Max Dessoir (1867 – 1947)

Deutscher Philosoph, Psychologe und Kunsthistoriker, der sich für die Neubegründung einer systematischen Kunstwissenschaft engagierte und sich eingehend mit dem Okkultismus beschäftigte. Die Einführung des Begriffs »Parapsychologie« ist auf ihn zurückzuführen.

Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis

Theologische und psychologische Kabbalistik
Gott offenbart sich in der gesetzmäßigen Ordnung der Wirklichkeit
Das Weltbild der Anthroposophie
Anthroposophische Lehre vom Menschen

Theologische und psychologische Kabbalistik

Für uns ist Kabbala eine Form jüdischer Mystik, die sich vom siebenten bis zum fünfzehnten Jahrhundert entwickelt hat. Im Anfang ein intuitives Erfassen der übersinnlichen Welt und der von einem Hofstaat umgebenen Thronherrlichkeit Gottes, wird die Kabbala in dem Buch der Schöpfung (Sepher Jezirah) zu einer Weltentstehungslehre, in der die Zahlen eine Hauptrolle spielen. Das dreizehnte Jahrhundert bildet die Lehre von den zehn Sephiroth aus, von zehn Grundkräften, die zwischen Gott, dem En-soph, und seiner Schöpfung vermitteln, sowie die Anschauung von vier sich abstufenden Weltordnungen und von der Seelenwanderung. Gleichzeitig entstehen die Bemühungen um Erkenntnis der Namen Gottes, wofür die Vertauschbarkeit der Buchstaben mit ihren Zahlenwerten benutzt wird. Als Zusammenfassung aller dieser Lehrbegriffe und Verfahrungsweisen gilt das gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts bekannt werdende Werk Sohar [wörtl.Licht, Glanz], ein Buch, in dem schöpferische Gedankenkraft, phantastische Bildlichkeit und systematischer Geist sich das Gleichgewicht halten. Von da ab nimmt die Kabbala teils die Richtung auf spitzfindige Begriffs- und Wortspielerei, teils die Richtung auf magische Wunderwirkung. In dieser zweiten Beziehung hat Isaak Lurja (1533—1572) besonderen Einfluss geübt, indem er abergläubische Verehrung des Sohar, planmäßige Askese, vergröberte Seelenwanderungstheorie und Buchstabenverdrehung benutzte, um die Seele ins übersinnliche Reich zu führen. Von ihm wird erzählt, er habe aus Gesichtszügen und Handlinien nicht nur den Charakter eines Menschen zu erkennen vermocht, sondern auch, »welchen Vers er gelesen hat«, und er habe sogar die Sprache der Vögel und des Palmenrauschens verstanden.

Die kabbalistische Geheimlehre — der Talmud kennt nur die Bezeichnung Geheimlehre — ist zwar ganz wesentlich ein Erzeugnis jüdischen Geistes, hat sich aber, besonders im praktischen Teil, späterhin vom Judentum abgelöst. Nachdem der Abt Johann Tritheim (1462—1516) in der »Steganographia« und »Polygraphia« aus der Kabbala den Plan einer Geheimschrift entnommen hatte (worin durch Streichen jedes zweiten Wortes aus Unverständlichem Sinnvolles wird), war Reuchlin in zwei Werken (De verbo mirifico, 1494, und De arte cabbalistica, 1517) dem Gegenstand näher getreten. Nach Reuchlin gibt es drei Arten von geistigen Wesen: die oberen, die ihr Licht unmittelbar von Gott empfangen; die himmlischen, die über die Sphären des Weltalls gesetzt sind und den Himmel, die Sterne und die Planeten lenken; die Wesen dritten Ranges, die für die Menschen sorgen. An diese christliche Kabbala des Humanismus hat man im achtzehnten Jahrhundert wieder angeknüpft und von hier aus laufen Fäden bis in die Gegenwart. Doch wichtiger als die geschichtliche Verkettung ist für uns die in der ganzen Denkrichtung hervortretende Übereinstimmung zwischen Kabbala einerseits, neueren geheimwissenschaftlichen Lehren und Methoden anderseits. Wir müssen daher von der Sache selbst sprechen.

Die kabbalistische Philosophie versucht, den religiösen Gehalt des eigentümlich ausgedeuteten Alten Testaments mit der Emanationenlehre, dem Glauben an die Seelenwanderung und der pythagoreischen Zahlenrechnung in Einklang zu bringen.
Gott als das Grenzenlose (En-soph) bedarf der Mittelwesen, um die unvollkommene und endliche Welt hervorzubringen; in seinem Sohn Adam Kadmon leben die geistigen Kräfte (die Sephiroth), die die wirkende Kraft Gottes durch das Weltall leiten: Weisheit, Verstand, Gnade, Stärke usw. Die zehn Sephirot oder Lichtkreise bilden die oberste der von Gott ausgestrahlten Welten. Stufenweise folgen drei andere Welten; jede in gleicher Art aus zehn Wesenreihen aufgebaut; alle in enger Verbindung miteinander, aber so voneinander geschieden, daß die oberste die geistige) von den drei ersten Sephiroth, die mittlere (die seelische) von den folgenden, die letzte (die körperliche) wiederum von den drei folgenden Sephiroth beeinflusst wird. Der Mensch, solange er noch nicht, durch Seelenwanderung gereinigt, in die Geisterwelt aufgegangen ist, gehört allen drei Welten an, da er eine vernünftige Seele (Neschomo), den beseelenden Atem (Ruach) und die Lebenskraft Nephesch) besitzt. Der Zusammenhang mit diesen drei Welten ermöglicht es dem Menschen, den Lauf der Dinge zu seinen Gunsten zu ändern. Doch muss er fromm sein, den hinter den Worten der Heiligen Schrift verborgenen Sinn erfasst haben, und außerdem die Namen Gottes und der Engel kennen, um durch Worte und Formeln Wunder zu wirken.

Der geheime Sinn der Thora, Bürgschaft ihres göttlichen Ursprungs, erhält, um fasslich zu werden, die Gestalt der biblischen Erzählungen, gleichwie die zur Erde herabsteigenden Engel menschliche Gestalt annehmen. Genauer: den biblischen Erzählungen entspricht das Kleid eines Menschen; ihrer Moral der im Kleid steckende Körper dieses Menschen; ihrem mystischen Sinn die im Körper wohnende Seele. Demnach hat die Bibel eine dreifache Bedeutung: für die Toren ist sie ein Geschichtenbuch, für die Verständigen ein Weg zur Tugend, für die Weisen eine Geheimlehre. Ohne diese letzte Auslegung dürfte die Heilige Schrift nicht ,,das treue Zeugnis Gottes“ heißen. Da spricht etwa der Prediger Salomo (1, 10): »Geschieht auch etwas, davon man sagen möchte: Siehe, das ist neu? Es ist zwar auch geschehen in den langen Zeiten, die vor uns gewesen sind.« Die innerste Meinung dieses Spruchs geht dahin, daß Gott schon mehrere Welten erschaffen und wieder zerstört hatte (darunter die Welt Edoms, der ungemilderten Strenge, vgl. 1, Mos. 36, 31), bevor er unsere Welt erschuf; alles Irdische stand vor der Schöpfung in Gottes Gedanken fest; jede Seele ist bereits geprägt und wird als unsichtbares Bild beim Zeugungsvorgang zu den Gatten herabgesandt, denn es steht geschrieben: »Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde. Oder ein anderes Beispiel, das ich dem Buche Bischoffs (I, 188) entnehme. »Von den Werken der Frommen hienieden geht ein Impuls aus, welcher die Tätigkeit der höheren Welt anregt. Eine Andeutung darüber geben die Schriftworte (1. Mos. 2, 5): ,Gott der Herr hatte noch nicht regnen lassen‘, d. h. es fehlte noch der (göttliche Kraft-) Zufluss von oben. ,Weil kein Mensch da war, die Erde zu bebauen‘, d. h. weil noch keine (guten) Werke unten auf Erden geschahen. Dann aber ,stieg ein Nebel auf von der Erde‘, d. h. es erfolgte ein Impuls von unten.« Dann als letztes‘ weiter führendes Beispiel, das Wort des Hohen Liedes: »Wie eine Rose unter den Dornen, so ist meine Freundin unter den Töchtern.« Mit der Rose ist das Volk Israel gemeint, das Rot und Weiß der Rose bedeuten die zwei Arten des jüdischen Rechts (starre Gesetzlichkeit und Barmherzigkeit), die dreizehn Blütenblätter sind die dreizehn Maße von Bannherzigkeit, die die Gemeinde umgeben; auch der Name Elohim gehört hierher, denn nach der ersten Erwähnung folgen im hebräischen Text dreizehn Worte bis zur zweiten. Alles das steht im Sohar.

Von der dreifachen Meinung der Schriftworte: der erscheinungsmäßigen, der moralischen und der mystischen führt die dritte in das dunkle Reich der eigentlich kabbalistischen Denkweise, wie unser letztes Beispiel zeigte. Sepher Jezirah sagt: »Das Wort ist Gott«. Zerlegt man das (hebräische)Wort in zweiundzwanzig Konsonanten, deren erste zehn zugleich den zehn Sephiroth entsprechen, so gewinnt man »zweiunddreißig wunderbare Wege der Weisheit«. Der eine Weg, Gematria genannt, führt von dem Zahlenwert jedes Wortes zur geheimen Gleichheit mit einem anderen. Wir können das mit einem erfundenen Beispiel verdeutlichen, indem wir voraussetzen, dass unsere vierundzwanzig Buchstaben die Werte 5, 10, 15 usw. haben (wobei i mit j und v mit u zusammenfallen). Dann entstehen für die Namen Francis (Bacon) und William (Shakespeare)die folgenden Reihen: 30, 85, 5, 65, 15, 45, 90; 105, 45, 55,55, 45, 5, 60; und da nach einem ganz geheimen Gesetz bei Wiederholung desselben Konsonanten (ll in William) ein Abzug gemacht werden kann, so erhalten wir für beide Namen den gleichen Zahlenwert 335. — Beim Verfahren Notarikon wird jeder Buchstabe eines Wortes als Anfangsbuchstabe genommen; beim Verfahren Temura werden die Buchstaben nach verschiedenen Pegeln umgestellt; Moses und die Propheten sollen die Temura benutzt haben, um den Namen Gottes vor Entweihung zu schützen.

Hiermit sind wir nun schon mitten in die Zahlenmystik hineingeraten. Aus der unübersehbaren Fülle zahlenmystischer Auslegungen eines gegebenen Textes seien einige wenige herausgehoben, damit das Grundsätzliche an ihnen erkennbar werde. Oskar Goldberg glaubt nachweisen zu können, dass der Pentateuch von Anfang bis zu Ende ein Zahlensystem darstellt, dessen Grundzahlen sich unmittelbar aus dem Namen JHWH ergeben. Der Zahlenwert des Namens JHWH (J = 10, H = 5, W = 6, H = 5) beträgt 26. Prüft man nun beispielsweise die Genealogie Sems (1. Mose 10, 21—32), so findet man als Gesamtzahl der Nachkommen Sems die Zahl 26. Die Gesamtzahl der Worte des Absatzes ist 104 = 4 x 26. Die Gesamtzahl der Buchstaben des Absatzes ist 390 = 15 x 26. Es enthüllt sich aber auch eine höchst kunstvolle Zahlenarchitektur, die abgestimmt ist auf die Zahl 26. Teils ist ihr Grundsatz die Zusammensetzung zur Einheitszahl aus ihren beiden Zahlenhälften 13 und 13 oder aus den beiden Zahlenbuchstabenhälften 15 und 11. Die stilistischen Eigentümlichkeiten der Genesis sind nicht etwa einer Zusammenstellung aus mehreren Quellen zuzuschreiben, sondern erklären sich aus dem Zahlensystem des einen Urhebers. Man müsste sich demnach vorstellen, dass der Verfasser jeden Buchstaben seines Werkes unter stetem Hinweis auf die eine Zahl 26 eingesetzt habe. Goldberg sieht ein, dass dies unmöglich ist, und gelangt zu dem Ergebnis, »dass sich der Zahlenkomplex auf rechnerischem Wege nicht herstellen lässt
«. (S. 44).

Einen Haupttummelplatz für die Versuche, durch Aufdeckung von Zahlenverhältnissen einem Schriftwerk einen zweiten Sinn zu verleihen, bildet die Offenbarung Johannis. Seit Jahrhunderten und auch heute noch sitzen wohl täglich in der weiten Welt Menschen, die über das Geheimnis der Apokalypse nachdenken. Manchem von ihnen könnte man mit Goethe zurufen: »Verdirb nichts an der Apokalypse. Werke des Gedankens feilt und säubert man nie genug, aber s o w a s verliert, wenn Du das wegnimmst, was Auswuchs scheinen könnte. Ich müsste zu weitläufig werden, um das bestimmt zu sagen, ich weiß es und Du verstehst mich«. Der Zufall hat mir eine Reihe von Handschriften zugeführt, in denen nicht nur mit Scharfsinn, sondern aus innerlicher Ergriffenheit heraus und mit weitreichendem Umblick ein Zahlen- und Zeitenrhythmus in der Apokalypse aufgedeckt wird. Den Ausgangspunkt bildet der uns andern harmlos erscheinende Vers 19 des 2. Kapitels: »Ich kenne deine Werke und deine Liebe, Glauben, Hilfreichung und Geduld, und wie deine letzten Werke mehr sind als die ersten« (nach Weizsäcker). Ein Haupthilfsmittel ist die Einteilung in Kapitel und Verse, die doch erst viele Jahrhunderte später, im 13. und im 16. Jahrhundert, vorgenommen worden ist. Aber es darf eben kein Zufall sein, daß dies Werk 22 Kapitel hat und 404 Verse, die auch In sich vielfach eine Drei- und Sechsgliederung aufweisen. Und es soll nachweisbar sein, daß jedes Wort zahlenmäßig an dem Platz steht, an den es gehört. Mit Hilfe dieses Zahlenschlüssels kann man aus der Offenbarung Periodenurbilder entnehmen, die als Wirklichkeiten aufzufassen sind. »Die Zahl der Kraftbewegungen, die durch die Welten der Offenbarung geht, verläuft in einem ganz bestimmten Verhältnis, und zwar entspricht dieses dem Verhältnis von Stunde, Tag, Monat und Jahr der Erde. Das biozentrische Grundgesetz behauptet, dass jedes Geschöpf die abgekürzte Wiederholung seiner Stammesgeschichte zeige. Haben wir in der Offenbarung des Christus tatsächlich eine geistige Wahrheit, so müssen diese Verhältniszahlen sowohl in der Offenbarung wie in dem Leben Jesu wie in der ganzen geschichtlichen Entwicklung gleichartig sein.« Es ist nicht möglich, auch nur andeutend der Auslegung zu folgen
. S.372-376

Gott offenbart sich in der gesetzmäßigen Ordnung der Wirklichkeit
In Wahrheit liegt für unsere Erkenntnis das Geistige und Göttliche in der gesetzmäßigen Ordnung der Wirklichkeit. Geistigkeit bedeutet keineswegs etwas Verschwommenes, sondern die nur dem Geist erkennbare Tatsache, daß alles in der Welt geregelt und von Werten beherrscht ist. Hierin aber offenbart sich Gott. Jede Wissenschaft, so auch die Medizin, fügt sich der heiligen Gesetzlichkeit Natur. Wenn der Arzt mit einer Operation oder einem innerlich wirkenden Mittel eingreift, so tut er es im Vertrauen auf die unverbrüchliche Regelmäßigkeit des Naturablaufs, die ja keineswegs selbst materiell, vielmehr die geistige Durchdringung der Materie ist.

Die Anhänger der sogenannten christlichen Wissenschaft [Christian Science] hingegen behaupten, daß jeder Kranke durch Gott geheilt werden kann, indem er seinen Willen dem göttlichen Willen eingliedert oder angleicht: durch Versenkung in das geistige Wesen des allumfassenden Gottes schwinden Irrtum und Furcht und hiermit auch die Erscheinungen des Krankseins. Indessen, auf diese Weise wäre wohl die eine oder an unbeeinflußte Genesung zu »erklären«, aber es wäre keine geschäftliche Ausnutzung der Lehre möglich. Deshalb ist von den smarten Amerikanern die weitere Behauptung aufgestellt worden, ein Leidender könne auch von anderen geheilt werden, sogar ohne seine Zustimmung und ohne sein Wissen. Der Kranke nämlich soll durch den Irrglauben an die Wirklichkeit der Krankheit von Gott getrennt sein; es kommt demnach darauf an, die Verbindung mit Gott wieder herzustellen. Nun sind alle Menschen im göttlichen Wesen zu einer geistigen Gemeinschaft vereinigt. Wenn also eine zweite Person von sonders entwickelter Geistigkeit sich mit Gedanken des Guten und der Freudigkeit erfüllt, so überträgt sich das auf den Patienten, führt ihn zu Gott und zur Gesundheit zurück. S.408-409

Das Weltbild der Anthroposophie.

Ein kosmisches Ich, das sein Wesen schaffend ausleben will, erzeugt in rhythmischen Stößen heilige Kräfte. Der Hellseher nimmt diese geistigen Kraftträger oder Hierarchien tatsächlich wahr; nicht eine Rangordnung, sondern eine Rangklasse wird hier als Hierarchie bezeichnet. Die Hierarchien, in ständiger Entwicklung begriffen und ihrerseits auf den Menschen angewiesen, tragen die Menschheit stufenweise — mehr oder weniger mit sich empor. Die Entwicklung des gesamten Weltsystems vollzieht sich nämlich in Rücksicht auf den Menschen, und zwar in vier Verkörperungen unseres Planeten, die als Saturn-, Sonnen-, Mond- und gegenwärtiges Erdendasein bezeichnet werden. Der physische Leib des Menschen hat sich bereits durch diese vier Phasen hindurch entwickelt. Er ist also das älteste von den vier Gliedern der menschlichen Wesenheit (Geheimwissenschaft, S. 121). Schon auf dem Saturn wird er angelegt, wenn auch in einer von der heutigen verschiedenen Gestalt. Erst innerhalb der Sonnenverkörperung strömt der Ätherleib in ihn ein (147/8), während der Mondentwicklung der Astralleib (162), im Erdenleben entzündet sich der Feuerfunke des Ich (226). Durch diese Eingliederungen wird der physische Leib jedesmal umgestaltet. In jeder Erdverkörperung, die einer schöpferischen Ausströmung des kosmischen Ich entspricht, prägt die Tat bestimmter Hierarchien das Bild ihres Wesens als einen zum Wachstum fähigen Keim der Menschheit ein; und in jeder solchen Kräftegabe geht etwas von dem Ur-Ich in die Menschheit über. Auf dem Saturn wirken die ,,Geister der Weisheit“ — von Steiner Cherubime und in der ,,Geheimwissenschaft“ in Anlehnung an die ,,christliche Geisteswissenschaft“ Kyriotetes genannt (131) — und mit ihnen zusammen die ,,Geister des Willens“ oder Throne (133), um Leben und Willen ausstrahlen zu lassen. Ihnen gesellen sich die ,,Geister der Bewegung“ oder Dynameis, die ,,Geister der Form“ oder Exusiai, die ,,Geister der Persönlichkeit“ oder Archai (134). Die ,,Feuergeister“ oder Archangeloi und die ,,Geister der Liebe“ oder Seraphime treten gemeinschaftlich auf (136/7); es werden durch sie die Keime der menschlichen Sinnesorgane der Entwicklung einverleibt. In einer späteren Periode des Saturndaseins entfalten die ,,Söhne des Zwielichtes oder des Lebens“, christlich Angeloi, und mit ihnen die ,,Geister der Harmonien“ (138) ihre Tätigkeit; Stoffwechsel-, Nahrungs- und Ausscheidungsprozesse beginnen. Eine feste Grenze zwischen den Wirkungsbereichen dieser einzelnen Wesen gibt es nicht (143). Die heiligen Kräfte oder Hierarchien verleihen übrigens nicht nur dem Menschen, sondern allen vier Naturreichen das sinnvolle Leben, auch Mineralien, Pflanzen, Tieren. Je vollkommener ein Körper ist, desto mehr Bewußtsein kann in ihn hinabsteigen.

Zwischen dem Abschluß einer Erdverkörperung und dem Beginn einer neuen liegen Ruhepausen, ,,Weltennächte“, während welcher die Erde als Samenkorn mit den Keimen aller vorher entwickelten Fähigkeiten zu neuem Erwachen im Weltenschoße ruht. Da die früheren Einprägungen fortdauern, so wiederholt jede Verkörperung zunächst das Alte, das auf der vorhergehenden Stufe Erreichte, ordnet es allmählich auf die neuen Daseinsbedingungen hin und fügt dann etwas völlig Neues hinzu. Auf zwei vorbereitende Epochen folgen jeweils drei mittlere und zwei abflutende. Der Rhythmus der Entwicklung wird bestimmt durch ein Anschwellen der von außen hereinwirkenden Kräfte bis zur Mitte und ein Nachlassen ihres Einflusses von der Mitte ab. Die Geheimwissenschaft nennt diese siebengliedrigen Epochen ,,Kreisläufe“; in der theosophischen Literatur heißen sie ,,Runden“ (195). Wenn der Mensch, zunächst das eigene Ich erfassend, dann, über das Ich hinauswachsend, die geistigen Wesenheiten in sich aufnehmen lernt, so kann schließlich nach dem Zusammenfließen der zerstäubten heiligen Kräfte das Wesen des kosmischen Ich sich in der Menschheit spiegeln. Diese Entwicklung vollzieht sich in unserem Sonnensystem. Als sich die Sonne von der Erde trennte, hatte im Kosmos ein hohes Wesen die Führung, der Herrscher im Sonnenreich (240); er lebt in den Sonnenmenschen als ,,höheres Ich“‘ (242). Den Gegenwartsmenschen erscheint er als der Christus. Wie er damals in die Erdentwicklung eingegriffen hat, so wirkt er in ihr weiter. ,,Und mit ,Christus‘ erschien in menschlicher Gestalt das hohe Sonnenwesen als das große menschliche Erden-Vorbild“ (279). Das Christuswesen ist der Kreis, der die Bewußtseinsentwicklung im Sonnensystem, mit allen seinen Hierarchien, umschließt. Es ist die Ichheit, deren Wirkungen, die Christuskräfte, den Sonnenkosmos erfüllen. Steiner setzt sie auch in Beziehung zum Tierkreis: er lehrt: in den Wirkungen des Tierkreises drücken sich die Christuskräfte aus. Christus ist das Urwesen, der Mittelpunkt aller Weisheit, von dem aus die natürliche und die geistige Welt zu verstehen ist (279); das hohe Sonnenwesen, das durch das Mysterium von Golgatha sich mit der Erde und ihren Kräften vereinigt hat, so daß der Mensch die Christuskraft auf der Erde in sich aufnehmen kann.

Die hier in großen Zügen wiedergegebene Lehre ist eine Verbindung von Panpsychismus und Emanationentheorie Jamblich und Valentinus, Neuplatonismus und Gnosis leben in ihr wieder auf. Der Neuplatonismus setzt an die Stelle einer durch Schöpfung entstandenen ursprünglichen Ordnung ein Ausströmen der Welt aus der Gottheit, so daß nun die Materie ebenfalls als Erzeugnis des Schöpfungsaktes erscheint. Dieser wird dabei immer noch als ein sinnlicher Prozeß vorgestellt, dem die Annahme von Mittelwesen zwischen dem rein geistigen Wesen Gottes und der körperlichen Welt zu Hilfe kommt. Hinzu tritt in der Anthroposophie ein Gedanke, der mittelbar aus dem Sonnenkultus stammt. Abgesehen von dieser Gleichsetzung des Christus mit dem Sonnenwesen, die ihn zu einem kosmischen Kräftesystem macht und mit dem Christus unserer Kirche nicht mehr als den Namen gemeinsam hat, ist Steiners Weltlehre geozentrisch und anthropozentrisch. Wir werden damit vor eine Aufgabe gestellt, deren Lösung uns schwerer fällt als den antiken Denkern: im Menschen den Mittel- und Wendepunkt des Weitgeschehens zu erblicken.

Die dargelegten Ausführungen über die Entwicklung des Menschen innerhalb des Erdendaseins und seiner verschiedenen Verkörperungen werden nun in wunderlicher Weise verquickt mit Reinkarnationsvorstellungen. Das eigentliche innere geistige Wesen des Menschen ist durch eine Reibe von Leben auf dieser Erde hindurchgegangen (108) und wird diesen Weg fortsetzen. Auch die Erde selbst wird in Zukunft weitere Umgestaltungen erfahren. Indessen: über solche Spekulationen gibt es keine wissenschaftliche Auseinandersetzung. Alles kommt an auf die nähere Ausführung und auf die Ansprüche. Der Neuplatonismus ist vielleicht ebenmäßiger, N i e t z s c h e s Gedanke von der ewigen Wiederkehr kühner.

In diesen Rahmen schließt nun Steiner eine genauer ausgeführte Kosmogonie. Die Welt, deren Bild er entwirft, ist weder aus eigenartigen Inhalten noch mit neuen Kategorien aufgebaut. Es wird eben einfach Reales wie Ideales so verschoben und verzerrt, daß alles anders ausschaut als in der Erfahrungswirklichkeit. Ein gewaltiges geistiges Panorama, ein ,,Weltentableau“, in dem alle vergangenen Vorgänge der Welt verzeichnet sind, hat der Hellseher vor sich, der durch die sichtbare Welt hindurch die Wahrnehmung zu dem Unsichtbaren zu erheben vermag (112). Dies geistige Wahrnehmen ist ein Lesen in der Akaschachronik. Was hat Steiner in ihr gesehen? In der mittleren Periode der ersten Verkörperung, des Saturn-Daseins, schaut der Hellseher etwas wie ein in sich gegliedertes, in wechselnden Zuständen erscheinendes Weltenwesen, das nur in Wärme besteht (127), in feinen, dünnen, ätherischen Wärmekörpern (130). Zu Anfang seiner Entwicklung aber zeigt der Saturn noch nicht diesen späteren Wärmecharakter (132), sondern ist ,,ungeordnete Stofflichkeit“, ohne Licht, ohne Ton, ohne Raum und Zeit, charakterisierbar nur durch eine Eigenschaft, die sich mit dem menschlichen Willen vergleichen läßt. Dieser ,,Wille“ ist der Ausfluß erhabener Wesen, der ,,Geister des Willens“ oder Throne, die nur aus Mut bestehen. — Steiner schweigt darüber, welche Ereignisse ihn zwingen, die von ihm angetroffenen Geister so sinnwidrig zu beschreiben. Denn: Mut und Wille sind nichts Einheitliches, sie sind zusammengesetzt und wechselvoll. Wie können ,,Wesenheiten“ aus nur e i n e r seelischen Richtung, also ohne die der Persönlichkeit unentbehrliche Mannigfaltigkeit des Seelischen bestehen? - In das Meer des Mutes spielen nun die Wesen anderer Hierarchien hinein, die ,,Cherubime“. Ihnen opfern die Throne ihre eigene Wesenheit. Aus dem Opfer werden die Geister der Persönlichkeit, die Archai, geboren, die nur aus Zeit bestehen. Das Opfer der Geister des Willens steigt gleichsam rauchend zu den Cherubim empor. Der Hellseher empfängt den Eindruck eines aufgrund abflutenden (dabei aber raumlosen!) Wärmezustandes. Aus der brodelnden Wärme des Opferrauchs gestalten sich die Archai. Dieser Vorgang des Opfers liegt geistig der uns bekannten Wärme zugrunde. Die äußere Wärme ist eine Maya ist nur der Ausdruck für die unsichtbare Opfertat der Wesenheiten. Man beachte: diese Lehren trägt Steiner als F o r s c h u n g sergebnisse vor, aus denen er wichtige praktische Folgerungen zieht. Wir aber, zur Beurteilung aufgerufen, müssen fragen: Welche Auffassung von Zeit liegt hier eigentlich zugrunde? Wie kommt der Mut dazu, sich zu opfern? Wahrscheinlich, weil der geläufige Begriff des Opfermutes vorschwebt. Ist das nicht Vulgärpsychologie und Volksetymologie in einem? So zwingt uns Steiner in eine Urepoche wissenschaftlichen Denkens zurück; scheut er sich doch nicht, hinter einen physikalischen Vorgang einen moralischen zu legen, um jenem einen tieferen Sinn zu schaffen. Solche Zusammenhänge sind zwar logisch zu rechtfertigen. Allein, in jedem synthetischen Urteil nach dem Schema: A ist B (das bedeutet: etwas ist etwas anderes), muß die Zuordnung begründbar sein; hier ist sie es nicht. Für die Erklärung etwa des Wärmevorganges des Errötens aus dem Affekt des Zornes liegt eine breite Erfahrung vor. Es handelt sich um verständliche psychophysische Zusammenhänge. Hier suchen wir solche vergeblich.

In der zweiten, der Sonnenphase werden durch den Anblick der geschilderten Opfertat andere Geister veranlaßt, sich schenkend in die Welt zu ergießen. Ihre schenkende Tugend stellt sich dar als Luft: überall, wo Luft ist in der Welt, sind Taten der ,,Geister der Weisheit“ dahinter. Dies ,,dahinter“ bedeutet doch wohl, daß immerfort Geister Opfer bringen. Eine äußere Verknüpfung wird hergestellt, die nichts Überzeugendes hat: es könnte ebenso gut der Opfertat die Luft und der Hingegebenheit die Wärme entsprechen. Ebenso bedenklich ist. daß rein menschliche Verhältnisse zum an sich Seienden gemacht werden: wenn einer schenkt, so muß ein anderer zum Nehmen da sein. Die Erzengel, Archangeloi, sind es, die da nehmen, aber so, daß sie das Empfangene zurückstrahlen. Somit sind sie die Schöpfer des Lichts. Da beim Widerstrahlen ein Inneres von außen zurückgegeben wird, so entsteht der Raum; als ob nicht das ,,wogende Meer des Mutes“ und der „Opferrauch“ einen Raum voraussetzten! Einige Cherube nehmen das Opfer nicht an, entziehen sich also auch der Zeit und wählen die Ewigkeit: während der Sonnenentwicklung wird die Ewigkeit errungen. Später als die Zeit entsteht demnach die anfangs- und endlose Ewigkeit, und sie entsteht an einem bestimmten Zeitpunkt. Dazu ist zu bemerken, daß allerdings der Zeit b e g r i f f der Bildung des Ewigkeitsbegriffs vorausgeht, aber nicht die objektive Zeit, um die es sich doch hier handelt.

Der Verzicht jener Cherubim erscheint in der äußeren Maya als Flüssigkeit, als Wasser. Das Wasser entsteht aber erst auf dem Monde, der dritten Erdverkörperung. Überall wo Wasser ist in der Welt, ist Götterverzicht. Der zurückgewiesenen Opfersubstanz bemächtigen sich andere, die luziferischen Wesenheiten, die sich damit von den unsterblichen Wesenheiten trennen; sie bringen die Möglichkeit des Irrtums und des Bösen (231).

Die Erde ist nun, nachdem sie Saturn-, Sonnen- und Mondendasein durchgemacht hat, ein lebendes und ein geistiges Wesen, ein ,,durchseelter und durchgeistigter Organismus“ (200). In einem dauernden Vorgang der Verdichtung wird sie zu dem Festen oder Erdigen (209). Unter luziferischem Einfluß nimmt jetzt der Mensch Erdeneindrücke auf, die sich mit den Kräften verbinden, durch die der physische Leib zerstört wird: der Tod tritt auf (233); er ist das einzig Wahrhafte in unserer Welt der Illusion. Auf der Erde muß dann die Christuswesenheit den Tod besiegen im Mysterium von Golgatha.

Bei dem gegenwärtig erreichten Zustand bleibt die geistige und die durch sie bewirkte äußere Entwicklung nicht stehen. Die Menschheit wird zu immer anderen Formen geführt, wie das äußere Leben seine Gestaltungen ändert (397). ,,Denn welche Stufe man auch erstiegen haben mag auf dem Wege in die übersinnlichen Welten hinauf: es gibt immer noch höhere Stufen“ (387/8). Die Geheimwissenschaft bezeichnet die kommenden Erdverkörperungen als Jupiter-, Venus-, Vulkan-Zustand. Die Jupiterphase wird etwas enthalten, was durch die Mondenentwicklung vorher bestimmt ist; dazu Neues, das erst durch die Erdenvorgänge in die Entwicklung hineinkommt (400). In der Venusverkörperung schaut der Hellseher weiter entwickelte Gestalten dessen, was während des Sonnenzustandes vorhanden war (401); im gleichen Verhältnis steht der Vulkanzustand zum Saturndasein (401). Eben darum kann das hellseherische Bewußtsein etwas über diese zukünftigen Erdgestaltungen erfahren. Es verhält sich also folgendermaßen: der gegenwärtige Erdzustand enthält, für den Hellseher deutlich erkennbar, die verflossenen Erdphasen in sich und birgt damit im Keim alle zukünftigen, die jenen ähnlich sind. Was sich in der Saturnzeit abgespielt hat, geht noch heute vor sich; nur wird es überdeckt durch das, was äußerlich um uns herum auf dem ,,physischen Plane“ ist. Wer das Ich und seine Welt kennen lernen will, der muß sich eine solche Welt vor Augen stellen können, wie der Saturn eine war. Es ist eine übersinnliche Welt, verhüllt durch den ,,Hüter der Schwelle“.

Diese Weltenlehre Rudolf Steiners enthält weder nachweisbare Tatsachen noch eine begriffliche Durchführung. Ein naturwissenschaftliches oder auch geistesgeschichtliches Verständnis von Urzeiten ist nur zu erzielen, wenn vergangene Sachverhalte jedermann sichtbar gemacht und aus denselben Kräften erklärt werden, die wir noch jetzt am Werk sehen; naturphilosophische Behandlung ist nur dann sinnvoll, wenn nach H e g e l s Vorbild logisch verkettet, ein Begriff aus dem andern mit innerer Notwendigkeit hervorgetrieben wird. Hier dagegen wird ganz in der Art eines Mythus einfach erzählt und dogmatisch hingestellt; es wird der Naturwirklichkeit etwas Seelisches, zumeist Moralisches unterlegt. In einer Reihe von Naturmythen treten ethisch-religiöse Schicksals- und Schutzgötter als wirkende Kräfte auf. Auch der Christus wird zu einer Art mythischen Wesens.

Mit leerem Mythologisieren aber gelangt man nicht zum Geist, der ein Drittes — kein Körperliches und kein Psychisches — ist. Steiner erkennt dies nicht. Er denkt in Existentialurteilen, nicht in Werturteilen, vermag sich zu keiner anderen Vorstellung des Seins als zur Form der Existenz zu erheben. Da ihm alles, was in irgend einer Weise als Geltung, Gesetz, Sinn, Wert, Bedeutung, Zusammenhang ein Sein besitzt, sofort zu einem Existierenden (Ding oder Person) wird, so stellt er sich nun auch die Angleichung des Geistigen an das Menschliche als ,,Gesehenwerden“ vor. ,,Das geistige Auge sieht im ,Geisterland‘ den Gedanken des Löwen so wirklich, wie das sinnliche den physischen Löwen. Mit diesem Satze hat Steiner seiner Weltenlehre selbst das Todesurteil gesprochen. S.417-423Anthroposophische Lehre vom Menschen.
Der sinnlich wahrnehmbare, verstandesmäßiger Erkenntnis zugängliche physische Leib ist nur ein Teil der menschlichen Wesenheit; ihn hat der Mensch mit der mineralischen Welt gemeinsam. Dem Hellseher sind drei weitere Glieder erschaubar: der Ätherleib oder Lebensleib, der Mensch und Pflanze eigen ist; der Astralleib — in bezug auf ihn steht der Mensch den Tieren gleich —, und das Ich, das Unterscheidende des Menschen. — Hier wird Erbgut der Philosophie, der dreistöckige aristotelische Stufenbau der Seelen unverändert übernommen, es werden Begriffe, die zu einer ersten Übersicht und Einteilung vor zweitausend Jahren brauchbar waren, erneuert und grob verdinglicht. Steiners Konstruktionsmittel ist dabei, wie meist, das der Schichtung. Was Steiner über diese Einteilung hinaus zu berichten weiß, von den vier Leibern — ,,Und auch das Wort ,Leib‘ soll nicht mißverstanden werden. Man muß zur Bezeichnung der höheren Dinge des Daseins eben doch die Worte der gewöhnlichen Sprache gebrauchen“ (Die Geheimwissenschaft, S. 20) —, bleibt als Forschungsergebnis einer ,,höheren Schau“ ohne Bedeutung für den Nicht-Hellseher, besitzt aber im Glauben der Anthroposophen eine stärkere Wirklichkeit als die sinnliche Welt.

Der Ätherleib — der, genau genommen, weder Äther noch Leib ist, denn auch ,,das Wort ,Äther‘ wird hier in einem andern Sinne gebraucht, als dies von der gegenwärtigen Physik geschieht“ (20) — ist gleichsam der Bewahrer des physischen Körpers, der ohne ihn zerfallen würde, nun aber überall von ihm durchsetzt ist. Wie der physische, so ist auch der Ätherleib in sich gegliedert; mit seinen Strömungen und Bewegungen bestimmt er Form und Gestalt der Organe. „Dem physischen Herzen liegt ein ,Ätherherz‘ zugrunde, dem physischen Gehirn ein ,Äthergehirn‘ usw.“ (23). Sich selbst überlassen, müßte der Ätherleib dauernd im Zustand des Schlafes sein, wie die Pflanzen (25). Sein ständiger Erwecker ist der Astralleib, der sich nur im Schlaf von ihm löst, um aus der geistigen Welt frische Kräfte einzusaugen und sie durch den Ätherleib dem Menschen zu übermitteln. Hellseherischer Beobachtung bleibt er auch dann noch zugänglich. Das Ich hat die Aufgabe, in die Gegenwart hinüberzuretten, was der Astralleib in Vergessenheit sinken läßt. Doch versteht Steiner unter ,,Ich“ nicht das Bleibende als solches, ,,sondern dasjenige, welches dieses Bleibende erlebt“. So kommt er zu der Bestimmung (in anderen Aussagen scheint sie wesentlich verändert): ,,Was für den physischen Leib der Tod, für den Ätherleib der Schlaf, das ist für den Astralleib das V e r g e s s e n. Man kann auch sagen: dem Ätherleib sei das L e b e n eigen, dem Astralleib das Bewußtsein und dem Ich die Erinnerung“ (28).

Der Astralleib ist auch der Seelenleib; denn unter ,,Seele“ versteht der Anthroposoph das, ,,was dem Wissen Dauer gibt“ (30). Die Seele besteht gleichfalls aus drei Gliedern: soweit sie mit dem Astralleib vereinigt ist, heißt sie Empfindungsseele; in ihrer Verbindung mit dem Ich ist sie Verstandes- oder Gemütsseele; wenn sie zur Wahrnehmung ihrer eigenen Wesenheit gelangt ist, darf sie als Bewußtseinsseele bezeichnet werden (32 f.). ,,In der Bewußtseinsseele enthüllt sich erst die wirkliche Natur des ,Ich’ (33); seine innere Tätigkeit beginnt mit der Selbstbesinnung. Der Hellseher empfängt von diesen Leibern und Gliedern bestimmte räumliche Vorstellungen, die - selbst wenn sie sinnbildlich gemeint sein sollten — Steiners Denkweise als einen verschwiegenen Materialismus kennzeichnen. ,,Als eine Lebensform erfüllt den physischen Körper der Ätherleib; an allen Seiten über diesen hinausragend erkennt man den Seelenleib (Astralgestalt). Und wieder über diesen hinausragend die Empfindungsseele, dann die Verstandesseele, die um so größer wird, je mehr sie von dem Wahren und Guten in sich aufnimmt“ (Theosophie, S. 31). Eine Seele, die größer wird im räumlichen Sinne, ist freilich keine Seele mehr.

In die Bewußtseinsseele dringt der Geist hinein, ,,das Verborgene in allem Offenbaren“ (Geheimwissenschaft, S. 34). Es sind drei geistige Glieder, die sich durch Wirken des Ich an den drei Leibern enthüllen: der vom Ich umgewandelte Astralleib ist das Geistselbst (Manas); die Tätigkeit des Ich zur Änderung des Ätherleibes unbewußt vor allem durch religiöse und künstlerische Impulse gefördert, bewußt durch Geheimschulung oder Initiation — arbeitet den Lebensgeist (Buddhi) heraus. Die Ichtätigkeit am physischen Leibe offenbart den Geistesmenschen (Atma).

Der Mensch ist also aus Gliedern der physischen, seelischen, geistigen Welt aufgebaut. Diese ganze Konstruktion ist äußerst primitiv. Der Übergang vom Leblosen zum Lebendigen und von dort zum Seelischen wird nicht untersucht, sondern durch Unterschiebung erfundener Äther- und Astralleiber verdeckt. Sie ist ferner unleugbar materialistisch. Wie Epikur durch eine Art Destillation des Körperlichen zum Geist zu gelangen hoffte obwohl tatsächlich der zarteste Leib dem Geist genau so fern bleibt wie der gröbste —, so versucht das methodisch ungeschulte Denken des Anthroposophen zum Geist vorzudringen. ,,Der Ätherleib wandelt unorganische Substanz in Lebenssäfte um; der Astralleib wandelt diese lebendige Substanz in empfindende Substanz um.“

Hiermit verbinden sich nun physiologische Spekulationen nach Art Schellings, Okens, Pertys. Der Astralleib findet seinen Ausdruck teils im sympathischen Nervensystem, teils im Rückenmark und Gehirn. Im sympathischen Nervensystem lebt ein dumpfes Wissen von den großen Gesetzen des Kosmos, das aber dem heutigen Menschen nicht mehr zum Bewußtsein kommt; durch das höhere Nervensystem empfindet der Mensch, was in ihm vorgeht. Wie nun Rückenmark und Gehirn Ausdruck des umgewandelten Astralleibes, so sind Herz und Blutgefäße Ausdruck des umgewandelten Ätherleibes; ,,das Blut nimmt die durch das Gehirn verinnerlichten Bilder der Außenwelt auf“. Eine solche unbegründete und unbegründbare Mißachtung aller Tatsachen verbindet sich mit der ungeheuerlichen Behauptung, der vorgeschichtliche Mensch habe ,,in den Bildern, die sein Blut empfing“, auch die Erlebnisse seiner Vorfahren erinnert. Wie will man das jemals beweisen oder auch nur verständlich machen? Immerhin liegt dieser Lehre vom Aufbau des Menschen die richtige Einsicht zugrunde, daß unser übliches Leib-Seele-Schema nicht genügt. Lassen sich auch physiologische Vorgänge mit Sicherheit als körperlich, Denkprozesse wie etwa mathematische Gedankengänge unzweifelhaft als geistig bezeichnen, so bewegt sich doch zwischen diesen Grenzfällen eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen, deren Zuordnung entweder an den Körper oder an den Geist nicht ohne weiteres gelingt. Aber hierdurch werden Hypostasierungen, wie Steiner sie vornimmt, noch keineswegs gerechtfertigt.

Die genauere Gliederung der menschlichen Wesenheit erfolgt deutlich erkennbar und Steiner völlig bewußt nach der S i e b e n z a h 1: ,,Wie das Licht in sieben Farben, der Ton in sieben Stufen erscheint, so die einheitliche Menschennatur in den gekennzeichneten sieben Gliedern“ (43), nämlich: 1. physischer Leib, 2. Äther- oder Lebensleib, 3. Astralleib, 4. Ich, 5. Geistselbst, 6. Lebensgeist, 7. Geistmensch. Daß allen Ernstes von sieben Farben- und Tonstufen gesprochen wird, ist schier unbegreiflich. Aber diese Bevorzugung der Sieben begegnet uns immer wieder, bei der Einteilung der Individualentwicklung in siebenjährige Epochen, bei der Aufzählung der Erdverkörperungen, in dem Aufbau der Einweihungsstufen, in der Unterscheidung von Regionen des Geisterlandes usf. Daneben stehen Gliederungen nach der Dreizahl oder nach der Neunzahl, zum Beispiel in der Annahme von neun Hierarchien, die jedoch nicht durchgängig festgehalten ist. Die Neunzahl ist den Griechen, also einem indogermanischen Volke, heilig: der griechischen Philosophie entstammt überhaupt die allgemeine Vorstellung von Zahlen und Zahlenverhältnissen als den Grundlagen aller Ordnung im Weltall. Die Vorliebe für die Sieben weist auf den Orient und wurzelt in Religion und Kultur Babylons. Ihre Bedeutung ist früher — zu Unrecht auf die Dreizahl zurückgeführt worden, auf die Zahl der heiligen Dreieinigkeit im Christentum, die aber schon in Babylonien als heilige Zahl geachtet war: ,,Die Alten teilten die Hauptwirkungen der Natur in sieben Klassen ein; . . . Sie verstunden dadurch das Geheimnis der siebenten Zahl, welche aus drei und vier zusammengesetzt ist, oder die Vereinigung des Geistigen mit dem Körperlichen“. Wir wissen jetzt, daß die Sieben vielmehr als die stetig wiederkehrende Zahl der Tage der Mondphasen zum Sinnbild der unwandelbaren heiligen Ordnungen geworden ist. In der spätbabylonischen Religion hat dann auch die Sieben als Zahl der Planetengötter eine hervorragende Rolle gespielt; von daher sind wahrscheinlich die gnostischen Systeme in ihrer Lehre von den sieben Archonten beeinflußt. Jüdische und christliche Religion, Kabbala, theosophierende Mystiker des 16. und 17. Jahrhunderts sind dem Zauber der Zahlensymbolik und vor allem der Heptade erlegen. Aus allen diesen Quellen konnte Steiner die Anthroposophie speisen. Für ihn liegt die Bedeutung der Zahlen-spekulationen offenbar in einem Doppelten. Einerseits bewirkt sie eine Verbindung zur Überlieferung, die Steiner zwar häufig genug zu mißachten scheint, ja abstreitet, um die Ursprünglichkeit seiner Lehre zu retten, die er aber tatsächlich hochhält, weil sie der Anthroposophie den Anstrich uralter Weisheit leiht. Andererseits gibt sie dem anthroposophischen System das Gepräge des Errechenbaren, der mathematischen Gültigkeit und damit das Aussehen einer naturwissenschaftlich gesicherten Weltanschauung. Überdies sind die heiligen Zahlen vom Zauber des Geheimnisses umweht: Grund genug, sie mit Liebe zu pflegen, um durch sie Köpfe und Sinne zu gewinnen.

Die Gestaltung des Menschen, die Herausbildung der verschiedenen Glieder seiner Wesenheit ist nun nach anthroposophischer Meinung in geheimnisvoller Weise abhängig von der Entwicklung der Erde und von ihren Vorverkörperungen. Aus der Saturnphase stammt die erste Anlage des physischen Menschenleibes, des ,,mineralischen Leibes“, der unorganische Kräfte in sich vereinigt und als die zum Stoff entäußerte Kraft das Gegenbild des Göttlichen darstellt. Die Sonnenphase lieferte die Anlage zum Ätherleib oder Bilde-Kräfte-Leib, der die mineralischen Bestandteile des Körpers hindert, ihre eigenen Wege zu gehen; er bestimmt Fortpflanzung, Wachstum, Ernährung, ist Träger des Temperaments und Charakters, der allgemeinen Volkseigenschaften, der Erinnerung. In der Mondphase bildet sich der Astralleib, jene Kraft, die den Ätherleib mit Bewußtsein durchleuchtet. Vom physischen Leib vermag er sich ganz, vom Ätherleib bis auf einen gewissen Zusammenhang zu lösen. Während des Schlafes trennt er sich vom Menschen. ,,Seine Wachleistung vollbringt der Astralleib innerhalb des physischen Leibes; im Schlafe arbeitet er an diesem von außen.“ (Geheimwissenschaft, S. 51). Da er während dieser ,,Trennung von den Sinnesorganen des physischen Leibes seine Bilder nicht auf die richtigen Gegenstände und Vorgänge der äußeren Umgebung beziehen kann“ (58), so werden die Traumbilder willkürlich und widersinnig.

Wie der Schlaf, so ist auch der Tod eine ,,Änderung im Zusammenhange der Glieder des Menschenwesens“ (58). Der Ätherleib trennt sich vom physischen Leibe, bleibt aber mit dem Astralleib noch zusammen, für eine Zeitdauer, die bei verschiedenen Menschen verschieden ist. Während des Zustandes der Vereinigung beider Leiber — ohne den körperlichen — nimmt der Mensch die Erlebnisse des Astralleibes wahr: in einem Erinnerungsbilde breitet sich das verflossene Leben zwischen Geburt und Tod vor ihm aus (61). Endlich lösen sich auch Äther- und Astralleib voneinander. — Bei Lebzeiten erfolgt nur höchst selten eine Trennung des Ätherleibes vom physischen Leibe, bei gleichzeitiger Verbundenheit mit dem Astralleib; nämlich nur, wenn ein Glied ,,eingeschlafen“ ist (man denke!) oder durch einen großen Schreck, etwa bei Lebensgefahr. — Im Astralleib bleibt nun alles vorhanden, was während seines Aufenthalts im Körper zu seinem Besitz geworden ist (64). Auch die nicht ausgelöschten Begierden nach Genüssen der äußeren Welt wohnen dem Ich nach dem Tode noch inne. Davon muß es befreit werden, und zwar durch ein Läuterungsfeuer, das ,,verzehrende Feuer des Geistes“ (69). Die Läuterungszeit beträgt etwa ein Drittel der zwischen Geburt und Tod verflossenen (72). Diese gewissenhafte — wenn auch nicht nachprüfbare — Berechnung des Lebens im Jenseits berührt uns fast komisch: ein mit zwanzig Jahren Gestorbener braucht also sieben, ein mit achtzig Jahren Gestorbener siebenundzwanzig Läuterungsjahre. Ob solche Zeiten im Jenseits denselben Sinn haben wie auf Erden? Und ob nicht gerade die Alten in diesem Leben sich so weit geläutert haben, daß sie dafür später weniger Zeit brauchen sollten als die jung Verstorbenen? Wie dem auch sei: erst wenn das läuternde Feuer seine Wirkung geübt hat, kann der Mensch sich ganz der Welt des Geistes hingeben. Es zerfällt nun auch der Teil des Astralleibes, der noch durch jenes ,,Anziehungsband“ der Begierden (68) an die äußere Welt geknüpft war. ,,Für die Geheimwissenschaft gibt es somit drei Leichname, den physischen, den ätherischen und den astralischen“ (72). Das Ich wird jetzt in eine Welt von Wesen gleicher Art versetzt, in das ,,Geisterbuch“ (78 ff., auch: Theosophie, S. 102 ff.), wo ihm die Kräfte entgegentreten, die im Leben zwischen Geburt und Tod nur der Hellseher erschaut, die höheren Hierarchien. Nach einiger Zeit gliedert sich dann abermals ein Astralleib um das Ich herum. ,,Der Mensch kann wieder durch eine Geburt gehen und in einem erneuten Erdendasein erscheinen, das nur in sich eingegliedert hat die Frucht des früheren Lebens“ (Geheimwissenschaft, S. 85).

In Verbindung mit den ,,kosmischen Tatsachen“ gesehen, ist dies Leben zwischen Tod und neuer Geburt, diese ,,leibfreie Zeit des Ich“ ein Hindurchgehen der Menschenseele durch die ,,planetarischen Sphären“, wobei sie immer größer wird und sich hinausbewegt in die Weiten des Weltenraums. (Vgl. S. 242.) Wir werden nacheinander Mond-, Venus-, Merkur-, Sonnen-, Mars-, Jupiter- und Saturnbewohner, dann Bewohner des eigentlichen Sternenhimmels, ,,um uns dann wieder aus diesen Welten zusammenzuziehen, um uns durch irgendein Elternpaar wieder neu zu verkörpern.“ In der Regel erfolgt die Rückkehr des Ich in die physisch-sinnliche Welt dann, wenn diese sich so umgestaltet hat, daß es Neues erleben kann, nämlich nach etwa 2100 Jahren. Doch finden in diesem Zeitraum gewöhnlich zwei Verkörperungen statt, als Mann und als Frau (427), wegen der verschiedenen Erlebnisweise beider Geschlechter. Und diese Wiederverkörperung oder Reinkarnation wiederholt sich. Einem immer tieferen Sterben folgt ein immer höheres Erwachen. Der Mensch vervollkommnet sich allmählich durch eine Reihe von Erdenleben hindurch. Die Taten eines neuen Lebens sind in gewisser Weise durch die des vorigen mitbestimmt; diese wirken als gestaltende Kräfte in dem Zwischendasein zwischen zwei Verkörperungen (104). Dieser Zusammenhang eines früheren Daseins mit einem späteren untersteht dem Gesetz des Schicksals, dem Karma, das also bestimmt werden kann als das Gesetz des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung in der höheren geistigen Welt (87). Für seine Wiederverkörperungslehre beruft Steiner sich auf Immanuel Hermann F i c h t e s Anthropologie: ,,J e d e r präexistiert nach seiner geistigen Grundgestalt, denn geistig betrachtet gleicht kein Individuum dem andern, so wenig als die eine T i e r s p e z i e s einer der übrigen.“ (Anthropologie, S. 542.) Es liegt ein weiter Schritt zwischen d i e s e r Präexistenzvorstellung und Steiners Ausmalung und Ausschmückung der wiederholten Erdenleben. Eine ähnliche Umdeutung, ja Mißdeutung fremder Meinung zu seinen Gunsten ist auch da zu beobachten, wo Steiner Johann Gottlieb F i c h t e als Gleichgesinnten und Gewährsmann heranzieht. Reinkarnation und Karma können nur durch intuitive Erkenntnis ,,sachgemäß erforscht“ werden. Unser Karma ist in die allgemeine Weltastralität eingeschrieben und kann vom Hellseher aus ihr abgelesen werden. — Gegen die anthroposophische Karmalehre hat T r a u b einen stichhaltigen Einwand vorgebracht: ,,Solange ich mich nicht an mein früheres Leben und die darin vollbrachten Taten erinnere, kann ich mich auch nicht dafür verantwortlich fühlen. Eine Schuld, von der ich nichts weiß und nichts wissen kann, ist in Wirklichkeit gar keine Schuld.“ Erlösung etwa im christlichen Sinne ist bei diesem ,,Gesetz des Schicksals“ natürlich unmöglich; denn es kennt keine Reue über bewußte und unbewußte Verfehlungen. — Von dem Grundsatz aus, daß alles Seelische aus Seelischem entsteht und nur daraus zu erklären ist, will Steiner die Gesetze von Reinkarnation und Karma als ,,naturwissenschaftliche Notwendigkeit“ darlegen. Man fragt sich erstaunt, weshalb er diese Anpassung an unsere Wissenschaft sucht, da er doch alle wissenschaftliche Notwendigkeit als gleichgültig beiseite wirft, sobald sie zu seiner Widerlegung führt. S.452-460
Aus: Max Dessoir, Vom Jenseits der Seele, Die Geheimwissenschaften in kritischer Betrachtung
Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart, Unveränderter Nachdruck der sechsten Auflage
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