Martin
Deutinger (1815 – 1864)
Deutscher Philosoph und
katholischer Theologe, der in Dillingen und München Philosophie und Theosophie u. a. bei Baader, Görres und Schelling studiert hat. In seinem Werk konzentrierte
er sich überwiegend auf den Bereich der Religionsphilosophie und Ästhetik.
Siehe auch Wikipedia und KIrchenlexikon
Notwendigkeit und Freiheit
Was immer wahrhaft menschlich ist, darin ist beides, Natur und Freiheit. Sie sind das in den Kreis der geschaffenen Welt beschränkte
Bild des göttlichen Lebens. Immer ist die Menschheit von einem unveränderlichen
Naturgesetz beherrscht, dem keiner sich entziehen
kann — und immer waren die Menschen durch dasselbe Gesetz gedrängt
und aufgefordert, an ihm ihre persönliche Freiheit
zu erproben. Zwischen Freiheit und Notwendigkeit bewegt sich das menschliche
Leben in der Zeit.
Indem im Menschen Natur und Freiheit einander gegenüberstehen, wird dieser
Gegensatz nur gelöst im Anschluss an die Offenbarung des höheren
göttlichen Willens. Indem der Mensch sich dem göttlichen
Willen anschließt, erfasst er den Grund des Seins und den Grund der
Freiheit zugleich.
In der lebendigen Vereinigung der Gegensätze liegt die rechte Lebenskraft.
Was der Mensch von Natur aus liebt, muss er um des höheren,
übernatürlichen Zieles willen, verlassen — und kann doch
dieses Ziel nur wieder mit den natürlichen Kräften erreichen. Er muss
seinen eigenen Willen verleugnen — und darf ihn doch nicht verlieren.
Er muss den eigenen Willen aufgeben in Gottes Willen,
um ihn so als selbständigen, wahrhaft freien Willen
wieder zu erhalten, muss in Gott untergehen, um nicht unterzugehen.
Das ist das Geheimnis des Lebens, das nur in wahrhaft
freier Liebe gelöst wird. Sie ist der Wein im Kelch des Lebens,
der, Gott zum Opfer dargebracht und in Opfer verwandelt, die Kommunion beider
Welten (der göttlichen und menschlichen) vermittelt. S.199
Leben ist Wachstum
Alles, was bei irgend einem Punkte stehen bleibt auf der Erde, hat aufgehört
zu leben. Wer einmal angefangen hat, mit sich und seinem Standpunkt zufrieden
zu sein, wer abschließt und fertig ist, hat aufgehört, im
Geist der Wahrheit zu leben. Wer dem Höchsten
zustrebt, stirbt sich selbst und allem Wohlgefallen an sich, an seinem Einseitigen
und Unwahren. Das ist das Wunder allen geistigen Lebens, dass sein
Inhalt sich mehrt, indem wir uns davon nähren. je mehr wir erkennen, um
so mehr bleibt uns zu erkennen übrig, um so mehr schließt sich die
Unerforschlichkeit auf. —
Wer nicht bei dem Kleinsten beginnt, der wird es nie zur Anschauung
der höchsten Geheimnisse des Lebens bringen. Wie es dem Schöpfer
gefiel, auch noch die Blume des Feldes mit derselben Sorgfalt und Herrlichkeit
zu bilden, und wie das ewige WORT sogar in Knechtsgestalt das Geheimnis ewiger Liebe offenbart, so offenbart sich auch der Geist nur dem demütigen Geiste,
der es nicht verschmäht, auch im Kleinsten das Flüstern
der ewigen Weisheit zu vernehmen. —
Das Gegenwärtige können wir nur recht erkennen,
wenn wir es in seinem Zusammenhang mit der Vergangenheit und Zukunft erkennen.
Alle Frage ist auf das Kommende gerichtet, und jede Antwort beruht auf dem,
was zuvor war. Das Ewige ist nachher und vorher und ist alles zugleich. Darum
erfassen und verstehen wir das Leben nur dann, wenn wir von ihm umfasst
werden und gleichsam in ihm untertauchen und in dieser Taufe neugeboren werden. S.376
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte.
Verlag Ars Sacra Josef Müller München