptungen nach dieser
Richtung hin, wie z. B. Chamberlain in seinen
»Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts«
sie aufgestellt hat, sind reine Phantasie und beruhen auf einer völligen
Verkennung der wahren Sachlage. So aber, als die Religion von Christus, dem
»Herrn«, der das jüdische Gesetz durch seinen freiwilligen
Sühnetod säkularisiert hat, ist das Christentum nicht in Jerusalem,
sondern, wenn irgendwo, in der syrischen Hauptstadt Antiochia, einem der Hauptkultorte
des Adonis, »entstanden«, wie es denn
auch Antiochia war, wo nach der Apostelgeschichte
(II, 26) der Name »Christen«
für die Anhänger der neuen Sekte zuerst aufgekommen sein soll, die
bis dahin gewöhnlich »Jessäer« oder
»Nazoräer« hießen.*
* In derselben Weise sucht auch Vollers
in seiner Schrift über »Die Weltreligionen«
(1907) den Glauben der urchristlichen Sekte an den Tod und die Auferstehung
Jesu aus einer Verschmelzung des Adonis- (Attis-) und Christusglaubens zu erklären.
Auch er erblickt das Wesentliche jenes Glaubens darin, dass die bestehenden
Ansichten vom Messias und der Auferstehung auf eine und dieselbe Person übertragen
seien, und weist darauf hin, von wie großer Bedeutung es sein musste,
dass dieser Glaube gerade in den Ländern, wohin er sich naturgemäß
verbreiten musste und verbreitet hat, in Nordsyrien, Anatolien und Ägypten,
auf einen wohl vorbereiteten Boden stieß. Als den natürlichen Vermittler
der neuen Predigt oder »Heilsbotschaft« (Evangelium)
aber betrachtet er die jüdische Diaspora dieser Länder und findet
die Bestätigung für seine Ansicht darin, dass die Gebiete der größten
Dichtigkeit der Diaspora fast genau zusammenfallen mit den Ländern, wo
der sterbende und wiedererstehende junge Gott gefeiert wurde, und dass diese
selben Gebiete auch die Stätten sind, an denen wir schon eine Generation
nach dem Tode Jesu die zahlreichsten, blühendsten und fruchtbarsten Gemeinden
der neuen Glaubensform antreffen: Syrien, Anatolien, Ägypten. Es ist die
ostmediterrane oder levantinische Hufeisenlinie, die von Ephesus und Bithynien
durch Anatolien nach Tarsus und Antiochia zieht, von dort durch Syrien und Palästina
über die Kultzentren Bubastis und Sais nach Alexandrien. Fast genau in
der Mitte dieser Länder liegt Aphaka, wo das Hauptheiligtum des
»Herrn«Adonis lag, und wenig
südlich von diesem Orte liegt der Gau, wo der Heiland der Evangelien geboren
wurde« (a. a. O. 152).
Das steht nun freilich im schroffstem
Widerspruche zur Tradition, nach welcher das Christentum in Jerusalem entstanden
sein und sich von hier aus unter den Heiden verbreitet haben soll. Allein der
Bericht des Lukas über die Entstehung der
jerusalemischen Messiasgemeinde und die von ihr ausgegangene Verbreitung des
Evangeliums kann auf historische Bedeutung keinen Anspruch machen. Schon die
Erzählung von den Ostererlebnissen der Jünger und den ersten Erscheinungen
des Auferstandenen erweisen sich durch ihren widerspruchsvollen und verworrenen
Charakter als legendarische Erfindungen**.
** Vgl. O. Pfleiderer: Die Entstehung des Christentums
1905, 109ff.
Unhistorisch und in Widerspruch
mit demjenigen, was Matthäus und Markus hierüber berichten, ist die
Behauptung vom Bleiben der Jünger in Jerusalem nach dem Tode Jesu, die
sogar von Lukas auf einen ausdrücklichen Befehl des verstorbenen Meisters
zurückgeführt wird (Luk. 24, 33; 49, 52;
Apg. 1, 4, 8, 12ff.). Unhistorisch ist die Pfingstversammlung mit
dem wunderlichen »Wunder« der Ausgießung des Heiligen Geistes,
die, wie dies selbst ein Clemen zugibt, vermutlich aus der jüdischen Legende
entstanden ist, wonach die Gesetzgebung auf dem Sinai, um sie allen Völkern
verständlich zu machen, in siebzig verschiedenen
Sprachen erfolgt sein soll.*
* Religionsgesch. Erklärung d.
N. 261. Vgl. übrigens auch die buddhistische Erzählung von der ersten
Predigt Buddhas: Götter und Menschen strömten zu ihm hin, atemlos
horchte alles auf die Worte des Lehrers. »Und da glaubte jeder der zahllosen
Hörer, der Weise blicke auf ihn und spreche. zu ihm in seiner eigenen Sprache,
und doch war es der Dialekt von Magadha, den er sprach«. Seydel: Evangelium
von Jesus 248, Buddha-Legende 92 f.
Aber auch die Hinrichtung des
Stephanus und die hieran sich anschließende
Verfolgung der jerusalemischen Gemeinde sind legendarische Erfindungen.**
** Auch der sog. »Blutzeuge«
Stephanus, dessen Fest auf den 26. Dezember, den
Tag nach der Geburt Christi, fällt, verdankt der Astrologie seine Existenz
und weist auf das Sternbild der Krone (gr. stéphanos) hin, das zur selben
Zeit am östlichen Horizonte sichtbar wird (Dupuis:
a. a. 0. 267). Daher die bekannte Redewendung: »die Märtyrerkrone
erwerben«. Schon der Theologe Baur hat es auffällig gefunden, dass
das jüdische Synedrium, welches kein Todesurteil ohne Genehmigung des römischen
Statthalters vollziehen durfte, in der Sache des Stephanus
diese Form vollständig hintansetzt, und er hat mit Recht darauf
hingewiesen, wie die ganze Erzählung vom Märtyrertode des Stephanus
durch die Parallele mit dem Tode Christi bestimmt ist
(Baur: Paulus 52ff.).
Die große Mühe, die
Lukas sich gibt, Jerusalem als den Ausgangspunkt
der christlichen Bewegung hinzustellen, verrät deutlich die Tendenz des
Verfassers der Apostelgeschichte, die tatsächlich von vielen Brennpunkten
ausgegangene Tätigkeit der christlichen Propaganda in eine Ausbreitung
des Evangeliums von Einem Brennpunkte aus umzudeuten. Es soll der Anschein hervorgerufen
werden, als ob die neue Religion sich explosionsartig von Jerusalem aus über
die ganze Welt verbreitet habe, und so ihr beinahe gleichzeitiges Auftreten
in ganz Vorderasien erklärt werden. Darum müssen am Pfingsttage zu
Jerusalem »andächtige Juden aus allerlei Volk« versammlet sein
und sich trotz ihrer verschiedenen Sprache gegenseitig verstehen können.
Darum muss Stephanus gesteinigt und damit der Anlass
zu jener Verfolgung gegeben werden, welche die Gläubigen auf einmal in
alle Winde zerstreut (Smith:
a. a. O. 23—31.).
Nun ist es ja gewiss wahrscheinlich,
dass auch zu Jerusalem, ebenso wie an vielen anderen Orten, sich eine Messiasgemeinde
befand, die an Jesus im Sinne des sich selbst für
die Menschheit opfernden Gottes glaubte. Die Frage jedoch ist, ob dieser Glaube
sich bei der jerusalemischen Gemeinde auf einen wirklichen Menschen Jesus
stützte, und ob somit ein Recht besteht, diese Gemeinde, deren Mitglieder
zum Teil mit Jesus persönlich bekannt gewesen
sein und dessen vertrauten Umgang genossen haben sollen, für die »Urgemeinde«
im Sinne des ersten Keims und Ausgangszentrums der christlichen Bewegung anzusehen.
Man könnte ja annehmen, und Frazer tut dies,
dass ein jüdischer Prophet und Wanderprediger, der zufällig auch den
Namen Jesus führte, von seinen Gegnern, den rechtgläubigen Juden,
wegen revolutionärer Umtriebe gefangen gesetzt, als der Haman des betreffenden
Jahres hingerichtet sei und dadurch die Veranlassung zur Begründung der
jerusalemischen Gemeinde gegeben habe (Frazer:
Golden bough III, 197.).
Indessen hiergegen spricht es
schon, dass die Berichterstatter über den Anfang der christlichen Propaganda
offenbar durchaus im Unsichern tappen, der eine diese, der andere jene Behauptung
hierüber aufstellt, ohne besorgen zu müssen, widerlegt zu werden,
und sie alle den Mangel einer bestimmten Kenntnis durch unverkennbare Phantasien
zu ersetzen streben. Wenn die Lehre von Jesus, wie Smith
behauptet, vorchristlich war, »ein Kultus, der an
den Grenzen der Jahrhunderte (100 v. Chr. bis 100
n. Chr.) unter den Juden und besonders den Hellenisten
mehr oder weniger geheim und in ,Mysterien‘ gehüllt, verbreitet war«,
so versteht man sowohl das plötzliche Hervortreten des Christentums
auf einem so weiten Gebiete, wie fast dem ganzen Vorderasien, als auch begreift
man die Tatsache, dass schon die frühesten Berichterstatter über den
Anfang der christlichen Bewegung nichts Sicheres mitzuteilen wussten. Dies scheint
jedoch ganz unvereinbar mit der Annahme eines gewissen, bestimmten, lokalen
und persönlichen Ausgangspunktes der neuen Lehre. Man wird einwenden: aber
die Evangelien! Sie erzählen doch offenbar die Geschichte eines menschlichen
Individuums und sind ohne die Annahme eines historischen Jesus nicht erklärlich!
Die Frage entsteht mithin, woher die Evangelien, auf die allein sich die Annahme
eines geschichtlichen Jesus stützen kann, ihr Wissen von diesem Jesus haben.
S. 117-159
Aus: Arthur Drews, Die Christusmythe, Verbesserte und erweiterte Ausgabe /3.bis5.
Tausend/ Verlegt bei Eugen Diederichs Jena 1910
Der
evangelische Jesus
Wie weit auch die Ansichten auf
dem Gebiete der Evangelienkritik noch immer auseinander gehen mögen: in
einem stimmen doch gegenwärtig alle wirklich kompetenten Beurteiler mit
seltener Einmütigkeit überein: die Evangelien sind keine Geschichtsurkunden
im gewöhnlichen Sinne des Wortes, sondern Glaubensschriften, Erbauungsbücher,
literarische Urkunden des christlichen Gemeindebewusstseins. Ihre Absicht ist
daher auch nicht, einen der Wirklichkeit entsprechenden Bericht über das
Leben und die Lehre Jesu zu liefern, sondern den Glauben an Jesus als den von
Gott zur Erlösung seines Volkes gesandten Messias zu erwecken, zu befestigen
und gegen Angriffe zu verteidigen. Als Glaubensschriften aber beschränken
sie sich, wie selbstverständlich, auf die Mitteilung vor allem solcher
Worte und Ereignisse, die für den Glauben irgendwelche Bedeutung haben,
und haben sie zugleich das größte Interesse daran, die Tatsachen
so zurechtzulegen und darzustellen, wie dies dem Inhalt des Glaubens entspricht.
S. 159
Aus: Arthur Drews, Die Christusmythe,
Verbesserte und erweiterte Ausgabe /3.bis 5. Tausend/ Verlegt bei Eugen Diederichs
Jena 1910
Der
synoptische Jesus
Von den zahllosen Evangelien, die noch während der
ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts im Umlauf waren, sind bekanntlich
nur vier auf uns gekommen. Die übrigen sind von der Kirche nicht mit in
den Kanon der neutestamentlichen Schriften aufgenommen worden und dadurch der
Vergessenheit anheimgefallen.
Höchstens ein paar Namen sowie vereinzelte unbedeutende Trümmer sind
uns von ihnen übrig geblieben. So wissen wir von einem Evangelium des Matthias,
des Thomas, des Bartholomäus,
Petrus, der zwölf Apostel usw. Was die vier uns vorliegenden Evangelien
betrifft, so tragen zwei von ihnen die Namen von Aposteln selbst, nämlich
Matthäus und Johannes,
zwei die Namen von Begleitern und Schülern von Aposteln, nämlich Markus
und Lukas. Damit ist jedoch keineswegs gesagt,
dass sie auch wirklich von den betreffenden Persönlichkeiten geschrieben
seien. Nach dem Kirchenlehrer Chrysostomus
sind ihnen diese Namen erst gegen Ende des zweiten Jahrhunderts vorgesetzt worden.
Auch heißen die Überschriften ja nicht: Evangelium
des Matthäus,
des Markus
usw., sondern nach Matthäus,
nach Markus,
nach Lukas,
nach Johannes,
bezeichnen also höchstens nur diejenigen Personen und Jüngerkreise,
deren eigentümliche Auffassung des Evangeliums sie darstellen.
Unter diesen Evangelien gilt nun
wieder das Evangelium des Johannes als das späteste.
Es setzt die übrigen voraus und trägt einen so ausgesprochen dogmatisch-tendenziösen
Charakter, dass es als Geschichtsquelle nicht in Betracht kommen kann. Von den
übrig bleibenden Evangelien aber, die wegen der Ähnlichkeit ihrer
Darstellung nach Form und Inhalt als »synoptische«,
d. h. als solche, bezeichnet werden, die zusammen betrachtet
werden müssen und erst in ihrer Vereinigung eine wirkliche Anschauung der
Persönlichkeit des Heilands liefern, pflegt dasjenige des Markus
als das älteste angesehen zu werden. Matthäus
und Lukas stützen sich auf
Markus, und allen dreien liegt nach der herrschenden Ansicht noch eine
gemeinsame aramäische Quelle zugrunde, worin die lehrhaften Aussprüche
Jesu enthalten gewesen sein sollen. Die Tradition bezeichnet Johannes
Markus, den Neffen des Barnabas, Schüler
des Petrus, Begleiter des Paulus
auf seiner ersten Missionsreise und späteren Gehilfen in der römischen
Gefangenschaft, als den Verfasser des Markusevangeliums und nimmt an, dass dieses
kurz nach der Zerstörung Jerusalems (70),
also mindestens vierzig Jahre nach
dem Tode Jesu (!) geschrieben sei. Sie stützt
sich hierbei auf eine Notiz des Kirchenhistorikers Eusebius
(gest. um 340 n.Chr.), wonach Papias,
Bischof von Hierapolis in Kleinasien (um 140), von dem Ȁltesten
Johannes« in Erfahrung gebracht haben will, dass
Markus aufgezeichnet habe, was er von Petrus
gehört und dieser wiederum vom »Herrn«
gehört habe.
Das ist bei ihrer vermittelten Beschaffenheit und der notorischen Unzuverlässigkeit
des Eusebius gerade keine sehr vertrauenerweckende
Notiz, und das Vertrauen zu ihrer Glaubwürdigkeit schwindet noch mehr angesichts
der Tatsache, dass der Verfasser des Markusevangeliums keine Anschauung von
den Orten hat, an denen Jesus geweilt haben soll. Und dabei soll Markus in Jerusalem
geboren und Missionsreisender gewesen sein! Markus
steht, wie Wernle in seiner Schrift über
»Die Quellen des Lebens Jesu« es ausdrückt, sowohl zeitlich
wie örtlich dem Leben Jesu recht fern gegenüber
(!), ja, besitzt überhaupt keine klare Anschauung von Jesu Wirken und Lebensgang
(a.a.O.58.), und dasselbe bestätigt Wrede
in seinem Werke »Das Messiasgeheimnis«
(1901), wohl der scharfsinnigsten und eingehendsten
Untersuchung der Grundprobleme des Markusevangeliums, welche wir besitzen. Jesus
ist für Markus ohne weiteres der Messias, der Sohn Gottes.
»Für diesen Glaubenssatz soll Glauben geweckt werden, er soll bewiesen
und verteidigt werden: das ganze Evangelium ist eine Verteidigung. Markus will
alle seine Leser, die er sich unter Heiden und Heidenchristen denkt, zu dem
Bekenntnis führen, das der heidnische Hauptmann ausspricht: ,Wahrlich,
dieser Mensch war Gottes Sohn!‘ (15, 39.).
Diesem Zweck ist die ganze Erzählung untergeordnet« (60.)
Der Hauptbeweis des Markus
für diesen Gedanken ist der Wunderbeweis. Gegenüber seinen
Wundern tritt die Lehre Jesu bei Markus so sehr
zurück, dass wir nie genau erfahren, was Jesus
gepredigt hat. »Infolgedessen ist das geschichtliche
Bild stark getrübt, die Person Jesu ins
Groteske, Phantastische verzerrt worden« (!)
(ebd.). Nicht nur bringt Markus vielfach
seine eigenen Gedanken an die Überlieferung von Jesus heran und berichtet
dabei geradezu Verkehrtes, ja Absurdes, wohin nach Wernle
z. B. der Ausspruch gehört, dass Jesus sich absichtlich einer dunklen Redeweise
bedient und in Gleichnissen und Rätseln gesprochen habe, um von dem Volke
nicht verstanden zu werden* auch die Verbindung, die er zwischen den Erzählungen
hergestellt hat, wie sie erst lange Zeit einzeln für sich von Mund zu Mund
gegangen sind, bevor Markus eine zusammenhängende Geschichte daraus gemacht
hat, ist eine ganz lose, äußerliche.
* Die richtige Erklärung dieser
Stelle dürfte darin liegen, dass der Jesusglaube Sektenglaube und nicht
für »die da draußen« bestimmt war. 8 63ff. ,68.
Ursprünglich gingen die
von Markus berichteten Geschichten sich untereinander
gar nichts an. Es liegt auch nicht einmal eine Erinnerung daran vor, dass sie
sich gerade in dieser Reihe folgten (!) (63ff.).
Nur der Stoff selbst also, nicht was Markus aus
ihm gemacht hat, ist geschichtlich wertvoll (68).
Einzelgeschichten, Einzelgespräche, Einzelworte sind von Markus
zu einem Ganzen verbunden worden, und oft genug lässt sich noch
erkennen, dass es sich um Überlieferungen handelt, die sich erst lange
nach Jesu Tode in der ältesten Christenheit gebildet, uni Erfahrungen,
die sich erst allmählich zu einer Geschichte verdichtet haben, wie denn
vor allem die Wundergeschichten in dieser Weise zustande gekommen sein dürften.
Trotz aller dieser Zutaten und Veränderungen und trotzdem es weder bei
den Worten Jesu noch bei den Erzählungen in den meisten Fällen mehr
möglich ist, das Tatsächliche aus der Überlieferung herauszuschälen,
deren erste schriftliche Aufzeichnung vierzig Jahre gewartet hat, soll der geschichtliche
Wert der von Markus uns mitgeteilten Überlieferungen
»sehr hoch« anzuschlagen sein (!). Denn »wertvoll«
ist doch nicht bloß »der Gesamteindruck des
Gewaltigen, Ursprünglichen, Schöpferischen«, der aus
diesen Erzählungen des Markus spricht, sondern
auch so mancher einzelne »der Wirklichkeit entnommene«
Zug. Zahlreiche Erzählungen, Augenblicksbilder und Bemerkungen »sprechen
für sich selbst«. Die Anspruchslosigkeit und Absichtslosigkeit
(!), die Frische und Freudigkeit (!), womit Markus das alles wiedergibt, zeigen
deutlich (?), »dass er hier der reine Mund guter
Überlieferung ist und nicht anders schreibt, als Augenzeugen selbst ihm
berichteten« (!). »Und so bleibt es
zuletzt doch dabei, dass dieses Evangelium trotz allem ein außerordentlich
wertvolles Werk ist, eine Sammlung alter und echter Stoffe, die lose geordnet
und unter einige leitende Gedanken gestellt sind, verfasst vielleicht von jenem
Markus, den das Neue Testament kennt, und von dem Papias
aus dem Mund des Ältesten Johannes
hörte« (70.).
Man traut seinen Augen nicht und
fasst sich an den Kopf über diese Art, den Markus zu einer auch nur halbwegs
glaubwürdigen »Geschichtsquelle« stempeln
zu wollen. Nur zu sehr wird man durch dies Verfahren an die ironische Bemerkung
des verstorbenen Wrede erinnert, wenn dieser über
die »Geschmacksurteile« spottet, die in der Wissenschaft vom Leben
Jesu blühen. »Diese Wissenschaft«,
sagt Wrede, »krankt
an der psychologischen Vermutung, und diese ist eine Art des historischen Ratens«
(3.) Der eine glaubt dies, der andere jenes als historischen
Kern aus dem Evangelium herausschälen zu können, aber objektive Beweise
für seine Behauptungen hat keiner.*
* Es berührt den draußen
stehenden Leser komisch, in den bezüglichen Darlegungen der Theologen die
Dinge als »unzweifelhaft geschichtlich«, »eminent historische
Tatsache«, »treue Wiedergabe des Geschichtlichen« usw. charakterisiert
zu finden und dabei zu beobachten, dass, was dem einen für »geschichtlich
sicher« gilt, von dem andern als »ganz sicher unhistorisch«
abgetan wird. Wo ist hier die berühmte »Methode«, auf welche
sich die »kritischen« Theologen den »Laien« gegenüber
so viel zugute tun, die sich ein Urteil über den geschichtlichen Wert oder
Unwert der Evangelien erlauben?
»Wenn man mit einem historischen
Kerne arbeiten will, so muss man wirklich auf einen Kern stoßen. Es kommt
gerade alles darauf an, dass in einer Geschichte oder einem Worte etwas nachgewiesen
wird, was jede andere Erklärung des vorliegenden Gebildes unwahrscheinlich
oder wenigstens zweifelhaft macht«
(Wrede: a. a. O. 91.). Ob Wrede in
demjenigen, was nach Wernle unmittelbar »für
sich selbst« sprechen soll, einen derartigen »historischen Kern«
erblickt haben würde, erscheint nach seiner radikalen Kritik der historischen
Glaubwürdigkeit des Markusevangeliums sehr fraglich. Denn auch Wrede
denkt über den »Historiker« Markus
nicht wesentlich verschieden von Wernle.
So sind z. B. nach seiner Meinung die Jünger Jesu, wie der Evangelist sie
schildert, mit ihrer bis an Torheit grenzenden Verständnislosigkeit, ihrer
Ratlosigkeit und ihrem zweideutigen Verhalten gegenüber ihrem Meister »keine
Gestalten der Wirklichkeit« (104.). Auch er räumt,
wie gesagt, ein, dass Markus keine wirkliche Anschauung
mehr vom geschichtlichen Leben Jesu habe (129.),
wenn auch »blasse Reste« (!) einer
solchen in seine übergeschichtliche Glaubensauffassung eingegangen seien.»Das
Markusevangelium«, sagt er, »gehört
in diesem Sinne in die Dogmengeschichte« (131.). Der Gedanke,
dass in ihm der Entwicklungsgang des öffentlichen Lebens Jesu noch erkennbar
vorliege, erweist sich als morsch (148).
»Wünschenswert wäre es in der Tat im höchsten
Grade, dass ein solches Evangelium nicht das älteste ist« (ebd.).
So also steht es mit Markus
als Geschichtsquelle. Wir dürfen hiernach
kaum hoffen, in unserm Glauben an die geschichtliche Wirklichkeit Jesu
durch die beiden andern Synoptiker wesentlich bestärkt zu werden. Von diesen
soll das Evangelium des Lukas im Anfang
des zweiten Jahrhunderts von einem unbekannten Heidenchristen geschrieben,
dasjenige des Matthäus gar überhaupt
nicht das Werk eines einzigen Verfassers, sondern in der ersten Hälfte
des zweiten Jahrhunderts von verschiedenen Händen, und dies zwar unverkennbar
im Interesse der Kirche, verfasst worden sein.*
* Vgl. Pfleiderer: Entstehung des
Christentums 207, 213. Alle derartigen Angaben über die Abfassungszeit
der Evangelien beruhen übrigens auf bloßen Vermutungen, bei denen
noch dazu meist ganz andere Gesichtspunkte den Ausschlag zu geben pflegen als
das rein geschichtliche Interesse. So pflegt auf katholischer Seite nicht Markus
oder Lukas, sondern Matthäus für die älteste Quelle ausgegeben
zu werden, und auch hierfür bringt man »Beweise«
vor — natürlich, denn es ist ja das »kirchliche« Evangelium,
es enthält ja die berühmte Stelle Kap. 16, 18 u. 19 über die
»Schlüsselgewalt« des Petrus;
wie sollte es also nicht das älteste sein? Neuerdings hat Harnack
(Beiträge zur Einl. in das N. T. III. Die Apostelgeschichte 1908) Gründe
dafür beizubringen versucht, dass die Apostelgeschichte mitsamt dem Evangelium
des Lukas schon am Anfang der 6oer Jahre des ersten Jahrhunderts abgefasst sei.
Allein eine wirkliche Entscheidung wagt auch er nicht zu treffen, und seinen
Gründen stehen andere ebenso gewichtige gegenüber, die jener von ihm
hervorgehobenen »Möglichkeit« widersprechen (a. a. 0. 219ff.).
Nun gründen sich aber beide,
wie gesagt, auf Markus, und wenn sie außerdem
auch noch ein gewisses »Sondergut«, das
Markus fehlt, in ihre Darstellung hineingearbeitet
haben, z. B. eine größere Anzahl von Gleichnissen und Einzelworten
Jesu, wenn sie dessen Lebensgeschichte durch Hinzufugung
ausgesprochen legendarischer Züge, wie z. B. der Vorgeschichte des Heilands,
sämtlicher Zusätze der Leidens- und Auferstehungsgeschichte usw.,
ausgeschmückt haben, so ist auch dies nicht gerade geeignet, die Existenz
eines historischen Jesus zu stützen. Wernle
freilich ist der Ansicht, dass von beiden Evangelisten gerade in dieser
Hinsicht »alte Überlieferungen mit besonderer
Treue« aufbewahrt seien, jedoch ohne einen Beweis hierfür
zu liefern, während er auf der andern Seite in Bezug auf gewisse Erzählungen
des Lukas zugibt, dass, wenn dieser schon alte
Überlieferungen benutzt habe, sie darum doch noch nicht schriftlich, vor
allem aber »noch nicht geschichtlich zuverlässig«
gewesen zu sein brauchten. Es nimmt sich eigentümlich aus, wenn er dann,
die Geschichtlichkeit der Überlieferung völlig beiseite lassend, emphatisch
erklärt, ein so starker Anteil des Evangelisten an Bildung und Gestaltung
seiner Erzählung, wie dieser tatsächlich nach seiner Meinung vorhanden
ist, sei doch keineswegs imstande, den »Wert seines
großen reichen Schatzes köstlicher Gleichnisse und Geschichten herabzusetzen,
durch die Jesus selber (!) frisch und ursprünglich (!) zu uns redet«,
und wenn er am Ende das Fazit zieht, »dass das Sondergut beider
Evangelien trotz seines sehr gemischten Charakters Anspruch genug auf unsere
Dankbarkeit hat« (81.). Denn das
heißt doch wohl nichts anderes, als die Dankbarkeit für den literarischen
oder sonstigen Wert der Evangelien im Interesse des Glaubens für ihre geschichtliche
Glaubwürdigkeit ausnutzen!
Aber da ist ja noch die Spruchsammlung,
jene »große Redequelle«, aus
welcher sämtliche Synoptiker und vor allem Lukas
und Matthäus den Stoff zu ihren Aussprüchen
Jesu genommen haben sollen. Leider ist nur diese ein uns völlig unbekanntes
X, denn wir kennen weder den Umfang der »großen«
Quelle, noch die Anordnung der Reden in ihr, noch deren Wortlaut. Wir können
nur sagen, dass diese Sammlung in aramäischer Sprache geschrieben und die
Anordnung der Reden in ihr nicht nach der Zeitfolge, sondern nach der Gleichartigkeit
des Inhaltes getroffen war, während schon das wieder zweifelhaft ist, ob
die Sammlung ein einheitliches Werk, von einem einzigen Manne verfasst war und
ob sie eine Geschichte erlebt hat, bevor sie zu Lukas
und Matthäus kam. Aber gleichviel —
»die Spruchsammlung enthält eine so kostbare
Fülle der Herrnworte, dass recht wohl ein Augenzeuge selbst ihr Verfasser
sein könnte« (!) (71.). Und was die aus ihr geschöpften
Reden Jesu anbetrifft, so sind sie zwar niemals von Jesus gehalten worden (!),
sondern verdanken ihre Zusammenstellung durchaus der Hand des Sammlers, wie
denn auch die viel bewunderte Bergpredigt Jesu aus einzelnen Worten, die allen
Teilen seines Lebens angehören, vielleicht durch ein Jahr getrennt, nachträglich
zusammengestellt ist und die verbindenden Grundgedanken überall nicht diejenigen
Jesu, sondern vielmehr der Urgemeinde sind, »aber
im ganzen ist der Geschichtswert dieser Reden doch der allergrößte.
Zusammen mit den Herrnworten des Markus geben sie uns den treuesten Einblick
in das Herz des Evangeliums« (74.).
Das also sind die Quellen für
die Annahme eines geschichtlichen Jesus! Streicht man alles ab, was von den
Evangelien geblieben ist, so sieht das übrige allerdings recht »ärmlich«,
oder, gerade heraus gesagt, erbärmlich aus. »Wenn
es aber nur fest und zuverlässig ist,« tröstet sich
Wernle. Ja, wenn! »Und wenn es nur genügt,
um uns auf die Hauptfrage: Wer war Jesus? Antwort zu geben!« (81 f.).
So viel ist ja sicher: ein »Leben Jesu«
kann auf Grund der vorhandenen Zeugnisse nicht geschrieben werden. Darin stimmen
gegenwärtig wohl alle Theologen überein, was sie freilich nicht abhält,
wenigstens für das »Volk« derartige
Darstellungen doch immer wieder zu liefern und hierbei den Mangel an historischer
Zuverlässigkeit durch erbauliche Ergüsse, Schönrednerei und Phrasen
zu ersetzen. »Nicht an kostbarem geschichtlichem
Einzelgut, an Bausteinen des Lebens Jesu fehlt es uns; sie sind in Fülle
vorhanden. Aber der Bauplan ist uns verloren, gänzlich unfindbar, weil
schon den ältesten Jüngern nichts an einem solchen geschichtlichen
Zusammenhang gelegen war (!), sondern vielmehr alles an den einzelnen Worten
und Taten, sofern sie Glauben erweckten, Gehorsam forderten.« Ob
sie dies weniger getan haben würden, wenn sie im Zusammenhange berichtet
worden wären, ob die Glaubwürdigkeit ihrer Erzählungen von Jesus
wohl darunter gelitten haben würde und nicht vielmehr nur gesteigert worden
wäre, wenn die Evangelisten sich die Mühe genommen hätten, uns
etwas mehr von dem wirklichen Leben Jesu mitzuteilen? Wie jetzt die Dinge liegen,
werden in den Evangelien kaum zwei Ereignisse in der gleichen Weise oder auch
nur in demselben Zusammenhang berichtet, ja, die Verschiedenheiten und Widersprüche
— und dies nicht bloß bei gleichgültigen Dingen, bei Namen,
Zeit- und Ortsangaben usw. — sind so groß, dass diese literarischen
Urkunden des Christentums an Verworrenheit kaum übertroffen werden können.*
* Der Laie hat bekanntlich hiervon
meist nur eine sehr geringe Ahnung. Es sei ihm daher die »Vergleichende
Übersicht der vier Evangelien« von S. E. Verus (1897) nebst dem Kommentar
hierzu empfohlen.
Aber schließlich ist auch
das nach Wernle »kein
so großer Schade, sobald wir nur hinreichend klar ermitteln können,
was Jesus in der Hauptsache tat und wollte« (83). Leider
sind wir nicht einmal hierzu imstande. Denn die letzte Auskunftsstelle, die
wir bei der Prüfung der Quellen erreichen, die aramäische Spruchsammlung
und jene ältesten Überlieferungen, aus denen
Markus geschöpft haben soll, und deren Nachlese uns Lukas
und Matthäus aufbewahrt haben, sind uns gänzlich
unbekannt. Kennten wir sie aber auch, so wären wir doch damit noch immer
nicht »an Jesus selbst herangekommen«. »Sie
enthalten die Möglichkeit der Trübung und Umbildung. Sie geben zunächst
den Glauben der ältesten Christen wieder, einen Glauben, der im Laufe von
vier Jahrzehnten gewachsen ist und sich auch gewandelt hat« (ebd.).
Wir kennen also höchstens nur den Glauben der Urgemeinde. Wir sehen,
wie diese sich von ihrem Auferstehungsglauben aus Jesus
klar zu machen, wie sie die göttliche Beschaffenheit
Jesu durch Anführung von Wundererzählungen usw. sich selbst
und andern zu »beweisen« gesucht hat.
Allein was Jesus selbst gedacht, was er getan,
was er gelehrt, wie er gelebt und, dürfen wir hinzufügen, ob
er überhaupt gelebt hat, das ist aus den Evangelien nicht
zu ersehen und kann aus ihnen allem Vorangegangenen nach auch nicht einmal mittelbar
mit ausreichender Bestimmtheit erschlossen werden.
Der liberale Theologe freilich,
dem alles an der Existenz eines historischen Jesus gelegen ist, weiß sich
zu helfen. Er erklärt, auch alles Bisherige sei noch nicht die Hauptsache
sondern diese sei, wie Jesus Gott, die Welt, die Menschen angeschaut hat, welche
Antwort er auf die Frage: worauf kommt es an vor Gott? und Was heißt Religion?
gegeben hat. Man sollte meinen, die Antwort hierauf sei in dem Vorangegangenen
bereits enthalten und laute, dass wir von alledem nichts wüssten. Aber
weit gefehlt! Wernle weiß es und »schaut«
es »im hellen Tageslicht«. »Aus der
Fülle seiner Gleichnisse und Sprüche und aus zahlreichen Augenblickserinnerungen
redet es zu uns so klar und bestimmt, als wäre Jesus unser Zeitgenosse
(!). Kein Mensch auf der Erde kann sagen, es sei unsicher oder dunkel, wie Jesus
über diese Hauptsache (!) gedacht hat, die uns (nämlich
den liberalen Theologen) noch heute die Hauptsache ist.« »Und
wenn die Christenheit jahrtausendelang das vergessen hat, was ihr Meister zuerst
und vor allem wollte, heute (d. h. nach den Klarstellungen der kritischen Theologie!)
leuchtet es uns aus den Evangelien wieder so klar und wunderbar entgegen, als
wäre die Sonne eben erst aufgegangen und vertriebe durch ihre siegreichen
Strahlen alle Gespenster und Schatten der Nacht« (85 f.). Und
so hat denn auch Wernle selbst, dem wir diese trostreiche
Versicherung verdanken, ein in theologischen Kreisen sehr geschätztes Werk
über »Die Anfänge unserer Religion«
(1901) geschrieben, in dem er eine so eingehende,
im Tone überschwänglichster Begeisterung gehaltene Darstellung der
innersten Gedanken, Absichten, Worte und Lehre Jesu und seiner Anhänger
geliefert hat, als wäre er selbst unmittelbar dabei gewesen.
Man unterdrückt ein starkes
Wort. Es sind ja doch die Ausführungen eines ernst zu nehmenden Mannes,
mit dem man es bei dem Obigen zu tun hat, einer »Leuchte« seiner
Wissenschaft! Die viel zitierte Schrift über »Die
Quellen des Lebens Jesu« gehört der Sammlung »Religionsgeschichtlicher
Volksbücher« an, welche die Quintessenz des gegenwärtigen
theologischen Wissens zum Inhalte haben, und die für die weitesten Kreise
der religiös Interessierten und Gebildeten bestimmt sind. Man darf also
wohl mit Recht voraussetzen, dass jene Schrift zum Ausdruck bringt, was die
liberale Theologie unserer Tage wünscht, dass die ihr unterstellten Gemeindemitglieder
wissen und glauben möchten. Oder schätzen am Ende nur die Religionsgeschichtlichen
Volksbücher das geistige Niveau ihrer Leser so niedrig ein, dass sie meinen,
mit derartigen Ausführungen, wie denjenigen von Wernle,
die Gebildeten in ihrem Glauben an einen historischen Jesus befestigen zu können?
Man zieht die mehr »wissenschaftlich« gearteten Darstellungen anderer
bedeutender Theologen über den gleichen Gegenstand zu Rate. Man greift
zu Beyschlag,
Harnack, Bernhard Weiß, zu
Pfleiderer, Jülicher und Holtzmann.
Man schlägt Bousset nach, der die Existenz
eines historischen Jesus mit so großer Entschiedenheit und Wärme
gegen einen Kalthoff verteidigt hat — überall
das gleiche halb komische, halb traurige Schauspiel: auf der einen Seite entwertet
man die evangelischen Quellen und zersetzt die vorhandenen Berichte mit seiner
Kritik bis zu einem solchen Grade, dass kaum noch etwas Positives übrig
bleibt, auf der andern versetzt man sich in pathetische Begeisterung für
den so erhaltenen »historischen Kern«, rühmt die Verdienste
und den »Wahrheitsmut« der sog. kritischen Theologie, der am Ende
doch nur darin besteht, offenkundige Mythen und Legenden für dasjenige
erklärt zu haben, wofür sie von den Unbefangenen schon längst
gehalten wurden, und schwingt sich mit verzücktem Augenaufschlag zu einem
Hymnus auf Jesus auf, als ob alles in den Evangelien über ihn Berichtete
auch jetzt noch immer Geltung habe. Aber wie sagt doch
Hausrath? »Die (evangelischen) Erzählungen
ihrer wunderbaren Bestandteile entkleiden und dann den Rest für Geschichteausgeben,
hat früher nicht für Kritik gegolten«.*
* Jesus u. d. neutestamentl. Schriftsteller
II 43. Man nehme etwa die Schlusssätze E. Petersens
in »Die wunderbare Geburt des Heilandes«, die in dem Nachweis der
rein mythischen Beschaffenheit der evangelischen Geburtsgeschichten gipfelt:
»Wenn wir, nicht aus Willkür, sondern durch die geschichtliche Notwendigkeit
gezwungen, den Satz: Empfangen von dem hl. Geiste, geboren von der Jungfrau
Maria, ablehnen, so bleibt Jesus uns doch der ,Sohn Gottes‘. Er bleibt
es, weil er in Gott seinen Vater erlebt hat und weil er für uns auf der
Seite Gottes steht. Auch wir haben ein gutes Recht, trotz unserer Ablehnung
der Geschichtlichkeit der wunderbaren Geburt zu bekennen: ,Du bist Christus,
der Sohn des lebendigen Gottes‘«. Ähnlich M. Brückner
am Schlusse seiner übrigens ausgezeichneten Schrift »Der sterbende
und auferstehende Gottheiland«. Wem bei solcher Phraseologie nicht —
schlecht wird, dem ist nicht zu helfen.
Kann man es der katholischen
Theologie unter solchen Umständen verdenken, wenn sie auf diese ganze protestantische
»Kritik« mit unverhohlenem Mitleid, ja — Verachtung blickt
und nicht müde wird, ihr die Inkonsequenz, Halbheit und Ergebnislosigkeit
aller ihrer Bemühungen um die Aufhellung der Ursprünge des Christentumes
vorzuhalten? Hat sie nicht recht, über das furchtbare Fiasko zu triumphieren,
das der Protestantismus mit allen derartigen Versuchen erlitten hat und notwendig
erleiden muss, die Evangelien im Sinne eines bloßen Geschichtsglaubens
an Jesus auszumünzen? Freilich ist, was sie selbst zugunsten des historischen
Jesus vorbringt, von aller Kritik, ja, selbst von allem guten Willen zur Ermittelung
der Tatsachen so gänzlich verlassen, dass man ihr zu viel Ehre antun würde,
auf ihre bezüglichen Ausführungen überhaupt auch nur genauer
einzugehen. Für sie ist das ganze Problem einfach damit gelöst, dass
die Existenz des historischen Jesus die unumgängliche Voraussetzung der
— Kirche bildet, auch wenn alle Tatsachen der Geschichte dagegen ihr Veto
einlegen sollten; und wie einer der ihrigen es formuliert hat, das ist im Grunde
die bereits vorher feststehende einstimmige Ansicht aller ihrer Untersucher
des betreffenden Gegenstandes: »Die geschichtlichen
Zeugnisse für die Echtheit der Evangelien sind so alt, so zahlreich und
so begründet, wie kaum für ein anderes Buch der antiken Literatur
(!). Wenn man also nicht inkonsequent sein will, so darf man die Echtheit der
Evangelien nicht in Frage ziehen. Dann steht aber auch ihre Glaubwürdigkeit
außer Zweifel; denn ihre Verfasser waren Augen-und Ohrenzeugen der erzählten
Begebenheiten (!) oder sie haben von solchen ihre Kunde empfangen; sie waren
ebenso urteilsfähige (!) wie wahrheitsliebende Männer; sie konnten,
wollten, ja, mussten die Wahrheit sagen.«*
*Schäfer:
Die Evangelien und die Evangelienkritik 1908, 123. Die Geschichte der Entwicklung
der Kirche in den ersten Jahrhunderten ist eine Geschichte der unverschämtesten
literarischen Fälschungen, roher Gewalttätigkeit in Glaubenssachen
und plumper Spekulation auf die Leichtgläubigkeit der großen Masse.
Das Pochen auf die »Glaubwürdigkeit« der christlichen Schriftsteller
jener Zeit kann daher bei den Kundigen höchstens nur ein ironisches Lächeln
hervorrufen. Vgl. Robertson: Geschichte des Christentums (1910).
Wie anders nimmt sich gegenüber
dieser Art von Theologie der gute, ehrliche Kalthoff
aus! Es ist wahr, man wird seinen positiven Ausführungen über die
Entstehung des Christentums, seinem Versuch, diese ganze Religion auf Grund
der marxistischen Geschichtsbetrachtung rein aus sozialen Beweggründen
zu erklären und Christus für das bloße
Spiegelbild der christlichen Gemeinde und ihrer Erfahrungen auszugeben, für
einseitig und unzulänglich ansehen müssen; und ganz sicherlich verfehlt
ist seine Zusammenstellung des biblischen Pilatus
mit Plinius, dem bithynischen Statthalter unter
Trajan, und die auf sie gestützte Beweisführung, schon deshalb, weil
der Brief des Plinius an den Kaiser aller Wahrscheinlichkeit
nach eine spätere christliche Fälschung ist.*
* Vgl. Hochart: Études au sujet
de la persécution des Chrétiens sous Néron 1885 cp. 4.
Allein in dem, was er über
die moderne kritische Theologie und ihren historischen
Jesus vorbringt, hat Kalthoff
zehnmal recht, so sehr sich diese
auch berechtigt glaubt, den unbequemen Gegner wegen seiner verfehlten Grundauffassung
von oben herab behandeln und als »unzuständig«
ignorieren zu können. Die ganzen von der historischen Theologie mit so
unsäglichem Fleiße und so großem Scharfsinn unternommenen Bemühungen,
aus den vorhandenen Quellen den Beweis für die Existenz eines Menschen
Jesus im Sinne der Tradition zu schöpfen, haben, wie
Kalthoff mit Recht nicht müde wird, hervorzuheben, zu einem rein
negativen Ergebnis geführt. »Die
zahlreichen Stellen in den Evangelien, die von dieser Theologie beiseite geschoben,
für ihren historischen Jesus gestrichen werden müssen, stehen literarisch
genau auf einer Linie mit denjenigen Stellen, aus denen die Theologie ihren
historischen Jesus zusammensetzt, sie beanspruchen also auch den gleichen historischen
Wert, wie diese. Der synoptische Christus, in dem die moderne Theologie durchweg
die Züge des historischen Jesus zu haben meint, steht einer wirklich menschlichen
Auffassung des Christentums nicht um ein Haar breit näher als der Christus
des vierten Evangeliums. Was die Epigonen der freisinnigen Theologie aus diesem
synoptischen Christus als historischen Extrakt glauben herausdestillieren zu
können, das hat historischen Wert nur als Denkmal der virtuosen
Sophistik, die unter dem Namen der theologischen Wissenschaft
ihre üppigsten Schößlinge getrieben.«*
*A. Kalthoff: Das Christusproblem,
Grundzüge zu einer Sozialtheologie 1902, 14 f.
»Wenn die Geschichtsforschung
die Entstehungsgeschichte des Christentums nicht so lange als eine besondere
Domäne der Theologie von der gesamten übrigen Geschichtsforschung
ausgesondert und ihre Bearbeitung den Fachmännern der Kirche überlassen
hätte, als wenn es zur Beurteilung der hier in Betracht kommenden Fragen
einer ganz besonderen, von allen übrigen Wissensgebieten sich abhebenden,
nur dem kirchlichen Theologen zugänglichen Begabung bedürfe, so
würde die Welt mit der ganzen
Leben-J esu-Literatur längst
fertig sein. Die
Quellen, welche von dem Ursprung des Christentums Kunde geben, sind derart,
dass es bei dem heutigen Stande der Geschichtsforschung keinem Historiker mehr
einfallen würde, auf Grund derselben den Versuch zur Abfassung der Biographie
eines historischen Christus zu unternehmen.«*
* Kalthoff: Die Entstehung des Christentums.
Neue Beiträge zum Christusproblem 1904, 8.
Sie sind, kann man hinzufügen,
so beschaffen, dass ein wirklicher Historiker, der nicht schon mit der Überzeugung
und der Absicht an sie herantritt, einen geschichtlichen
Jesus in ihnen zu finden, keinen Augenblick darüber
im unklaren sein kann, dass er es hier mit einer religiösen
Dichtung, mit einem in ein historisches Gewand gehüllten
Mythus
zu tun hat, der sich prinzipiell in nichts von andern derartigen Mythen oder
Sagen — man denke nur etwa an die Tellsage — unterscheidet. S.
159-176
Aus: Arthur Drews, Die Christusmythe,
Verbesserte und erweiterte Ausgabe /3.bis 5. Tausend/ Verlegt bei Eugen Diederichs
Jena 1910
Anhang:
Jesus in der Profanliteratur
Es scheint bei dieser Sachlage
wenig Aussicht zu sein, das Gewicht der Gründe, die für die historische
Existenz Jesu sprechen, durch Belege aus der Profanliteratur erheblich zu verstärken.
Als solche kommen bekanntlich nur zwei Zeugnisse des jüdischen Geschichtsschreibers
Josephus sowie je eines der römischen Historiker
Tacitus und Sueton in Frage.
Was zunächst die Zeugnisse
des Josephus in seinen »Altertümern«
anbetrifft, die im Jahre 93 n. Chr. geschrieben
sind, so ist deren erstes, nämlich 18, 3, 3,
ein so offenbares Einschiebsel der späteren Zeit, dass selbst
die römisch-katholische Theologie, die doch sonst mit einer wahrhaft rührenden
Naivität auf die Glaubwürdigkeit derartiger frühchristlicher
Dokumente zu schwören pflegt, seine Echtheit nicht zu behaupten wagt.*
*Die Stelle lautet: »Um diese
Zeit lebte Jesus, ein weiser Mensch, wenn man ihn einen Menschen nennen darf,
denn er vollbrachte Wun¬der und war ein Lehrer der Menschen, die freudig
die Wahrheit annehmen, und fand einen großen Anhang bei Juden und Hellenen.
Dieser war der Christus. Obwohl ihn dann Pilatus auf die Anklage der Vornehmsten
unseres Volkes mit dem Kreuze bestrafte, blieben ihm dennoch jene treu, die
ihn zuerst geliebt hatten. Denn er erschien ihnen am dritten Tage wieder, zu
neuem Leben auferstanden, wie die Propheten Gottes dieses und tausend andere
Dinge von ihm geweissagt hatten. Nach ihm wurden die Christen genannt, deren
Sekte seitdem nicht aufgehört hat«.
Aber auch die andere Stelle, 20,
9, 1, die den Jakobus unter dem Vorsitze
des Priesters Ananos hingerichtet werden lässt
(62 n. Chr.) und ihn dabei als den »Bruder
des sog. Christus« bezeichnet, unterliegt nach der Ansicht hervorragender
Theologen, wie Credner (Einl.
ins N. T. 1836, 581.), Schürer (Gesch.
d. jüd. Volkes 1, 548.) u. a., dem dringenen Verdachte, gefälscht
zu sein*, und würde, selbst wenn ihre Echtheit feststünde, für
den historischen Jesus doch nichts beweisen.
*Origines,
der doch sonst alle Äußerungen des Josephus
zusammengetragen hat, die zur Stütze des christlichen Glaubens dienen könnten,
kennt die Stelle nicht, wohl aber eine andere, wonach die Zerstörung Jerusalems
als Strafe für die Hinrichtung des Jakobus bezeichnet war, was sicherlich
eine Fälschung ist.
Denn erstens lässt sie es
in der Schwebe, ob mit dem »Bruder«
Jesu leibliche Verwandtschaft oder aber, was wahrscheinlicher
ist, eine bloße Sektenbruderschaft gemeint ist (s.
o. 123 f.), und sodann besagt die Stelle doch nur, dass es einen
Mann namens Jesus gegeben habe, den man Christus
nannte, was in Anbetracht des Umstandes, dass zur Zeit des Josephus
bis tief in das zweite Jahrhundert hinein viele Leute auf traten, die
sich für den erwarteten Christus ausgaben,
keineswegs etwas Besonderes war.*
*Vgl. Kalthoff: Entstehung d. Chr.
16f. Zum Ganzen: Schürer a. a. O. 544—549.
Nicht besser als mit den Zeugnissen
des Josephus steht es mit denjenigen der römischen
Geschichtsschreiber. Zwar schreibt Tacitus in seinen
»Annalen« (15,
44) bei Gelegenheit der Christenverfolgung unter Nero
(64), »der Gründer
dieser Sekte, Christus, sei unter der Regierung des Tiberius
durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet
worden«, und Sueton berichtet in seiner
Biographie des Kaisers Claudius Kap.
25, dass dieser »die Juden, die auf
Anstiften des Chrestus heftige Unruhen erregten, aus Rom vertrieb«. Indessen
was ist hiermit bewiesen? Wissen wir denn so sicher, ob die angeführte
Stelle des Tacitus gelegentlich der Christenverfolgung
unter Nero nicht auch am Ende ein späteres
Einschiebsel, eine Fälschung des ursprünglichen
Textes ist? Das ist sie aber nach Hocharts ausgezeichneter und gründlicher
Untersuchung (a. a. O.) tatsächlich,
ja, alle Anzeichen sprechen dafür, dass die ganze »erste Christenverfolgung«,
die vorher von keinem, weder christlichen noch jüdischen noch heidnischen
Schriftsteller erwähnt ist, überhaupt nur das Phantasieerzeugnis eines
Christen des fünften Jahrhunderts darstellt.
Die Echtheit der Äußerung
des Tacitus aber selbst zugegeben und zugegeben
auch, dass unter dem Chrestus des Sueton
wirklich Christus und nicht ein beliebiger jüdischer
Aufrührer jenes Namens zu verstehen ist oder die Unruhen der Juden mit
ihrer Messiaserwartung in Verbindung standen, woraus alsdann der römische
Geschichtsschreiber, in Unkenntnis der jüdischen Zukunftsträume, einen
Anführer namens Christus gemacht hat (Vgl. Hochart:
a. a. O. 280ff.): können Schriftsteller des ersten Viertels des
zweiten Jahrhunderts n. Chr., wo die Tradition bereits gebildet und das Christentum
als eine Macht in die Geschichte eingetreten war, als selbständige Zeugen
für Tatsachen angesehen werden, die sich lange vor Entstehung der Tradition
abgespielt haben sollen? Es ist nur ein Beweis für die Verlegenheit der
liberalen Theologie in der ganzen Frage, wenn sie diese Zeugnisse noch immer
wieder zur Verstärkung des Glaubens an einen historischen Jesus glaubt
heranziehen zu dürfen, wie z.. B. Mehlhorn in
seiner Schrift über »Wahrheit und Dichtung
im Leben Jesu« (in »Aus Natur und Geisteswelt«, 1906), und
damit den Anschein zu erwecken sucht, als verdienten sie überhaupt, berücksichtigt
zu werden. Mit Recht spottet der Franzose Hochart über
diese Art der theologischen Geschichtsschreibung: Ȇberlassen
wir es den deutschen Theologen, Geschichte nach ihrer Facon zu studieren. Wir
Franzosen wollen uns bei unsern Untersuchungen unsere Geistesklarheit und unsern
gesunden Menschenverstand bewahren. Hüten wir uns, neue Legenden über
Nero (und seinesgleichen) zu erfinden; es gibt an solchen wahrlich bereits
zuviel« (a.a.O.227.). S.
173-176
Aus: Arthur Drews, Die Christusmythe,
Verbesserte und erweiterte Ausgabe /3.bis 5. Tausend/ Verlegt bei Eugen Diederichs
Jena 1910
Die
Einwände gegen die Leugnung der Geschichtlichkeit des synoptischen Jesus
So bleibt es also dabei: wir
wissen nichts von Jesus, von einer historischen Persönlichkeit dieses Namens,
auf welche sich die in den Evangelien berichteten Geschehnisse und Worte beziehen.
»In Ermangelung jeder historischen Bestimmtheit
ist der Name Jesus für die protestantische Theologie ein leeres Gefäß
geworden, in welches jeder Theologe seinen eigenen Gedankeninhalt hineingießt«
(Kalthoff: Christusproblem 17.). Wenn sie hierfür eine
Entschuldigung hat, so ist es die, dass jener Name überhaupt niemals etwas
anderes als ein solches leeres Gefäß gewesen ist: Jesus,
der Christus, der Retter, Heiland, Arzt der bedrängten Seelen, ist
von Anfang an eine dem Mythus entnommene Gestalt
gewesen, auf welche die Erlösungssehnsucht und der fromme Glaube der vorderasiatischen
Völkerschaften alle ihre Vorstellungen des seelischen Heiles übertragen
haben. Die »Geschichte« dieses Jesus hat schon vor dem evangelischen
Jesus in ihren allgemeinen Zügen festgestanden. »Die
Christologie«, gesteht selbst Weinel,
einer der eifrigsten und schwärmerischsten Anhänger des modernen Jesuskultus,
»war fast fertig, ehe Jesus auf die Erde kam«
(Weinel: Jesus im 19. Jahrhundert 1907, 68.)
Indessen waren es keineswegs bloß
die allgemeinen Umrisse und der Rahmen der »Geschichte«
Jesu, die im Messiasglauben, der Vorstellung eines
von Gott gesandten himmlischen Geistwesens, des »Menschensohnes«
Daniels und der jüdischen Apokalyptik usw.,
festgelegt waren und durch den Erlöserkultus der heidnischen Nachbarvölker
mit eigentümlich neuem Inhalt erfüllt wurden. Auch zahllose Einzelzüge
des Jesusbildes lagen vor, teils in der heidnischen Mythologie, teils im Alten
Testamente, und sind aus ihnen entnommen und in die Darstellung der Evangelien
hineingearbeitet worden. So geht sowohl die Erzählung vom zwölfjährigen
Jesus im Tempel (Luk. 2, 41 ff.), wie
die Versuchungsgeschichte Jesu (Matth. 4, 1—11;
Mark.1, 12f.; Luk. 4, 1—13.) auf buddhistischen Ursprung zurück
(Vgl. Seydel: Buddha-Legende 13 ff.; 24ff.; ferner
Jeremias: Babyl. i. N. T. 189f.), während Jesus sein Lehramt
im dreißigsten Jahre angetreten haben soll (Luk. 3,23.), weil in diesem
Jahre der Levit zum heiligen Amte befähigt wurde (Num. 4,3.).
Man weiß, wie die Christen
der Frühzeit ihren Glauben in der Schrift wiederzufinden und vorausgesagt
zu sehen gemeint und mit welchem Eifer sie daher das Alte Testament studiert
und die »Geschichte« ihres Jesus im Sinne jener Verheißungen
gewendet haben, um diese als Bestätigung für ihre eigenen Ansichten
zu verwerten. Oben wurde darauf hingewiesen in welcher Weise der »Ritt
des Bartlosen«, die Eintreibung der Kontribution und sein brüskes
Vorgehen gegen die Ladeninhaber und Wechsler auf die evangelische Erzählung
vom Auftreten Jesu im Tempel zu Jerusalem (Matth.
21, 12ff.) eingewirkt hat. Allein die nähere Ausgestaltung
dieser Szene ist durch Sach. 9, 9 und Jes. 1, 10ff.
bestimmt und die hierbei Jesus in den Mund gelegten Worte sind Jes.
56, 7 und Jerem. 7, 1ff. entnommen, so dass mithin auch dies »gewaltigste«
Geschehnis aus dem Leben Jesu auf Geschichtlichkeit keinen Anspruch erheben
kann.*
* Sach. 14,21 heißt in der Übersetzung
des Targum: »Jeglicher Kessel zu Jerusalem wird dem Herrn geweiht sein
usw., und es wird kein Krämer mehr sein im Hause des Herrn zu jener Zeit.«
Darin mag für den Evangelisten eine weitere Veranlassung zu dem Zuge gelegen
haben, dass Jesus die Händler aus dem Tempel jagt.
Aber auch die Erzählung vom
Verrat den dreißig Silberlingen und dem Ende des Judas
hat ihre Quelle im Alten Testamente, nämlich im Verrat und Ende des Ahitophel
(2. Sam. 17, 23, vergl. auch Sach. 11,12f.).
Inwieweit besonders die Gestalten eines Moses im
Hinblick auf Deut. 18, 15 und 34, 10,
eines Josua, Elias und Elisa
das Bild des evangelischen Jesus beeinflusst haben, ist oft auch von theologischer
Seite ausgeführt worden. Jesus muss auf dem
Wasser wandeln, wie Moses, Josua und
Elias trockenen Fußes durch das Wasser hindurchgegangen waren (Ex.
14, 21; Jos. 3, 6; 2. Kge. 2, 8. ). Er muss Tote auferwecken, wie
Elisa (2. Kge. 4,19ff.),
sich mit zwölf bezw. siebenzig Jüngern und Aposteln umgeben, wie
Moses mit zwölf Stammesfürsten und siebenzig Ältesten,
wie Josua zwölf Helfer beim Überschreiten
des Jordan erwählt hatte (Num. z, 44; Jos. 3,
12; 4, 1ff. Vgl. Petruslegende 51f.), und er muss gen Himmel fahren,
wie Moses (Josephus: Antiqu. IV 8, 48; Philo: Vita
Mos. III.) und Elias (2.
Kge. 2, 11.). Stimmen doch übrigens Elisa
(Eli-scha) und Jeho-schua (Josua, Jesus) schon
in ihrem Namen überein, so dass es schon aus diesem Grunde nicht verwunderlich
ist, wenn der alttestamentliche Prophet seinem evangelischen Namensvetter vielfach
als Vorbild gedient hat.*
* z. B. auch bei der Erzählung
von der Gefangennahme Jesu Matth. 26, 51ff.,vgl. 2. Kge. 6, 10—22.
Dass ein Jesus, hinter dessen
menschlicher Natur sich ein Gott verbergen sollte, und der dem umherwandernden
»Heiland« Jason entsprach (s. o. 96.), seine wahre Beschaffenheit
durch Wunder kundgeben und hierin hinter den verwandten heidnischen Erlösergottheiten
nicht zurückstehen durfte, war für die Christen selbstverständlich.
Wundern kann man sich höchstens darüber, dass auch hierbei das Alte
Testament wieder Modell stehen musste (Ex. 16; 17,
1ff.; Num. 21, 1ff.; Ex. 7, 17ff.; 1. Kge. 17, 5ff.) und die Wunder
Jesu nirgends über dasjenige hinausgehen, was auch die Heiden ihren Göttern
und Heroen, z. B. dem Asklepios, nachrühmten.*
* Asklepios ist As-Caleb, der Feuerhund
(Sirius) und dieser eine Form des Josua (s. o. 46f.), womit es auch von dieser
Seite her den Evangelisten nahe gelegt wurde, ihrem Jesus die Wunder des heidnischen
Heilgottes zuzuschreiben. Hierin dürfte auch eine Bestätigung dafür
liegen, dass Jesus (Josua) der Name des Kultheros jener jüdischen Sekten
war, die, wie die Therapeuten und Essener, die Heilkunst im leiblichen und seelischen
Sinne ausübten (s. o. 24f.).
Sollte doch nach Tacitus
(Hist. 4, 81.) sogar der Kaiser Vespasian
zu Alexandria Wunder verrichtet haben, wo
er auf das hartnäckige Drängen der Menge sowohl einen Lahmen wie einen
Blinden heilte, und diesen zwar fast in derselben Weise, wie Jesus, indem er
dessen Augen und Wangen mit seinem Speichel benetzte, eine Nachricht, die auch
von Sueton (Vespasian
7.) und Dio Cassius (66,
8.) bestätigt wird. Am wunderbarsten aber ist es wohl, dass
die Wunder Jesu auch selbst noch in der kritischen Theologie der Erwähnung
wert gefunden werden und man ernsthaft nach einem »historischen
Kerne« sucht, der ihnen wohl »zugrunde
liegen« könnte.
Alle angeführten Einzelzüge
sind nun aber belanglos gegenüber der Erzählung vom letzten Abendmahle,
dem Leiden, dem Tod (am Holze) und der Auferstehung
Jesu. Gerade hier aber liegt ganz sicher keine
Geschichte vor, sondern diese Teile der Evangelien verdanken
ihre Entstehung, wie gesagt, nur einfach der Kultsymbolik und dem Mythus vom
sterbenden und auferstehenden Gottheiland der vorderasiatischen Religionen.
Zu ihrer Erfindung bedurfte es also wahrlich keines »Genies«, denn
hier war schlechthin alles gegeben: die Verspottung, die Geißelung, die
beiden Schächer, der Aufschrei am Holze, der Lanzenstich, die um das Gewand
des Verstorbenen würfelnden Soldaten, ferner die Weiber auf der Richtstätte
und am Grabe, das Felsengrab, die sich ganz ebenso im Kultus des Attis, Mithra
und Adonis finden. Ist doch sogar der das Kreuz tragende Heiland dem die Säulen
kreuzweise tragenden Herakles
(Simon Von Kyrene) sowie der Erzählung von Isaak nachgebildet, der
sein eigenes Scheiterholz zum Altar trägt, auf dem er geopfert werden soll
(Gen. 22, 6 vgl. auch Tertullian: Adv. Jud. 20.).Wo aber die Verfasser
der Evangelien wirklich etwas neu hinzuzuerfinden hatten, z. B. bei der Darstellung
des Prozesses Jesu, des römischen und jüdischen Gerichtsverfahrens,
da haben sie dies in so ungeschickter Weise getan und verraten sie dem Kenner
so deutlich das rein Fiktive ihrer Erzählung, dass hier wahrlich nichts
zu bewundern ist als höchstens die Naivität derjenigen, die trotz
allem jene Darstellung für Geschichte halten und sich hierbei etwas auf
ihre »historische Exaktheit« und »wissenschaftliche
Methode« einbilden.
Ob Robertson nicht am Ende recht
hat, den ganzen Bericht der letzten Lebensschicksale Jesu
für die Umschreibung eines dramatischen Mysterienspieles anzusehen,
das sich bei den Heidenchristen der größeren Städte an die Osterfeier
des sakramentalen Mahles anschloss? Wir wissen, welche große Rolle dramatische
Veranstaltungen in zahlreichen Kulten des Altertums gespielt haben und besonders
gerade bei der Verehrung der leidenden und sterbenden Erlösergottheiten
zur Verwendung kamen. So wurde in Ägypten das Leiden, Sterben und die Auferstehung
des Osiris und die Geburt des Horus,
zu Eleusis die Klage und das Suchen der Demeter nach
der verschwundenen Persephone und die Geburt des
Jacchus, zu Lernae in Argolis und zahlreichen andern
Orten das Schicksal des Dionysos
(Zagreus), in Sikyon das Leiden des
Adrastos, der seinem Vater Herakles auf den Scheiterhaufen
nachgestürzt sein sollte, zu Amyklae das Absterben und Wiederaufleben der
Natur im Schicksal des Hyacinthus in festlichen
Aufzügen und szenischen Darstellungen gefeiert, von den Todes- und Auferstehungsfeiern
des Mithra, Attis und Adonis
ganz zu schweigen. Sicherlich macht die Erzählung Matth.
20—28 (mit Ausschluss von Vers 11 - 15 im letzten Kapitel)
mit ihrer zusammenhängenden Folge von Ereignissen (Abendmahl,
Gethsemane, Verrat, Passion, Verleugnung Petri, Kreuzigung, Begräbnis und
Auferstehung), die so einander in der Wirklichkeit unmöglich gefolgt
sein können, durchaus den Eindruck einer Kette dramatischer Einzelszenen.
Und hiermit stimmt aufs beste der Schluss des Evangeliums zusammen, bei dem
die Abschiedsworte und Ermahnungen Jesu an die Seinigen zugleich einen sehr
passenden Abschluss des Dramas darstellen.*
* Dasselbe ist der Fall mit der entsprechenden
Darstellung bei Markus, während bei Lukas die dramatische Vorlage mehr
hinweggearbeitet erscheint und der Zusammenhang durch die Einstreuung von Beschreibungen
und Episoden (Jünger zu Emmaus) einen mehr rein erzählenden Charakter
trägt. Vgl. Robertson: Pagan Christs 186ff.;
A short history 87ff. Was übrigens von dem geschichtlichen Werte der »Lebensdarstellungen«
Jesu zu halten ist, beweist allein schon der Umstand, dass in fast allen derartigen
Darstellungen auch die Szene zu Gethsemane und die hierbei von Jesus gesprochenen
Worte zur Kennzeichnung seiner Persönlichkeit verwertet zu werden pflegen
(z. B. auch von Bousset »Jesus«. Rel.
Volksb. 1904, 56), und dies, obschon doch kein Zuhörer zugegen war und
Jesus auch nicht hinterher sein Erlebnis den Jüngern mitgeteilt haben kann,
da gleich darauf die Gefangennahme stattgefunden haben soll.
Lässt man dies gelten, so
erklärt sich schon hierdurch die »Anschaulichkeit«,
die von theologischer Seite und ihrer Gefolgschaft der Darstellungsweise
der Evangelien nachgerühmt zu werden pflegt, und die nach der Meinung vieler
schon allein imstande sein soll, die Geschichtlichkeit der synoptischen Jesusbilder
zu beweisen.
Mit Recht hat freilich schon Wrede
davor gewarnt, die Anschaulichkeit »nicht
zu rasch und zu sorglos als Kennzeichen der Geschichtlichkeit zu betrachten.
Eine Schrift kann einen stark sekundären, ja, ganz apokryphen Charakter
haben und dennoch viel Anschaulichkeit zeigen. Es kommt immer darauf an, wie
diese geartet ist« (Messiasgeheimnis 143.). Dass es übrigens
mit der gerühmten Anschaulichkeit wenigstens bei dem Urzeugen
Markus gar nicht einmal weit her ist, darin stimmen
Wrede und Wernle völlig
überein, während sich in den übrigen Evangelien die Anschaulichkeit
vielfach gerade in Stücken findet, die zugestandenermaßen der Legende
angehören. Und wie anschaulich und konkret wissen uns nicht unsere Verfasser
der verschiedenen »Leben Jesu«, um
Renan gar nicht zu erwähnen, oder unsere Geistlichen
auf der Kanzel die Vorgänge der Evangelien auszumalen, mit wieviel kleinen,
individuell reizvollen Zügen sie um der größeren Wirkung auf
die Zuhörer willen auszuschmücken! Diese Art von Anschaulichkeit und
individuell persönlichem Gepräge ist in der Tat bloß eine Sache
der schriftstellerischen Geschicklichkeit und Phantasie der betreffenden Autoren.
Auch die Schriften des Alten Testaments, und nicht bloß die historischen,
sind voll anschaulichster Erzählungskunst und individuellstem Gepräge,
die beweisen, wie sehr sich gerade die rabbinische Schriftstellerei in Palästina
auf diese Seite der literarischen Betätigung verstand. Oder lässt
etwa, worauf auch Kalthoff hingewiesen hat, die
rührende Geschichte der Ruth, lässt die
Schilderung des Propheten Jonas, der Judith,
Esther, des Hiob usw. irgend etwas an Anschaulichkeit
und individueller Charakteristik der betreffenden Personen vermissen? Und nun
gar die Patriarchengeschichte — der fromme Abraham, der gutmütig
beschränkte Esau, der schlaue Jakob
und ihre bezüglichen Weiber — wie anschaulich ist nicht, um nur dies
hervorzuheben, die Begegnung des Knechtes Abrahams mit
der Rebekka am Brunnen!
(Gen. 24.). Oder man denke an Moses,
Elias, an Simson —
lauter Gestalten, die nachweislich in ihren wesentlichsten Zügen dem Mythus
und der religiösen Sage angehören!
Wenn schon unsere Geistlichen bei der Predigt sich nachempfindend in die Einzelheiten
der Heilandsgeschichte so lebhaft hineinzuversetzen vermögen, dass sich
Quellen der Poesie bei ihnen öffnen und ihre Lippen überströmen
von anschaulichen Schilderungen der Herzensgüte, heroischen Größe
und Opferwilligkeit Jesu, wie viel mehr wird dies erst in den christlichen Gemeinden
der Fall gewesen sein, als die neue Religion noch jung war, als der Messiasglaube
noch nicht durch skeptische Bedenken angekränkelt und die Seele der Menschen
noch erfüllt war von der Sehnsucht nach unmittelbarer endgültiger
Erlösung? Und wenn uns selbst eine Menge kleiner Einzelzüge in dem
Bilde des evangelischen Jesus entgegentreten sollte,
die aus religiösen Motiven und dichterischer Phantasie sich weniger leicht
erklären lassen — müssen sich denn diese gerade alle auf eine
und dieselbe wirkliche Persönlichkeit beziehen? Können ihnen nicht
tatsächlich Erlebnisse zugrunde liegen, die darum noch lange nicht Erlebnisse
des historischen Jesus der liberalen Theologie gewesen zu sein brauchen? Auch
Eduard v. Hartmann, der im übrigen geneigt
ist, am historischen Jesus festzuhalten, räumt doch die Möglichkeit
ein, »dass mehrere geschichtliche Personen, die
zu ganz verschiedenen Zeiten gelebt haben, konkrete Einzelzüge zu dem Jesusbilde
beigesteuert haben«.*
* E. v. Hartmann: Das Christentum
des Neuen Testaments 1905, 22.
Man spricht soviel von dem »Unerfindbaren«
in der evangelischen Darstellung. Als ob es für Menschen mit Phantasie
überhaupt etwas Unerfindbares gäbe! Und übrigens schrumpft auch
das angeblich »Unerfindbare« immer
mehr zusammen, je eingehender sich die Kritik mit den Evangelien beschäftigt,
und bezieht sich schon jetzt fast nur noch auf Nebensächliches und Belangloses.
Wir stehen somit vor der sonderbaren Tatsache, dass alles Wesentliche in den
Evangelien, alles, worauf es dem religiösen Glauben ankommt, wie besonders
das Leiden, der Tod
und die Auferstehung Jesu,
nachweislich erfunden und mythisch ist, dasjenige hingegen, was besten Falles
historisch sein könnte, weil es »unerfindbar«
sein soll, für den Heilscharakter der evangelischen Darstellung
gleichgültig ist! Man weist darauf hin, dass das Jesusbild der Evangelien
doch nicht schattenlos sei, und möchte in kleinen, herabsetzenden Einzelzügen,
wie z.B. der zeitweiligen Unfähigkeit Jesu,
Wunder zu verrichten (Mark. 6, 1f.),
dem Umstande, dass er nicht als allwissend
hingestellt wird (Mark. 13, 32.), dem
Verhalten seiner Angehörigen ihm gegenüber
(Mark.3, 20ff.) usw., einen Beweis für die Geschichtlichkeit
der bezüglichen Geschehnisse erblicken.*
* Vgl. Herrn. Jordan:
Jesus und die modernen Jesusbilder, Bibel. Zeit- u. Streitfragen 1909, 38. Der
Theologe Schmiedel hat anfangs fünf, dann
neun Schriftstellen als »schlechthin glaubwürdige« aufgestellt
und für die »Grundsäulen eines wirklich
wissenschaftlichen Lebens Jesu« erklärt; es sind die Stellen
Mark. 10, 17ff. (»Warum
nennst du mich gut ?« usw.); Matth. 12, 31ff.
(»Die Sünde wider den hl. Geist wird nicht
vergeben«); Mark. 3, 21 (»Er
ist von Sinnen«); Mark. 13, 32
(»Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand«); Mark.
15,24 (»Mein Gott, warum hast
du mich verlassen!«); Mark. 6, 5 (»er
konnte allda nicht eine einzige Tat verrichten«); Mark.
8, 12 (»Es
wird diesem Geschlecht kein Zeichen gegeben«); Mark.
8, 14—21 (Vorwurf gegen die Jünger
bei Gelegenheit des Brotmangels); Matth. 11, 5 (»Die
Blinden sehen, die Lahmen gehen« usw.). Alle die hier berichteten
Geschehnisse und Worte sind historisch möglich; also, schließt Schmiedel,
sind sie w irklic h und beweisen die Existenz eines geschichtlichen Jesus (!).
Nach dieser »Methode« müsste,
wenn uns in dem Mythus von Herakles bloß
neun oder zehn mögliche Taten des letzteren berichtet wären, auch
Herakles eine geschichtliche Persönlichkeit sein. Aber mit Recht
hat schon Robertson hiergegen eingewendet, dass
das Glaubhafte damit noch nichts wirklich Bewiesenes sei, und sich über
jene neun »Grundsäulen« lustig gemacht, indem er darauf hingewiesen
hat, dass der Glaube an den evangelischen Jesus sich vielmehr auf die hundert
Unwahrscheinlichkeiten und Unmöglichkeiten in seiner Geschichte, als auf
die Handvoll glaubhafter Möglichkeiten gründet (Pagan Christs
218— 234). Und dabei ist noch dazu Mark. 15, 24 dem 22.
Psalm entnommen, während Matth. 11, 5 fast wörtlich
mit den oben (65) angeführten Worten des Lalita Vistara übereinstimmt!
Als ob der Evangelist, wenn er
Jesus als Menschen
schildern wollte, hätte rein auf Goldgrund malen dürfen und derartige
Züge nicht durch die Absicht gefordert wären,
den Eindruck der menschlichen Beschaffenheit und damit Bedingtheit Jesu durch
einen solchen Farbenauftrag zu verstärken!
Aus der Anschaulichkeit der Darstellung
kann also nie und nimmer ein Beweis für die Geschichtlichkeit der betreffenden
Vorgänge gewonnen werden. Und wie leicht wird die Anschaulichkeit nicht
bloß von uns in die evangelischen Berichte hineingetragen, die wir in
der Atmosphäre dieser Erzählungen aufgewachsen sind und unter dem
Einflusse der uns rings umgebenden christlichen Kunst ein Phantasiebild von
ihnen mit uns herumtragen, das wir unwillkürlich an die Lektüre der
Evangelien heranbringen! Wie individuell bedingt übrigens und abhängig
vom »Geschmack« des Lesers der Eindruck
der Anschaulichkeit des evangelischen Jesusbildes ist, wie sehr hierbei persönliche
Empfindungen mitsprechen, geht schon daraus hervor, dass ein Vollers
z. B. in den Evangelien überhaupt keinen wirklichen Menschen mit Fleisch
und Blut, sondern nur ein »schemenhaftes Bild«
zu erblicken vermag, das er in ein thaumaturgisches (des
Wundertäters) und ein soteriologisches (des
Heilands) zerlegen möchte (a. a. O. 141.).
Gegenüber den Bemühungen der historischen Theologie, Jesus eine »einzigartige«
Stellung über allen übrigen Religionsstiftern zuzuschreiben, bemerkt
daher auch Vollers mit Recht, wie schwer es der
rein geschichtlichen Betrachtung fallen müsse, diese und ähnliche
Behauptungen anzuerkennen. »Die innere Unwahrscheinlichkeit,
um nicht zu sagen Unmöglichkeit des soteriologischen Bildes drängt
sich zu stark auf. Im Grunde ist dies Bild der kritischen Theologie doch nichts
anderes als die zeitgemäße Umgestaltung des Schleiermacherschen Idealmenschen;
was vor hundert Jahren als das Erzeugnis eines geläuterten Herrnhutertums,
in der Atmosphäre von Fichte, Schelling und Hegel begreiflich scheinen
musste, ist in unseren Tagen nur dadurch zu halten,
dass man die offene, ehrliche Auseinandersetzung mit der außerhalb der
Theologie herrschenden, auf den Gebieten der Natur und der Geschichte prinzipiell
anerkannten Weltanschauung nach Kräften meidet. Wer
wollte leugnen, dass der Ton der Katechese und der Kanzel, dass die
volltönenden, vieldeutigen
Worte, ja, dass Vertuschung und
Verschleierung unbequemer Erkenntnisse auf
diesem Gebiet eine Rolle spielen, deren sie sich in keiner anderen Wissenschaft
rühmen dürfen?« (a. a. O. 160f.).
So bleibt denn am Ende nur der
Rückzug auf die einzelnen Aussprüche und Reden Jesu übrig und
der Nachweis, dass diese nur aus der persönlichen Erfahrung und Denkweise
eines einzigen überragenden Individuums heraus verständlich werden.
Leider steht es nur, wie wir schon gesehen haben, gerade hiermit ganz besonders
misslich. Denn was die Reden Jesu anbetrifft, so haben wir bereits von
Wernle vernommen, dass sie so, wie sie uns überliefert worden,
jedenfalls nicht von Jesus gehalten, sondern bloß nachträglich von
den Evangelisten aus vereinzelten und gelegentlichen Aussprüchen Jesu zusammengestoppelt
sind.*
* Hiermit stimmt auch Bousset in seiner
Schrift »Was wissen wir von Jesus?« (1904) überein: »Die
Reden Jesu sind zum guten Teil Schöpfungen der Gemeinden, von der Gemeinde
aus einzelnen Worten Jesu zusammengestellt.« »Dabei ging, von allem
übrigen abgesehen, mit den Reden eine gewaltige und einschneidende Veränderung
vor.« (47ff.)
Diese Einzelworte und Augenblicksäußerungen
Jesu aber sollen letzten Endes teils aus mündlicher Überlieferung,
teils aber auch aus der aramäischen Spruchsammlung, der »großen
Redequelle« Wernles, geschöpft
sein, die von dem Evangelisten ins Griechische übersetzt, deren Existenz
nur mittelbar erschlossen ist, und von welcher wir im übrigen rein gar
nichts wissen. Nun ist es aber selbstverständlich, dass schon durch die
Übersetzung aus einer Sprache in die andere sehr viel von der Ursprünglichkeit
jener »Herrnworte« verloren gehen musste,
wie denn nachgewiesenermaßen die verschiedenen Evangelisten dieselben
»Worte« auch ganz verschieden »übersetzt«
haben. Ob es möglich sein wird, aus dem vorhandenen Materiale, wie
die kritische Theologie sich abmüht, die ursprüngliche Fassung wiederherzustellen,
erscheint sehr fraglich und bietet doch selbst günstigsten Falles keine
Gewähr dafür, dass wir es wirklich mit einem
»Herrnworte«, so wie es in der aramäischen Spruchsammlung
enthalten war, und nicht mit etwas ganz anderem zu tun haben.
Aber selbst wenn der Evangelist den ursprünglichen Sinn wirklich getroffen
haben sollte — wer bürgt uns dafür, dass dieses Wort gerade
so und nicht anders von Jesus gesprochen worden
ist? Ja, wenn wir sicher wären, dass die Worte, sofort nachdem sie dem
Gehege der Zähne entflohen waren, von dem Verfasser der Spruchsammlung
aufgezeichnet wurden! Allein dies soll zugestandenerweise nicht früher
geschehen sein als nach dem Tode Jesu, nachdem dessen messianische Bedeutung
inzwischen klar erkannt und man bemüht war, aus der Erinnerung sich das
Bild des Meisters zurückzurufen und von seinen Aussprüchen zu retten,
was noch irgendwie zu retten war.
Bousset hat zwar in seinem gegen Kalthoff
gerichteten Vortrag »Was wissen wir von Jesus?«
auf das »gute orientalische Gedächtnis der
Jünger« hingewiesen. Indessen stimmen so ziemlich alle, die
den Orient aus persönlicher Anschauung kennen, darin überein, wie
wenig gerade der Orientale imstande ist, Gehörtes oder Erlebtes in wahrheitsgetreuer,
objektiver Weise wiederzugeben, wie es im Orient infolgedessen auch gar keine
geschichtliche Überlieferung in unserm Sinne gibt, sondern alle bedeutsamen
Geschehnisse gleich romanhaft ausgeschmückt und nach den jeweiligen Bedürfnissen
des Augenblicks verändert werden. Zwar solche Aussprüche wie
»Liebet eure Feinde«, »Geben ist seliger als Nehmen«,
»Niemand ist gut außer Gott«, »Selig sind die Armen«,
»Ihr seid das Licht der Welt«, »Gebet dem Kaiser, was des
Kaisers ist« usw., die mochten sich immerhin, »einmal gehört,
nicht so leicht wieder vergessen lassen«, wie die theologische Wendung
lautet. Allein sie sind auch wahrlich nicht derartig, dass es zu ihrer Erfindung
des Jesus der liberalen Theologie bedürfte. Dabei ist noch gar nicht in
Betracht gezogen, wie viel von den Worten Jesu aus dem Mysteriendrama, mit dessen
Vorhandensein doch gerechnet werden muss, in die Evangelien eingedrungen und
in Aussprüche des »geschichtlichen« Jesus umgewandelt sein
können. Solche dunklen und hochtrabenden Redewendungen, wie z.B. Matth.
10, 32f.; 11, 15—30; 26, 64 u. 28, 18 machen durchaus den
Eindruck, als ob sie aus dem Munde der Bühnengestalt des Gottes herstammten,
und diese Wahrscheinlichkeit erhöht sich noch, wenn wir in den Mysterien
des Mithra oder der Isis ganz ähnlichen Worten, wie denen von der »leichten
Last« und dem »sanften Joch«,
begegnen (Vgl. Robertson: Christianity and Mythology
424ff., 429.).
Im Übrigen gibt auch Bousset
zu, alle einzelnen Worte, die wir als Aussprüche Jesu überliefert
erhalten haben, seien »vermittelt durch eine Gemeindetradition,
hindurchgegangen durch viele Hände.« (a. a O.43.).
Sie gleichen, wie schon Strauß bemerkt
hat, Kieselsteinen, welche die Meereswogen der Tradition gerollt, geglättet,
hierhin und dorthin abgesetzt, zu diesem und jenem Konglomerat vereinigt haben.
»Wir haben«, sagt Steck,
»für kein einziges Wort der Evangelien
die unumstößliche Gewissheit, es sei gerade so und nicht anders von
Jesus gesprochen worden.« (Protest. Monatshefte 1903, Märzheft.)
»Es dürfte schwer halten«,
meint Vollers, »auch
nur Eine Äußerung, Ein Gleichnis, Eine Handlung dieses Idealmenschen
mit geschichtlicher Sicherheit auf Jesus von Nazareth zurückzuführen,
sagen wir, mit derselben Sicherheit, mit der wir den Galaterbrief dem Apostel
Paulus zuschreiben oder den johanneischen Logos aus
der griechischen Philosophie erklären« (a.a.O.161f.). Ja
sogar einer der Führer der protestantischen Orthodoxie, Professor Kähler
in Halle, hat, wie das kirchliche Monatsblatt für Rheinland und Westfalen
meldete, auf einem in Dortmund gehaltenen theologischen Diskussionsabend zugestanden,
dass wir »kein einziges authentisches Wort Jesu«
besitzen. Jeder Versuch, wie Chamberlain es getan
hat, aus der Überlieferung einen festen Kern von »Worten
Jesu« auszuscheiden, ist daher auch in sich selbst verfehlt, und
wenn man als Kriterium für die »echten«
Worte Jesu nichts anderes hat als sein persönliches
Gefühl, so sollte man lieber gleich eingestehen, dass von irgend einer
methodischen Entscheidung hier in keiner Weise die Rede sein kann.
Wenn es also feststeht, dass wir
keinen einzigen der auf uns gekommenen Aussprüche des »Herrn«
mit Sicherheit auf einen historischen Jesus zurückführen können,
wenn bereits die älteste Quelle, die aramäische Spruchsammlung, bloße
Gemeindetradition enthalten haben kann, so, sollte man denken, dürfte es
von den Vertretern einer »historischen« Theologie nicht mehr als
ein so »grober Verstoß gegen alle historische Methode«, als
etwas so Ungeheuerliches, von aller Wissenschaftlichkeit Entblößtes
angesehen werden, wenn jemand nur die einfache Konsequenz jenes Ergebnisses
der bisherigen Evangelienkritik zieht und die Existenz eines »historischen«
Jesus überhaupt bestreitet. Mag es immerhin eine derartige Sammlung von
»Herrnworten« in den ältesten christlichen Gemeinden
gegeben haben: müssen darunter notwendig die Aussprüche eines bestimmten
menschlichen Individuums verstanden werden, und könnten es nicht vielmehr
Worte gewesen sein, die eine autoritative, kanonische Geltung in der Gemeinde
hatten, die ihr besonders wichtig oder sympathisch waren und aus diesem Grunde
dem »Herrn«, nämlich dem Vereins-
oder Kultheros Jesus, zugeschrieben wurden, wie
dies z. B. bei den Bestimmungen über das Verhalten im Falle von Streitigkeiten
unter den Gemeindemitgliedern (Matth. 18, 15ff.),
über Ehescheidung (Matth. 19, 3ff.)
auch vielfach zugestanden wird? Man erinnere sich wiederum der »Herrnworte«
in den übrigen antiken Kultgemeinden, des autós épha
der Pythagoreer! Und wie viele besonders volkstümliche, eindringliche und
beliebte Sprüche gingen nicht im Altertume unter dem Namen eines der »Sieben
Weisen« um, ohne dass es jemandem einfällt, ihnen im Ernste
eine derartige historische Bedeutung beizulegen. Wie sollte es also nicht voreilig
und kritiklos sein, die »Herrnworte«
der Spruchsammlung, die den Reden Jesu in den Evangelien zugrunde liegen, für
Aussprüche eines einzigen bestimmten Rabbi, nämlich eben des »historischen«
Jesus, auszugeben. Man mag von den Worten Jesu so hoch denken, wie man will:
die Frage ist, ob Jesus, und zwar der Jesus der liberalen Theologie, ihr geistiger
Vater ist, oder ob es sich mit ihnen nicht auch am Ende nur verhält, wie
mit den Psalmen oder den Sprüchen des Alten Testaments, die auf die Namen
Davids und Salomos
lauten, und von denen wir doch ganz sicher wissen, dass sie weder den einen,
noch den andern zum Verfasser haben.
Aber vielleicht sind jene Aussprüche
und Reden so beschaffen, dass sie nur von dem »historischen
Jesus« herstammen können? Indessen
wissen wir von einer großen Anzahl sowohl vereinzelter Aussprüche
wie Gleichnisse Jesu, und zwar zum Teil der allerschönsten, am meisten
bewunderten, wie z. B. dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter, dessen moralischer
Gehalt sich mit Deut. 29, 1—4 deckt, vom verlornen Sohn (Vgl.
Pfleiderer: Urchristentum 1, 447f.; van den Bergh von Eysinga: a.a.O. 57ff.),
vom Säemann (Smith:
a. a. O. 107 ff.), dass
sie teils der jüdischen Spruchweisheit, teils der mündlichen Überlieferung
des Talmud, teils aber auch anderen Quellen entlehnt sind und jedenfalls auf
Originalität keinen Anspruch erheben können (Vgl.
Nork: Rabbinische Quellen und Parallelen zu neutestamentlichen Schriftstellen
1839).
Ja, dieses gilt sogar von der
Bergpredigt! Sie ist, wie dies besonders auch von jüdischen Gelehrten des
öfteren nachgewiesen ist und Robertson
von neuem dargetan hat, ein bloßes Flickwerk aus der älteren
jüdischen Literatur, und enthält mitsamt dem
»Vaterunser« nicht einen einzigen Gedanken, der nicht sein
Vorbild im Alten Testament und der sonstigen Spruchweisheit des jüdischen
Volkes besäße (Robertson:
Christianity and Mythology 440—457.).
Indessen auch das Übrigbleibende,
dessen anderweitige Entstehung bis jetzt wenigstens noch nicht nachgewiesen
ist, ist doch keineswegs so beschaffen, dass es nur im Kopfe einer Persönlichkeit,
wie des theologischen Jesus von Nazareth, hätte entstehen können.
Im Grunde nämlich hat dieser nichts gesagt oder gelehrt, was über
den Standpunkt der reineren Sittlichkeit des Judentums seiner Zeit hinaus¬geht,
von den Stoikern und den übrigen Sittenlehren des Altertums, sowie zumal
auch von den Indern ganz zu schweigen. Ja, es erweckt sogar den stärksten
Verdacht gegen ihre Neuheit und Ursprünglichkeit, wenn die Evangelien durch
das »die Alten haben gesagt — ich aber sage euch« die Neuheit
und Bedeutsamkeit der Aussprüche Jesu geflissentlich unterstreichen und
damit einen künstlichen Gegensatz gegen den bisherigen geistigen und sittlichen
Standpunkt des Judentums zu konstruieren suchen, selbst da, wo es nur eines
Blickes in das Alte Testament bedarf, um sich zu überzeugen, dass ein solcher
gar nicht vorhanden ist, wie z. B. im Punkte der Gottes- und Nächstenliebe.*
* Vgl. v. Hartmann:
a. a. O. 131—143. Es wird immer ein gewichtiges Argument gegen die Geschichtlichkeit
der Aussprüche Jesu bleiben, dass Paulus von ihnen nichts zu wissen scheint,
sie nirgends anführt und damit jedenfalls soviel bekundet, dass er ihnen
keineswegs die Bedeutung zugeschrieben hat, die zu ihrer frühzeitigen Niederschrift
die Veranlassung gegeben haben soll. Vgl. auch Robertson:
Pagan Christs, 234ff.
Auch hat die anerzogene Pietät
vor Jesus und die überschwängliche Verherrlichung alles dessen, was
mit ihm zusammenhängt, einen großen Teil der »Herrnworte«
mit einem Schimmer von Bedeutsamkeit umkleidet, der zu ihrem wahren Werte in
gar keinem Verhältnis steht, und den sie niemals erlangt haben würden,
wenn sie uns in einem andern Zusammenhange oder unter einem andern Namen überliefert
wären. Man bedenke nur, wieviel an sich ganz Unbedeutendes und Belangloses
allein schon durch die Praxis der Kanzel und die Weihe des Gottesdienstes zu
einer ganz unverhältnismäßigen Wichtigkeit und Größe
aufgebauscht wird. Und wenn unsere Theologen denn schon nicht müde werden,
die »Einzigartigkeit«, Unübertrefflichkeit
und Hoheit der Worte und Gleichnisse Jesu herauszustreichen, so mögen sie
doch auch einmal in Betracht ziehen, wieviel Minderwertiges, Verfehltes, geistig
Unbedeutendes und sittlich Unzulängliches, ja, geradezu Bedenkliches in
den Auslassungen Jesu enthalten ist (v. Hartmann:
a. a. 0. 44ff.). In dieser Beziehung pflegt man aber immer nur beschönigend
die Überlieferung der Ungenauigkeit zu zeihen oder aber die bezüglichen
Stellen durch gewundene Erklärungen, nichtssagende Hinweise auf die zeitliche
und kulturelle Bedingtheit auch des »Übermenschen«
und Vertuschen des Unliebsamen aller wahrhaft historischen Methode ins
Gesicht zu schlagen.
Wieviel Mühe haben sich nicht
unsere Theologen gegeben und geben sie sich noch immer, in Jesu
Lehre auch nur einen einzigen Punkt von Bedeutung aufzuzeigen, der es
rechtfertigte, seine »Einzigartigkeit« in dem von ihnen verstandenen
Sinne mit gutem Gewissen zu behaupten und ihren rein menschlichen
Jesus möglichst hoch über seine
ganze Zeit hinauszuheben! Es hat sich nichts von allem zu diesem Zwecke Angeführten
halten lassen. Weder hat der Jesus der Synoptiker eine neue höhere Sittlichkeit,
noch eine »neue Frömmigkeit«, noch ein vertieftes Gottesbewusstsein,
weder den »unersetzlichen Wert der einzelnen Menschenseele«
im heutigen individualistischen Sinne des Wortes, noch auch nur die Freiheit
gegenüber dem jüdischen Gesetz, weder die Immanenz des Gottesreiches,
noch irgend etwas sonst gelehrt, was über die Fähigkeiten eines andern
geistig hervorragenden Menschen seiner Zeit hinausging. Selbst die Liebe, die
allgemeine Nächstenliebe, deren Predigt bei der großen Masse der
Laien als der größte Ruhmestitel des historischen Jesus gilt, spielt
bei den Synoptikern in Jesu sittlicher Lebensauffassung keineswegs eine so zentrale
Rolle, sondern erhebt sich bei ihnen nicht über dasjenige Niveau, das ihr
auch schon im Alten Testamente zugestanden wurde.*
* Man höre dagegen Clemen: »In
seiner Zurückführung des Gesetzes auf das Gebot der Liebe ist das
Christentum, ob wo hl dieses ja bereits im Alten Testament vorkam (!) und hier
und da (!) schon früher als das vornehmste Gebot bezeichnet worden war,
doch duchau s originell (!). Auch
die Unterordnung der religiösen Pflichten unter die sittlichen ergab sich
für Jesus von da aus, obwohl er in dieser Beziehung zugleich von den al
ttestamentlichen Propheten beeinflusst worden sein wird«
(a. a. O. 135 f.).
Und wenn die Kanzelberedsamkeit
von neunzehnhundert Jahren trotzdem auf diesen Punkt den Nachdruck zu legen
versucht, so rechnet sie damit, dass die Gläubigen die Unterschiede der
Evangelien nicht gegenwärtig haben und es ruhig dulden werden, wenn man
ihnen das Johannesevangelium, das einzige und alleinige »Evangelium
der Liebe«, das aber nicht »historisch«
sein soll, an Stelle der »historischen«
Synoptiker unterschiebt.
Und so sehen wir denn auch tatsächlich
die vor kurzem noch so üppig blühende Verherrlichung der Lehre Jesu
neuerdings in immer bescheidenerem Maße auftreten. So war es eine Zeitlang
in der Theologie unter dem Einflusse Holtzmanns
und Harnacks üblich, in der ethischen Vertiefung
und Hervorkehrung der »Vaterliebe« Gottes das wesentlich Neue und
Bedeutsame der »frohen Botschaft« Jesu zu erblicken und sich hierüber
mit salbungsvollen Phrasen auszulassen. Neuerdings scheint man auch hiervon
zurückzukommen, wie denn z. B. Wrede in Bezug auf die »Gotteskindschaft«
offen eingesteht, dass diese Auffassung schon längst vor Jesus im
Judentum bestanden, auch nicht erst Jesus Gott als den liebenden »Vater«
jedes einzelnen gelehrt, ja, den Vaternamen Gottes
nicht einmal in den Vordergrund gestellt habe (Wrede:
Paulus 91.).
Aber dafür beruft man sich
nun um so entschiedener auf die »ungeheuren Wirkungen«, die das
Auftreten Jesu im Gefolge gehabt habe, und sucht aus ihnen dessen überragende
Größe, »Einzigartigkeit« und geschichtliche Wirklichkeit
zu erweisen, als ob Zarathustra, Buddha
und Mohammed eine weniger große Wirksamkeit
ausgeübt hätten, als ob die Wirkungen, die von einer Persönlichkeit
ausgehen, in genauem Verhältnis zu ihrer menschlichen Bedeutung stehen
müssten, und als ob jene Wirkungen dem »historischen« und nicht
vielmehr dem mythischen Jesus, d. h. der Idee des sich selbst für die Menschheit
opfernden Gottes, zuzuschreiben wären!
In Wahrheit ist dasjenige, was
an dem überlieferten Jesus wirklich »einzigartig« ist, sein
Glaube an die unmittelbare Nähe des messianischen Gottesreiches und die
hierauf gegründete Forderung der Sinnesumwandlung für uns ohne alle
religiöse und ethische Bedeutung und höchstens nur noch von kultur-historischem
Interesse. Was aber auch für uns an seiner Lehre noch von Bedeutung ist,
das ist nicht »einzigartig« und besitzt
diesen Ruhm nur, weil man durch die theologische Erziehung daran gewöhnt
ist, es im Lichte der dogmatischen Erlösungsmetaphysik des Christentums
zu betrachten. Ein Plato,
ein Seneca, ein Epiktet,
ein Laotse oder Buddha
stehen in ihren ethischen Anschauungen hinter Jesus nicht
zurück mit seiner egoistischen Pseudomoral,
seiner Begründung des sittlichen Handelns durch die Aussicht auf Lohn und
Strafe im Jenseits, seinem engherzigen Nationalismus, den die Theologie vergebens
hinweg zu disputieren und zu vertuschen bemüht ist, und seinem unklaren
Mystizismus, der seinen Aussprüchen durch geheimnistuerische Bezugnahme
auf seinen »himmlischen Vater« eine
besondere Wichtigkeit zu verleihen sucht. Was aber den
»gewaltigen Eindruck« betrifft, den Jesus
auf die Seinigen und die Folgezeit ausgeübt haben, und ohne welchen die
Geschichte des Christentums nicht erklärlich sein soll, so hat Kautsky
mit Recht darauf hingewiesen, dass die Evangelien ja gar nicht den Eindruck,
den die Persönlichkeit, sondern
nur jenen spiegeln, den die Erzählungen
von der Persönlichkeit Christi auf die Glieder der Christengemeinde hervorriefen.
»Über die historische Wahrheit dieser Erzählungen
besagt aber selbst der stärkste Eindruck nichts. Auch die Erzählung
von einer fingierten Person kann den tiefsten Eindruck in der Gesellschaft hervorrufen,
wenn die historischen Bedingungen dafür gegeben sind. Welchen Eindruck
machte nicht Goethes Werther, und doch wusste
alle Welt, dass man es da nur mit einem Roman zu tun habe. Trotzdem erweckte
er zahllose Jünger und Nachfolger« (Kautsky:
Ursprung des Christentums 17.).
Hiermit widerlegt sich denn auch
zugleich der beliebte Einwand, als ob die historische Existenz Jesu leugnen
heiße »die Bedeutung der Persönlichkeit
im geschichtlichen Leben der Völker und der Religionen« verkennen.
Gewiss entzündet sich, wie Mehlhorn sagt,
lebendige Frömmigkeit vor allem an Persönlichkeiten, in denen sie
uns in anschaulicher, erhebender, begeisternder Weise entgegentritt (a.
a. O.3.). Allein um die Frömmigkeit, den Glauben an Jesus
Christus zu entzünden, dazu genügte die begeisternde Persönlichkeit
eines Paulus, mag dieser nun der Verfasser der auf
seinen Namen lautenden Briefe sein oder nicht, dazu genügte die Missionsarbeit
der gleich ihm im Dienste des Jesusglaubens tätigen Apostel, die von Ort
zu Ort zogen und oft unter großen persönlichen Opfern und Entbehrungen,
mit Gefahr ihres eigenen Lebens zur Verehrung des neuen Gottes aufriefen. Einen
wirklichen religiösen Halt jedoch konnten die Erlösungsbedürftigen
immer nur in dem Glauben an den göttlichen Erlöser, eine religiöse
Befriedigung und Befreiung nur in dem Gedanken des sich selbst für die
Menschheit opfernden Gottes finden, dessen erlösende Kraft und überragende
Vorzüglichkeit im Vergleiche mit den übrigen Mysteriengöttern
ihnen die Apostel in so lebendiger und packender Weise zu schildern wussten.
Es ist eine abgestandene Redensart, dass eine Idee nur durch eine große
Persönlichkeit wirksam und fruchtbar werden könne.*
*»Wie wäre es denkbar«,
fragt selbst ein Pfleiderer, »dass aus dem Chaos der Massen die neue Gemeinde
sich von selbst gebildet haben sollte, ohne eine entscheidende
Tat, ohne ein grundlegendes Erlebnis,
das den Kern für die Entstehung der neuen Ideen bilden konnte? Ist es doch
überall sonst bei geschichtlichen Neubildungen so, dass die in der Masse
vorhandenen Kräfte und Strebungen erst durch die zielsetzende Tat heroischer
Persönlichkeiten in eine bestimmte Richtung gebracht und zu einem lebensfähigen
Organismus verbunden werden; ebenso muss auch der Anstoß zur Bildung der
christlichen Gemeinde von einem bestimmten Punkt ausgegangen sein, den wir nach
den Zeugnissen des Apostels Paulus und den ältesten Evangelien nur in der
Person, dem Leben und Tod Jesu finden können“ (Entsteh. d. Chr. 11).
Aber dass die angeführten »Zeugnisse« für einen historischen
Jesus keine sind und jene »entscheidende Tat«, jenes »grundlegende
Erlebnis«, wenn irgendwo, bei Paulus selbst
und sonst nirgends zu suchen ist, das eben bildet den Kern dieser ganzen Auseinandersetzung.
Wenn die liberale Theologie auf
dies Argument ihren Glauben an einen geschichtlichen Jesus meint stützen
zu können, so macht sie sich dabei nur eine zufällige moderne Gassenweisheit
zu nutze, ohne zu bemerken, dass diese doch in ihrem Falle gar nichts beweist.
Oder wo ist die »große Persönlichkeit«,
die dem Mithraismus eine solche Wirksamkeit verliehen
hat, dass er in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung sich von Osten
her fast das ganze Abendland erobern und es eine Zeitlang zweifelhaft sein konnte,
ob die Welt mithrisch oder christlich werden würde? Aber auch bei der so
einflussreichen Dionysos- und Osirisreligion oder
gar beim Brahmanismus können wir nicht von
einer großen Persönlichkeit als ihren »Stiftern«
reden, und was Zarathustra, den angeblichen
Begründer der persischen, und Moses, den Stifter
der israelitischen Religion, betrifft, so sind auch diese keine geschichtlichen
Persönlichkeiten, während über die Geschichtlichkeit des angeblichen
Begründers des Buddhismus die Ansichten der
verschiedenen Forscher auseinander gehen. Selbstverständlich werden ja
auch in den genannten Religionen die vorhandenen Ideen von hervorragenden Individuen
getragen und die entsprechenden Bewegungen von energischen und zielbewussten
Einzelnen organisiert und dadurch erst wirksam gemacht worden sein. Allein die
Frage ist, ob derartige Persönlichkeiten gerade »groß«,
ja, »einzigartig« im Sinne der liberalen
Theologie sein mussten, um ihre Erfolge zu erzielen, und es heißt daher,
den entscheidenden Gesichtspunkt verschieben und sich im Kreise drehen, wenn
man Paulus, dessen begeisternde und organisatorisch
veranlagte Persönlichkeit wir aus seinen Briefen kennen, zugunsten eines
imaginären Jesus bei Seite schiebt, die Bedeutung der christlichen
Religion auf die »Einzigartigkeit« ihres vermeintlichen Stifters
und die letztere wiederum auf die Bedeutung der von ihm ausgegangenen religiösen
Bewegung gründet. Mit dem modischen Gerede von der »großen
Einzelpersönlichkeit« ist also jedenfalls kein Beweis für
die geschichtliche Existenz Jesu zu führen.
Und nun vergleiche man die Lobpreisungen
des Buddha im Lalita Vistara
mit der Schilderung der Persönlichkeit Jesu im Neuen Testamente, und man
wird sich überzeugen, wie gleichartig, selbst wenn man die Hypothese einer
direkten Beeinflussung ausschließt, unter ähnlichen Voraussetzungen
das Verwandte sich gestalten musste: »In der Welt
der Geschöpfe, die längst gequält war von den Übeln der
natürlichen Verderbnis, bist du erschienen, König
der Ärzte, der uns erlös t von allen Übeln. Mit
deiner Ankunft, o Führer,
verschwindet die Unruhe und werden Menschen und Götter
erfüllt mit Wohlsein. Du bist der Beschützer, der feste Grund, das
Haupt, der Führer der Welt, mit deinem sanften
wohlwollenden Sinn. Du bist der beste der Ärzte, der das
vollkommene Heilmittel bringt und sicherlich
das Leiden heilt. Hervorragend durch deine
Barmherzigkeit und
dein Mitleid, ordnest
du die Dinge der Welt. Hervorragend durch Sittenstrenge
und gute
Werke, aus
dir selbst handelnd, vollkommen
rein, bist du zur Vollkommenheit gelangt
und, selbst erlöst, wirst du als der
Verkündiger der vier Wahrheiten auch die anderen Geschöpfe erlösen.
Die Macht des Dämons ist besiegt
worden durch Weisheit, Tapferkeit und Sanftmut.
Du hast sie erlangt, die höchste und unsterbliche Würde. Wir begrüßen
dich als den Besieger des Heeres des Lügners. Du, dessen
Wort ohne Fehl ist,
der frei von Irrtum und
Leidenschaft den Pfad des ewigen Lebens
betreten hat, verdienst im Himmel und auf Erden Ehre und Huldigung ohnegleichen.
Du erquickest die Götter und Menschen mit deinen durchaus klaren Worten.
Durch die Strahlen, die von dir ausgehen (!), bist du der Besieger dieses Alls,
der Herr der Götter und Menschen. Du bist erschienen, Licht
des Gesetzes, Zerstörer der Unseligkeit
und Unwissenheit, ganz erfüllt
mit Demut und Majestät. Sonne, Mond
und Feuer glänzen nicht mehr vor dir und deiner Fülle unvergänglicher
Herrlichkeit. Du, der du erkennen lehrst, was wahr ist und was falsch, geistlicher
Führer mit der süßesten Stimme, dessen Geist beruhigt, dessen
Sinne gebändigt, dessen Herz vollkommen stille ist, der du lehrst, was
man lehren soll, der du unterrichtest die Versammlung der Götter und Menschen:
ich grüße dich, Sakhyamuni, als den Größten
der Menschen, als das Wunder der dreitausend
Welten, dem Ehre und Huldigung gebührt im Himmel und auf Erden, von Göttern
und von Menschen!«
Wo bleibt unter solchen Umständen
die »Einzigartigkeit« Jesu,
bis zu welcher sich für die moderne kritische Theologie die einstige
Gottheit des Welterlösers verflüchtigt hat, und in welche sie allen
Gefühlsgehalt hineinzulegen bemüht ist, der früher einmal dem
»Gottmenschen« im Sinne des kirchlichen
Dogmas galt? »Es gibt nichts Negativeres
als das Ergebnis der Leben-Jesu-Forschung. Der
Jesus von Nazareth, der als Messias auftrat, die Sittlichkeit des Gottesreiches
verkündete, das Himmelreich auf Erden gründete und starb, um seinem
Werke die Weihe zu geben, hat nie existiert.
Er ist eine Gestalt, die vom Rationalismus
entworfen, vom Liberalismus belebt und von der modernen Theologie mit geschichtlicher
Wissenschaft überkleistert worden«. Mit diesen Worten des
Theologen Schweitzer (Von
Reimarus bis Wrede 396.) kann sich auch
die vorliegende Untersuchung einverstanden erklären. —
In der Tat haben wir in den Evangelien nichts anderes als den Ausdruck des Gemeindebewusstseins
vor uns. In dieser Hinsicht besteht die von Kalthoff vertretene
Auffassung durchaus zu Recht und ist auch durch die Einwände seiner Gegner
in keiner Weise erschüttert worden. Das Leben
Jesu, wie die Synoptiker es schildern, bringt nur in historischem Gewande die
me taphysischen Vorstellungen, religiösen Hoffnungen, die äußeren
und inneren Erlebnisse der auf Jesus als Kultgott gegründeten Gemeinde
zum Ausdruck.
Seine Aussprüche, Reden und Gleichnisse spiegeln
nur die religiös-sittlichen Grundanschauungen, die jeweiligen Stimmungen,
die Niedergeschlagenheit und die Siegesfreudigkeit, den Hass und die Liebe,
die Urteile und die Vorurteile der Gemeindemitglieder wieder, und die Verschiedenheiten
und Widersprüche der Evangelien erklären sich als Entwicklungsstufen
des Messiasgedankens in verschiedenen Gemeinden und zu verschiedenen Zeiten.
Christus nimmt folglich in den
religiös-sozialen Genossenschaften, die sich nach ihm benennen, genau dieselbe
Stellung ein, wie Attis in den phrygischen, Adonis
in den syrischen, Osiris in den ägyptischen,
Dionysos, Herakles, Hermes, Asklepios usw., in den hellenischen Kultgenossenschaften:
er ist nur eine andere Form dieser Vereinsgötter oder Gemeindepatrone selbst,
und der ihm gewidmete Kultus zeigt im wesentlichen die gleichen Formen, wie
derjenige der genannten Wesen. Die Stätte der blutigen Sühnopfer der
Attisgläubigen, wo diese bei der jährlichen Märzfeier die
»Bluttaufe« empfingen, die Vergebung ihrer Sünden erhielten
und zu einem neuen Leben »wiedergeboren«
wurden, war in Rom der vatikanische Hügel, und zwar genau die Stelle, wo
sich mit dem Christentume die Peterskirche über dem so genannten Grabe
des Apostels erhob. Es war im Grunde nur eine Veränderung des Namens, nicht
der Sache, wenn der Oberpriester des Attis seine
Rolle mit derjenigen des Oberpriesters des Christus
vertauschte und der Christuskultus sich von diesem neuen Mittelpunkte aus über
die andern Teile des römischen Imperiums verbreitete. S.176-198
Aus: Arthur Drews, Die Christusmythe, Verbesserte und erweiterte Ausgabe /3.bis
5. Tausend/ Verlegt bei Eugen Diederichs Jena 1910
Der
wahre Charakter des synoptischen Jesus
Die synoptischen Evangelien lassen
die Frage offen, ob wir es in ihnen mit einem gottgewordenen Menschen oder mit
einem menschgewordenen Gott zu tun haben. Die vorangegangene Darstellung hat
gezeigt, dass der Jesus der Evangelien nur als
vermenschlichter Gott
zu verstehen ist.
Seine Lebensgeschichte, wie sie
in den Evangelien dargestellt ist, ist eine Vergeschichtlichung eines ursprünglich
religiösen Mythus. Die meisten großen Helden der Sage, die sich selbst
für Geschichte ausgibt, sind derartige vermenschlichte Götter; man
denke nur an Jason, Herakles, Achilleus, Theseus, an Perseus, Siegfried usw.,
in denen wir nichts anderes als den alten arischen Sonnenkämpfer in seiner
Gegnerschaft gegen die Mächte der Finsternis und des Todes vor uns haben.
Ja, der Prozess, dass ursprüngliche Götter in der Anschauung einer
späteren Zeit zu Menschen werden, ohne übrigens aufzuhören, mit
dem Schimmer der Göttlichkeit umkleidet zu bleiben, ist so sehr der gewöhnliche,
dass der umgekehrte Vorgang, die Erhebung von Menschen zu Göttern, im allgemeinen
nur den Urzeiten der menschlichen Kultur oder den Zeiten des sittlichen und
staatlichen Verfalles angehört, wo hündischer Knechtssinn und würdelose
Schmeichelei nicht davor zurückscheuen, einen hervorragenden Menschen,
sei es schon bei seinen Lebzeiten, sei es nach seinem Tode, zu einem göttlichen
Wesen emporzuschwindeln. Gerade die sog. »biblische Geschichte«
enthält zahlreiche Beispiele derartiger vermenschlichter
Götter: es sei hier nur an die Patriarchen, an Joseph,
Josua, Simson, Esther, Mardachai, Haman, an
Simon Magus, den Zauberer Elymas usw. erinnert,
die ursprünglich reine Götter waren, und in deren Lebensbeschreibungen
alte semitische Gestirn- und Sonnenmythen eine geschichtliche Einkleidung erhalten
haben. Und wenn wir nicht daran zweifeln können, dass Moses,
der Begründer des alten Bundes, eine erdichtete Gestalt und seine »Geschichte«
von den Priestern zu Jerusalem nur zu dem Zweck erfunden ist, um das nach ihm
benannte Priestergesetz zu sanktionieren und durch seine Autorität zu stützen,
wenn zu diesem Zwecke sogar die ganze israelitische Geschichte umgefälscht
und das Ende der religiösen Entwicklung Israels, nämlich
die Gesetzgebung, an den Anfang der Ereignisse gestellt ist—warum könnte,
was bei Moses möglich war, sich nicht bei Jesus wiederholt haben, warum
könnte nicht auch der Begründer des neuen Bundes als historische Persönlichkeit
ganz und gar der frommen Sage angehören?
Haben doch nach Herodot
(II, 44.) sogar die Griechen einen alten
phönizischen Gott Herakles aus nationalen
Gründen in einen einheimischen Heros, den Sohn des Amphitryon,
umgewandelt und ihn damit ihrem eigenen Gedankenkreise einverleibt. Und nun
bedenke man, wie stark erst bei den Orientalen der Hang zur Vergeschichtlichung
rein innerlicher Erlebnisse und Gedanken ist.
Geschichtliches in das Gebiet
des Mythus zu übertragen
und Mythisches als Geschichte aufzufassen, ist, wie sich immer deutlicher herausstellt
und durch die Forschungen eines Winckler, Schrader, Jensen
usw. in ein immer helleres Licht gerückt wird, dem Orientalen etwas
so Selbstverständliches, dass es schon den Erzählungen des Alten Testamentes
gegenüber kaum möglich ist, ihren wirklich »historischen Kern«
aus der scheinbar historischen Einkleidung herauszuschälen. Und zumal gerade
das semitische Denken des Altertums zeigt sich völlig außerstande,
mythische Phantasien von wirklichen Vorgängen zu unterscheiden! Es ist
sicherlich zu viel gesagt, dass der Semit keine eigene Mythologie geschaffen
und besessen habe, wie Renan dies behauptet hat. Allein dass er die mythischen
Gestalten und Begebenheiten, auch wo sie ihm von anderswoher überliefert
wurden, nicht als solche festzuhalten und zu behandeln vermocht, sondern stets
dazu geneigt hat, sie ins Menschliche zu übersetzen und an bestimmte Orte
und Zeiten anzuknüpfen, daran ist gar kein Zweifel möglich. »Der
Gott der Semiten ist an Ort und Gegenstand gebunden, er ist ein Genius loci«,
sagt Winckler (Gesch.
Israels II, 1ff.). Wenn aber irgendein Mythus geradezu dazu aufforderte,
ihn in ein örtliches Gewand zu kleiden und die in ihm enthaltene metaphysische
Idee in eine Folge historischer Geschehnisse auseinanderzuziehen, so war es
offenbar der Mythus des sich selbst für die
Menschheit opfernden Erlösergottes, der in Menschengestalt unter Menschen
wandelt, mit den übrigen Menschen leidet und stirbt und nach siegreicher
Überwindung der finsteren Todesmächte zu seinem göttlichen Ausgangspunkt
zurückkehrt.
Man versteht, wie der Gott Jesus
infolge der symbolischen Verschmelzung mit dem an seiner Stelle geopferten Menschen
vermenschlicht werden und auf dieser Grundlage sich der Glaube an das Herabsteigen
des Gottes in der Gestalt einer historischen Persönlichkeit bilden konnte.
Wie aber umgekehrt der Mensch
Jesus zum Gott erhöht oder auch nur mit einem bereits existierenden Gotte
gleichen Namens zum gottmenschlichen Erlöser, ja, zum vollen Gottwesen
zusammenfließen konnte, das ist und bleibt, wie gesagt, ein psychologisches
Rätsel, für dessen Lösung nur übrig bleibt, sich auf die
»unerforschlichen Geheimnisse des göttlichen Ratschlusses«
zu berufen. Oder wie sollen wir es uns erklären, dass »jenes einfache
Menschenkind, wie es uns geschildert wird«, schon sobald nach seinem Tode
zu jenem »mystischen Fabelwesen«, zu jenem »himmlischen
Christus« erhöht werden konnte, wie uns dieser in den Briefen
des Paulus entgegentritt? Höchstens sieben,
wahrscheinlich drei Jahre, nach neueren Kombinationen kaum ein Jahr, soll zwischen
dem Tode Jesu und dem Beginne der Wirksamkeit des Paulus dazwischen liegen (Holtzmann:
Zum Thema ,Jesus und Paulus‘, Prot. Monatshft. IV, 1900, 465.).
Und diese kurze Zeit soll ausgereicht
haben, um den Menschen Jesus in den paulinischen Christus
umzuwandeln! Und nicht nur Paulus soll hierzu imstande
gewesen sein: auch die unmittelbaren Jünger Jesu, die mit diesem an demselben
Tische gesessen, mit ihm gegessen und getrunken hatten, die da wussten, wer
Jesus gewesen war, sollen sich hiermit einverstanden erklärt und zu ihm,
den sie selbst immer zum »Vater« hatten beten sehen, gebetet haben!
Gewiss war die Vergöttlichung eines Menschen im Altertum nichts Außergewöhnliches:
ein Plato, ein Aristoteles sind nach ihrem Tode von ihren Schülern als
gottähnliche Wesen verehrt, ein Demetrius Poliorketes,
ein Alexander, die Ptolemäer usw. haben
sich schon bei ihren Lebzeiten göttliche Ehren erweisen lassen. Allein
diese Art der Vergöttlichung ist doch ganz
und gar verschieden von derjenigen, die Jesus zuteil geworden sein soll. Sie
ist nur ein Ausdruck persönlicher Dankbarkeit und Anhänglichkeit,
vorübergehenden Überschwanges des Gefühls und gesinnungsloser
Schmeichelei und hat keine nähere theologische Ausgestaltung erhalten,
keine neue Religion begründet.
Mit Recht hat daher schon Schopenhauer
auf den Gegensatz der Apotheose Jesu bei Paulus
gegen die sonstige geschichtliche Erfahrung hingewiesen und bemerkt, man könne
aus ihm ein Argument gegen die Echtheit der paulinischen Briefe entnehmen
(Parerga II § 18o.).
Ja, Holtzmann
hält im Hinblick auf diesen Ausspruch des Philosophen die Frage, »ob
nicht die Gestalt Jesu im Sehwinkel des Paulus schon
zu kolossale Dimensionen aufweist, als dass die Entfernung zwischen Objekt und
Subjekt nur auf einige Jahre angesetzt, überhaupt nächste zeitliche
Berührung beider angenommen werden dürfte«, für »das
Erwägenswerteste, was uns die Kritik der holländischen Schule zu raten
oder zu denken aufgegeben hat«.*
*
Neutestamentl. Theol. II, 4, Anm. Vgl. R. H. Grützmacher: Ist das liberale
Christusbild modern? Bibel. Zeit- und Streitfragen 39f.
Nach der herrschenden Ansicht der kritischen Theologie,
wie sie selbst von einem Pfleiderer vertreten wird,
sollen die Erscheinungen des »Herrn«,
die den aus Jerusalem geflüchteten Jüngern nach
Jesu Tode zuteil wurden, die »ekstatisch-visionären
Erlebnisse, in denen sie ihren gekreuzigten Meister als lebend und zu himmlischer
Herrlichkeit erhöht zu schauen glaubten«, die Veranlassung
zu ihrem Glauben an die Auferstehung und damit an die göttliche Erlöserrolle
Jesu geliefert haben (Pfleiderer:
Entstehung d. Chr. 108 ff.).
Pathologische Zustände exaltierter
Männer und hysterischer Weiber also sollen die »historische
Grundlage« für die Entstehung der christlichen Religion bilden!
Und mit solchen Ansichten glaubt man sich berechtigt, auf die rationalistischen
Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts mit souveräner Verachtung herabblicken
zu dürfen und auf die Höhe seiner religionsgeschichtlichen Einsicht
zu pochen! Gesteht man der historischen Theologie aber auch wirklich diese mehr
als bedenkliche Erklärung zu, die das Christentum zu einem bloß zufälligen
Ergebnis der seelischen Überspanntheit herabdrückt, so erhebt sich
nun sofort die weitere Frage, nämlich wie die neue Religion der kleinen
Messiasgemeinde zu Jerusalem sich mit so erstaunlicher Schnelligkeit verbreiten
konnte, dass wir schon so bald, höchstens zwei Jahrzehnte nach dem Tode
Jesu in ganz Vorderasien nicht bloß, nein, auch auf den Inseln des Mittelmeeres,
in den griechischen Küstenstädten, ja in Italien, zu Puteoli, in Rom
auf christliche Gemeinden stoßen, und dieses zwar zu einer Zeit, als noch
keine Zeile über den jüdischen Rabbi geschrieben war (vgl.
Steudel: a. a. O. 22.).
Hier muss auch der Theologe Schweitzer
von der historischen Theologie gestehen: »Bis sie einigermaßen begreiflich
gemacht hat, wie unter dem Einfluss der jüdischen Messiassekte im Nu, auf
allen Punkten zugleich griechisch-römisches Volkschristentum entstand,
muss sie alle n Hypothesen, welche dieses Problem
erfassen und zu lösen versuchen, auch den extravagantesten ihr formelles
Daseinsrecht zugestehen (Von
Reimarus bis Wrede 313.). —
Wenn hiermit die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit
erwiesen ist, dass wir in dem Jesus der Evangelien es nicht mit einem vergöttlichten
Menschen, sondern vielmehr mit einem vermenschlichten
Gott zu tun haben, so bleibt nur noch die Frage
zu beantworten, welche äußeren Gründe die Veranlassung dazu
gegeben haben mögen, dass der Gott Jesus auf den Boden der geschichtlichen
Wirklichkeit verpflanzt und das ewige oder übergeschichtliche Faktum seines
Erlösungstodes und seiner Auferstehung in
eine Folge von zeitlichen Ereignissen auseinander gezogen wurde.
Diese Frage beantwortet sich alsbald,
sowie wir die Bewegungen in den frühesten uns bekannten Christengemeinden
ins Auge fassen, wie uns diese in der Apostelgeschichte und den Briefen des
Paulus entgegentreten. Wir wissen aus diesen Quellen,
wie frühzeitig sich ein Gegensatz zwischen dem Heidenchristentum des
Paulus und den Judenchristen herausgebildet hat, die ihren Hauptsitz
zu Jerusalem hatten und aus diesem Umstande, wie begreiflich, eine besondere
Autorität für sich in Anspruch nahmen. Solange der frühere Verfolger
der Christengemeinden, über dessen Bekehrung man sich anfangs nicht genug
hatte freuen können (Gal. 1, 24.),
den übrigen nicht im Wege stand und durch seine Erfolge in der Heidenwelt
die Berechtigung seiner apostolischen Tätigkeit zu beweisen schien, hatte
man ihn ruhig gewähren lassen. Als jedoch Paulus
durch seine Zurückhaltung gegenüber den »Brüdern«
zu Jerusalem seine Selbständigkeit bewies und durch seine Außerkraftsetzung
des mosaischen Gesetzes das jüdische Gefühl der Jerusalemiten reizte,
da fingen diese an, ihn mit Argwohn zu betrachten, seiner Missionstätigkeit
allerlei Hindernisse in den Weg zu legen und unter der Führerschaft des
zelotischen Jakobus den Versuch zu machen, die
paulinischcn Gemeinden unter die eigene Leitung zu bringen. Jetzt suchte man
nach einem Rechtstitel für die Ausübung des Apostelberufes und fand
ihn darin, dass jemand, der von Christus zeugen wollte, den Auferstandenen selbst
gesehen haben müsse. Allein hiergegen konnte Paulus mit Recht einwenden,
dass ja auch ihm der verklärte Jesus erschienen sei (1.
Kor. 2, 1; 2. Kor. 19, 9.).
So machte man die Berechtigung
zum Apostelberufe davon abhängig, dass ein Apostel den Auferstandenen nicht
bloß gesehen, sondern mit ihm zusammen gegessen und getrunken haben
müsse (Apg. 1, 3; 10, 41.). Dies
traf nun aber doch wiederum nicht auf Judas zu,
der nach Apg. 1, 16 f. nichtsdestoweniger
zu den Aposteln gerechnet wurde; und auch von Matthias,
den man an dessen Stelle wählte, wird nirgends gesagt, dass er ein Zeuge
der Auferstehung Jesu gewesen sei. Noch viel weniger
freilich scheint er die Bedingung erfüllt zu haben, zu der man im weiteren
Verfolge des ursprünglichen Gedankens fort ging, nämlich, dass ein
Apostel Jesu mit dem lebenden Jesus persönlich bekannt gewesen sein, dass
er zu den »Uraposteln« sich gehalten haben und von der Taufe des
Johannes an bis zur Auferstehung und Himmelfahrt als Augen- und Ohrenzeuge dabei
gewesen sein müsse (Apg. 1,21f.). Nun
hat Seufert gezeigt, dass es sich in den angeführten
Stellen der Apg. um eine reine Konstruktion,
um eine Übertragung späterer Verhältnisse in eine frühere
Epoche handelt, deren ganze Absicht darauf hinausläuft, die Heidenmission
des Paulus lahm zu legen und das höhere Recht
der jerusalemischen Judenchristen gegenüber dessen Anhängern zu begründen.
Wenn aus dieser Absicht, wie Seufert gezeigt hat,
die Einrichtung des Zwölfapostolates entstanden ist, die in den Evangelien
und den paulinischen Briefen keinen tragfähigen Grund und Boden hat, so
wird hier auch die Hauptursache dafür zu suchen sein, dass aus dem Gotte
Jesus ein menschlicher Begründer des Apostelamtes wurde. »Apostel
sollte nur sein dürfen, wer Jesum selbst gesehen und gehört oder doch
von denen gelernt hatte, welche seine unmittelbaren Jünger gewesen waren.
Eine Literatur des Judaismus entstand,
welche schon früher das naheliegendste Interesse an
der geschichtlichen Fixierung des Lebens Jesu hatte, und diese bildete die unterste
Schicht, auf welcher sere kanonischen Evangelien ruhen«.*
* Seufert: Der Ursprung und die Bedeutung
des Apostolates in der christlichen Kirche der ersten Jahrhunderte 1887, 143.
Vgl. auch meine »Petruslegende«, worin die Ungeschichtlichkeit der
Jünger und Apostel dargelegt ist, 50ff.
Das Judentum im allgemeinen und
dasjenige zu Jerusalem im besonderen bedurfte eines Rechtsgrundes, um seine
eigene überragende Stellung gegenüber dem Heidenchristentum des Paulus
darauf zu stützen: dazu mussten seine Begründer den persönlichen
Umgang Jesu genossen haben und von diesem selbst zu ihrem Berufe auserwählt
sein; und darum konnte Jesus kein bloßer Gott bleiben, sondern musste
er in die geschichtliche Wirklichkeit herabgezogen werden. Seufert
nimmt an, die Zurückführung des Zwölfapostolats unmittelbar
auf den »historischen« Jesus
selbst und die Aufstellung der Forderung, dass ein Apostel Jesu persönlichen
Umgang genossen haben müsse, habe noch zu Lebzeiten des Paulus,
im sechsten oder vielleicht schon im fünften Dezennium stattgefunden (a.
a. O. 42.). Indessen setzt er hierbei die Existenz eines historischen
Jesus voraus, während die Briefe des Paulus
selbst keine Nötigung zu der Annahme enthalten, dass die Vergeschichtlichung
des Jesusglaubens noch zu Lebzeiten des Paulus stattgefunden
habe. Es vollzog sich somit hier, in der Frühzeit des Christentums, auf
palästinensischem Boden und zu Jerusalem genau der gleiche Vorgang, wie
später im »ewigen« Rom, als der Bischoff dieser Stadt, um seine
Hoheitsrechte in der Kirche zu begründen, sich für den unmittelbaren
Nachfolger des Apostels Petrus ausgab und diesem
die »Schlüsselgewalt« durch Jesus
selbst übertragen werden ließ.
Sehr weltliche, sehr praktische
Gründe also waren es, die letzten Endes den Ausschlag dafür gaben,
dass aus dem anfänglichen Gotte Jesus ein historisches Individuum und der
Schwerpunkt seiner Wirksamkeit, das entscheidende Faktum seines Lebens, sein
Tod und seine Auferstehung, worauf allein es der religiösen Betrachtung
ankam, in die Hauptstadt des jüdischen Staates, die »Gottesstadt«,
die heilige Stadt Davids, des »Ahnherrn«
des Messias, verlegt wurde, an welche nun einmal
für das Bewusstsein der Juden das religiöse Heil geknüpft war.
Wie aber konnte die hierin enthaltene Fiktion sich durchsetzen und behaupten,
so dass sie geradezu zu einer Lebensfrage der neuen Religion, einem unerschütterlichen
Dogma, zu einer selbstverständlichen »Tatsache«
werden konnte und ihre Anzweifelung selbst dem kritischsten Theologen
unserer Zeit als eine schlechthinige Absurdität erscheint?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst die gnostische
Bewegung und ihr Verhältnis zur werdenden Kirche ins Auge fassen.
S. 198-206
Aus: Arthur Drews, Die Christusmythe, Verbesserte
und erweiterte Ausgabe /3.bis 5. Tausend/ Verlegt bei Eugen Diederichs Jena
1910
Der
Gnostizismus und der Johanneische Jesus
Das Christentum war ursprünglich
aus dem Gnostizismus (Mandaismus)
hervorgegangen. Die paulinische Religion war nur eine Form der allgemeinen synkretistischen
Bestrebungen, durch eine Verschmelzung aus verschiedenen Quellen stammender
religiöser Vorstellungen das Erlösungsbedürfnis der damaligen
Menschheit zu befriedigen Um so größer war die Gefahr, die der jungen
Kirche von dieser Seite her zu erwachsen drohte.
Der Gnostizismus
stimmte mit dem Christentum überein in der pessimistischen Bewertung
der Welt, in dem Glauben an die Unfähigkeit des Menschen, von sich aus
das religiöse Heil zu erlangen, und die Notwendigkeit einer göttlichen
Vermittlung des »Lebens«. Wie das Christentum,
erwartete er die Rettung der bedrängten Menschenseele von einer überweltlichen
Erlösergestalt, die vom Himmel auf die Erde herabkommt, sich des Menschen
annimmt, durch mystische Vereinigung mit ihm die
Verbindung zwischen der himmlischen und irdischen Sphäre herstellt und
dem Menschen damit ein ewiges Leben in einem seligen Jenseits verbürgt.
Auch er huldigte mit seinem Gegensatze von Gott und Welt, Geist und Stoff, Seele
und Leib usw., einer durch und durch dualistischen Weltanschauung, aber sein
ganzes Bestreben zielte darauf ab, diese Gegensätze durch eine übernatürliche
Vermittlung und magische Veranstaltung zu überwinden. Und zwar betrachtete
er die »Gnosis«,
die Erkenntnis, die richtige Einsicht in den Zusammenhang der Dinge als die
notwendige Bedingung der Erlösung. Der Mensch muss wissen, dass seine Seele
aus Gott stammt, dass sie nur zeitweilig in diesen Kerker des Leibes gebannt
und zu etwas Höherem ersehen ist, als hier in der Finsternis der Unwissenheit,
des Übels und der Sünde zu versinken, so ist er auch schon der Fesseln
seines Fleisches ledig und beginnt für ihn ein neues Leben. Dies Wissen
den Menschen mitzuteilen, ist der Erlösergott auf die Erde herabgekommen;
und der Gnostizismus macht sich anheischig, auf
Grund der von Gott unmittelbar empfangenen
»Offenbarung« denjenigen, die nach der höchsten Erkenntnis
streben, alle Tiefen des Himmels und der Erde aufzuschließen.
Es war ein wunderbar buntschillerndes
und verwirrendes Gebilde, dieser Gnostizismus der
ersten Jahrhunderte n. Chr., halb philosophische Spekulation,
halb Religion,
eine Vereinigung von Theosophie,
kritiklosem mythologischem Aberglauben und tiefsinniger religiöser Mystik.
Babylonischer Götter- und Gestirnglaube, parsische Mythologie und indische
Seelenwanderungs- und Karmalehre verschlangen sich in ihm mit jüdischer
Theologie und vorderasiatischen Mysteriengebräuchen, und durch das Ganze
wehte ein Hauch der hellenistischen Philosophie und bekundete sich vor allem
in dem Bestreben, die phantastischen Gebilde der Spekulation
in begriffliche Gestalt zu bannen und das Durcheinander orientalischer Zügellosigkeit
und Verstiegenheit des Denkens in die Form einer philosophischen Weltanschauung
hineinzuarbeiten.
Auch die Gnostiker
nannten ihre Mittlergottheit, wie wir dieses schon von der mandäischen
Sekte der Naassener gesehen haben, »Jesus« und ergingen sich in
breiter Ausmalung seiner vorweltlichen Existenz und überirdischen göttlichen
Herrlichkeit. Sie waren mit den Christen darin einig, dass Jesus »Mensch«
geworden sei. Aber die verstiegene metaphysische Auffassung, die sie
von Jesus hatten, verhinderte sie doch zugleich
daran, mit dem Gedanken seiner Menschheit wirklich Ernst zu machen. So behaupteten
sie entweder, der himmlische Christus habe sich mit dem Menschen Jesus
bloß äußerlich, und zwar erst bei Gelegenheit der Jordantaufe,
und nur zeitweilig, nämlich bis zum Todesleiden, verbunden, so dass also
nur der »Mensch« Jesus
den Tod erlitten habe (Basilides,
Kerinth), oder sie ließen Jesus sich
nur einen Scheinleib angezaubert haben und demnach
alle seine menschlichen Verrichtungen auch nur als bloßen Schein sich
abspielen (Saturnin, Valentinus,
Marcion). Wie wenig sie aber in den Kern der christlichen
Heilslehre einzudringen und die grundsätzliche Bedeutung der Christusgestalt
zu würdigen vermochten, bewiesen sie dadurch, dass sie Christus
nur als Ein Mittelwesen neben zahllosen anderen
auffassten und die romanhaft ausgeschmückte Schilderung der Geister oder
»Äonen«,
die zwischen Himmel und Erde auf- und niedersteigen und ihr Eigenleben für
sich führen sollten, einen breiten Raum in den gnostischen Systemen einnahm.
Dass der christliche Glaube an
einer so phantastischen und äußerlichen Auffassung des Gedankens
der Gottmenschheit den größten Anstoß nehmen musste, ist selbstverständlich.
Unterschied sich doch das Christentum des Paulus gerade
dadurch vom Gnostizismus, mit dem es selbst aufs
Engste zusammenhing, dass es mit der »Menschheit«
Jesu Ernst machte. Noch bedenklicher jedoch war
es, dass die Gnostiker mit ihrem extremen Dualismus
einen ausgesprochen antijüdischen Charakter verbanden. Denn dies musste
bei der nahen Verwandtschaft zwischen Gnostizismus und
Christentum die Juden notwendig auch vom Evangelium zurückschrecken und
nur zu viele gegen die junge Religion in Harnisch bringen. Die Juden aber waren
das Element, mit welchem das Christentum der Frühzeit vor allem zu rechnen
hatte. Dazu kam, dass die Gnostiker vom Standpunkte
ihrer spiritualistischen Gottesauffassung aus sich in Weltverachtung und Askese
gefielen. Sie empfahlen die geschlechtliche Enthaltsamkeit, verwarfen die Ehe
und wollten von einer leiblichen Auferstehung weder in Bezug auf Christus noch
auf die Menschen etwas wissen. Mit einer asketischen Religion aber ließ
sich im Abendlande keine Propaganda treiben. Und dabei schlug auch bei ihnen,
wie so oft, die Askese nur zu häufig in zügellose Sinnenlust und Libertinage
um, und der geistliche Hochmut der von Gott zum
Wissen Begnadigten, der sich über das mosaische Gesetz erhob, drohte durch
seine radikale Kritik des Alten Testamentes den Zusammenhang mit dem Judentume
vollends zu zerreißen. Hiermit untergrub aber der Gnostizismus
nicht bloß das sittliche Leben der Gemeinden, sondern brachte das
Evangelium auch bei der übrigen Welt in Misskredit. Als selbständige
Religion, die alle übrigen Kulte ausdrücklich bekämpfte, und
deren Anhänger sich den kultischen Verrichtungen des Staates, ja, aller
politischen Tätigkeit überhaupt entzogen, würde das Christentum
den Verdacht der Behörden, den Hass des Volkes gegen sich heraufbeschworen
haben und dem Verbote neuer Religionen und Geheimsekten (lex
Julia majestatis) verfallen sein. (Vgl.
Hausrath: Jesus und die neutestamentl. Schriftsteller II, 203).
Durch seine Loslösung dieser
Religion vom jüdischen Mutterboden trieb so der Gnostizismus
das Christentum geradezu hinein in einen Konflikt mit den römischen Staatsgesetzen.
Alle diese Gefahren, die dem Christentume
von der gnostischen Bewegung her drohten, beseitigte mit Einem Schlage die Anerkennung
der wahren Menschheit Christi, die Behauptung des »historischen«
Jesus. Sie wahrte den für die unbehinderte
Verbreitung des Christentums im römischen Reiche so wichtigen Zusammenhang
mit dem Judentume und seiner »geoffenbarten« Gesetzlichkeit, deren
heteronomer und ritueller Charakter zwar durch Paulus aufgehoben war, deren
sittlicher Gehalt jedoch auch weiterhin von den Christen festgehalten wurde.
Sie ermöglichte es, in vorläufiger Ermangelung einer schriftlichen
Offenbarungsurkunde das Alte Testament auch fernerhin in seinen wesentlichsten
Bestandteilen als autoritatives Grundbuch des neuen Glaubens und als vorbereitenden
Hinweis auf die in Jesus erschienene endgültige Offenbarung anzusehen.
Und vor allem, sie tat der gnostischen Phantastik Einhalt,
indem sie die verwirrende Vielheit der gnostischen Äonen
in die Eine Gestalt des Welterlösers und Heilandes Christus zusammenzog,
das Schwergewicht des Glaubens in den erlösenden Opfertod des Messias verlegte
und die ganze Aufmerksamkeit des religiösen Menschen auf diesen Haupt-
und Wendepunkt des gesamten geschichtlichen Verlaufes konzentrierte. Dies war
der Grund, warum die Apologeten und »Väter«
des Christentums, ein Ignatius, Polykarp,
Justinus, Irenäus
usw., mit solcher Entschiedenheit für die Geschichtlichkeit und wahre Menschheit
Jesu eintraten. Es war nicht etwa ein besseres historisches Wissen, was ihnen
hierzu die Veranlassung gab, sondern der Lebensinstinkt der Kirche, die nur
zu wohl erkannte, wie ihr eigener Bestand und die Durchführung ihrer religiösen
Aufgabe den Umtrieben und verführerischen Welterklärungsversuchen
des Gnostizismus gegenüber von der Annahme eines geschichtlichen Erlösers
abhing. So ist der historische Jesus von Anfang
an ein Dogma, eine aus religiösen und politisch-praktischen Bedürfnissen
zusammengewobene Dichtung der werdenden und kämpfenden christlichen Kirche
gewesen. So hat er sie wirklich zum Siege geführt, aber nicht als geschichtliche
Realität, sondern als Idee, oder mit andern Worten: nicht ein historischer
Jesus im eigentlichen Sinne, ein wirkliches menschliches Individuum, sondern
die bloße Idee eines solchen ist
der Schutzpatron, der Genius des kirchlichen Christentums gewesen, der es ihm
ermöglicht hat, über den Gnostizismus
ebenso wie über den Mithrakultus und die übrigen
Religionen der verwandten vorderasiatischen Heilsgötter obzusiegen. —
Die Bedeutung des vierten Evangeliums
beruht darin, diese Bemühungen der Kirche um die Vergeschichtlichung der
christlichen Erlösergestalt zu einem einstweiligen Abschluss gebracht zu
haben. Unter dem sichtlichen Einflusse der gnostischen Auffassung des Heilsprozesses
entstanden, kommt es dem Gnostizismus weiter als
irgend ein anderes Evangelium entgegen, ja, zeigt sich ganz und gar durchtränkt
von gnostischer Stimmung und Weltanschauung. Es teilt mit ihm bis zu einem gewissen
Grade den antijüdischen Charakter. Aber es hält doch zugleich mit
den Synoptikern an der geschichtlichen Wirksamkeit Jesu fest und sucht, eine
Art Vermittlung zwischen der wesentlich metaphysischen Auffassung der Gnostiker
und der wesentlich menschlichen Auffassung der synoptischen Evangelien herzustellen.
Mit dem Gnostizismus stimmt der
Verfasser, der das Evangelium unter dem Namen des Johannes,
des »Lieblingsjüngers Jesu«, vermutlich
zu Ephesus um 140 n. Chr. geschrieben hat, in der dualistischen Auffassung des
Weltganzen überein. Dem göttlichen Lichtreich, dem Reich der Wahrheit
und des Lebens, auf der einen Seite steht die Welt als das Reich der Finsternis,
der Lüge und des Bösen in gegenseitiger tödlicher Feindschaft
gegenüber. An der Spitze des himmlischen Reiches steht Gott, der selbst
nach parsischem Vorbild als Licht, Wahrheit, Leben und Geist bestimmt wird.
An der Spitze des Erdreichs steht der Satan (Angromainyu).
In der Mitte zwischen beiden befindet sich der Mensch. Aber auch die Menschheit
zerfällt, ebenso wie das übrige gesamte Dasein, in zwei wesentlich
verschiedene Arten. Die Seele des einen Teils der Menschen nämlich stammt
von Gott, diejenige des anderen vom Satan. Die »Gotteskinder« sind
von Natur zum Guten ausersehen und der Erlösung fähig. Die »Satanskinder«,
zu denen Johannes in Übereinstimmung mit den
Gnostikern vor allem auch die Juden rechnet, sind
für alles Göttliche unempfänglich und der ewigen Verdammnis verfallen.
Um nun die Erlösung ins Werk zu setzen, hat Gott, und zwar aus reiner »Liebe«
für die Welt, den Monogenes ausersehen,
seinen einziggezeugten Sohn, d. h. das einzige Wesen, welches, als Gotteskind,
nicht von andern Wesen, sondern von Gott selbst gezeugt ist. Der Verfasser des
Evangeliums verschmilzt den Monogenes mit dem philonischen
Logos, der nach gnostischer Anschauung nur einer unter den zahlreichen
andern Äonen und ein Sohn des
Monogenes, der göttlichen Vernunft, also nur ein Enkel Gottes sein
soll. Er überträgt zugleich das ganze »Pleroma«,
die Vielheit der Äonen, worin nach gnostischer Ansicht die göttliche
Wirklichkeit zerfallen soll, auf das eine Prinzip des Logos,
erklärt den Logos für den alleinigen
Träger der ganzen Fülle göttlicher Herrlichkeit, für den
präexistenten Schöpfer der Welt und bestimmt auch ihn, da er mit Gott,
seinem »Vater«, wesentlich identisch
sein soll, als die Lebensquelle, das Licht,
die Wahrheit
und den Geist des Weltalls.
Und wie vollzieht nun der Logos
die Erlösung? Er wird Fleisch, d.h. er nimmt
die Gestalt des »Menschen« Jesus
an, ohne übrigens damit aufzuhören, der übermenschliche
Logos zu sein, und bringt als solcher den Menschen das »Leben«,
das er selbst ist, durch die Offenbarung der Weisheit
und der Liebe. Als Offenbarer der Weisheit
ist Christus das »Licht der Welt«: er eröffnet den Menschen
das Geheimnis ihrer Gotteskindschaft; er lehrt sie, durch Erkenntnis Gottes
sich selbst und die Welt verstehen, sammelt die in der Welt zerstreuten Gotteskinder,
wie ein Hirte seine Schafe, zu einer einträchtigen und brüderlichen
Gemeinschaft um sich und lässt sie in der Nachfolge seiner eigenen Persönlichkeit
das »Licht des Lebens« haben, d.h. innerlich erleuchtet und erhoben
werden.
Als Offenbarer der Liebe nimmt er nicht bloß menschliche Gestalt und den
hiermit verbundenen Verzicht auf seine göttliche Seligkeit auf sich, sondern
setzt, als ein »guter Hirte«, sein
Leben ein für seine Herde; er errettet sie aus der Macht des Satans, den
Schrecken der Finsternis, und opfert sich für die Seinen, um durch diesen
höchsten Erweis seiner Liebe zu den Menschen, durch die völlige Hingabe
seines Lebens das Leben wiederzugewinnen, dass er wesentlich ist, und zu seiner
himmlischen Herrlichkeit zurückzukehren. Und das ist nun der Sinn des Erlösungswerkes
Christi, dass die Menschen durch Glaube und Liebe innerlich mit ihm und dadurch
zugleich mit Gott vereinigt werden, wodurch alsdann auch sie das »Leben«
in erhöhter Geistigkeit gewinnen. Denn mag auch Christus selbst zu Gott
zurückkehren: sein Geist bleibt doch auf Erden lebendig. Als der »andere
Paraklet« oder Anwalt führt der Geist das Erlösungswerk
des Heilands fort, erweckt und stärkt er den Glauben an Christus und die
Liebe zu ihm und zu den Brüdern, vermittelt ihnen dadurch das »Leben«
und führt auch sie nach ihrem Tode der Seligkeit im Jenseits entgegen.
In alledem ist der Einfluss des Gnostizismus und
der philonischen Logoslehre unverkennbar, und es
ist sehr wahrscheinlich, dass der Verfasser des vierten Evangeliums durch die
zu Ephesus lebendige Erinnerung an den Logos des Ephesiers Heraklit zu seiner
Anlehnung an Philo und die von diesem näher ausgeführte Gestalt der
hellenistischen Logosphilosophie gelangt ist. Wodurch er sich aber grundsätzlich
von Philo und dem Gnostizismus unterscheidet, ist die Behauptung, dass der Logos
»Fleisch geworden«, in der Gestalt Jesu von Nazareth auf Erden gewandelt
sei und den Tod erlitten habe. Freilich bleibt es mehr bei der Behauptung, als
dass es dem Evangelisten gelungen wäre, trotz seiner Verwertung der von
den Synoptikern berichteten persönlichen Lebensschicksale Jesu das Bild
eines wirklichen Menschen zu zeichnen. Der Gedanke der göttlichen Wesenheit
des Heilands ist der seine Darstellung beherrschende. Ihm zuliebe wird das überkommene
»geschichtliche Bild« gewaltsam zurechtgestutzt
und die Persönlichkeit Jesu so sehr ins Wunderbare, Außergewöhnliche
und Übernatürliche gesteigert, dass, wenn wir nur das vierte Evangelium
besäßen, wohl schwerlich jemand auf den Gedanken verfallen würde,
es handelte sich hier um die Lebensgeschichte eines historischen Individuums.
Und doch ist in dieser Beziehung der Unterschied des Johannesevangeliums von
den Synoptikern eben nur ein gra du eller. Denn auch der Jesus der Synoptiker
ist im Grunde gar kein Mensch, sondern ein »Übermensch«,
der Gottmensch, der Kultheros und Heilsvermittler der ursprünglichen christlichen
Gemeinde. Und wenn es denn schon feststeht, dass der Streit der kirchlichen
Lehrer mit den gnostischen Häretikern sich nicht um die Gottheit Christi,
in der man einig war, sondern vielmehr um die Art und den Grad seiner Menschheit
drehte, so sollte diese »paradoxe Tatsache«
allein schon genügen, um es zu erhärten, dass die
Gottheit des Erlösungsmittlers das ursprünglich allein Feststehende
und die selbstverständliche Voraussetzung des gesamten christlichen Glaubens,
hingegen seine Menschheit schon in jenen frühesten
Zeiten zweifelhaft war und nur aus diesem Grunde zu einem Gegenstande
der erbittertsten Kämpfe werden konnte.
Eine wirkliche Verschmelzung der
mythologischen Persönlichkeit des gnostischen Gottessohnes, der auch in
der Gestalt des Logos bei
Philo zwischen einem unpersönlichen Geistwesen
und allegorischer Persönlichkeit hin
und her schwankte, mit der menschlichen Persönlichkeit Jesu hat freilich
auch der Verfasser des vierten Evangeliums nicht zustande gebracht. Alle seine
Bemühungen, »das Ineinander des Göttlichen
und Menschlichen in der Einheit des persönlichen, seinem Grunde (Wesen)
nach göttlichen, seiner Erscheinung nach menschlichen Lebens Jesu«
begreiflich zu machen, scheitern auch bei dem sog. Johannes daran, dass ein
persönlich gedachter Logos niemals zugleich eine menschliche Persönlichkeit
und eine menschliche Persönlichkeit, die eine göttliche Persönlichkeit
zu ihrem Grund und Wesen hat, von dieser immer nur dämonisch besessen,
aber niemals und auf keine Weise diese letztere unmittelbar selbst sein kann.
Und so schillert denn auch, wie Pfleiderer sagt,
der johanneische Christus durchweg »zwischen
erhabener Wahrheit und gespenstischer Unnatur: jenes, sofern er das Ideal des
Gottessohnes, also der menschheitlichen Religion, losgelöst von allen Zufälligkeiten
und Schranken der Individualität und Nationalität, des Raumes und
der Zeit darstellt — dieses aber, sofern er es darstellt unter der mythischen
Hülle eines in Menschengestalt über die Erde wandelnden Gottes«
(Entstehung d. Chr. 239.).
Es ist wahr: erst diese Verschmelzung
des gnostischen Gottsohnes und
philonischen Logos mit dem Jesus der Synoptiker
hat die nebelhafte Unbestimmtheit der mythologischen Spekulation
und Abstraktheit des Gedankens zur anschaulichen Gestalt und lebendigen Individualität
des persönlichen Erlösungsmittlers verdichtet. Sie hat diese Persönlichkeit
dem Gemüte der Gläubigen näher als irgend eine andere Gestalt
des religiösen Glaubens gebracht und damit dem christlichen Kultgotte Jesus
in seiner reinen Menschlichkeit, seiner überströmenden Güte und
Liebenswürdigkeit ein solches Übergewicht über seine göttlichen
Konkurrenten, einen Mithra, Attis usw. verschafft,
dass diese neben Jesus zu inhaltsleeren Schemen
verblassten. Der gnostische Idealmensch, d. h.
die platonische Idee, und das sittliche Ideal des Menschen flossen in ihm unmittelbar
in eins zusammen. Das Wunder der Vereinigung von Gott und Mensch, um die sich
die antike Welt so heiß und so vergeblich bemüht hatte, schien in
Christus seine Verwirklichung gefunden zu haben.
Christus war der »Weise«
der stoischen Philosophie, in welchem sich für diese alles Edelste
im Menschen zusammenfasste; ja, mehr als dies, er war der Gottmensch, wie Seneca
ihn um der sittlichen Erhebung der Menschheit willen verkündet und gefordert
hatte (Vgl. oben S. 1 f.).
Die Welt war demnach für
seinen Grundgedanken so aufnahmefähig und wohl vorbereitet, dass wir leicht
begreifen, warum das kirchliche Christentum auf die menschliche Persönlichkeit
seines Erlösungsprinzips mit fast noch größerer Entschiedenheit
bestand als auf den göttlichen Charakter Jesu. Und dennoch, trotz ihrer
Größe und Erhabenheit, trotz aller unermesslichen Bedeutung, welche
die Betonung der wahren Menschheit Christi für die Entwicklung des Christentums
gehabt hat, bleibt es wahr, dass auf der anderen Seite gerade sie die Quelle
aller unlösbaren Widersprüche, aller unüberwindbaren Schwierigkeiten
darstellt, an denen die christliche Weltanschauung krankt, dass sie die große
neue Idee, die das Christentum in das religiöse Bewusstsein der abendländischen
Menschheit eingeführt und wodurch es das Judentum überwunden hat,
die Idee der Gottmenschheit, in ihrem Kern verdorben
und den Wahrheitsgehalt dieser Religion in so heilloser Weise getrübt,
verbogen und entstellt hat, dass es heute nicht mehr möglich ist, ohne
Opfer des Intellekts seiner Erlösungslehre zuzustimmen. S.
206-216
Aus: Arthur Drews, Die Christusmythe, Verbesserte und erweiterte Ausgabe/3.bis
5. Tausend/ Verlegt bei Eugen Diederichs Jena 1910