Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821 – 1881)
>>>Gott
Der
Großinquisitor
Er ist ganz still und unbemerkt erschienen, aber alle — sonderbar ist
das — alle erkennen Ihn. Das könnte eine der besten Stellen der Dichtung
sein, ich meine dies: woran Ihn alle erkennen. Eine unwiderstehliche Macht zieht
das Volk zu Ihm hin; es umringt Ihn, wächst mehr und mehr um Ihn an und
folgt Ihm wohin Er geht. Er aber wandelt stumm unter ihnen mit einem stillen
Lächeln unendlichen Mitgefühls. Die Sonne der Liebe brennt in Seinem
Herzen, Strahlen von Licht, Erleuchtung und Kraft strömen aus Seinen Augen,
und alle, über die sie sich ergießen, sind ergriffen von Gegenliebe
zu Ihm. Er streckt ihnen die Hände entgegen, Er segnet sie, und von der
Berührung Seiner Hände, ja schon von der Berührung seines Gewandes
geht heilende Kraft aus. Da ruft aus der Menge ein Greis, der von Kindheit an
blind ist, Ihn, der vorübergeht, laut an: ,Herr, heile mich, auf dass
auch ich Dich schaue!‘ Und siehe, es fällt wie Schuppen von seinen
Augen, und der Blinde sieht Ihn. Das Volk weint und küßt die Erde,
über die Er geschritten ist. Kinder streuen vor Ihm Blumen, jauchzen und
rufen: ,Hosianna!‘ ,Das ist Er, Er selbst!‘ raunt sich das Volk
immer lauter und lauter zu, ,das muss Er sein, das kann kein anderer sein
als Er!‘ — Vor dem Portal der Kathedrale von Sevilla bleibt Er stehen,
da man gerade unter Weinen und Wehklagen einen offenen weißen Kindersarg
in den Dom trägt: im Sarge liegt das tote siebenjährige Töchterchen
eines vornehmen Bürgers, sein einziges Kind. Man hat es ganz in Blumen
gebettet. ,Er wird dein Kind erwecken!‘ ruft man aus der Menge der weinenden
Mutter zu. Der Geistliche, der aus der Kathedrale dem Sarg entgegentritt, bleibt
verwundert stehen und runzelt die Stirn. Aber die Mutter des toten Kindes wirft
sich Ihm zu Füßen und ruft: ,Bist Du es, so erwecke mein Kind!‘
und flehend hebt sie die Hände zu Ihm empor. Alles bleibt stehen, der kleine
Sarg wird vor dem Portal der Kathedrale zu Seinen Füßen niedergestellt.
Voll Mitleid blickt er auf das tote Kind, und Seine Lippen spredien leise abermals: ,Talitha kumi’ — ,Stehe auf,
Mädchen‘. Und das Mädchen erhebt sich im Sarge, setzt sich auf
und blickt lächelnd mit weit offenen verwunderten Augen um sich. Ihre Hände
pressen die weißen Rosen, mit denen sie im Sarge lag, an die Brust. Im
Volke Bestürzung, man schreit und schluchzt, und gerade da, in diesem Augenblick,
geht über den Platz der Kathedrale der Kardinal-Großinquisitor. Er
ist ein fast neunzigjähriger Greis, groß und aufrecht, mit vertrocknetem
Gesicht, eingesunkenen Augen, in denen aber noch ein Glanz blinkt wie ein Feuerfunke.
Oh, nicht in seinem prächtigen Kardinalsgewande geht er vorüber, in
den leuchtenden Farben, in denen er gestern vor dem Volke geprunkt hat, als
er die Feinde des römischen Glaubens den Flammen übergab, —
nein, in diesem Augenblick trägt er nur seine alte, grobe Mönchskutte.
Ihm folgen in angemessenem Abstand seine finsteren Gehilfen und Diener und die
,heilige‘ Wache. Angesichts des Gedränges vor dem Portal, bleibt
er stehen und beobachtet von ferne. Er hat gesehen, wie der Sarg vor Seine Füße
gestellt ward, Er sieht, wie das Mädchen aufersteht, und Sein Gesicht verfinstert
sich. Er runzelt die grauen, buschigen Brauen, und Sein Blick erglüht unheilverkündend.
Er streckt den Finger aus und befiehlt der Wache, Ihn zu ergreifen. Und siehe,
so groß ist seine Macht, und bereits so gut abgerichtet, unterworfen und
zitternd gehorsam ist ihm das Volk, dass es vor den Wachen wortlos zurückweicht
und diese, inmitten der Grabesstille, Hand an Ihn legen und Ihn wegführen
lässt. Und jäh beugt sich die ganze Menge, wie ein Mann, bis
zur Erde vor dem greisen Großinquisitor; der segnet schweigend das kniende
Volk und geht stumm vorüber. Die Wache führt den Gefangenen in ein
enges dunkles, gewölbtes Verließ im alten Palast des Heiligen Tribunals
und schließt ihn dort ein. Der
Tag vergeht, es wird Nacht: dunkle, glühende, ,hauchlose sevillanische
Nacht‘. Die Luft ist ,schwül von Lorbeer- und Orangenduft‘.
Da, im Dunkel der Nacht öffnet sich plötzlich die eiserne Tür
des Verließes, und mit der Leuchte in der Hand tritt er, der Greis, der
Großinquisitor, langsam über die Schwelle. Er ist allein,
hinter ihm schließt sich die Tür. Er steht und blickt lange —
eine oder zwei Minuten lang — Ihm ins Gesicht. Endlich tritt er leise
näher, stellt die Leuchte auf den Tisch und spricht zu Ihm:
,Bist Du es? Du?‘ Und da er keine Antwort erhält, fügt er schnell
hinzu: ,Antworte nicht, schweige. Und was könntest Du auch sagen? Ich weiß
nur allzu gut, was Du sagen kannst. Aber Du hast nicht einmal das Recht, noch
etwas dem hinzuzufügen, was von Dir schon damals gesagt worden ist. Warum
also bist Du gekommen, uns zu stören? Denn Du bist uns stören gekommen!
Das weißt Du selbst. Aber weißt Du auch, was morgen geschehen wird?
Ich weiß nicht, wer Du bist und will es auch nicht wissen: bist Du‘s
wirklich, oder bist Du nur Sein Ebenbild? Aber morgen noch werde ich Dich richten
und Dich als den ärgsten aller Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennen,
und dasselbe Volk, das heute noch Deine Füße geküßt hat,
wird morgen auf einen einzigen Wink meiner Hand zu Deinem Scheiterhaufen hinstürzen,
um eifrig die glühenden Kohlen zu schüren, — weißt Du
das? Ja, vielleicht weißt Du es‘, fügt er in sinnendem Nachdenken
hinzu, ohne auch nur für eine Sekunde den Blick von seinem Gefangenen abzuwenden.«
»Ich verstehe nicht ganz, Iwan, — was soll das?« fragte Aljoscha,
der die ganze Zeit schweigend zugehört hatte, jetzt lächelnd. »Ist
das einfach uferlose Phantasie, oder ist es irgendein Irrtum des Alten, ein
unmögliches quid pro quo?«
»Nimm meinetwegen das letztere an«, sagte Iwan auflachend, »wenn
dich der moderne Realismus bereits dermaßen verwöhnt hat, dass
du nichts Phantastisches mehr ertragen kannst. Wenn du willst, also ein quid
pro quo, mag es meinetwegen so sein. Es ist ja wahr«, — Iwan lachte
wieder — »der Alte ist doch ein neunzigjähriger Greis und hat
vielleicht schon längst über seiner Idee den Verstand verloren. Der
Gefangene aber könnte ihn auch durch sein Aussehen verwirrt haben. Schließlich
könnte es sich auch einfach um Fieberdelirien vor dem Sterben handeln,
um eine Halluzination des neunzigjährigen Greises, dessen Nerven zudem
noch von dem gestrigen Flammentode der hundert Ketzer erregt sind. Aber kann
es denn uns beiden nicht ganz gleich sein, ob es eine Verwechslung oder uferlose
Phantasie ist? Hier handelt es sich doch nur darum, dass der Alte sich
endlich aussprechen muß! Er muß doch wenigstens einmal das aussprechen,
worüber er die ganzen neunzig Jahre geschwiegen hat.«
»Und der Gefangene schweigt gleichfalls? Sieht ihn bloß an und sagt
kein Wort?«
»Kein einziges Wort, und so muss es sogar unbedingt
sein«, sagte Iwan wieder lachend. »Der Alte sagt Ihm doch
selbst, daß Er nicht einmal das Recht habe, etwas dem hinzuzufügen,
was Er schon früher gesagt hat. Wenn du willst, so liegt gerade darin der
Grundzug des römischen Katholizismus, wenigstens nach meiner Auffassung.
Mit anderen Worten: ,Alles ist von Dir dem Papst übergeben, folglich ist
jetzt alles beim Papste, Du aber komme jetzt lieber überhaupt nicht wieder,
oder störe wenigstens nicht vor der Zeit.‘ In diesem Sinne reden
sie ja nicht nur, sondern schreiben sie sogar, wenigstens die Jesuiten. Ich
habe das selbst in den Schriften ihrer Theologen gelesen. ,Hast Du das Recht,
uns auch nur eines der Geheimnisse jener Welt, aus der Du gekommen bist, aufzudecken?‘
fragt Ihn mein Greis, und er gibt selbst statt Seiner die Antwort: ,Nein, dieses
Recht hast Du nicht, denn das hieße Neues zu dem, was schon früher
gesagt worden ist, hinzufügen und den Menschen die Freiheit nehmen, für
die Du damals so eintratest, als Du auf Erden wandeltest. Alles, was Du neu
verkünden würdest, wäre jetzt ein Anschlag auf die Glaubensfreiheit
der Menschen, denn es würde nun als Wunder in Erscheinung treten, gerade
ihre Glaubensfreiheit aber war Dir doch das Teuerste, damals vor anderthalb
Jahrtausenden. Hast Du nicht damals so oft gesagt: ,,Ich will euch freimachen?‘
Jetzt hast Du sie gesehen, diese ,,freien Menschen!‘ fügt der Greis
plötzlich mit sinnendem Spottlächeln hinzu. ,Ja, die Sache ist uns
teuer zu stehen gekommen‘, fährt er fort, indem er Ihn mit strengem
Blick ansieht, aber wir haben das Werk schließlich zu Ende geführt
in Deinem Namen. Anderthalb Jahrtausende haben wir uns mit dieser Freiheit abgequält,
doch jetzt ist das überwunden und zwar endgültig! Du glaubst nicht,
daß es endgültig überwältigt ist? Du blickst mich milde
an und würdigst mich nicht einmal deines Unwillens? So höre denn,
daß gerade diese Menschen mehr denn je überzeugt sind, vollkommen
frei zu sein, und dabei haben sie doch selber ihre Freiheit zu uns gebracht
und sie gehorsam und unterwürfig uns zu Füßen gelegt. Aber das
ist unser Werk. Oder war es das, was auch Du wolltest, war es diese Freiheit?‘ . . . «
»Ich verstehe wieder nicht«, unterbrach ihn Aljoscha, ist das von
ihm ironisch gesagt, macht er sich lustig?«
»Keineswegs! Er rechnet es sich und den Seinen im Ernst als Verdienst
an, daß sie endlich einmal die Freiheit überwunden haben, und daß
sie dies nur zu dem einen Zweck getan: um die Menschen glücklich zumachen.
,Denn erst jetzt erst’ (er meint damit natürlich die Inquisition)
,ist es zum erstenmal möglich, auch an das Glück der Menschen zu denken.
Der Mensch war als Rebell geschaffen; aber können denn Rebellen glücklich
sein? Du wurdest gewarnt‘, sagt der Greis zu Ihm, ,es fehlte Dir nicht
an Warnungen und Fingerzeigen aber Du achtetest der Warnungen nicht, und Du
verschmähtest den einzigen Weg, auf dem man die Menschen hätte glücklich
machen können, Du verwarfst ihn, aber zum Glück gingst Du fort und
übergabst die Arbeit uns. Du versprachst — und hast es bestätigt
— und gabst uns das Recht, zu binden und zu lösen, und kannst es
Dir selbstverständlich nicht einfallen lassen, dieses Recht uns jetzt wieder
zu nehmen. Warum also bist Du uns stören gekommen?‘«
»Was bedeutet das: ,Es fehlte Dir nicht an Warnungen und Fingerzeigen‘?« fragte Aljoscha.
»Aber gerade das ist ja das Wichtigste, was der Alte auszusprechen hat«,
sagte Iwan. »Und der Greis fährt fort:
,Der furchtbare und kluge Geist, der Geist der Selbstvernichtung und des Nichtseins,
der große Geist sprach zu Dir in der Wüste, und wie die Schriften
uns überliefern, habe er Dich ,versucht“. War das so? Und wäre
es möglich, etwas Wahreres zu sagen, als das, was er Dir in seinen drei
Fragen vorlegte, und was Du verwarfst, und was in den Schriften ,Die Versuchungen“
genannt wird? Indes, wenn jemals auf Erden ein wirkliches, wie ein Donnergegroll
erschütterndes Wunder geschehen ist, so geschah es an jenem Tage, am Tage
dieser drei Versuchungen! Schon im Auftauchen dieser drei Fragen bestand das
Wunder. Wenn es möglich wäre, sich das einmal vorzustellen, nur so
zur Probe und als Beispiel, daß diese drei Fragen des furchtbaren Geistes
aus den Büchern spurlos verschwänden, und daß man sie also von
neuem erdenken und formulieren müßte, um sie wieder in die Schriften
einzutragen, und zu dem Zweck alle Weisen der Erde, Regenten, Erzpriester, Gelehrte,
Philosophen, Dichter versammelte und zu ihnen sagte: Löst die Aufgabe,
denkt euch drei Fragen aus, aber solche, die nicht nur der Größe
des Vorgangs entsprechen, sondern zugleich in nur drei Worten, drei einfachen
Sätzen der Menschensprache die ganze zukünftige Welt- und Menschheitsgeschichte
enthalten und voraussagen! Glaubst Du, alle Weisheit der Erde vermöchte
etwas zu ersinnen, das an Kraft und Tiefe jenen drei Fragen, die Dir der mächtige
und kluge Geist in der Wüste tatsächlich vorgelegt hat, auch nur annähernd
gleichkäme? Schon allein an diesen Fragen, schon an dem Wunder ihres Erscheinens,
kann man begreifen, daß man es hier nicht mit vergänglichem Menschenverstand
zu tun hat, sondern mit dem ewigen und absoluten Geist. Denn wahrlich, in diesen
drei Fragen ist die· ganze weitere Menschengeschichte gleichsam zu einem
Ganzen zusammengefaßt und vorhergesagt, und sind drei Bilder gegeben,
in denen alle auf der ganzen Erde unlösbaren historischen Widersprüche
der Menschennatur offenbart sind. Damals konnte das noch nicht so sichtbar sein,
denn die Zukunft war unbekannt. Jetzt aber, nach fünfzehn Jahrhunderten,
sehen wir in diesen drei Fragen alles dermaßen richtig erraten und vorausgesagt
und in Erfüllung gegangen, daß sich weder etwas hinzufügen,
noch etwas abstreichen läßt.
Entscheide selbst, wer damals recht hatte: Du oder jener, der Dich damals befragte?
Erinnere Dich der ersten Frage. Ihr Sinn, wenn auch nicht ihr Wortlaut, war
folgender: Du willst in die Welt gehen und gehst mit leeren Händen, mit
irgendeiner Freiheitsverheißung, die sie in ihrer Einfalt und angeborenen
Zuchtlosigkeit nicht einmal begreifen können, vor der sie sich fürchten
und die sie schreckt, — denn für den Menschen und die menschliche
Gemeinschaft hat es niemals und nirgends etwas Unerträglicheres gegeben
als die Freiheit! Siehst du dort jene Steine in dieser nackten, glühenden
Wüste? Verwandle sie in Brote, und die Menschheit wird Dir wie eine Herde
nachlaufen, wie eine dankbare und gehorsame Herde, wenn sie auch ewig zittern
wird vor Angst, Du könntest Deine Hand zurückziehen, und Deine Brote
würden dann ein Ende nehmen. Du aber wolltest den Menschen nicht der Freiheit
berauben, und Du verschmähtest den Vorschlag, denn was ist das für
eine Freiheit, dachtest Du, wenn der Gehorsam mit Broten erkauft wird? Und Deine
Antwort war: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein . . . “ Aber
weißt Du auch, daß im Namen dieses irdischen Brotes der Geist der
Erde sich gegen Dich erheben, mit Dir kämpfen und Dich besiegen wird, und
daß alle ihm folgen und ausrufen werden: ,Wer gleicht wohl jenem Ungeheuer,
das uns das Feuer vom Himmel gab!‘ Weißt Du auch, daß Jahrhunderte
vergehen werden und die Menschheit durch den Mund ihrer Weisheit und Wissenschaft
verkünden wird, daß es Verbrechen überhaupt nicht gäbe,
und folglich auch keine Sünde, es gäbe nur Hungrige. ,Sättige
sie zuerst, dann kannst Du von ihnen Tugenden verlangen!‘ werden sie auf
ihre Fahne schreiben, die sie gegen Dich erheben und durch die Dein Tempel stürzen
wird. An der Stelle Deines Tempels wird sich ein neues Bauwerk erheben, wird
wieder der schreckliche babylonische Turm gebaut werden, und wenn er auch wie
der erste nicht vollendet werden wird, so hättest Du doch diesen neuen
Turmbau ersparen und die Leiden der Menschen um tausend Jahre abkürzen
können, — denn zu wem sonst, wenn nicht zu uns, sollen sie kommen,
nachdem sie sich tausend Jahre lang mit ihrem Turmbau abgequält haben!
Sie werden uns wieder aus den Erdlöchern hervorsuchen, uns, die in den
Katakomben sich Verbergenden — denn man wird uns wieder verfolgen und
martern —, sie werden uns finden und uns anflehen: ,Sättigt uns,
denn die, so uns das Feuer vom Himmel versprachen, haben es uns nicht gegeben.‘
Und dann werden schon wir ihren Turm vollenden, denn vollenden wird derjenige,
der den Hunger stillt, den Hunger aber stillen werden nur wir, in Deinem Namen,
und wir werden lügen, daß es in Deinem Namen geschehe. O, niemals,
niemals werden sie ohne uns ihren Hunger stillen können! Keine Wissenschaft
wird ihnen Brot geben, solange sie frei bleiben, und so wird es denn damit enden,
daß sie ihre Freiheit uns zu Füßen legen und sagen werden:
,Knechtet uns lieber, aber macht uns satt.‘ Sie werden schließlich
begreifen, daß Freiheit für alle unvereinbar ist mit genügend
irdischem Brot für jeden, denn nie, nie werden sie unter sich zu teilen
verstehen. Sie werden auch einsehen, daß sie nie werden frei sein können,
denn sie sind schwach, lasterhaft, nichtig, und sind Rebellen! Du versprachst
ihnen himmlisches Brot, ich aber frage Dich nochmals: Kann sich dieses Brot
in den Augen des schwachen, ewig verderbten und ewig undankbaren Menschengeschlechts
mit irdischem Brote messen? Und wenn Dir um des himmlischen Brotes willen Tausende
und Zehntausende nachfolgen, was soll dann mit den Millionen und Milliarden
von Wesen geschehen, die nicht die Kraft haben, das Erdenbrot um des Himmelsbrotes
willen zu verschmähen? Oder sind Dir nur die Zehntausende der Großen
und Starken teuer, die übrigen Millionen aber, die, zahllos wie der Sand
am Meer, wohl schwach sind, aber dennoch Dich lieben, sollen die dann nur als
Material für die Großen und Starken dienen? Nein, uns sind auch die
Schwachen teuer. Sie sind lasterhaft und sind Empörer, aber gerade sie
werden gehorsam werden. Sie werden sich über uns wundern und uns für
Götter halten, weil wir, die wir uns an ihre Spitze stellen, bereit sind,
die Freiheit zu ertragen, diese Freiheit, vor der sie zurückschrecken,
und weil wir bereit sind, über sie zu herrschen, — so schrecklich
wird es ihnen zum Schluß werden, frei zu sein. Aber wir werden sagen,
wir gehorchten Dir und herrschten nur in Deinem Namen. Wir
werden sie wieder betrügen, denn Dich werden wir nicht mehr zu uns einlassen.
Und in diesem Betrug wird unsere Pein bestehen, denn wir werden lügen müssen.
Das war es, was diese erste Frage in der Wüste bedeutete, und was Du im
Namen der Freiheit, die Du über alles stelltest, verschmäht hast.
Indessen lag in dieser Frage das große Geheimnis dieser Welt. Hättest
Du diese „Brote“ angenommen, so hättest Du die Menschen von
einer ewigen Sorge erlöst, denn Du hättest diese eine Frage, die wichtigste
jedes einzelnen Menschen wie der ganzen Menschheit, die so sehnsüchtig
nach Antwort verlangt, beantwortet, — die Frage: ,Was
sollen wir anbeten?‘ Es gibt keine unaufhörlichere und quälendere
Sorge für den freigebliebenen Menschen, als den zu finden, vor dem er sich
beugen kann. - Aber der Mensch sucht sich nur vor so etwas zu beugen, das bereits
keinem Zweifel an seine Anbetungswürdigkeit unterworfen ist, auf daß
alle Menschen sofort gleichfalls bereit seien, dasselbe gemeinsam anzubeten.
Denn die Sorge dieser kläglichen Geschöpfe besteht nicht nur darin,
etwas zu finden, was dieser oder jener anbeten kann, sondern unbedingt so etwas,
das alle sofort gleichfalls anbeten wollen, unbedingt alle zusammen! Gerade
dieses Bedürfnis nach Gemeinsamkeit in der Anbetung ist seit Beginn
der Zeiten die größte Qual des Menschen gewesen, sei es als Einzelwesen,
sei es als ganze Menschheit. Um der gemeinsamen Anbetung willen haben sich die
Menschen mit dem Schwert gegenseitig ausgerottet. Sie erschufen Götter
und riefen einander zu: ,Verlaßt eure Götter und kommt und betet
die unsrigen an, oder Tod und Verderben euch und euren Göttern!‘
Und also wird es sein bis zum Ende der Welt, selbst dann, wenn aus der Welt
die Götter verschwinden: gleichviel, dann wird man sich vor Götzen
niederwerfen. Du kanntest dieses Grundgeheimnis der Menschennatur, Du konntest
es unmöglich nicht kennen, doch Du verschmähtest das einzige Positive,
das Dir vorgeschlagen wurde, um alle zu zwingen, sich widerspruchslos vor Dir
zu beugen: das irdische Brot, und Du verschmähtest es um der Freiheit und
um des himmlischen Brotes willen. So siehe denn, was Du weiter getan hast. Und
alles wiederum im Namen der Freiheit! Ich sage Dir, der Mensch kennt keine quälendere
Sorge als die, einen zu finden, dem er möglichst schnell jenes Geschenk
der Freiheit, mit dem er als unglückliches Geschöpf geboren wird,
übergeben kann. Aber die Freiheit der Menschen beherrscht nur der, der
ihr Gewissen beruhigt. Mit dem Brote wurde Dir eine unbestreitbare Macht angeboten:
gibst Du Brot, so wird sich der Mensch vor Dir beugen, denn es gibt nichts Überzeugenderes
als Brot; wenn aber zu gleicher Zeit irgendein anderer hinter Deinem Rücken
sein Gewissen erobert — o, dann wird er selbst Dein Brot verlassen und
jenem folgen, der sein Gewissen umstrickt. Darin hattest Du recht. Denn das
Geheimnis des Menschenlebens liegt nicht im bloßen Dasein, sondern im
Zweck des Daseins. Ohne eine feste Vorstellung davon, wozu er leben soll, wird
der Mensch gar nicht leben wollen, und er wird sich eher vernichten, als daß
er auf Erden leben bliebe — selbst dann nicht, wenn um ihn herum Brote
in Fülle wären, Das ist nun einmal so. Aber was ergab sich aus Deiner
Weigerung? Anstatt die Freiheit der Menschen unter Deine Herrschaft zu beugen,
hast Du sie ihnen noch vergrößert! Oder hattest Du vergessen, daß
Ruhe und selbst der Tod dem Menschen lieber sind als freie Wahl in der Erkenntnis
von Gut und Böse? Es gibt nichts Verführerischeres für den Menschen
als die Freiheit seines Gewissens, aber es gibt auch nichts Quälenderes
für ihn. Und siehe, anstatt fester Grundlagen zur Beruhigung des menschlichen
Gewissens ein für allemal —wähltest Du alles, was es Seltsames,
Zweifelhaftes und Unsicheres gibt, nahmst Du alles, was über die Kräfte
der Menschen ging, und handeltest daher, als liebtest Du sie überhaupt
nicht. Wer aber war es, der das tat? Der, der gekommen war, Sein Leben für
sie hinzugeben! Statt Dich der menschlichen Freiheit zu bemächtigen, hast
Du sie noch vergrößert, hast Du sie vervielfacht und hast mit ihren
Qualen das Seelenreich des Menschen auf ewig belastet. Dich gelüstete nach
der freien Liebe des Menschen, auf daß er Dir frei folge, von Dir verführt
und berückt. Statt nach dem festen alten Gesetz, sollte der Mensch hinfort
mit freiem Herzen selbst entscheiden, was Gut und was Böse ist, wobei er
als einzige Richtschnur nur Dein Vorbild hätte. Aber hast Du wirklich nicht
daran gedacht, daß er schließlich auch Dein Vorbild verwerfen und
Deine Wahrheit bestreiten wird, wenn man ihn mir einer so furchtbaren Last,
wie der Freiheit der Wahl, bedrückt? Die Menschen werden ausrufen, daß
die Wahrheit nicht in Dir sei, denn es war unmöglich, sie in größerer
Verwirrung und Qual zurückzulassen, als Du es getan hast, da Du ihnen soviel
Sorgen und unlösbare Aufgaben hinterließest. Auf diese Weise hast
Du selbst den Grund gelegt zum Sturze Deines Reiches, und so beschuldige denn
auch niemand anderen. Was aber wurde Dir angeboten? Es gibt drei Mächte,
es sind die einzigen drei Mächte auf Erden, die das Gewissen dieser kraftlosen
Empörer zu ihrem Glück auf ewig besiegen und bannen können, — das sind: das Wunder, das Geheimnis und die Autorität. Du verwarfst das eine wie das andere und auch das dritte, und zeigtest
dies deutlich im Beispiel. Als der furchtbare und allwissende Geist Dich auf
die Zinne des Tempels führte und zu Dir sprach: „Wenn Du wissen willst,
ob Du Gottes Sohn bist, so stürze Dich hinab, denn es ist gesagt von Ihm,
daß Engel Ihn auffangen und tragen würden, damit Er seinen Fuß
an keinen Stein stoße: dann wirst Du erfahren, ob Du Gottes Sohn bist,
und wirst damit beweisen, wie groß Dein Glaube an Deinen Vater ist“,
da wiesest du die Versuchung von Dir, Du unterlagst ihr nicht und stürztest
Dich nicht hinab. O, gewiß, Du handeltest stolz und erhaben wie ein Gott,
aber sind denn die Menschen, sind denn diese schwachen Geschöpfe mit den
Empörerinstinkten, — sind denn das Götter? O, Du wußtest
gar wohl, daß Du, wenn Du nur einen Schritt getan hättest, nur eine
Bewegung, um Dich hinabzustürzen, Du sofort Gott versucht und Deinen ganzen
Glauben an ihn verloren hättest und an der Erde zerschellt wärest,
an derselben Erde, die zu retten Du gekommen warst, und der kluge Geist, der
Dich versuchte, hätte seine Freude daran gehabt. Ich aber frage Dich nochmals:
gibt es denn viele solcher wie Du? Und hast Du wirklich auch nur einen Augenblick
glauben können, daß auch die Menschen einer ähnlichen Versuchung
widerstehen würden? Ist denn die Natur des Menschen so beschaffen, daß
er das Wunder verschmähen und selbst in so furchtbaren Augenblicken, wenn
die Seele vor den tiefsten und letzten, schrecklichsten und quälendsten
Fragen steht, mit der freien Entscheidung seines Herzens allein bleiben könnte?
Oh, Du wußtest, daß Deine Tat in den Schriften aufbewahrt werden
und auch noch die letzte Tiefe der Zeiten und die letzten Grenzen der Erde erreichen
wird, und Du hofftest, daß der Mensch, wenn er Dir folgt, bei Gott bleiben
und des Wunders nicht bedürfen werde. Aber Du wußtest nicht, daß
der Mensch, sobald er das Wunder verwirft, sofort auch Gott verwirft, denn der
Mensch sucht nicht so sehr Gott, als er Wunder sucht. Und da der Mensch nicht
die Kraft hat, ohne Wunder auszukommen, so wird er sich neue Wunder schaffen,
wird sie sich selbst ausdenken und wird die Wundertaten der Zauberer, die Hexerei
alter Weiber anbeten, wenn er auch hundertmal Empörer, Ketzer und ein Gottloser
ist. Du stiegst nicht herab vom Kreuze, als man Dir mit Spott und Hohn zurief:
„Steige herab vom Kreuze, und wir werden glauben, daß Du Gottes
Sohn bist!“ Du aber stiegst nicht herab, weil Du wiederum den Menschen
nicht durch ein Wunder zum Sklaven machen wolltest, weil Dich nach freiwilliger
und nicht nach durch Wunder erzwungener Liebe verlangte. Dich dürstete
nach der Liebe freier Menschen, nicht nach knechtischem Entzücken vor der
Macht, die dem Sklaven ein für allemal Furcht eingeflößt hat.
Aber auch hierin hast Du sie gar zu hoch eingeschätzt, denn Sklaven sind
sie, das sage ich Dir, wenn sie auch als Empörer geschaffen sind. Blicke
um Dich und urteile selbst: Da sind nun fünfzehn Jahrhunderte vergangen,
gehe hin und sieh sie Dir an: wen hast Du bis zu Dir emporgehoben? Ich schwöre
Dir, der Mensch ist schwächer und niedriger geschaffen, als Du es von ihm
geglaubt hast. Wie soll er denn dasselbe erfüllen, was Du erfüllt
hast? Kann er das überhaupt? Da Du ihn so hoch einschätztest, handeltest
Du, als hättest Du kein Mitleid mit ihm gehabt, denn Du verlangtest gar
zu viel von ihm, — und wer war es, der das tat? Derselbe, der ihn mehr
als sich selbst liebte! Hättest Du ihn weniger geachtet, so hättest
Du auch weniger von ihm verlangt, das aber wäre der Liebe näher gekommen,
denn seine Bürde wäre dann leichter. Er ist schwach und gemein. Was
will es besagen, daß er sich jetzt allerorten gegen unsere Macht empört
und auf seine Empörung stolz ist. Das ist der Stolz eines Kindes, eines
unreifen Schulknaben. Das sind kleine Kinder, die sich in der Klasse empört
und den Lehrer hinausgejagt haben. Aber auch der Triumph der Schulkinder wird
ein Ende haben, und er wird ihnen teuer zu stehen kommen. Sie werden die Tempel
einäschern und die Erde mit Blut überschwemmen. Und die dummen Kinder
werden schließlich ahnen, daß sie doch nur kraftlose Empörer
sind, die ihre eigene Empörung nicht durchzuhalten vermögen. Sie werden
sich unter dummen Tränen gestehen, daß der, der sie als Empörer
geschaffen hat, sich zweifellos über sie hat lustig machen wollen. Sie
werden sich das in Verzweiflung sagen, und ihre Worte werden eine Gotteslästerung
sein, die sie noch unglücklicher machen wird, denn die menschliche Natur
erträgt keine Gotteslästerung und straft sich zu guter Letzt selbst
dafür. Also ist nichts als Unruhe, Verwirrung und Unglück den Menschen
zuteil geworden, nachdem Du soviel für ihre Freiheit gelitten hast! Dein
großer Prophet sagt in der Allegorie seiner Vision, er habe alle gesehen,
die bei der ersten Auferstehung auferstehen würden, und es seien je zwölftausend
aus jedem Stamm gewesen. Wenn aber ihrer nur so wenige waren, so waren auch
sie gewissermaßen nicht Menschen, sondern Heilige, gleichsam Götter.
Sie haben Dein Kreuz erduldet, sie haben jahrzehntelang hungrige, nackte Wüste
ertragen, sich nur von Heuschrecken und Wurzeln genährt, — und selbstverständlich
kannst Du nun stolz auf diese Kinder der Freiheit, der Freiheit in der Liebe
und der Freiheit im großen Opfer um Deines Namens willen, hinweisen. Vergiß
aber nicht, daß ihrer im ganzen nur wenige Tausende waren, und noch dazu
lauter Außergewöhnliche, nahezu Götter! Wo aber sind die übrigen?
Worin besteht die Schuld der übrigen schwachen Menschen, daß sie
nicht dasselbe haben ertragen können, was die Starken ertragen haben? Worin
liegt die Schuld der schwachen Seele, daß es über ihre Kraft geht,
so schrecklichen Gaben gewachsen zu sein? Kamst Du denn wirklich nur zu den
Auserwählten und um der Auserwählten willen? Wenn es so ist, dann
waltet hier ein Geheimnis, das wir nicht fassen können. Wenn es aber ein
Geheimnis ist, so waren auch wir im Recht, das Mysterium zu predigen und sie
zu lehren, daß nicht der freie Entschluß ihrer Herzen und nicht
die Liebe entscheidet, sondern eben das Geheimnis, dem sie blind zu gehorchen
haben, und sei es auch gegen ihr Gewissen. Und so haben wir getan. Wir haben
Deine Tat verbessert und sie auf dem Wunder, dem Geheimnis und der Autorität
aufgebaut. Und die Menschen freuten sich, daß sie wieder wie eine Herde
geführt wurden, und daß von ihren Herzen endlich das ihnen so furchtbare
Geschenk, das ihnen soviel Qual gebracht hatte, genommen wurde. Waren wir im
Recht, als wir so lehrten und handelten? Sprich! Haben wir die Menschheit denn
nicht geliebt, als wir demütig ihre Ohnmacht einsahen, liebreich ihre Bürde
erleichterten und ihrer kraftarmen Natur sogar zu sündigen erlaubten, allerdings
nur mit unserer Genehmigung? Willst Du uns nun stören? Und warum blickst
Du mich so stumm und tief mit Deinen milden Augen an? Zürne mir doch, ich
will Deine Liebe nicht, denn auch ich liebe Dich nicht! Und was sollte ich vor
Dir verheimlichen? Oder weiß ich denn nicht, mit wem ich rede? Was ich
Dir zu sagen habe, ist Dir längst bekannt, das lese ich in Deinen Augen.
Und wozu sollte ich unser Geheimnis vor Dir verbergen? Oder willst Du es vielleicht
gerade von meinen Lippen vernehmen? So höre denn: Wir sind nicht mit Dir
verbündet, sondern mit ihm, das ist unser ganzes Geheimnis! Schon lange
sind wir nicht bei Dir, sondern bei ihm, schon seit acht Jahrhunderten. Es sind
nun acht Jahrhunderte her, da wir von ihm das nahmen, was Du unwillig von Dir
wiesest, jene letzte Gabe, die er Dir anbot, als er Dir alle Reiche der Erde
zeigte: wir nahmen von ihm Rom und das Schwert des Kaisers, und wir erklärten,
daß nur wir allein die Herren dieser Welt seien, die einzigen Herrscher
der Erde, wenn wir auch unser Werk bis jetzt noch nicht vollendet haben. Doch
wessen Schuld ist das? O, dieses Werk steckt bis jetzt noch in den Anfängen,
aber es ist doch wenigstens der Anfang gemacht. Lange noch wird man auf die
Vollendung des Werkes warten müssen, und viel wird die Erde inzwischen
leiden, aber wir werden unser Ziel erreichen und werden Kaiser sein, und dann
werden wir an das irdische Glück aller Menschen denken, Und doch hättest
Du auch damals schon das Schwert des Kaisers nehmen können. Warum verschmähtest
Du diese letzte Gabe? Hättest Du diesen dritten Rat des mächtigen
Geistes angenommen, so hättest Du alles erfüllt, was der Mensch auf
Erden sucht, und das ist: vor wem er sich beugen, wem er sein Gewissen übergeben
kann, und auf welche Weise sich endlich alle Menschen zu einem einzigen, einstimmigen
Ameisenhaufen vereinigen könnten. Denn das Bedürfnis nach der universalen
Vereinigung ist die dritte und letzte Qual der Menschen. In der Gesamtheit hat
die Menschheit immer danach gestrebt, sich unbedingt welteinheitlich einzurichten.
Es hat viele große Völker mit größer Geschichte gegeben,
aber je höher diese Völker standen, um so unglücklicher waren
sie, denn um so stärker erkannten sie die Notwendigkeit der allweltlichen
Vereinigung der Menschen. Große Eroberer, die Timur und die Dschingis-Chan,
sind wie gewaltige Wirbelstürme über die Erde gebraust, in dem Bestreben,
die Welt zu erobern, und auch sie drückten, wenn auch unbewußt, dasselbe
mächtige Bedürfnis der Menschheit nach der allgemeinen und weltumfassenden
Vereinigung aus. Hättest Du das Schwert und den Purpur des Kaisers angenommen,
so hättest Du die Weltherrschaft begründet und der Welt den Frieden
gegeben. Denn wahrlich, wer sollte wohl sonst über die Menschen herrschen,
wenn nicht diejenigen, die ihr Gewissen und ihre Brote in der Hand haben? Und
so nahmen wir das Schwert des Kaisers, da wir es aber nahmen, verwarfen wir
natürlich Dich und folgten ihm. O, es werden noch Jahrhunderte des Unfugs
ihres freien Verstandes, ihrer Wissenschaft und Menschenfresserei vergehen —
denn wenn sie ihren babylonischen Turm ohne uns beginnen, werden sie mit der
Menschenfresserei enden. Dann aber wird das Tier zu uns herankriechen, und es
wird uns die Füße lecken und sie mit den blutigen Tränen seiner
Augen netzen. Und wir werden uns auf das Tier setzen und den Kelch erheben,
auf dem geschrieben steht: „Geheimnis!“ Und dann erst, dann erst
wird für die Menschen das Reich der Ruhe und des Glücks beginnen.
Du bist stolz auf Deine Auserwählten, aber Du hast ja nur die Auserwählten,
wir aber werden allen Frieden geben. Und überdies: wie viele von diesen
Auserwählten, von den Starken, die Auserwählte hätten werden
können, wurden schließlich müde des Wartens auf Dich und brachten
und bringen die Kraft ihres Geistes und die Glut ihres Herzens auf ein anderes
Ackerfeld und enden damit, daß sie gegen Dich, gerade gegen Dich ihr freies
Banner erheben. Aber Du selbst hast ja dieses Banner erhoben. Bei uns werden
alle glücklich sein, und sie werden sich weder empören noch sich gegenseitig
vernichten, wie sie es in Deiner Freiheit allerorten tun. O, wir werden sie
überzeugen, daß sie erst dann frei sein werden, wenn sie sich von
ihrer Freiheit unserethalben lossagen und sich uns unterwerfen. Nun sage: werden
wir recht haben, oder wird das gelogen sein? Nein, sie werden sich selbst überzeugen,
daß wir recht haben, denn sie werden sich erinnern, bis zu welchen Schrecken
der Sklaverei und Verwirrung Deine Freiheit sie gebracht hat. Die Freiheit,
der freie Verstand und die Wissenschaft werden sie in solche Klüfte und
Abgründe führen und vor solche Wunder und so unerforschliche Geheimnisse
stellen, daß die einen von ihnen, die Ununterwürfigen und Rabiaten,
sich selbst vernichten werden, die Unterwürfigen und Kraftarmen jedoch
sich gegenseitig vernichten, und die übrigen, die Dritten, die Kraftlosen
und Unglücklichen zu uns herankriechen und zu unseren Füßen
aufheulen werden: ,Ja, ihr hattet recht, ihr allein besaßt Sein Geheimnis,
und wir kehren zu euch zurück, rettet uns vor uns selbst!‘ Und wenn
sie dann von uns Brote erhalten, werden sie natürlich erkennen, daß
wir nur ihre Brote, die von ihren eigenen Händen geschaffenen Brote von
ihnen nehmen, um sie wieder an sie zu verteilen, also ihnen ohne jedes Wunder
Brot geben. Sie werden sehen, daß wir nicht Steine in Brot verwandeln.
Aber wahrlich, mehr noch als über das Brot werden sie sich darüber
freuen, daß sie es aus unseren Händen erhalten! Denn nur zu gut werden
sie sich erinnern, daß früher, ohne uns, selbst die Brote, die sie
schufen, sich in ihren Händen bloß in Steine verwandelten, daß
aber, als sie zu uns zurückkehrten, selbst die Steine in ihren Händen
zu Broten wurden. Nur zu gut, nur zu gut werden sie zu schätzen wissen,
was es heißt, sich ein für allemal unterworfen zu haben! Solange
sie das nicht begreifen, werden sie unglücklich sein. Wer hat nun am meisten
zu diesem Unverstand beigetragen? Sprich! Wer hat die Herde zerstreut und sie
auf unbekannte Wege versprengt? Aber die Herde wird sich wieder zusammenfinden
und sich von neuem unterwerfen, und dann schon ein für allemal. Dann werden
wir ihnen ein stilles, bescheidenes Glück geben, das Glück kraftarmer
Kreaturen, als die sie ja geschaffen sind. O, wir werden sie schließlich
überzeugen, daß sie gar kein Recht haben, stolz zu sein, denn Du
hast sie emporgehoben und damit gelehrt, stolz zu sein; Wir aber werden ihnen
beweisen, daß sie kraftarm, daß sie nur armselige Kinder sind, daß
aber das Kinderglück süßer als jedes andere ist. Sie werden
bescheiden und schüchtern werden und werden zu uns aufblicken und sich
in Angst an uns schmiegen wie die Küchlein an die Henne. Sie werden sich
rühren und uns scheu anstaunen und werden stolz darauf sein, daß
wir so mächtig und so klug sind, da wir doch eine so wilde, tausendmillionenköpfige
Herde haben bändigen können. Entkräftet werden sie vor unserem
Zorne zittern, ihr Geist wird kleinmütig, ihre Augen werden tränenreich
werden wie die Augen der Kinder und Weiber, doch ebenso leicht wie zu Tränen
werden sie auf unseren Wink zu Frohsinn und Heiterkeit, zu heller Lustigkeit
und glücklichen Kinderliedern übergeben. Freilich werden sie arbeiten
müssen, aber in den arbeitsfreien Stunden werden wir ihr Leben zu einem
Kinderspiel gestalten, mit Gesängen, Chören und unschuldigen Tänzen.
O, wir werden ihnen sogar die Sünde gestatten — sie sind doch schwach
und kraftlos —, und sie werden uns wie Kinder dafür lieben, daß
wir ihnen zu sündigen erlauben. Wir werden ihnen sagen, daß jede
Sünde gesühnt werden kann, wenn sie nur mit unserer Erlaubnis begangen
worden ist; die Erlaubnis aber zum Sündigen geben wir ihnen nur darum,
weil wir sie lieben, und die Strafe für diese Sünden nehmen wir, mag
es denn so sein, auf uns. Wir werden sie auch in der Tat auf uns nehmen, sie
aber werden uns dafür vergöttern als ihre Wohltäter, die vor
Gott ihre Sünden tragen. Und sie werden vor uns keinerlei Geheimnisse haben.
Wir werden ihnen erlauben oder verbieten, mit ihren Frauen und Geliebten zu
leben, Kinder zu haben oder nicht zu haben — immer je nach ihrem Gehorsam
—, und sie werden sich uns freudig und mit Lust unterwerfen. Selbst die
quälendsten Geheimnisse ihres Gewissens, — alles, alles werden sie
zu uns tragen, und w werden alles entscheiden, und sie werden mit Freuden unserer
Entscheidung glauben, denn sie wird sie von der großen Sorge und den furchtbaren
gegenwärtigen Qualen eine persönlichen und freien Entscheidung erlösen.
Und all werden glücklich sein, alle Millionen Wesen, außer den Hunderttausend,
die über sie herrschen. Denn nur wir, wir die wir das Geheimnis hüten,
nur wir werden unglücklich sein. Es wird Tausende von Millionen glücklicher
Kinder geben und nur hunderttausend Leidtragende, die den Fluch der Erkenntnis
von Gut und Böse auf sich genomme haben. Still werden sie sterben, still
werden sie erlöschen in Deinem Namen und jenseits des Grabes nichts als
den Tod finden. Aber wir werden das Geheimnis wahren und werden die Menschen
beglücken, indem wir ihnen himmlische und ewige Belohnung verheißen.
Denn selbst wenn es dort in jener Welt etwas geben sollte, so wird es doch selbstverständlich
nicht für solche wie sie sein. Man sagt und prophezeit, daß Du kommen
und von neuem siegen werdest, daß Du mit Deinen Auserwählten, Deinen
Stolzen und Mächtigen kommen wirst. Wir aber werden dann sagen, daß
sie nur sich selbst, wir aber alle gerettet haben. Man sagt, daß die Buhlerin,
die auf dem Tiere sitzt und in ihren Händen das Geheimnis hält, beschimpft
werden wird, daß die Kraftarmen sich wieder empören, das Purpurgewand
der großen Buhlerin zerreißen und ihren ,,eklen“ Leib entblößen
werden. Dann aber werde ich mich erheben und, zu Dir gewandt, auf diese Tausende
von Millionen glücklicher Kinder, die die Sünde nicht gekannt haben,
hinweisen. Und wir, die ihre Sünden auf uns genommen haben, um sie glücklich
zu machen, wir werden dann vor Dich hintreten und Dir sagen: ,Verurteile uns,
wenn Du es kannst und wagst.‘ Wisse, daß ich keine Furcht vor Dir
habe. Wisse, daß auch ich in der Wüste war, daß auch ich mich
von Heuschrecken und Wurzeln genährt, daß auch ich die Freiheit,
mit der Du die Menschen gesegnet hattest, segnete, und auch ich mich vorbereitete,
zur Zahl Deiner ,Auserwählten zu gehören, zur Zahl der Mächtigen
und Starken, lechzend danach, „die Zahl voll zu machen“. Aber ich
erwachte und wollte nicht mehr dem Wahnsinn dienen. Ich kehrte zurück und
schloß mich der Schar jener an, die Dein Werk verbesserten. Ich ging fort
von den Stolzen und kehrte zurück zu den Demütigen, zum Glücke
eben dieser Demütigen. Das, was ich Dir sage, wird in Erfüllung gehen,
und unser Reich wird kommen. Und ich sage Dir nochmals: morgen noch wirst Du
diese gehorsame Herde sehen, die auf meinen ersten Wink zu Deinem Scheiterhaufen
stürzen wird, um das Feuer zu schüren. Denn auf den Scheiterhaufen
bringe ich Dich dafür, daß Du uns stören gekommen bist. Und
wahrlich, wenn es einen gegeben hat, der vor allen anderen unseren Scheiterhaufen
verdient, so bist Du es. Morgen werde ich Dich verbrennen. Dixi!‘«
Iwan hielt inne. Seine Worte hatten ihn mitgerissen und er war in Eifer geraten;
als er aber geendet hatte, lächelte er plötzlich.
Aljoscha hatte ihm schweigend zugehört, doch zum Schluß hin, offenbar
nicht wenig erregt, mehrmals den Bruder unterbrechen wollen, sich aber jedesmal
bezwungen. Als Iwan nun plötzlich verstummte, fiel er sofort ein, heftig
und hastig, wie ein Mensch, der sich lange hat zurückhalten müssen:
»Aber.., das ist doch absurd!« stieß er hervor und wurde rot.
»Deine Dichtung ist ein Lob Jesu, aber keine Schmähung... wie du
es gewollt hast. Und wer wird dir das von der Freiheit glauben? Muss man
sie denn so, so auffassen? Ist denn das die Auffassung der Rechtgläubigkeit?...
Das ist Rom, und nicht einmal ganz Rom, das ist nicht wahr, — das sind
nur die Schlechtesten des Katholizismus, Inquisitoren, Jesuiten! ... Und solch
einen phantastischen Menschen, wie es dein Inquisitor ist, gibt es überhaupt
nicht. Was sind das für Sünden der Menschen, die sie auf sich nehmen?
Was sind das für Träger des Geheimnisses, die da irgendeinen Fluch
zum Glücke der Menschen auf sich genommen haben? Wer hat jemals solche
gesehen? Wir kennen die Jesuiten, man spricht schlecht von ihnen, aber sind
sie denn das, als was du sie schilderst? — Nicht die Spur! Sie sind einfach
die römische Armee für das zukünftige irdische Weltreich mit
einem Imperator, dem römischen Kirchenoberhaupt, an der Spitze . . . das
ist ihr ideal, aber ohne alle Geheimnisse und erhabenes Leid.. Der allergewöhnlichste
Wunsch nach Macht, nach schmutzigen Erdengütern, Knechtung . . . in der
Art eines zukünftigen Leibeigenschaftsrechtes, damit sie sozusagen Gutsbesitzer
werden . . . das ist alles, was sie wollen. Sie glauben vielleicht nicht einmal
an Gott. Dein leidender Inquisitor ist nichts als Phantasie... «
»Aber halt, halt ein!« sagte Iwan lachend, »sieh mal, wie
du dich ereiferst! Phantasie, sagst du, schön! Natürlich ist‘s
Phantasie. Aber erlaube die Frage: Glaubst du wirklich, daß diese ganze
katholische Bewegung der letzten Jahrhunderte tatsächlich nichts weiter
gewesen sei als das Verlangen nach Macht nur um schmutziger Erdengüter
willen? Hat dich das nicht vielleicht Pater Paissij gelehrt?«
»O nein, im Gegenteil, Pater Paissij sprach einmal sogar fast in deinem
Sinne . . . übrigens war es doch nicht dasselbe, selbstverständlich
nicht dasselbe«, verbesserte sich Aljoscha.
»Das ist immerhin eine wertvolle Nachricht, trotz deines ,selbstverständlich
nicht dasselbe‘. Ich frage dich ja gerade danach, warum du annimmst, dass
Jesuiten und Inquisitoren sich nur um niedriger materieller Güter willen
verbündet hätten? Warum glaubst du, dass es unter ihnen keinen
einzigen Gequälten gibt, der von großem Leid und von der Liebe zur
Menschheit gepeinigt wird? Nimm einmal an, daß sich unter allen diesen,
die lediglich materielle, schmutzige Güter wollen, nur ein Einziger fände,
nur ein Einziger wie mein greiser Inquisitor, der in der Wüste von nichts
als Wurzeln gelebt, gegen sich gewütet und vor Verzweiflung getobt hat
im Kampf gegen sein Fleisch, um frei zu werden und vollkommen zu sein, der aber
sein Leben lang die Menschheit geliebt hat, und der plötzlich erkennt und
sich überzeugt, dass die sittliche Glückseligkeit nicht groß
sein kann, wenn man zwar sich selbst vollkommen beherrscht, aber zu gleicher
Zeit einsehen muß, daß die Millionen der übrigen Gottesgeschöpfe
bloß zum Spott Geschaffene bleiben, daß sie niemals die Kraft haben
werden, sich in ihrer Freiheit zurechtzüfinden, daß aus den armseligen
Empörern niemals Riesen zur Vollendung des Turmes hervorgehen werden, dass
nicht für solche Gänse der große Idealist von seiner Harmonie
geträumt hat. Als er aber alles das begriffen hatte, kehrte er zurück
und schloß sich den... klugen Leuten an. Glaubst du wirklich, dass
das niemals hat geschehen können?«
»Wem schloß er sich an, welchen klugen Leuten?« griff Aljoscha
sofort heftig, fast zornig das Wort auf. »Kein einziger von ihnen besitzt
da eine so besondere Klugheit und überhaupt nichts von heiligen Geheimnissen...
Es sei denn höchstens ihre Gottlosigkeit, die wäre noch allenfalls
ihr ganzes Geheimnis. Dein Inquisitor glaubt nicht an Gott, sieh, das ist sein
ganzes Geheimnis!«
»Und wenn es so wäre! Endlich hast du es erraten. Es ist so, sein
ganzes Geheimnis liegt tatsächlich nur darin. Aber ist denn das keine Qual,
sagen wir für einen Menschen seiner Art, der sein ganzes Leben daran gesetzt
hatte, durch die Wüste ein Auserwählter zu werden, und der sich von
seiner Liebe zur Menschheit doch nicht heilen konnte? An seinem Lebensabend
überzeugt er sich, daß nur die Ratschläge des großen,
furchtbaren Geistes das Leben der kraftarmen Empörer, dieser ,unfertigen,
zum Spott geschaffenen Probewesen‘, wenigstens einigermaßen erträglich
machen könnten. Und nachdem er sich davon überzeugt hat, sieht er
ein, daß man nach der Weisung dieses klugen Geistes, des furchtbaren Geistes
der Zerstörung und des Todes vorgehen muß — daß man Lüge
und Betrug annehmen und die Menschen sogar bewusst in Tod und Verderben
treiben und sie dabei auf dem ganzen Wege betrügen muss, damit diese
armseligen Blinden nicht merken, wohin sie geführt werden und sich wenigstens
auf dem Wege für glücklich halten. Und vergiß nicht, daß
der Betrug im Namen desjenigen geschieht, an dessen Idealgestalt der Greis sein
Leben lang so leidenschaftlich geglaubt hat! Meinst du, dass das kein Unglück
sei? Und wenn es auch nur einen einzigen solchen gäbe an der Spitze dieses
ganzen Heeres, ,das nur um des Besitzes schmutziger Güter willen nach Macht
verlangt‘, — genügte dann wirklich nicht ein einziger solcher,
damit eine Tragödie entstehe? O, ich sage dir, es genügte, dass
ein Einziger dieser Art an der Spitze stände, auf daß die Idee, die
Rom mit allen seinen Legionen und Jesuiten solange leitet, die höhere Idee
Roms, endlich zum Ausdruck käme. Ich sage dir ganz offen: ich bin fest
überzeugt, daß unter jenen, die an der Spitze der Bewegung stehen,
dieser eine Mensch nie erlahmt ist. Wer weiß, vielleicht hat es auch unter
den römischen Kirchenoberhäuptern solche Einzelne gegeben. Und wer
weiß, vielleicht lebt dieser verfluchte Greis, der so hartnäckig
und eigenartig die Menschheit liebt, auch jetzt in Gestalt einer ganzen Heerschar
solcher Einzelnen, die aber durchaus keine Zufallserscheinungen sind, sondern
gleichsam in stillem Einvernehmen einen Geheimbund bilden, der schon längst
zur Wahrung des Geheimnisses vor den unglücklichen und kraftarmen Menschen
besteht zu dem Zweck, diese Menschen glücklich zu machen. Das gibt es unbedingt,
und es muß so etwas geben. Mir schwant, dass auch die Freimaurer
etwas von der Art dieses Geheimnisses in ihrer Grundidee haben, und ich glaube
sogar, dass sie nur deswegen von den Katholiken so gehaßt werden,
weil diese in ihnen Konkurrenten und eine Gefahr für die Einheit ihrer
katholischen Idee wittern, während es doch eine einzige Herde unter einem
einzigen Hirten werden soll... Übrigens habe ich, wenn ich meinen Gedanken
verteidige, den Anschein eines Autors, der deine Kritik nicht ertragen kann.
Genug davon.«
»Du bist wahrscheinlich selbst Freimaurer!« stieß Aljoscha
unwillkürlich hervor. »Du glaubst nicht an Gott«, fügte
er darauf aber schon sehr traurig hinzu. Zugleich schien es ihm, daß der
Bruder ihn etwas spöttisch betrachte.
»Aber womit endet denn deine Dichtung?« fragte er, den Blick zu
Boden gesenkt. »Oder ist sie schon zu Ende?«
»Den Schluss habe ich mir damals so gedacht: Nachdem der Inquisitor
verstummt ist, wartet er noch eine Weile, was der Gefangene ihm antworten werde.
Dessen Schweigen bedrückt ihn. Er hat gesehen, wie der Gefangene ihn die
ganze Zeit anhörte, und wie tief und still Er ihm in die Augen blickte,
offenbar ohne etwas entgegnen zu wollen. Der
Greis aber hätte gewünscht, dass Er ihm etwas sage, und wäre
es selbst etwas Bitteres, Furchtbares. Er aber nähert sich schweigend dem
Greise und küßt ihn still auf die blutleeren neunzigjährigen
Lippen. Das ist Seine ganze Antwort. Der Greis zuckt zusammen. Und dann erbebt
etwas an den Mundwinkeln des greisen Großinquisitors; er geht zur Tür
des gewölbten Verlieses, öffnet sie und sagt zu Ihm: ,Geh und komme
nie wieder... komme überhaupt nicht mehr. . . nie wieder, nie wieder!‘ Und er lässt ihn hinaus auf die ,dunklen Gassen der Stadt‘.
Und der Gefangene geht hinaus.«
»Und der Alte?«
»Der Kuss brennt auf seinem Herzen, aber er bleibt bei seiner früheren
Idee.«
Aus: Fjodor M. Dostojewski, Die Brüder Karamasoff
(S.405-428)
Aus dem Russischen von E. K. Rashin. Mit einem Nachwort von Ilma Rakusa
© 1906, 1985 Piper Verlag GmbH, München (Serie Piper 402)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Piper
Verlages Gmbh, München