Dionysius
der Kartäuser (1402/3 – 1471)
Niederländischer Scholastiker
und Mystiker,
der mit dem Geburtsnamen Heinrich getauft wurde und aus dem alten Adelsgeschlecht
van Leeuwen in Rijckel bei St. Trond (Belgisch-Limburg) stammte. Dionysius studierte in Köln Theologie und trat 1424 in das Kartäuserkloster Bethlehem
Mariae in Roermond ein. 1451/1452 begleitete er Nikolaus von Kues auf seinen Reisen am Nieder- und Mittelrhein. Seine visionären Erlebnisse trugen ihm
in Verbindung mit seiner asketischen Lebensweise den Beinamen »Doctor
ecstaticus« den Ruf der Heiligkeit ein. Dass Dionysius ein engagierter
Wegbereiter und Befürworter der Kirchenreformation war, kommt in den beiden
folgenden »Offenbarungen« klar zum Ausdruck.
Siehe auch Wikpedia und Kirchenlexikon
Erste »Offenbarung«
zum Heil der Kirche
Am Fest der Reinigung der seligsten Jungfrau Maria geschah es einem gewissen
Mönch, daß er in Gegenwart und unter den Augen seines ganzen Konvents
seinen äußeren Sinnen entfremdet und in Geist und Sinn zum Herrn
entrückt wurde und nach einer Schau des ungeschaffenen
Lichts und der überseligsten Trinität auf die ihm vertraute
Weise von ganzem Herzen die göttliche Barmherzigkeit anflehte zum Heil der ganzen Kirche auf Erden und zu ihrer Reformation in allen Stücken.
Worauf er vom Herrn der Herrlichkeit in einer geistigen und anagogischen
[auf die Endzeit hinweisenden] Schau sogleich die folgende Antwort
erhielt:
»Was willst du und wozu bittest du für die
Kirche?«
Darauf jener: »O gütigster Gott, daß
du sie in deiner Heiligkeit betrachtest und reformierst und aus den Händen
der Ungläubigen, von denen sie jetzt aufs grausamste verwüstet wird,
befreist und auch in den früheren Stand der Gnade zurückführst!«
Darauf sprach der Herr des Alls: »Die Kirche hat
sich fast ganz von mir abgekehrt und ist deformiert, und von dem Höchsten
bis zum Geringsten, vom Schei¬tel bis zur Sohle findet man allermeist keine
Unschuld in ihr. Doch gibt es in ihr viele Gute, ja sogar Heilige.«
Darauf entgegnete der Bruder: »Barmherziger Gott,
wir bitten um Barmherzigkeit. Auf zwei Wegen kann man zu dir kommen, auf dem
Weg der Barmherzigkeit und auf dem Weg der Gerechtigkeit. Wir bitten dich: Handle
mit uns nach deiner übergroßen Barmherzigkeit.«
Der Herr spricht zu ihm: »Und du willst, daß
ich die vielen und großen Missetaten der Kirche vollkommen ungestraft
lasse? Du willst, daß ich nicht nach dem Maß meiner Weisheit handle?«
Hierauf der Bruder: »O mildester Herr und Gott,
wir bitten dich, daß du uns in deiner Gnade zuvorkommst und unsere Herzen
erschütterst, erweichst und zu dir kehrst. Unendlich größer
ist deine Güte als unsere Bosheit. Nicht uns, Herr, nicht uns, sondern
deinem Namen sei Ehre. Handle nicht mit uns nach unseren Sünden.« —
Hierauf der Herr: »Obgleich ich alles vermag, so
handle ich doch nach dem Ermessen meiner Weisheit, und in meinen Werken verbinde
ich Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Auch habe ich gerade offenbar gemacht,
daß es die höchste Barmherzigkeit ist, wenn ich die Menschen gegenwärtig
mit Schlägen und Unbilden heimsuche und so ihre Herzen ermahne und bekehre.
Verhärtet sind euere Herzen, und allein durch Werke der Gnade wollt ihr
euch nicht zu mir bekehren lassen. Lange habe ich es hingenommen, häufig
habe ich gemahnt und das drohende Unglück vorausgesagt. Weil aber keine
Besserung folgt, muß ich euch mit Unglück heimsuchen, damit man im
Unglück das verstehen lernt, was man gehört hat.«
»O gütigster Herr, wir wollen uns alle bessern.
Der Papst, seine Kurie und alle anderen hoch und nieder werden sich bessern.«
Darauf sprach der Herr: »Selbst wenn sie in meinem
Namen geschworen haben sollten, so wahr der Herr lebt, so werden sie gerade
damit einen falschen Eid geschworen haben.. .«
Zweite »Offenbarung«
zum Wohl der Kirche
Der apostolische Herr, der Papst, hat die Fürsten ermahnt, der Kirche zu
Hilfe zu kommen und den Ungläubigen Widerstand zu leisten.
Die Fürsten aber werden ihm antworten können:
»Wir sind bereit, heiligster Vater, deinen Mahnungen
und Geboten zu gehorchen, wenn du nur tust, was das Amt des Papstes erfordert.
Siehe, du stehst in der Mitte zwischen unserem Gott und uns. Du stehst über
den Menschen und unter Gott, der Hirte und Leiter des ganzen Christenvolks,
geistlicher Richter und Arzt.
Dein Amt ist es, uns alle mit Gott zu versöhnen,
die Kirche zu reformieren, alles, was in der Kirche, in Klöstern und Stiftern
und in jedem Stand, Rang und Orden reformiert werden soll, aufs genaueste zu
prüfen und alles ordentlich anzugreifen, zu verfolgen und zu erfüllen,
so daß du, wie es die Liebe erfordert, in erster Linie bei dir selbst,
wenn nötig, und bei dem dir zur Seite stehenden heiligen römischen
Kardinalskollegium beginnst, sodann mit den anderen, und zwar um so unmittelbarer,
je näher sie dir und deinen Kardinälen an Würde, Amt und Rang
stehen. Und wir glauben nicht, daß deine Heiligkeit das rascher und wirksamer
erreichen und erfüllen kann als durch die Einberufung und Abhaltung eines
allgemeinen Konzils.
Sodann wundern wir uns lebhaft, warum ihr, deine Heiligkeit
und einige unter deinen Vorgängern nach dem Basler Konzil, ein allgemeines
Konzil so viele Jahre lang aufgeschoben habt, zumal die heiligen allgemeinen
Konzilien bestimmte Beschlüsse zu ihrer Abhaltung gefaßt hatten...
Türken und Sarazenen ohne den besonderen Beistand und die gnadenreiche
Hilfe Gottes zu überwinden, können wir uns keinesfalls erkühnen.
Solange wir daher so mannigfache Entstellung, Niedergang, Mißbrauch und
Übertretung in der Kirche selbst erblicken, müssen wir fürchten,
daß Gott uns fein und ungnädig ist und uns mit seiner Gnade nicht
gegen die Ungläubigen zu Hilfe kommen wird. Darum, seligster Vater, bitten
wir, daß unverzüglich ein Konzil abgehalten wird, in welchem man
mit der größten Umsicht alles behandelt, was reformiert, getan und
erledigt werden muß. Danach wollen wir, mit Gott gnädig versöhnt,
frisch und mutig im Vertrauen auf den Herrn wider die Ungläubigen zu Felde
ziehen. Obschon es der Regel nach Sache des Papstes ist, ein Allgemeines Konzil
zu berufen und abzuhalten, so glauben wir nicht, daß die Kirche des Herrn
Jesus Christus so verlassen sei, daß sie sich nicht von sich aus versammeln
könnte, wenn der Papst das nicht zu tun geruht oder allzu lange aufschiebt,
zumal angesichts so dringender, wichtiger, schwieriger und notwendiger Dinge...«
Am Passionssonntag im Jahre des Herrn 1461 wurde der erwähnte Mönch
während der Messe im Beisein und unter den Augen seines Konvents den äußeren
Sinnen entfremdet und betete zum Herrn im Geist für das allgemeine Wohl
der Kirche und sprach:
»Ich vertraue, o Herr, daß jene Weissagung
drohen¬der Übel zu der Art der prophetischen Drohungen gehört,
die nicht in jedem Falle erfüllt wird.«
Da sprach der Herr: »Den Bußfertigen verschließe
ich den Weg der Barmherzigkeit nicht. Wie ich dir vor einigen Jahren in einem
ähnlichen Gesicht angekündigt habe, wird sich die Milderung meines
Zorns oder der zukünftigen Heimsuchung nach dem Maß euerer Besserung
richten. Die Offenbarung, die dir damals zuteil wurde, hast du überall
bekannt gemacht und selbst in Rom mitgeteilt. Ist aber inzwischen eine Besserung
erfolgt? Siehst und sagst du es nicht selbst, daß es für das sündhafte
Geschlecht und für das ganz entstellte Volk der Kirche unvergleichlich
besser ist, zeitlich gestraft, bedrängt und seiner Güter beraubt zu
werden, als in diesem Leben, das kein Leben ist, sondern Tod, irdisch zu gedeihen
und auf die verwerflichste Art fortzufahren und ungestraft zu sündigen?«
Darauf sprach der genannte Bruder: »Nichts ist wahrer
als das. Wenn doch nur eine Reformation der Kirche ordnungsgemäß
geschehen könnte und ohne Anstoß für dich!«
Darauf erhielt der Bruder die Antwort: »Und wenn
diejenigen, die dazu berechtigt und verpflichtet sind, der Kirche die nötige
Sorgfalt zu ihrer Reformation und insbesondere zu ihrer eigenen angemessenen
Besserung nicht zuwenden, glaubst du nicht, daß das Urteil dessen, der
das All lenkt und leitet, gerecht ist, daß er es dann nach seiner Anordnung
durch diejenigen geschehen läßt, die hierzu keine Autorität
haben?«
Da antwortete der Bruder: ». . . Aber über
das eine wünsche ich noch belehrt zu werden: Was kann das Christenvolk,
insbesondere der Klerus, angesichts so vieler und großer Übel noch
tun?«
Da antwortete der Herr des Alls: »Wozu fragst du
nach etwas, was du aus den Schriften wissen kannst? Weißt du nicht, daß
geschrieben steht: >Einmal spricht der Herr, und ein zweites Mal wiederholt
er es nicht<?« (Hi. 40,5). S.232ff.
Enthalten in: Wegbereiter der Reformation. Herausgegeben von Gustav Adolf Benrath,
Carl Schünemann Verlag Bremen