Richard (Fedor Leopold) Dehmel (1863 – 1920)

Deutscher Schriftsteller, der Philosophie und Naturwissenschaften studierte und wohl auch in seinen »philosophischen Betrachtungen über Kunst/Gott und Welt« sowie seinen nachdenklich stimmenden Gedichten von Friedrich Nietzsche beeinflusst war. Vor allem hatte es ihm die kosmische Macht des Eros angetan. Dehmel war nicht nur während seiner Schulzeit von den seinerzeit verpönten Lehren Charles Darwins überaus beeindruckt., sondern besaß auch eine urkomisch satirische Ader, der er insbesondere in seinem spiritistischen Dialog mit »Geheimrat Goethe« freien Lauf ließ. Zu seinen Bekannten zählten u. a. Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse und Thomas Mann.

Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis

Philosophische Betrachtungen über Kunst, Gott und die Welt
Naivität und Genie

Das Rätsel des Schönen
Der Wille zur Tat

Erlösungen - Gedichte und Sprüche
Fürsprüche
Das Opfer
Welt und Zeit
Bekenntnis
Selbstzucht
Erleuchtung
Allgegenwart
Dante Guidante
Lobgesang
Trauschwur
Werksprüche
Nachruf an Nietzsche
Heidnischer Glaube
Christliche Frage
Deutsches Tun
Gesetz
Ungleiche Geschwister
Die Hauptperson
Freispruch

 







Den Schreihälsen
Quintessenz
Fatalitäten
Heldentümliches
Traurige Wahrheit
Unterschied
Zweierlei Treiben
Wahlspruch
Sprüche der Zeit
Menschenrecht
Das Spiel der Welt
In Summa
Scheinkunst
Einem und jedem Schöpfer
Kunstgenuss
Stossgebete
Sprachgeheimnis
Die Vollendung
Das erlösende Wort

 

Philosophische Betrachtungen über Kunst, Gott und die Welt
Naivität und Genie

Spiritistischer Dialog
»Das ist naiv« . . . Wenn wir das hören, wissen wir nicht ohne weiteres, soll das ein Lob, ein Tadel oder einfach eine Aussage sein. Besonders Künstlern passiert das oft: da ist irgend etwas in ihren Werken, das hält der eine Betrachter für »recht naiv«, der andere für »vollkommen naiv«, wieder ein andrer für »gar zu naiv«, und ein abermals andrer für »nicht naiv genug«. Wenn man dann jeden von ihnen fragt, was er mit diesem beliebten Fremdwort eigentlich habe sagen wollen, erhält man regelmäßig eine Belehrung über das unbewusste Gemüt. Und wenn man hierauf zaghaft bemerkt, dass nach menschlichem Wissen noch kein Gemüt in bewusstlosem Zustand ein Kunstwerk verfertigt habe, auch dass sich über das Unbewusste füglich doch wohl nichts wissen lasse, dann wird man mit neuen Fremdwörtern heimgeschickt. Vornehmlich die Wörter »Instinkt« und »Genie« spielen da eine kräftige Rolle; und wenn der Deutsche mit wuchtigster Schlagkraft auf die Tiefe seines Gemüts pochen will, dann spricht er das Wort »Naturgenie« aus. Bleibt dem Instinkt des erschütterten, teils ganz naiven, teils mehr als naiven, teils nicht ganz naiven Fragestellers anheim gestellt, ob er sich für ein schlechtweg natürliches oder ein etwas Übernatürliches oder ein ziemlich unnatürliches Naturgenie ästimieren [würdigen] soll. Denn sein bisschen Talent steht ja außer Zweifel; nur scheint es ein wenig zu kultiviert, sonst würden jene wohlmeinenden Leute doch wohl nicht um seine Natürlichkeit hadern.

Merkwürdigerweise kann aber kein Künstler umhin, sein Talent nach Kräften zu kultivieren; und manches Genie, das mancher Kunstfreund für nicht ganz stark genug erklärt, weil es leider nicht naiv genug sei, ist manchem ebenso klugen Gönner bloß leider nicht kultiviert genug. Also kam ich eines Tages auf die Vermutung, dass jenes rätselhafte Fremdwort wohl etwas Anderes besagen müsse als den so genannten genialen Instinkt, diesen angeblich unbewussten Naturtrieb, der doch so sonderbar selbstbewusst auftritt, so eigensinnig in sich befangen; und ich suchte mir auf gut Deutsch zu sagen, was denn »naiv« klipp und klar bedeute.

Da fiel mir zunächst ein: unbefangen. Dann: unwillkürlich, triebhaft, ursprünglich, urwüchsig, freimütig, unverstellt, ungezwungen. Dann ungekünstelt, ungelehrt, unberechnet, unverbildet, unverdorben, unschuldig, treuherzig, harmlos, bieder, gesund, frisch, lauter, wahrhaftig, schlicht, gemeinverständlich, einfach, einfältig; aber da kam ich schon in die Brüche. Einfältig: das konnte ganz nach Belieben »tumb« im guten altdeutschen Sinne oder »dumm« im neudeutschen schlechten bedeuten, konnte kindisch sowohl wie kindlich heißen, unvernünftig wie unvernünftelt. Und freimütig, unverstellt, wahrhaftig: kann das nicht unverschämt und frech, ungeschlacht, grob und plump erscheinen? Unwillkürlich: ist das nicht unter Umständen richtiger unfreiwillig zu nennen, in einem recht lächerlichen Sinne? Unberechnet richtiger unüberlegt, unbesonnen? Hat nicht jegliches Tun etwas Triebhaftes, auch die durchtriebenste Künstelei?! Wird nicht gemeinverständlich und schlicht genannt, was oft schlechterdings nur gemeinplätzig ist! Kann das Unge¬künstelte nicht das Kunstlose sein, und das Kunstlose das Unkünstlerische! Und der Unverbildete: ist er nicht meistens — oder der Biedermann wohl stets — auch ungebildet, ungesittet, ungeschickt, unfein, täppisch, verlegen, also durchaus nicht ungezwungen, sondern eher verbohrt, beschränkt, befangen! etwa was die Franzosen béte titulieren.

Das Alles also, sagte ich mir, kann hinter dem Naiven stecken. Ich war ausgegangen von unbefangen und war bei befangen angelangt; das grenzte doch arg ans bewusste Unbewusste. Ich war naiv genug gewesen, meinen gesunden Menschenverstand zu befragen, und war anscheinend auch noch naiv genug, mich nun von ihm genarrt zu fühlen; ich kam mir ein bisschen als deutscher Michel vor. Natürlich begann mein Instinkt nun erst recht nach der Erkenntnis zu begehren, bis zu welchem Grad ein Genie sich erlauben darf, naiv zu sein oder aber zu bleiben; denn es könnte ihm ja der Kulturberuf obliegen, oder vielleicht sogar der Naturberuf, sich selber gewisse Naivitäten um des menschlichen Selbstbewusstseins willen vernünftigerweise abzugewöhnen. Und da ich mich trotzdem, wie gesagt, von meiner bewussten Vernunft genasführt fühlte, so musste ich wohl oder übel nun doch versuchen, das Unbewusste zu Rate zu ziehen.
Also beschloss ich, auf spiritistischem Wege ein von der kultivierten Menschheit offiziell als naiv anerkanntes Genie aus der Geisterwelt herbei zu zitieren, sei es nun aus der Unterwelt oder aus einer Überwelt. Am liebsten hätte ich selbstverständlich den Vater Homer heraufbeschworen; aber der war schon so lange tot, dass womöglich auch sein Geist nicht mehr lebte oder sich schon in irgendeine unerreichbare Welt verflüchtigt hatte. Wer blieb da übrig als der Altmeister Goethe, der von sämtlichen deutschen Professoren als das Non-plus-ultra moderner Naivität wie klassischer Kultur deklariert war, überhaupt als ein Muster an Harmonie; bei Shakespeare war die schon zweifelhaft. Also ließ ich mir den Geist Goethe kommen.

Es ist das bei weitem nicht so schwierig, wie man gemeinhin zu meinen geneigt ist. Man braucht nur ein gewisses Wissen von einem solchen Geist zu besitzen, wenigstens dem Namen nach, dann ist man bereits besessen von ihm; man braucht dann dies Wissen nur zu vergessen, d. h. das Bewusstsein dieses Wissens, so dass nur das Unterbewusstsein noch weiß, von welchem geistigen Überbewusstsein man selbstvergessen besessen ist, und dann lässt man sozusagen im Schlaf diesen überbewussten Geist aus sich reden, der dadurch natürlich vollkommen erwacht. Die Wissenschaft nennt das Somnambulismus oder autosuggestive Hypnose und lässt es gewöhnlich durch ein Medium hysterischen Charakters besorgen. Das ist aber erstens sehr umständlich, denn man muss dem Medium immer erst die zweckentsprechende Suggestion zur Autosuggestion beibringen; zweitens auch sehr unzuverlässig, denn das Medium — naiv wie es ist verwechselt leicht sein hysterisches Unterbewusstsein mit dem genialen Überbewusstsein und schwindelt dann dummes Zeug zusammen; drittens auch noch recht kostspielig von wegen der Nervenheilanstalten. Man kommt bequemer. besser und billiger weg, wenn man sich selber auf einige Zeit seines Selbstbewusstseins im Geiste entäußert; nötigenfalls durch etwas Weingeist. Man darf dabei nur nicht unterlassen, die Autosuggestion darauf einzurichten, dass man sich an die Äußerungen seiner geistvollen Selbstentäußerung nachträglich noch zu erinnern vermag.

Das tat ich denn auch und merkte alsbald, wie sich Goethens Geist auf mich niederließ. Oder vielmehr: zu mir herabließ. Denn er schwebte vor mir in einem solennen [festlichen] bis an die Krawatte zugeknöpften, goldgestickten Ministerfrack, mit einem großen Stern auf der Brust, und ließ ein höchst unwirsches Räuspern vernehmen. Ich, tief benommen, räuspre mich gleichfalls. Darauf

ER, mit gänzlich tonloser Stimme: Ich bin zur Stelle; was wünschen Sie?

ICH, mit ganz ebenso tonloser Stimme: Euer Exzellenz wollen gütigst verzeihen, dass ich mir so im Geist unterstehe, Ihre erhabene Ruhe zu stören. Aber es handelt sich um die Entscheidung einer ungemein bedeutenden Frage, nämlich ob die geniale Natur eine im Sinne Euer Exzellenz wie der übrigen Wirklichen Geheimen Räte der ewig bildungsbeflissenen Menschheit harmonische Kultur zu erlangen vermag, sobald sie nur ihren produktiven Instinkt, speziell das poetische Talent, völlig naiv gewähren lässt.

ER, merklich seinen Unmut bezähmend: Da müssen Sie unsern höchst schätzbaren Freund, den Herrn Hofrat Professor v. Schiller befragen.

ICH:
Euer Exzellenz wollen gütigst glauben, dass ich des Herrn v. Schiller unsterbliche Werke, insbesondere seinen berühmten Traktat über naive und sentimentalische Dichtung, mit meinen bewussten Geisteskräften fast ebenso sorgfältig durchstudiert habe wie Euer Exzellenz eigene Schriften. Allein ich hoffe mir unbewusst eine klarere Aufklärung zu erwirken, als ich aus diesen Erzeugnissen eines weiland vernünftigen Seelenlebens zeitweilig zu gewinnen vermochte. Denn es werden in gegenwärtiger Zeit, was Euer Exzellenz verewigtem Geist vermutlich nicht bewusst sein wird, die Begriffe »naiv« und »sentimental« nicht mehr so gegensätzlich empfunden, wie Herr Professor Schiller sie nahm. Vielmehr erscheint den Geistern von heute diese heftige Gegeneinanderstellung als triebhafter Ausdruck einer Zeit, die ungleich gefühlvoller war als die jetzige und deshalb auf eine heilsame Selbstzucht wider ihre Empfindsamkeit überaus scharf bedacht sein musste. Jetzt ist als Gegensatz zum Naiven eher das Raffinierte verrufen, das Problematische, Mystische, Kapriziöse, Preziöse, Bizarre, Ironische; und wo der Herr Hofrat v. Schiller beinahe geneigt war, das Graziöse für das Naive zu nehmen, wird heute von manchem höchst trefflichen Volkserzieher das Brutale an dessen Statt geschätzt.

ER,
etwas weniger an sich haltend: Es scheint, die Begriffsverwirrung in Deutschland ist bis zur trübesten Gärung gediehen.

ICH: In der Tat befinden sich seit Jahrzehnten alle Begriffe in solcher Gärung, dass gemäß den natürlichen Bildungsgesetzen wohl endlich die Klärung eintreten wird. Euer Exzellenz dürfen überzeugt sein, dass dieser gedeihliche Prozess, der nach Meinung der vorgeschrittensten Geister von Exzellenz selber inauguriert [Leben gerufen] ist, zugleich auch den unterbewussten Beweggrund meines überbewussten Anliegens bildet. Es kann sich wohl Niemand mehr verhehlen, dass Herrn v. Schillers gestrenge Begriffsscheidung, so sehr sie auf wirklichen Unterschieden zwischen gewissen Kunstwerken ruht, ihre ausschließende Geltung einbüßt, sobald sie auf die volle Natur eines ganzen Künstlers bezogen wird. Wie Exzellenz selbst schon in den Gesprächen mit dem jungen Herrn Eckermann bemerkten, dass keinerlei sentimentale Dichtung irgendwelchen Bestand haben kann, die nicht aus einem naiven Gefühlsgrund gleichsam hervorgewachsen ist, so durfte auch kein im Sinne Schillers naiver Dichter zu finden sein, der ohne sentimentalische Mitgift ein menschliches Herz zu erobern vermochte. Weswegen denn Schillers sentimentalstes Gedicht — »seid umschlungen, Millionen« — heute für sein naivstes gilt, manchem Kenner sogar für allzu naiv; und dass bei Homer die Pferde weinen, gar aus Trauer um den Tod eines Menschen, das ist eine solche Naivität, wie kein moderner Poet verlautbaren dürfte, ohne von sämtlichen Rezensenten als ein lächerlich hypersentimentaler Naturverfälscher gebrandmarkt zu werden.

ER, immer mehr aus seiner Zurückhaltung tretend: Also erfrecht der gemeine Verstand sich bereits, den griechischen Edelmut zu bekritteln?

ICH: Der kritische Disput um die Griechen ist allerdings im letzten Jahrhundert dermaßen gemeinverständlich geworden, dass ihre überaus edle Gemütsart nun den weitesten Kreisen zur Kenntnis liegt und mehr denn jemals gepriesen wird. Aber zugleich ist bekannt geworden, dass die Antike zu keiner Zeit so idealiter naiv war, wie Herr Professor Schiller noch mutmaßen durfte, dass insbesondere neben Homer der Dichter Archilochos gleich hochgeschätzt war, den man nach aller Forschung durchaus für einen Sentimentaliker ansprechen muss, einen elegischen Ironiker vom dämonischen Schlage des Lords Byron, des erlauchten Freundes Euer Exzellenz. Auch hat sich bestätigt, was Exzellenz ahnten, dass nämlich der Dichter, der die Balladen der homerischen Tradition in die zwei großen Epen organisierte, kein plötzlich emporgeschossener Sprössling eines kindlich urwüchsigen Zeitalters war, sondern der langsam gereifte Früchtling einer freilich noch primitiven, aber schon äußerst regulierten Kultur. Und wer den Homer einmal daraufhin lesen will, wie deutlich in seinem epischen Kosmos menschliche Ordnung und göttliche Willkür allenthalben kontrastiert sind, der wird auch bei diesem beschaulichen Ahnherrn ein gut Teil Ironie entdecken und denselben merkwürdigen Hintersinn gegen eine verblühte Naturreligion zu Gunsten neu keimender Humanität, der einige Jahrhunderte später in den Tragödien des Äschylos mit sentimentalster Leidenschaft auftrotzt. Ist das nun bloß naiver Instinkt, oder ist es intelligente Tendenz? Spricht nicht aus allen Konflikten der Griechen ein problematischer Anfklärungskampf um Freiheit und Gerechtigkeit, der sich schließlich bei Euripides zum raffiniertesten Pathos zuspitzt und zugleich bei Aristophanes zur kapriziösesten Persiflage?

ER, sichtlich zur Erwägung geneigt: Im Ernst eine ungemeine Frage. Und da denn alles Ungemeine auch allgemeine Bedeutung hat, verlohnt sich wohl eine ernste Betrachtung.

ICH: Haben Euer Exzellenz annehmen können, ich wollte mir zum Spaß unterstehen, Ihren verewigten Geist zu zitieren?

ER, mit gelassener Laune lächelnd: Ich habe den Mephisto geschrieben —

ICH: Und wenn ich Exzellenz recht verstehe, haben Sie dennoch auch den Faust schreiben können, samt Gretchen und dem Famulus Wagner, und die Einen so naiv wie die Andern —

ER, von unendlicher Heiterkeit leuchtend: Wie bereits unser höchst vortrefflicher Schiller zu seiner naivsten Verwunderung wahrnahm.

ICH: Aber was ist alsdann das Naive, wenn es weder das Sentimentalische noch auch das Problematische ausschließt? Und wie verträgt sich das Raffinierte damit?

ER, von erhabenstem Wohlwollen strahlend: Wie sich Alles in der Natur verträgt, was mit reinem Willen ein Ganzes fördert. Wie denn auch Einfalt gern die Berechnung heranzieht, sobald sich der natürliche Sinn in Hinsicht auf sein Gesamtbefinden nur irgend Vorteil davon verspricht, ob das der kultivierte Geist nun Bauernschlauheit oder Indianerlist schilt. Und wenn in objektivem Betracht das Naive das durchaus Klare ist, in subjektivem das Lautere, wie sollte es dann mit dem Raffinierten, das doch auf Deutsch sowohl das Geläuterte wie auch das Abgeklärte heißt, nicht rein und willig zusammenwirken!

ICH: Inzwischen hat freilich das Raffinierte einen übeln Nebensinn angenommen und heißt jetzt eher das Abgefeimte, Durchtriebene, Geriebene.

ER, mit erheblicher Ungeduld: So mag es denn auch noch ausgefeimt heißen, sofern es nur nicht betrüglich ist!

ICH: Doch scheint mir dies alles zwar unzweideutig das Naive der Natur zu bezeichnen, aber noch nicht das Naive der Kunst; während doch die geniale Natur, wenn anders mein unterbewusster Verstand meine überbewusste Vernunft nicht betrügt. Beides in sich vereinigen und irgend wodurch bemessen muss, um harmonisch und kulturell zu wirken. Denn etwa zu sagen, dass jeder Künstler auf seine besondere Art naiv sei, das würde doch fast schon nichts sagend sein.

ER, den obersten Knopf seines Frackes lüftend: Da dürfte denn wohl das Problema stecken. Indessen war es nie meine Art, mich mit abstrakten Spekulationen um widerspruchsvolle Begriffe zu plagen; wir wollen lieber ein Beispiel betrachten, das auf das Naive ein zwiefaches Licht wirft. Es ist da unlängst in der Geisterwelt ein Herr Professor Nietzsche erschienen, der mir mit überaus gütigem Eifer eine Aufmerksamkeit erweisen wollte, indem zuvörderst auf die Autoren des Neuen Testamentes schmähte, dann über Martin Luther herzog und zuletzt auch meinen Freund Schiller angriff, und dies in einem höchst würdigen Stil, der sich teils an dem Evangelisten Johannes, teils an dem Apokalyptiker, mehr noch vielleicht am Apostel Paulus, doch zumeist an Luther gebildet hatte, und mit einem äußerst gewaltigen Pathos, das mich stark an den jüngeren Schiller gemahnte. Das, mein werter Herr Doktor, sehen Sie wohl: das war in beidem Betracht naiv, und war zugleich doch raffiniert.

ICH: Wenn es nicht etwa allzu naiv war. Denn es dünkt mich eine Art Selbstbetrug, war also vielleicht nicht genug raffiniert.

ER, die rechte Hand in den Busen steckend: Ich sehe, Herr Doktor, mein werter Freund Nietzsche hat mich außerdem auch noch trefflich berichtet, indem er mir von der Eindringlichkeit gewisser neuester Dichter sprach. Indessen muss wohl alles Naive in einer Art Selbstbetrug beruhen, ohne welche der Anschein entstehen würde, als wolle der welterfahrene Künstler mit seiner Einbildung Andre betrügen. Wie denn auch schon dem kindlichen Spiel eine Lust zur Verstellung innewohnt, die jeder Erwachsene leicht durchschaut, doch welche ihn umso reizender anmutet, je inniger sich die kindliche Seele über diese ihre Schauspielerei in eine artige Täuschung wiegt. Nur ist freilich das Reizende nicht das Bedeutende.

ICH: So müsste denn wohl das höchste Genie, insofern es die klarste Erfahrung bedeutet, über solchen naiven Selbstbetrug in jedem Betracht erhaben sein, ob nun geläutert durch Kultur, ob aus natürlicher Lauterkeit.

ER, mit entschiedener Ablehnung: Ich weiß von keinem höchsten Genie! Ich weiß nur von einigen würdigen Geistern, die jeder in seiner Art sich bestrebten, irgend ein Hohes heranzubilden. Wer aber vollkommen erhaben wäre, der dürfte sich wohl erst recht so gefallen, wie die Natur ihn gebildet hat, und sogar auch seine Verblendungen mit ähnlichem Gleichmut in Vogelschau nehmen wie Napoleon auf Sankt-Helena.

ICH: Doch ist mir an Kunstwerken aufgefallen, dass grade die bedeutendsten Künstler diese Art Selbstanschauung nicht pflegten, vielmehr nach einer freien Klarheit über das menschliche Innere strebten, die den blinden Trieb der naiven Natur zum mindesten einschränkt, wenn nicht ausschließt.

ER, mit gemessener Zustimmung: Es könnte sein, dass der blinde Naturtrieb durch Künstlergeist sehend werden möchte.

ICH: Jedenfalls kann alsdann das Naive nicht den Wert der genialen Natur ausmachen. Sonst müsste, scheint mir, ein Burns einen Byron, ein Claudius einen Goethe aufwiegen.

ER,
die Hand aus dem Busen nehmend: Ich muss bitten, mein sehr werter Herr Dehmel, das Persönliche aus dem Spiele zu lassen.

ICH: Doch wird ein erhabener Geist mir nicht wehren, nur des Beispiels halber noch zu bemerken, dass auch bei den anderen hohen Persönlichkeiten der vornehmsten Kulturnationen — bei Sophokles wie bei Kalidasa, bei Dante wie Calderon, Shakespeare wie Rabelais, Cervantes wie Swift; Leonardo wie Dürer, Michelangelo wie Rubens wie Rembrandt, Palestrina wie Bach wie Mozart wie Beethoven — das Naive überall höchstens die Rolle des rührigen Mägdleins im Königsschloss spielt wo nicht bloß des handlichen Prügelknaben, und meistens zu gar keinem Vorschein tritt; wohingegen es sich bei vielen sehr reizenden, jedoch nicht eben bedeutenden Künstlern mit breitestem Behagen ergeht und oft ihr ganzes Gedinge beherrscht. Allein den einzigen Vater Homer nennt man immer wieder als Gegenbeispiel, indessen wohl lediglich aus dem Grunde, weil die patriarchalen Kulturprobleme, um die sich die naiven Konflikte seiner merkwürdig sinnreichen Helden drehen, der heutigen Menschheit nichts mehr bedeuten und deshalb gern übersehen werden. Es musste auch, deucht mir, um die Menschheit unglaublich widersinnig bestellt sein, wenn grade die stärksten Künstlerseelen, die doch von dem ewig währenden Kampf zwischen Menschenvernunft und blindem Naturtrieb am allerheftigsten mitbewegt werden, ihre Kraft an ein kindlich einfältiges Spiel der trüglichen Sinne verschwenden sollten, anstatt mit männlichem Eigenwillen einen redlichen Ausgleich jener Zwiespältigkeit wenigstens zeitweilig zu erwirken. Oder denkt ein hoher Geist anders darüber?

ER, das zweite Knopfloch des Frackes öffnend: Sie sind sich offenbar nicht bewusst, dass aller zeitweilige Wert eines Kunstwerkes dessen dauernde Fortwirkung nicht erklärt, dass folglich nach vernünftiger Schätzung sein löblicher Inhalt an Kultur dem natürlichen Gehalt wohl beigeordnet, jedoch nicht übergeordnet werden kann.

ICH: Ich befinde mich allerdings zur Zeit in einer Art unbewusstem Zustand; und ich weiß nicht, ist es unterbewusste oder überbewusste Sinnentäuschung, dass ein deutscher Klassiker hier so romantisch redet?!

ER, befremdet: Was für ein Klassiker?

ICH: Dessen Geist mir soeben erst gebot, das Persönliche aus dem Spiele zu lassen; wohl weil es das vollauf Natürliche ist.

ER, aufs höchste erstaunt: Ich ein Klassiker??

ICH: Von der ganzen Nation heute so genannt! Sollte das in der Geisterwelt unbekannt sein?

ER, mit Mühe seinen Verdruss beherrschend: Da habe ich nun den deutschen Barbaren zeit meines Lebens ins Ohr geblasen, dass klassische Nationalautoren in Deutschland ein Ding der Unmöglichkeit sind, solange sich dieses unglückselig zerstreute und zerfahrene Volk nicht in allen Stücken zu einer soliden nationalen Kultur gesammelt hat; habe wieder und wieder nachgewiesen, dass inzwischen das originale Talent nur auf internationaler Basis eine sichere Haltung gewinnen könne, dass überhaupt die Epoche der Weltliteratur die einzige übrige Möglichkeit für eine glückliche Bildung sei; und nun kommt diese widerspruchsvolle Horde literarischer Sanskülotten, die mich ehemals an den Schandpfahl wünschte, und will mich zu ihrem Klassiker stempeln! Als ob durch solchen armseligen Selbstbetrug nur irgend ein Wahres gefördert würde!

ICH: Das ist freilich naiv; doch hat sich Deutschland —

ER,
ohne Achtsamkeit weiterwetternd: Da habe ich mich von Jugend auf durch tausend ungereimte Begriffe und widrig abstrakte Meditationen zu einiger Klarheit hindurchplagen müssen; und statt wahrhafte Anerkennung zu finden, muss ich hier die reizende Botschaft vernehmen, dass ich eitler Prahlhansigkeit zum Deckschild diene! Das ist äußerst unerfreulich, Herr Doktor.

ICH:
Euer Exzellenz haben zwar vorhin beliebt, ein Gegenteiliges auszusprechen; indessen konnte das Widerspruchsvolle, obwohl es gewiss nicht das Wahre ist, doch grade das eigentlich Wahrhafte sein.

ER, merklich betroffen: Wie meinen Sie das?

ICH: Wenn Exzellenz sich nicht leider verbeten hätten, Ihr Persönliches zu berühren —

ER, an dem untersten Frackknopf nestelnd: Es hat mich von jeher nur wohl berührt, wenn mir Jemand gehörig die Wahrheit sagte; das will heißen, mit dem gehörigen Anstand.

ICH:
Nun, der Name Goethe gilt eben heute als Inbegriff deutschen Strebens nach Bildung, nach innerer Sammlung zu äußerer Einheit, nach einer persönlichen Harmonie mit dem sozialen Kulturinstinkt.

ER, mit vollständig aufgeknöpftem Frack: Man rede mir nur nicht von Harmonie, bevor man nicht alle Dissonanzen vernommen und begriffen hat!

ICH: Man hat sie alle so fleißig begriffen, dass heute im neuen Deutschen Reich kein Skribifax [Schreiberling] zu finden sein dürfte, der seinen absurdesten Feuilletonwitz wie seine banalste Kathederweisheit nicht mit irgend einem beiläufigen Satz aus Goethes widerspruchsvollen Schriften belegt und sich feierlich auf das Genie beruft.

ER, mit einer Miene leid voller Dumpfheit: So hat man mich eben schlecht begriffen.

ICH: Oder vielleicht nur gar zu gut, nämlich ein wenig zu naiv.

ER, erleichtert, mit einem belustigten Lächeln: Sie scheinen mir recht raffiniert, mein wertester Freund.

ICH: Oh, mein teuerster Gönner, auch ich bin ein Deutscher. Denn inzwischen hat sich unser Volk immerhin doch auf einen gewissen Grad politischer Einheit zu¬sammengerafft; und wenn dennoch seine soziale Kultur so zerstückelt wie jemals geblieben ist, so blickt drum jeder Gebildete, und mehr noch der Bildungsbedürftige, mit naivster Ehrfurcht auf eine Persönlichkeit, die — ob sie im Einzelnen noch so triebhaft von natürlichen Dissonanzen bewegt war — doch im Ganzen als ein beharrliches Vorbild für den nicht minder natürlichen Trieb nach harmonischer Kultur vor der Welt steht. Das aber, scheint mir, ist eben die Wirkung, die von jedem erhabenen Künstler ausgeht und allen erhebenden Kunstwerken beiwohnt. Mag der Bildungsstand, den sie enthalten, ein überall zeitlich bedingter sein, so ist doch der ewige Fortbildungstrieb, der diesen Inhalt zusammenhält, ein unbedingt Natürliches, ein allgemein menschlich Notwendiges, von innerstem Grund aus Wirksames, über Zeit und Volk hinaus Wertvolles. Und ein solcher Wert, so mysteriös und problematisch er immer ist, wird denn doch wohl selbst dem löblichst naiven Spieltriebe überzuordnen sein, der sich an seinem jeweiligen Zustand trüglich—vergnüglich genügen lässt. Was den Zeitgenossen wie bloßes Stückwerk eines widerspruchsvollen Geistes deuchte, wird der strebsamen Nachwelt den vollen Gehalt einer wahrhaftigen Seele bedeuten, zumal da noch niemals eine Nation ihre jeweils erreichte eigne Kultur für vollkommen harmonisch befunden hat und wohl auch niemals befinden wird, so wenig wie der einzelne Mensch, am wenigsten aber der geniale. Sollte dies nicht, so wahrhaft menschlich es ist, doch vielleicht auch ein göttlich Wahres sein?

ER,
mit hellstem Lächeln: So sei es denn! — Nur gebe man auch dem Teufel sein Recht; und der war von jeher ein dummer Teufel.

ICH: In welchem Sinne soll ich das nehmen?

ER, schalkhaft nickend: In keinem Sinne! Wohl aber in einem gewissen Verstande, der sich verteufelt betriebsam zeigt und den edelsten Bildungstrieb ausarten macht, sofern er nicht im Naiven wurzelt. Man hüte sich vor der Reflexion, die den Wurzelboden zerwühlt wie ein Maulwurf!

ICH:
So sollte es wirklich das Nachdenken sein, wodurch das ursprüngliche Gefühl, das jeden Künstler zum Werke treibt, zuweilen so unhold befangen wird, dass ein Unwirksames daraus entsteht?

ER,
immer noch schalkhaft: So könnte es sein.

ICH: Indessen ist mir von einem Dichter, der heute für den naivsten gilt, weil erst Wenige seine originellere, höchst ironische Bedeutung hinlänglich schätzen, von meinem Freunde dem Freiherrn von Liliencron, zu öfteren Malen anvertraut worden, dass er gründlichst über sein Dichten nachdenkt. Ja, ich weiß von einem seiner Gedichte, worin das gewiss recht naive Gefühl einer starken Betrunkenheit dargestellt ist, dass er es sieben Jahre lang in Gedanken herumgetragen hat, bevor es ihm reif zur Abfassung war.

ER, ernsthaft: Dergleichen geschah auch mir oft genug, und wird wohl jedem Dichter geschehen. Nur verkenne man nicht, dass es Zweierlei ist, über Gefühle nachzu¬denken oder über die Darstellung von Gefühlen! Das Eine ist die Reflexion des ästhetisierenden Philosophen, das Andre die technische Logik des Künstlers. Die mag und soll er nach Kräften üben; nur behüte ihn eine fromme Scheu, jene Kraft holdseliger Dumpfheit zu stören, womit sich die Seele den Sinnen hingibt, und wodurch zuweilen ein klares Gebilde so rasch aus dem willigen Geiste hervorspringt wie die Pallas aus dem Haupte des Zeus. Er verharre in seinem bewusstlosen Drange, bis sich das klügelnde Bewusstsein dem sinnreichen Willen unterwirft.

ICH:
Also sollte wirklich der Dichter des Faust, des Tasso und der Iphigenie, des Werthers und des Wilhelm Meisters, von den Wahlverwandtschaften nicht zu reden, nie über Wesen und Art der Gefühle, ihren Wert und Unwert nachgedacht haben? Und wo hängt die Wage zwischen Sinn und Verstand, zwischen Klugheit und Klügelei, zwischen künstlerischer und menschlicher Weisheit, zwischen Geist und Vernunft, zwischen Dichtung und Wahrheit?

ER, scheu, wie vor sich selbst erschauernd: Bei den Müttern — —

ICH: Noch aber ragen leuchtend in den Äther die Marmorhäupter der verklärten Väter...

ER, frostig wehrend: Dies Licht ist kalt.

ICH: Und sollte allein die dunkle Wärme dem Wachstum des Geistes gedeihlich sein?

ER, das unterste Knopfloch wieder schließend: Doch wird kein Geist die Grenze entdecken. wo Licht und Dunkel einander durchdringen.

ICH: Sollte nicht eben des Künstlers Geist diese Grenze wieder und wieder entdecken? Sollte jenes geisterhaft kalte Licht, das wie ein unfassbarer Eishauch jedem bedeutenden Kunstwerk entstrahlt, nicht grade das Offenbarende sein, das den dumpfen Stoff erst zum klaren Gebilde, die drangvolle Glut erst zur schaffenden Wärme läutert? Und mag immerhin das Unbewusste der unergründliche Mutterboden aller schöpferischen Fülle sein, was tut das über den Künstler dar, über Art und Wert seiner Fähigkeit? Entspringt nicht jegliches menschliche Schaffen, ja die alltäglich gewöhnlichste Arbeit, aus solchem geheimnisvollen Antrieb, trotz allem ästhetischen Abergeschwätz?! Klopft doch sogar der geringste Schuster das Leder mit einer bewusstlosen Kraft; nur wird eben ein schlechter Schuh daraus, sobald er es nicht zugleich recht bewusst über den passenden Leisten schlägt.

ER, mit gleichgültigem Achselzucken: Es würde wohl auch kein guter Schuh werden, wenn der schlechte Schuster bewusster drauflos schläge.

ICH: Wenn er besser Bescheid ums Zuschlagen wüsste, wäre er dann nicht ein besserer Schuster?! Und um wieviel mehr erst der sinnreiche Künstler, der unzählige einzelne Schlagfertigkeiten auf ein bedeutendes Ganzes veranschlagt! Mag er durch Übung so sicher geworden sein, dass er in rascher Entschiedenheit kaum noch um all seine Kunstgriffe weiß; aber was lenkte ihn bei der Übung, was sichert seinem Griff die Bestimmtheit, wenn nicht der herrschende Gedanke, der all die beliebigen Bildgefühle auf irgend ein sinnvoll Notwendiges richtet! Liegt da nicht einfach die Folgerung nahe, dass sich jeder Künstler und sonstige Schöpfer vor andern Menschen nur dadurch auszeichnet, in welcher Art und in welchem Umfang das bisher Unbewusste bei ihm bewusst wird! Warum gelingt keinem unreifen Künstler ein Werk von wahrhaft voller Bedeutung, wohl aber manchem Wunderkind manch allerliebstes reizendes Ding von wirklicher Vollkommenheit? Ich glaube, weil sein Geist noch nicht ausgebildet, sein Gemüt aber schon durch geistige Erbschaft für klare Gefühle vorgebildet ist. Da mag ihm denn in holdseliger Dumpfheit auch wohl einmal etwas Sinniges glücken, das er höchst naiv seinem eigensten, bloß so genannten Mutterwitz zuschreibt; ist aber in Wahrheit Väterweisheit, tiefst raffiniert im Liebeskampf mit der gern empfänglichen Mutter Natur.

ER, halb gelangweilt, halb gereizt: In diesem Verstande könnte es hingehen. Nur erspare alsdann die brave Vernunft sich erst recht die überflüssige Mühe, dem Gemüt in sein Tiefstes dreinzureden! Mag der Gedanke sich hinter das Sinnliche stecken, damit jedes scheinhaft Einzelne planvoll aufs ganze Wesen deutet; aber er macht sich unerträglich, sobald er die Gefühle belästigt, die dieses Ganze tragen und halten.

ICH: Da scheint es mir schwach um Gefühle bestellt, die keinen starken Gedanken aushalten. Bei Shakespeare strotzt selbst der Narr von Gedanken.

ER, ganz gereizt: In der Tat, er strotzt! Das dürfte denn wohl das Närrische sein.

ICH: Und der weise Hamlet, der doch nur halb ein Narr ist? hängt nicht sein ganzes Gefühl von Gedanken ab? Ja, ich getraue mich nachzuweisen, dass das gesamte Kunstwerk »Hamlet« auf einem bestimmten Gedankengrund steht, um den der Dichter gewusst haben muss.

ER,
stutzig: Da wäre ich aber wahrlich gespannt. Sie sind überaus eigensinnig, Herr Doktor!

ICH:
Nur in Euer Exzellenz eigenem Sinne. Denn wie Exzellenz selbst einmal kommentierten, wollte Shakespeare hier eine Seele schildern, die eine große notwendige Tat pflichtbewusst auf sich nehmen will, ohne der Tat gewachsen zu sein; kurz, einen edelmütigen Menschen, der nur leider Gottes durchaus kein Held ist. Nun liegt es jedoch, wie Exzellenz gleichfalls und mehr als einmal dargelegt haben, nicht im Wesen des bedeutenden Dichters, ein lediglich Negatives zu zeigen; wenn sich also das Positive hier nicht in dem so genannten Helden des Dramas findet, muss man es wohl in dem Drama selbst, d. h. in dem Ausgleich der andern Personen mit dem unheldischen Helden suchen. Und in der Tat sehen wir jeden Charakter, der neben Hamlet die Handlung fördert, auf diese Er¬gänzung hin angelegt: zu Anfang den Geist des heldischen Vaters, zum Schluss den lebendigen Helden Fortinbras, in der Mitte den verbrecherischen Dreiviertelshelden Claudius, den echten Mann Horatio, das unreife Übermännlein Laertes, und als den Nullpunkt für diese ganze Skala positiver Energie den wohlweisen Schwächling Polonius, gegen welchen selbst der passive Hamlet zu einem gewissen Grade aktiv wirkt. Da muss sich denn wohl der Gedanke aufdrängen, der Dichter habe in dieser Tragödie das dem vornehmen Sinn seiner Zeit gemäße Problem der heroischen Tendenz vom Grunde aus behandeln wollen, nach Art wie Abart, Wert wie Unwert, zumal wenn wir auch seine anderen Werke auf solche seinen Zeitgenossen erbauliche Grundgedanken gestellt sehen, auf die Probleme des Aristokratismus, Nationalismus und Humanismus, von den psychologischen ganz zu schweigen. Nur war er freilich raffinierter Künstler genug, uns derlei interessante Tendenzen nicht mit solchem naiven Pathos ins urteilslose Gemüt zu schleudern, wie dem populären Genie unsers Schillers beliebte; sondern als feinerer Menschenkenner — sehr oft bis zum Zynismus fein — blieb er sich überall bewusst, dass diese geistigen Rätselfragen die Seele umso nachhaltiger fesseln, je unlöslicher sie dem Verstande scheinen, verfädelt unter ein buntes Gewebe von dunkeln und hellen, dumpfen und klaren Gefühls- und Sinnestäuschungen. Mag es schon halbwegs echte Verrücktheit sein, wenn man wie Hamlet Wahnsinn heuchelt. so wäre es sicherlich ganzer Irrsinn, wollten wir drum auch dem Dichter zutrauen, er habe sich ebenso selbstbetrogen und nicht vielmehr genau gewusst, warum er uns über diesen Zustand seines problematischen Prinzen in deutungsvollem Dunkel lässt. Sollte er das nicht einfach gewollt haben, um uns recht sinnfällig anzudeuten, wie durch einen launenhaft unklaren Willen selbst die klarste Vernunft der edelsten Seele in grausige Unvernunft zu entarten droht?!

ER, wieder die Hand in den Busen steckend: Ich sehe, mein Freund, Sie verstehen es, eine Sache von vielen Seiten zu nehmen. Und freilich tut es, wie im Leben, so auch in der Kunst unter Umständen gut, wenn man Andere über sein Innerstes täuscht. Doch was einem Geist wie Shakespeare bewusst war, ohne dass es ihm Schaden tat, könnte minder kräftige Geister behindern, ihre Gefühle wirksam von sich zu geben.

ICH: Es wäre wohl kein sehr schlimmer Schaden, wenigstens nicht für andere Leute, wenn solche Geister ihre Gefühle ganz und gar für sich behielten.

ER, mit ergötztestem Behagen: Das war äußerst naiv geurteilt, mein Teurer!

ICH: Wenn man sieht, wie sogar der simple Homer gegen den naiv brutalen Achilleus den raffiniert dolosen [arglistigen] Odysseus ausspielt, wie er diesen Kontrast zwischen Intelligenz und Instinkt noch mit allerlei Parallelpersonen durch beide Epen hindurch unterstreicht, vom rasenden Ajax und weisen Nestor bis zum ochsenhaft rohen Polyphem und hündisch verschlagenen Thesites, von den tolldreisten Lustweibern Helena und Circe bis zu den sittig klugen Frauen Andromache und Penelope: kann da irgend ein geistvoller Kopf noch glauben, das sei alles bloß aus bewusstlosem Drange so auf gut Glück zusammengedichtet?

ER, sichtlich des trockenen Tones satt: Credo quia absurdum est. [Ich glaube, weil es widersinnig ist]

ICH: In der Tat, dieses mystische Mäntelchen um den Busen des gottbegnadeten Sängers rührt wohl noch aus den dunkeln Zeiten her, wo sich der Dichter in Einer Person mit dem Priester oder König zusammenbefand. Da musste der Volksredner, der er war, wohl nolens volens [nichtwollend wollend] darauf bedacht sein, die Menge durch einiges Zauberwesen in ein dumpfes Staunen vor seiner Kunst zu versetzen; war wohl auch selber noch dumpf genug, sich abergläubisch darob zu bewundern.

ER, den Stern auf seiner Brust zart berührend: Wie denn auch dieser Orden, Freund, nur eitel Tand und Blendwerk ist, und bedeutet doch ein höchst Würdiges. Ein barbarischer Putz aus rohester Zeit her, und hängt nun als Mahnzeichen zuchtvollen Strebens auf dem Gewande der feinsten Gesittung.

ICH: Und wenn denn die löblich gläubige Menschheit nicht ohne etlichen Hokuspokus auf ihrer Würde bestehen kann, warum dann die seelische Dumpfheit vergöttern, warum nicht die geistige Erleuchtung? Als ob unser hochbestrebtes Bewusstsein nicht zum mindesten ebenso rätselhaft, geheimnisvoll und wunderbar wäre, wie das tiefste drangvollste Unbewusste, das uns mit jedem Kohlkopf gemein ist! Als ob nicht dieses erst durch jenes in seiner besonderen Fülle erfasst, ins Eigentümliche durchgebildet, ins allgemein Wertvolle ausgestaltet, ins mensch¬lich Bedeutsame umgeformt würde! Was hat denn dem Menschen seine Bedeutung vor Tier und Pflanze und Stein erschlossen, wenn nicht die Entwickelung des Bewusstseins, mag sich das nun Vernunft oder Geist, Verstand oder Sinn. Gedanke, Witz, Intellekt, Idee, Reflexion oder Logik taufen: Und zeigt nicht die ganze mannigfache Formenfolge der Lebewesen ein stetes Stufenstreben der Geisteskraft, sich immer wahrnehmbarer auszugestalten?!

ER, bedächtig den untersten Frackknopf drehend: So meinen Sie denn, der naive Impuls sei nur etwa der Pulverkraft vergleichbar, die hinter einem Feuerwerk steckt?

ICH :
Allerdings, ohne Pulver kein Feuerwerk; aber in unverständiger Hand verpufft das Pulver und blendet bloß.

ER, in Gedanken den Knopf abdrehend: Hm — unter solcher Beleuchtung betrachtet, läuft freilich das löbliche Gerede über den dunkeln Drang des Künstlers am Ende auf den Gemeinplatz hinaus, dass eine Schöpferkraft da sein muss, wenn eine Schöpfung werden soll.

ICH: Auch scheint mir dieser dunkle Drang, wenn anders mich die Erfahrungen aus meinem bewussten Dasein nicht täuschen, in seinem jeweiligen Denkzustand durchaus nicht so holdselig zu sein, wie er sich später in unserem Gedächtnis ausnimmt, das jeden vergangenen Zustand geistig verklärt; sonst würde der Künstler wohl kaum geneigt sein, sich diese Dumpfheit jedes Mal so rasch wie möglich vom Halse zu schaffen. Ich wenigstens fühle mich in der Regel durch solche holde Gedankendrangsal so unausstehlich bedrückt und befangen, wie der Homunkulus in der Retorte oder Helena im Hochzeitsgewand.

ER, wieder vollständig aufgeknöpft, steckt lächelnd den Knopf in die Westentasche: Es freut mich, Teuerster, wie Sie das sagen, mit solchem holden Eigensinn. Indessen ist mir doch aufgefallen, dass Sie fortwährend in überaus freundlicher, jedoch nicht eben ganz glücklicher Weise bei unserm Gespräch darauf bedacht sind, nach Art meiner späteren Schriften zu sprechen; und es war mir von jeher das höchste Vergnügen, wenn sich ein eigenwilliger Geist auch einer eigenen Sprache bediente.

ICH:
Und darf ich dann fragen: Heinrich v. Kleist??

ER, augenblicks heftigst die Stirn runzelnd: Ich sprach vom beherrschten Eigenwillen!

ICH: Sein Leben mag haltlos gewesen sein; aber wohl nur, weil er alle Kraft an die Selbstbeherrschung als Künstler setzte.

ER, voller Zorn auf den Fußboden stampfend: Dieser junge Mann war unbedenklich genug, sich dem Dämon in die Arme zu werfen, dem ich selber zeitlebens behutsam auswich!

ICH:
Das hat der Lord Byron auch getan! und Goethe hat ihn dafür bewundert!

ER, herrisch auf meine Tischplatte klopfend: In Byron war’s Kraft, ihn riss Heldenmut fort; der Andre erlag seinem mystischen Drang wie ein ungesund schwächliches Frauenzimmer.

ICH: Er hat uns als Dichter Helden enthüllt, an die keine Heldentat Byrons heranreicht.

ER, mit noch stärkeren Klopftönen: Er hätte euch wohl noch mehr enthüllt, wenn man ihm Mannszucht hätte eintreiben können. Er hatte das Zeug zu einem Shakespeare, wenn er kein Hamlet gewesen wäre. Er strebte nur heldisch, sobald man sein Selbstbewusstsein mit härtestem Stachel zum Trotz aufreizte: er war nicht über sein Schicksal erhaben.

ICH:
Er war es immerhin bis zu dem Grade. dass er das alles im Prinzen von Homburg mit klarster Erkenntnis dargestellt hat.

ER, immer noch mit umwölkter Stirn: Und da hatte der Dämon sich erschöpft! —

ICH: So wäre denn dieser bedeutende Künstler seinen Instinkten allzu naiv gefolgt?!

ER, mit verteufelter Anerkennung: Sie sind wirklich gründlichst raffiniert, werter Freund!

ICH: Ich bin in der Tat über derlei Dämonen ein wenig durch eigne Erfahrung gewitzigt. Ich wurde in meinen unreifen Jahren von allerlei krampfhaftem Spuk heimge¬sucht, wie man das fast jedem kraftvollen Geist mit biederem Gruseln als krankhaft nachsagt, und wie ja auch Sie, verehrtester Genius, mehrfach von sich berichtet haben. Ich entdeckte jedoch, dass sich diese Visionen, Somnambulismen und Katalepsien immer nur einzustellen pflegten, wenn meine Vernunft nicht bei vollen Kräften war, infolge von Geldnöten, Katzenjammer, Liebesgram und dergleichen mehr, oder weil ich als naiver Fant meine poetische Phantasie leider oft zu holdselig faulenzen ließ; also gleichsam wie mahnhaft anpochende Boten aus einer ratlosen Unter¬welt, die über ihr Bestes bewusst werden wollte. Ich habe mir dann durch Selbstbeobachtung, Willensgewöhnung und Kunstausübung all das gespenstisch aufdringliche Wesen nach und nach vom Leibe geschafft, ohne jede medizinische Quacksalberei; und jetzt besuchen mich solche Klopfgeister nur noch, wenn ich sie eigens herbeizitiere.

ER, aufgeräumt: Zu Befehl, Euer Liebden; ich danke für die lange Audienz.

ICH: Während ich aber in jenen Jahren ein dumpf verdüsterter Jüngling war, dessen Haar sich dunkler und dunkler färbte, und der zumeist nichts weiter tat als sich und Andre gefühlvoll betrügen, seine Geliebte obenan, bin ich nun, wo ich grau zu werden beginne, wieder so emsig und wohlgemut wie in meiner hellblondlockigen Kindheit.

ER, wunderlich durch mein Zimmer blickend: Da mache ich Ihrer jetzo Frau Liebsten mein allerartigstes Kompliment.

ICH: Ich habe durchaus nicht im Spaß gesprochen!

ER, von reinster Beschaulichkeit verklärt: Auch ich nicht, Verehrter; ganz und gar nicht. Es muss wohl ein jeder kräftige Künstler zu einer zweiten Naivität erwachsen, die sich zu seiner ersten verhält wie das aufmerksam hingebungsvolle Weib zur unbequemlich kopfscheuen Jungfrau. Wie nun freilich die gewöhnliche Frau nie von ihrer beschränkten Eitelkeit lässt, so verharren auch die meisten Künstler bei ihrer ersten Naivität und verflachen in eine triviale Manier. Noch um vieles halsstarriger aber benimmt sich die dämonisch okkupierte Natur, die denn auch besser dem Helden ansteht, dem Abenteurer und Volksführer, dem politischen oder religiösen Redner, als dem künstlerisch aufwärts strebenden Dichter, dem freien Eroberer des Lebens, der dem Wandel der Welt wie der eigenen Seele unbefangen willfahren muss mit einer überlegenen Ruhe. Da wird denn natürlich, um diese Ruhe bis ins drangvollste Innere auszudehnen, auch die Vernunft je tiefer je stärker manch tüchtiges Wort mit dreinreden müssen; und wenn da dem männlich ringenden Geiste noch ein vernünftiges Weib beispringt und ihm gleichsam als ein artiges Vorbild willfähriger Herrschaft zu dienen weiß, da darf man ihm wohl im Ernst gratulieren.

ICH: Und er darf sich mit heiterem Dank bewusst sein, dass dieser Glückwunsch ins Zentrum des Lebens trifft, und somit auch unseres Kunstgespräches.

ER, immer verklärter um sich blickend: Wir sprechen wohl einst noch gewisser darüber —

ICH: Doch ist uns schon jetzt zu Bewusstsein gekommen, dass zwar das naive Gemüt die Achse ist, an die auch die genialste Natur mit allen Trieben gebunden bleibt, und deren einer Pol ins Dämonische, der andre ins Triviale verläuft; dass aber die geistige Reflexion die formbestimmende Triebkraft ist und um so harmonischer auf die Kulturwelt einwirkt, je energischer der gestaltende Sinn das Tiefste der Persönlichkeit auf ein zentrales Gleichgewicht ordnet —

ER, geisterhaft in die Höhe wachsend: Und rings um ihn kreisen die Himmelsbilder und die Planetensysteme des Äthers samt allen Meeren und Inseln des Erdballs —

ICH: Und die Menschheit wird endlich jeglichen Genius so natürlich dankbar entgegennehmen, wie er aus voller Natur sich gibt, auch wenn er nicht erst ein Alter wie Goethe erreicht, sondern jung wie Kleist zu den Vätern dahin muss —

ER,
spukhaft aus weiter Ferne lachend: Sie sind in der Tat höchst naiv, lieber Dehmel —

Und mit diesen Worten versetzte er mir einen väterlich derben Nasenstüber, der mich aus meiner hypnotischen Situation in jenen bewussteren Zustand zurückbugsierte, worin die Dichter zu arbeiten pflegen. Seitdem aber bin ich von allen Skrupeln über das wahrhaft Naive kuriert. S. 17-46
Aus: Betrachtungen von Richard Dehmel über Kunst, Gott und die Welt, S. Fischer Verlag/Berlin

Das Rätsel des Schönen
Ein Doktorthema
Das »Rätsel des Schönen« ist bekanntlich bis zum heutigen Tage noch nicht gelöst; und einem armen Mann wie Hamlet macht es darum wirklich Freude, dass die Gelehrten sich noch immer die Köpfe darüber zerbrechen.

Diesmal freute ich mich ganz besonders, denn das Opus, das mir unter jenem rätselvollen Obertitel eine »Studie über die Prinzipien der Ästhetik« verhieß, war nicht zu dick, und neben dem Verfassernamen - er tut hier nichts zur Sache — stand die Bemerkung: Doktor Philosophiae, Assistent am physikalischen Institut der Universität. Da gab es also hoffentlich etwas »Exaktes«.

Meine Hoffnung wuchs durch die Vorrede. Zwar schwor sich der Herr Doktor auf die Systeme von Kant und Spencer ein und fühlte sich gedrungen, auch sonst noch »viel Bekanntes« vorzutragen, aus Aristoteles, Lessing, Schiller, Fechner, Helmholtz usw. Aber es ist ja stets erfreulich, gute Bekannte zu begrüßen, und obendrein verhieß der Herr Verfasser doch sehr viel Eigenes z. B. eine »tiefgehende Unterscheidung« im Bereich der Assoziationen, eine »neue Einteilung der Künste« und ein »Fundamentalgesetz« über die Verbindung mehrerer Künste zu einer Gesamtwirkung. Und das alles nur zu dem Zweck: »die Künstler, Kritiker und Kunstliebhaber zu weiterem, eigenem Nachdenken anzuregen, gleichgültig ob in zustimmendem oder widersprechendem Sinne«. Wirklich höchst erfreulich!

Das Buch regte mich in der Tat zu eigenem Nachdenken an — über seine Einleitung. Sie ist geradezu mustergültig für die Kunstgelehrtheit unsrer Zeit, und vielleicht sogar aller Zeiten.

Da wird zunächst der metaphysischen Spekulation heimgeleuchtet, mit ihren »allumfassenden Theorien«, ihren »weitgreifenden Hypothesen«. Die seien nur »dogmatisch formuliert, ohne das Bewusstsein ihrer Willkürlichkeit«; sehr richtig! Ein Hauptkennzeichen ihrer Methode, insbesondere auch in Dingen der Ästhetik, sei die »unberechtigte Trennung von zusammengehörenden Begriffen und Erscheinungen«; abermals sehr richtig! Schelling, Hegel, Vischer werden kaltgestellt; sehr tüchtig! Selbst Goethe wird als Metaphysiker entlarvt; abermals sehr tüchtig! Nur Schopenhauer wird umgangen; sehr vorsichtig!

Jene Ästhetiker alten Schlages hätten in dem Wahn gelebt, ein Kunstwerk könne, ja müsse gesondert von seiner Wirkung auf den Genießenden betrachtet und erforscht werden; die Kunst sei in und an sich selbst vollkommen wie die Natur, die Wirkung nach außen sei nur etwas Zufälliges. Ganz anders die — (Verzeihung, deutscher Leser! das Wort ist nicht von mir) »positivistische« Wissenschaft. Sie weiß, dass eine Betrachtung, gesondert vom Betrachter, unmöglich ist, und dass wir über ein natürliches Ding, also auch über ein Kunstwerk, im Grunde stets nur aussagen können, wie es auf und in uns wirkt, nicht was es an und für sich ist. Demnach sei auch die Erforschung des »Schönen« — das Wort ist stammverwandt mit »schauen« — ohne Voraussetzung eines Zuschauers unbewusste Selbsttäuschung.

Und nun überfällt uns der positivistische Herr Doktor mit folgenden Sätzen: »Unter dem Zuschauer ist zu verstehen ein Durchschnittsmensch, begabt mit normalen Geisteskräften und der einer bestimmten Epoche eigentümlichen Bildung; es gibt viele solche, und an sie wendet sich der Künstler (sic!) mit seinen Schöpfungen. Die für ein Kunstwerk charakteristische Wirkung auf diesen Normalzuschauer tritt mit Notwendigkeit ein; sie ist bei allen Zuschauern die gleicheIch habe nichts am Wortlaut geändert; nur die Sperrungen sind von mir.

Hand aufs Herz, Herr Doktor, Philosoph und Physiker: ist dieser Ihr Normalzuschauer nicht »dogmatisch formuliert«?! Ist er vielleicht gar ein Abkömmling der Schopenhauerschen Einbildung vom genialen Normalmenschen? Bloß: Schopenhauer hatte das »Bewusstsein ihrer Willkürlichkeit«, und das scheinen Sie nicht zu haben.

Oder sollten Sie sich wirklich unter Ihrem Durchschnittsmenschen, da Sie doch behaupten, dass es »viele solche« gibt, den großen Haufen der so genannten Gebildeten mit ihrem so genannten gesunden Menschenverstand vorstellen? Glauben Sie tatsächlich, dass es einen Menschen mit »normalen Geisteskräften« gibt, der die ganze »seiner Epoche eigentümliche« Bildung besäße, sie überhaupt sich anzueignen vermöchte? Nein, Herr Doktor: solchen Durchschnittsmenschen hat es nie gegeben, solche Geisteskräfte waren stets sehr unnormal!

Oder stellen Sie sich etwa unter der eigentümlichen Bildung einer bestimmten Epoche ganz etwas Anderes vor als ich? Etwa gar die jämmerliche Zweifünftelbildung, die dem Normalzuschauer unserer Epoche eigentümlich ist?! Und an diese »Vielen«Vielzuvielen, sagt Nietzsche — wende sich der Künstler mit seinen Schöpfungen?? Sie scheinen nette Begriffe vom Künstler zu haben.

Aber ich will christlich sein; vielleicht hat sich der »tiefgehende« Herr nur oberflächlich ausgedrückt. Vielleicht hat er nur sagen wollen, auf diese vielen Normalzuschauer wirke der Künstler mit seinem Werk, und die Art dieser Wirkung kennzeichne das Werk, weil — so meint der Herr Doktor weiter — die dem Kunstwerk eigentümliche Wirkung bei »allen« Normalzuschauern »mit Notwendigkeit die gleiche« sei. Meinen Sie das positiv, Herr Positivist? Nun, dann freilich müssen Sie den Künstler, der sich mit seiner Schöpfung nicht an die Vielen wendet, obwohl er eine Wirkung (nach dem Gesetz der Krafterhaltung) auf die ganze Welt ausübt, für einen kompletten Narren halten. Solange Sie aber einem solchen Künstler nicht mindestens zwei ganz bestimmte Menschen zu präsentieren vermögen, auf die ein ganz bestimmtes Kunstwerk ganz bestimmt gleichartig wirkt: solange wird er Ihren Normalzuschauer bestenfalls für eine jener »weitgreifenden Hypothesen« halten, die Sie den Metaphysikern aufs Konto setzen.

Sie müssen nun nicht etwa glauben, ich hätte selber metaphysische Absichten. Die habe ich unter Umständen freilich, aber nicht in Sachen der Wissenschaft; die Metaphysik ist Sache des religiösen Erkennens und vielleicht noch mehr des poetischen Denkens. Ich bin durchaus mit Ihnen einverstanden, dass im Sinne der Wissenschaft keine Naturkraft, also auch keine menschliche Schaffenskraft, anders als aus ihren Wirkungen erkennbar ist. Sie sollten daraus nur die richtigen Schlüsse ziehen!

Also mit dem Normalzuschauer ist es nichts; er kommt nicht vor in der Natur. Jedwedes Kunstwerk wirkt, wie jede Naturerscheinung, jedes menschliche Erzeugnis, auf jeden Einzelnen verschieden, je nach dessen Sinnlichkeit, Gemüts— und Geistesbildung, ja sogar nach seiner augenblicklichen Stimmung, seiner örtlichen Umgebung, seinem wirtschaftlichen Zustand usw. Dies ist nicht bloß — wie der Herr Doktor uns später einreden will — »zum Teil« der Fall, sondern in jeder Beziehung, auch was die so genannte Bildlichkeit (Anschaulichkeit) des Kunstwerks betrifft. Denn auch diese ist nicht »unabhängig von dem genießenden Subjekt«, so wenig wie es »Bewegungen von Ätherteilchen« gibt, »wenn jedes empfindende Auge fortgedacht wird« (oh, oh, Herr Philosoph!) — sondern ein Kunstwerk ist nur insoweit anschaulich, als es unmittel¬bar die Sinne reizt; Sinne aber ohne ein »Subjekt« und Subjekte ohne »subjektive« Sinnlichkeit sind nur für den Metaphysiker denkbar. Wenn jedes empfindende Auge weggedacht wird, darin gibt es höchstens noch allerlei Kraftstoff, oder eigentlich bloß noch die Weltmasse x; und ob die bewegt oder unbewegt, teilbar oder unteilbar, ätherisch oder fäkalisch ist, dafür fehlt dann eben jede Empfindung.

Dass es »anerkannte« Kunstwerke gibt, ändert daran nicht das Geringste. Denn auch diese wirken, selbst auf anerkannte »Kenner«, höchst verschieden; und mancher Kenner hält manch anerkanntes Kunstwerk überhaupt nicht für ein solches, sondern für ein Machwerk. Und wie kommt die Anerkennung zustande? Nicht dadurch, dass ein großer Haufe von Normalzuschauern eine Wirkung bejubelt, die bei allen sofort die gleiche ist; solche Wirkungen pflegt nur die Afterkunst zu erzielen. Sondern ein sehr kleines Häuflein, teils von außerordentlich gebildeten, teils von ungewöhnlich veranlagten Leuten, nämlich Leuten, die ein anerworbenes Verständnis oder angeborenen Geschmack für Kunst besitzen, Leute von sehr unnormaler, eigenartiger Empfänglichkeit: diese suchen sich selbst und Andre über die empfangene, sehr verschiedenartige Wirkung durch Meinungsaustausch aufzuklären, und so übertragen sie allmählich, meistens sehr allmählich, die Wirkung auch auf all die vielen viel normaleren Menschenkinder, die vorläufig leider noch sehr wenig eigenen Kunstsinn im Leibe haben.
Aber auch an dieses kleine Häuflein »wendet sich« der Künstler nicht mit seiner Schöpfung: er wendet sich an Alle — Alle ohne Ausnahme! — an den »Zulukaffern«, dem der tiefgehende Herr die Empfänglichkeit für Beethoven etwas weitgehend abspricht, so gut wie an den Übermenschen, der da kommen soll.

Gemeinhin nennt man das: er wendet sich an die Menschheit. Die aber wird zu jeder Zeit in jedem Volk nur durch die oft zitierten »Besten seiner Zeit« vertreten, und deren gibt‘s bekannt¬lich niemals »viele«; für den Allerbesten aber hält der Künstler mit Verlaub sich selber, weil eben er es ist, der aus den Besten das Beste, auch das bestialisch Beste, schöpferisch zusammenfasst. Und weil der Allerbeste ihm grade gut genug ist, sich an ihn zu wenden, so wendet sich der Künstler an sich selbst, an Alle und an Keinen. Sein Werk zwar wirkt auf Alle — (verschiedentlich natürlich, auf die meisten scheinbar gar nicht, d. h. nur mittelbar und unbewusst) — aber der Zuschauer, auf den er seine Wirkungen berechnet, ist keiner als er selber: der Mensch in ihm, der Mitmensch wie der Übermensch, Tier so gut wie Gott. Da sind wir schon mitten im Metaphysischen drin, im mystischen Einklang von Ich und All.

Und dieser Zuschauer, dieser einzige »Normalzuschauer«, den es für den Künstler gibt, dieses unnormal normale Exemplar der Gattung »Mensch« — denn nichts wird Norm, Herr Doktor, was nicht Anfangs gegen eine Norm war — womit nun nicht gesagt sein soll, dass alles Abnorme Norm zu werden vermag —: also dieser Selbstzuschauer ist der Künstler nicht bloß, wie Sie meinen, bei der »Konzeption«, sondern während seiner ganzen Schaffensarbeit, vom
ersten unwillkürlichen Anstoß an, der ihm das Urbild seiner Schöpfung über die Schwelle des Bewusstseins hebt, bis zum letzten überlegten Kunstgriff, mit dem er den Eindruck dieses Urbildes möglichst vollkommen auszudrücken sucht. Ja, noch darüber hinaus bleibt er sein einziger »Normalzuschauer«, denn nur Er kann wirklich ermessen, in welchem Grade sein Werk vollendet ist, d. h. die Wirkung des Urbildes von sich gibt; nur ihm ist diese Wirkung ja bekannt.

Nun wird der Herr Doktor der Philosophie mich wohl für einen rohen »Subjektivisten« erklären, am Ende gar für einen »Nietzscheaner«, der keine Ahnung von dem Unterschiede zwischen »universalen« und »partikularen«, geschweige zwischen »apodiktischen« und »assertorischen« Urteilen habe. Aber nur Geduld: wir werden uns auch ohne philosophischen Jargon verständigen! Ich liebe nämlich die Fremdwörter nicht, die aus der »klassischen Epoche« stammen; es stecken mir zu viel »überlebte Begriffe« dahinter, zu viel »allumfassende Theorie«, zu viel »wie unberechtigte Trennung zusammengehöriger Erscheinungen«. Eine Wahrheit lässt sich für Deutsche auf gut Deutsch am verständlichsten sagen, und was mir »subjektiv« ein Unsinn scheint, kann mir auch »objektiv« nicht imponieren; das sind mir sehr zusammengehörige Begriffe.

Genau so unberechtigt wie deren Trennung scheint mir aber auch die Mischung unzusammengehöriger Begriffe, die in den Fremdwörtern der deutschen Schriftgelehrten seit Alters gang und gäbe ist. Da wird ein solches Wort, z. B. Norm, zuerst in einer sehr normalen, d. h. gewöhnlichen Bedeutung gebraucht, und eh man sich’s versieht, ist ihm auf einmal eine normative, d. h. gesetzliche Bedeutung untergeschoben. Das ist aber keine Wissenschaft, Herr Physiker: das ist Schulmeisterei! schlimmere, als sie sich je ein Metaphysiker erlaubt hat; denn der macht seine Kunstgebote doch nur von seiner allerhöchsteigenen Weisheit abhängig, Sie aber (selbstverständlich gleichfalls bloß in »unbewusster Selbsttäuschung«) von der Weisheit des Bildungspöbels.

Betrachten wir einmal recht gründlich Ihren eigenen Satz, Herr Doktor: »ein jedes Kunstwerk hat, auch wenn es von seinem Schöpfer noch keinem andern Menschen mitgeteilt ist, schon einmal die es charakterisierende (zu Deutsch: ihm eigentümliche) Wirkung ausgeübt, nämlich auf den Künstler selbst«. Damit bin ich, wie Sie sahen, völlig einverstanden. Ich gebe Ihnen auch noch weiter zu, dass diese Wirkung im Künstler »mit wahrscheinlich viel stärkeren Gefühlen als bei dem nachempfindenden Zuschauer« vor sich geht. Auf den »ähnlichen Gedankenverlauf« im Künstler und im Zuschauer kommt es zunächst noch gar nicht an; Gedanken macht man sich bekanntlich erst auf Grund von Vorstellungen in Folge von Empfindungen. Und wie gesagt: nicht bloß »wahrscheinlich«, sondern ganz unzweifelhaft, und nicht bloß während, sondern auch noch nach der Schaffensarbeit wird der ganze Ablauf von Empfindungen, Vorstellungen und daraus sich ergebenden Gedanken, die ein bestimmtes Kunstwerk erzeugt haben und dessen eigentümliche Wirkung aus machen, in Keinem so vollkommen auftreten wie im Erzeuger selbst. In jedem Andern wird sich die Wirkung, je nach seiner sinnlichen und geistigen Beschaffenheit, nur teilweise oder in verändertem Verhältnis der Bestandteile wiederholen. Würden sich sonst wohl die Gelehrten noch immer über »Hamlet« in den Haaren liegen?

Will also Jemand die Frage »Was ist schön« beantworten, und glaubt er, dass die schöne Wirkung gleichbedeutend mit der Kunstwirkung sei, so muss die Antwort zu allererst die Tatsache berücksichtigen, dass ein bestimmtes Kunstwerk niemals »mit Notwendigkeit« als solches wirkt, sondern nur auf jeden Einzelnen in andrer Weise eigentümlich, in seiner vollen Eigentümlichkeit nur auf den Schöpfer des Werkes. Nun aber hält der Einzelne nur solche menschlichen Erzeugnisse für wirkliche und echte Kunst, die grade ihm den Eindruck einer durchaus einzigen, unnachahmlich eigentümlichen Vollkommenheit beibringen; »das« Kunstwerk und »die« Kunst sind ja bekanntlich nur Begriffsgötzen. Genauer müsste ich sagen: Erzeugnisse, deren Form mir diesen Eindruck der Vollkommenheit beibringt. Das ist aber selbstverständlich, da bekanntlich kein Naturgebilde, also auch kein menschliches Erzeugnis, anders als aus seiner Form begreifbar ist; wenigstens nicht für »Positivisten«.

Will demnach Jemand etwas Wahres über die Wirkung aussagen, die ein (nicht »das«) Kunstwerk erst als Kunstwerk bezeichnet (»charakterisiert«), d. h. die unter Umständen einem bestimmten Menschen ein bestimmtes Menschenwerk als ganz besonders formvollkommen erscheinen lässt, so hat er zu untersuchen: 1) Unter was für Bedingungen, 2) durch was für Reize, 3) aus was für Empfindungen setzt jener Eindruck der Vollkommenheit sich zusammen? Und selbst wenn Jemandem gelingen sollte, hierfür eine Formel von allgemeiner Gültigkeit zu finden, hat er sich immer noch bewusst zu bleiben, dass damit nur erst ein Bestandteil der ganzen, einem Kunstwerk eigentümlichen, es voll kennzeichnenden (»charakterisierenden«) Wirkung (ja, ja, die Fremdwörter!) erklärt ist.

Um es kurz zu wiederholen: die Art-und-Wertbegriffe »das Kunstwerk« und »die Kunst« macht jeder Einzelne sich langsam erst zurecht aus den Kunstwerken, die ihm nach seiner Vorstellungs-und-Urteilskraft den Eindruck einer unnachahmlich eigentümlichen Vollkommenheit gemacht haben. Ob dieser Eindruck sich mit dem der »Schönheit« deckt, ob er ihn als Bestandteil enthält, ob Schönheit überhaupt ein unentbehrlicher Bestandteil all und jeder Kunstwirkung ist, darüber wissen wir vorerst noch nichts. Wir wissen nur: »vollkommen« ist uns alles, was nichts zu wünschen übrig lässt! und »eigentümlich« alles, was dem Durchschnitt nicht entspricht! und »unnachahmlich« alles, was unergründlich scheint wie die Natur!

Was aber diese »Natur« wohl ist, von der die Einen sagen, die Kunst sei ihre Nachahmung, die Andern, ihre Umgestaltung — darauf kann ich nur mit einem Dichterwort antworten, obwohl es heute, wo ich es schreibe, noch nicht zu den »anerkannten« Worten zählt:

Natur, Natur! o leerer Schall,
o seelenvollster Widerhall!
S. 46-57
Aus: Betrachtungen von Richard Dehmel über Kunst, Gott und die Welt, S. Fischer Verlag/Berlin

Der Wille zur Tat
Ein Mahnruf an einsame Geister
Der bekannteste lebende Dichter Italiens hat eines Tages von seinen Landsleuten mit Berufung auf die Kraft seines Geistes »eine bürgerliche Macht verlangt«, und die Bauern seiner Heimatgegend haben Vertrauen gesetzt in seine ungewöhnliche, erhabene und bilderreiche Rede und ihn ins Parlament gewählt. Und so stark war die bildliche Gewalt dieser Rede, dass ein lebender deutscher Dichter, der in eigenster Weise wählerisch mit dem öffentlichen Wort umgeht, sie hingerissen in unsere Sprache übertrug und einen Rahmen darum fügte, der ihren feuerblumigen Reiz noch glänzender und glühender erscheinen lässt.

Das Wort ist eitel, das nicht zur Tat begeistert — so scheinen Gabriele d‘Annunzio und Hugo von Hofmannsthal den nüchternen Leuten ins Gewissen zu rufen, die »an den Dingen nichts sehen als das Vorderste«, die um des trägen Wohlbehagens willen »den einzig noch anbetungswürdigen Dingen Gewalt antun«, die vor dem Marktlärm der Menge den unsichtbaren Geist der Völker nicht spüren. »Hier nun ist endlich Tat die männliche Tat, nach der es unsre Seelen verlangt. Es ist nicht mehr die Zeit, uns im Schatten des Lorbeers und der Myrte zu träumen. Es ziemt von nun an, jedem Zwiespalt zwischen Denken und Tun ein Ende zu machen. Die Geistigen müssen den Platz erringen, der ihnen gebührt zu oberst in der Ordnung der Stände. Den Waffen, den Religionen, dem Reichtum folge in der Herrschaft die Kaste, in der sich die Bedingungen des höchsten geistigen Daseins einen.« Und mit Stolz und Unmut erfüllt es die beiden Dichter, dass »noch kein Name geprägt« sei für dieses neue Ziel.

Ist es wirklich so namenlos neu? Hörten wir nicht schon auf der Schulbank von einem Dritten Reich, von einem Geist des Heils und einer Gemeinschaft der Heiligen? Lernten wir diese Worte seitdem nicht um viele Begriffe wertvoller deuten, als die Scheinheiligen und geistig Armen? Haben die Lehrer der Menschheit, die großen Zweifler wie Glaubensmänner, je etwas Anderes gewollt, als dass es endlich komme, das Reich des heiligen Geistes, der alle Triebe klar und einig macht, das Reich der Kraft und Herrlichkeit? Hat nicht schon Platon einen Staat gepredigt mit einer Herrschaft der Geistigen? Hat er die Dichter nicht daraus verbannen wollen, diese heillosen unklaren Träumer? Oder war‘s erhabene Ironie, und ist die so genannte Utopie des weisen Atheners nur die entschleierte Wirklichkeit, die aller Orten hinter dem Selbstbetrug des Alltagstreibens vor sich geht?!

Doch wenn die Lehre nicht neu ist, die uns die beiden Dichter bringen, vielleicht ist umso mehr die Zeit gekommen, dass sie herabsteigt aus jener höheren Wirklichkeit und sich in Tatsachen umsetzt, die auch den Niedrigsten erheben. Dies das Neue in der Heilsbotschaft italienischen Dichters, dieser Wille zur zeitumwälzenden Tat, wodurch sich die dumpfen Seelen seiner heimischen Bauern und ein entwickelter Geist wie der des deutschen Dichters so einmütig ergreifen ließen. Es mag wohl sein, dass jenen einfachen Männern ein nie erlebter Schauer der Kraft durch ihre arbeitsamen Glieder fuhr, als ihnen der Redner sein letztes Buch pries, worin er »mit grausamster Kühnheit« seinen entnervten Bildungsgenossen »das langsame Sterben eines der Liebe und des Lebens unwürdigen« Schwächlings vorgehalten hat. Und wer in unserer Zeit, wer besonders von uns Deutschen, ist so gefühllos, dass er nicht erschüttert würde durch die Klage des Dichters über jene Vorkämpfer der italienischen Freiheit, denen nach vollbrachter Einigung des Vaterlandes »ihr eigener männlicher Wille vor die trägen Füße fiel«! »Wahrlich, es wäre besser gewesen, die Männer, die man Befreier nannte, zu nehmen und zu opfern, und aus den Falten der Berge die schwersten Blöcke über ihre Gräber zu wälzen: dann sähen wir sie mit den Augen der Seele immerfort vom Flammenwirbel der Revolution umgeben, und ihre schöne Gebärde wäre uns von weitem eine heroische Mahnung fürs Leben!«

O herrlicher Dichter: wie wurde meine Seele weit, als ich das las! — O Mensch des Alltags, Redner vor der Menge: wie zog sich mir das Herz zusammen, als ich weiter las! — Denn wohin mündet dieser feurige Strom des Willens, dies überschäumende Lob der Tat? In einen schillernden seichten Teich, mit blühenden Hecken am Rande, in deren Schatten sich sänftlich träumen lässt. Es mag den Bauern sehr süß geklungen haben, als ihnen der Dichter »ihre« Hecke pries, die »ihren« Acker umschließt und sie ermahnte, zäh »ihr« Eigentum festzuhalten, nichts Lieberes hört der Bauer, selbst seine Wucherer ködern ihn damit. Und mancher gute Europäer wird sehr behaglich gelächelt haben, als er die Worte las, die über diesem Teil der Rede der deutsche Nachdichter eingefügt hat: hier erwähnt der Redner »eine scheinbar neue, in Wahrheit uralte Lehre, die Kraft und Besitz des Einzelnen völlig dem Gemeinwesen unterordnen will, und verwirft sie.« Ich aber fühlte mit Grauen: unter der blühenden Hecke liegt die giftige Schlange Selbstbetrug.

O ja, sie ist sehr alt, die scheinbar neue Lehre vom Besitzrecht Aller auf den gemeinsamen Mutterboden, wohl ebenso alt wie die Lehre vom Herrschaftsrecht der Geistigen. Aber sollte eben deswegen nicht die Zeit gekommen sein, dass endlich auch sie herabsteigt aus der Luft des Gedankens und zur handgreiflichen Tatsache wird? Ist es nicht vielleicht derselbe unsichtbare Geist des Heils, derselbe Wille zur Tat, der den einsamen Dichter eine öffentliche Macht verlangen ließ und der die Arbeitermassen Europas die Umwälzung der jetzigen Machtzustände fordern lässt? Sollte nicht Eines ohne das Andre unmöglich sein?! »Um so viel tugendhafter ist ein Mensch, als er sich mehr bemüht, sein Dasein zu steigern.« Was wollen die Tausende Anderes, als ihr verkümmertes Dasein steigern, wenn sie emporverlangen aus ihrer leiblichen Abhängigkeit vom Reichtum weniger Einzelnen! Wie will der Dichter »die Herrschaft des Reichtums aufheben«, wenn nicht durch Aufhebung des Reichtums selbst, nämlich des Reichtums der Wenigen! Wie »den Kult des ungebrochenen Willens wiederherstellen«, wenn nicht durch Wegräumung der Lasten, die alle Volkskraft zu zerbrechen drohen, sogar mit eigner Waffengewalt! Wie kann der geistige Mensch zur Herrschaft kommen, wenn er umgeben bleibt von Menschen, die nicht einmal der Pflege des Körpers freie Zeit genug widmen können! Kann denn das geistige Dasein sich steigern, wenn jedermanns Sinne voll leiblicher Unlust sind? Und kann der Geist des Einzelnen wachsen, wenn kein gemeinsamer Boden sich bildet, der seine Seele zum Wachstum anreizt?

Es zeugt nicht von Vertrauen in den unsichtbaren Geist der Völker, dass man vorsätzlich die Augen verschließt vor ihrem offenkundigen Willen. Es zeugt auch nicht von Glauben an die Tatkraft der Einzelseele, dass sie sich einpferchen soll in blühende Hecken, um sich nicht »völlig« dem Gemeinwesen »unterzuordnen«. Wer will sie denn unterordnen? und wer gar völlig? Solches hat noch keine Lehre gewollt, keine alte noch neue. Solches vermöchte auch keine Lehre, denn es wäre wider die Natur. Solches befürchten nur die Leute, die auf dem Markt die Glocken läuten hörten und »an den Dingen nichts zu sehen wissen als das Vorderste«. Einordnung will die der Gütergemeinschaft, ganz wie die Lehre der Geistesherrschaft. und alle Unterordnung werde freier Vertrag! Dieser Dichter, der seinen Landsleuten »ihre« Hecke und »ihren« Acker pries: weiß er denn nichts von der schändlichen Unterordnung, in der die Bauern seines Vaterlands leben? In jedem volkswirtschaftlichen Handbuch kann er es nachlesen, dass diese Hecken und diese Äcker nicht ihr Eigen sind, dass sie den Pachtzins und die Steuern kaum erschwingen können, die ihnen die Großgrundbesitzer und der Staat aufbürden, dass kaum in Irland die Bevölkerung von solchem Schweiß und schmutzigen Elend trieft wie in dem Garten Europas. Ich bin zu Fuß durch dieses Land gereist und habe Felder gesehen, wo das Korn auf dem Halm und die Trauben am Stock verfaulten, weil die Pachtbauern lieber untätig hungern wollten, als keinen Heller aus ihrer Arbeit ernten; und Bürger dieses Landes, die hinter die Dinge zu sehen wissen, haben mir gesagt, dass dieses Bild der Verzweiflung kein seltenes sei.

Wohl klingt es hinreißend, wenn ein Dichter — »des Lachens der Philister mit großer Verachtung bewusst« — den Willen zur Tat vor seinem Volke verherrlicht. Aber ist es Tat, wenn er nichts Anderes tut als jeder Philister und übel berüchtigte Bourgeois? Auch dieser preist, wenn er des Sonntags spazieren geht, den Schimmer der ländlichen Hecken, weil er die Knechtschaft nicht sieht, die hinter der Blütenpracht wuchert. Darf denn ein Dichter so sich selbst betrügen? Wie will er »die Schönheit, deren Mutter Italien ist«, in seinem Volk wieder auferwecken, wie »dem lateinischen Geist zum Heile der anderen Volker die Vorherrschaft zurückgewinnen«, solange dies Volk noch in hässlichster Ohnmacht um ein notdürftiges Dasein ringt? »Es gibt kein Heil und keine Schönheit außerhalb des Ringens, worin ein Mensch, gebadet in Freiheit, alle Kräfte seines ganzn Wesens hergibt«.

Ist denn ein Arbeiter, der nur dem Wort nach kein Sklave ist, »gebadet in Freiheit«? Und wenn in der Heimat des Dichters, in seiner engeren Heimat, wirklich noch schuldenfreie Bauern auf eigenem Ackergrund sitzen sollten: weiß er nicht, dass jener Reichtum, dessen Herrschaft er vernichten will, gefrässiger als ein Raubtier ist, und dass in wenigen Jahrzehnten, wenn die Gesetzgebung nicht vorbeugt, der Latifundienmoloch auch sie verschlingen wird?

Wär da nicht heilsamer gewesen, den einfachen Männern. deren Geist noch zu wenig selbständig ist, um dem Anprall gewaltiger Worte Stand zu halten, einstweilen die Mahnung ans Herz zu legen: schließt euch zusammen mit euern städtischen Brüdern, sie arbeiten wie Ihr, sind Knechte des Reichtums wie Ihr, in ihren Zukunftsträumen lebt die befreiende Tat! Und wäre es nicht geistesklarer die Kräfte dieser Einzelnen selbst »völlig« dem Gemeinwesen einzuordnen, als sie den Ordnungsgelüsten einer Kaste preiszugeben, deren »langsames Sterben« der Dichter »mit grausamster Kühnheit« geschildert hat?

Ich frage diesen Dichter: Sind es nicht »einzig noch anbetungswürdige Dinge«: der Mut der Bedrückten und die Hoffnung der Betrogenen?! Fürchtet er ihnen nicht »Gewalt anzutun«, wenn er an einem Wochentage die Armen des Geistes von der Arbeit ruft und ihre zerschundenen Hände lobt?! Fürchtet er nicht »den unterirdischen Göttern zu verfallen«, wenn er die Seelen der Hungernden mit einem Becher voll Wein berauscht, der nur ein Schlummertrunk für sie ist, umkränzt mit üppigen Redeblumen?! Tun solches nicht des Sonntags auch die Priester, deren Herrschaft er brechen will?! Wahrlich, es wäre besser, er bliebe »im Schatten des Lorbeers und der Myrte« und schriebe Bücher, die Taten sind. Dann wäre »seine schöne Gebärde uns von weitem ein heroischer Weckruf fürs Leben«, und sein Geist käme über uns, ob mit der Leuchtkraft belebender Träume, ob auf dem Umweg, lebensunwürdige Schwächen zu spiegeln. Niemand verdenkt es dem Dichter, wenn seine Wege nicht die der Menge sind; mengt er sich aber in ihren Lärm und strebt nach Macht auf dem Markte, so stimme er auch die Fanfare an, die auf dem Markte am weitesten trägt, und kämpfe für Ziele der Herrschaft, die Allen gemeinsame Freiheit verbürgen! Sonst wird nicht bloß Platon, sondern das Leben selbst ihn verbannen aus jenem ewigen Staatsrat des Geistes, der die Geschichte der Menschheit lenkt. Es ist nicht mehr die Zeit. mit zweierlei Wirklichkeit schönzutun; die Weltgeschichte geht nicht doppelt vor sich. Was dem Geiste recht ist, das ist dem Körper billig. Zu den »Bedingungen des höchsten geistigen Daseins« gehört vor allen der höchste Wohlstand des Leibes; und was der leibliche Arbeiter ernstlich will, das mussten von je auch die geistigen wollen. Es hilft nichts, sich da¬gegen zu sperren. Mit allen Kräften müssen wir es wollen, ob nun aus einsamer, ob aus gemeinsamer Not. Wir müssen es wollen selbst um den Preis, uralte Heiligtümer einzelner Stände der neuen Heilstat für Alle zu opfern. »Es ziemt von nun an, jedem Zwiespalt zwischen Denken und Tun ein Ende zu machen«! —

So möchte ich dem Dichter ins Herz rufen, der so bezaubernd zu reden weiß. Den Männern aber, zu denen er redete, möchte ich Folgendes sagen: Ihr Bauern eines fremden Landes, hört auch meine »wahrhaftige Rede!« Auch ich »bin ein Dichter« und »rühme mich«, für alles Leben ein Herz zu haben. Und Euer Leben ist mir nicht fremd; denn ich bin eines Försters Sohn und habe seit frühester Kindheit gesehen, wie die Menschen in Wald und Feld sich plagen. Ich kenne die Tagelöhner, die scheu und gebückt und mit verbissenem Ekel zur Arbeit gehen; ich kenne die Bauern, denen ihr Tagwerk ein Freudenwerk ist, weil sie den eigenen Acker bestellen; und ich kenne auch die Bauern, die noch gebückter gehen als die Tagelöhner, weil sie samt ihrem Acker unnützen Wucherern dienstbar sind. Sie Alle arbeiten mit gleichem Fleiß, aber mit ungleichem Lohn, und deshalb ist »Neid« zwischen den Menschen. Deshalb kann ihre Seele nicht aufrichtig werden und ihr Geist nicht aufrecht, und Einer »freut sich am Übel« des Andern.

Helft dieses ändern! Verhelft Jedwedem zu einem Eigentum, Jedem nach seiner Kraft; macht alles Land zum Gemeinbesitz, und Jeder empfange sein Nötiges, als anvertrautes Ehrenpfand, womit er frei zum Überfluss schalten kann! Vertraut dem gemeinsamen Willen! Fürchtet nicht, dass alsdann eure Hecken verdorren! Immer wird der Mensch die fruchtbare Erde bestellen müssen, und wird der Nachbar vom Nachbarn sich scheiden, und wird der Sohn die Hecke des Vaters pflegen, mag das nun Erbbesitz oder Erbpacht heißen. Sehr Recht hat jener »längst verstorbene Dichter Hesiod«, dass »manches Mal die Hälfte mehr wert ist als das Ganze«; dies aber gilt nicht Denen, die gar nichts haben. Denn jener »längst verstorbene Ackersmann Perses«, zu dem er diese Wahrheit sprach, war sein unehrlicher, habgieriger, verschwenderischer Bruder, mit dem er um sein Erbteil prozessierte — und es ist wenig angemessen, dass euer dichtender Landsmann Euch diesem Bruder gleichsetzt. Fürchtet auch nicht, dass ihr »der Stimme eures Blutes, der Seele eures Stammes« durch solchen Willen zuwiderhandelt! Denn jenes »tiefsinnige Fest der Grenzsteine«, das eure Urväter feierten, das eben stammte aus einer Zeit, als noch kein Einzelner Eigenland hatte. Damals entschied noch die Gaugemeinde über die Grenzen der Feldmark, und im Besitz der Geschlechtsgenossen war nur ihr Haus und ihr Viehstand; wenn euer Dichter dies anders ausmalt, so kennt er die Geschichte seines eigenen Volkes nicht.

Damals besaß kein Mensch mehr, als ihm zukam nach seiner Kraft. Damals lebte noch Jeder in Eintracht mit der Gewalt, die aller Tat und alles Willens Mutter ist: in Eintracht mit der Natur. Aber es war ein rohes Leben, roh wie das Leben der Tiere, und der Mensch hat den Willen zur Menschheit. So kam es, dass er mit der Mutter eine Tochter zeugte: sie heißt Kultur — und Mutter und Tochter gerieten in Zwietracht. Denn um der Tochter willen begann der Mensch dem gemeinsamen Mutterboden Gewalt anzutun, und Bruder begann den Bruder zu knechten, und immer hässlicher wurde die Zwietracht. Und unter dieser Zwietracht leidet der Mensch, wie unter einer Blutschande; drum ward es der Wille der Menschheit, mit reifster Kultur zurückzukehren ans Herz der Natur, um Mutter und Tochter auszusöhnen und all ihre Kräfte einig zu machen. Wenn demnach euer Dichter euch rät, vor einer Heilslehre Furcht zu haben, die ebenso alt ist wie jene schmähliche Zwietracht, so frevelt er wider den Willen der Menschheit, und seine Tat wird zur Untat. Das aber sage ich euch nicht, damit ihr ihm misstrauen sollt; denn seine Seele ist edel und glüht vom Willen zur Tat. Es ist ein guter Wille, wenn auch ein blinder. Streckt also dem Dichter die Hände hin, und öffnet ihm die Augen für eure Not, dass ihn die krasse Wirklichkeit mit eisig kaltem Schauer durchfährt, dass seine glühende Seele nicht zerschmilzt und ihm sein »männlicher Wille« nicht »vor die trägen Füße fällt«! —

Dir aber endlich, mein deutscher Nachbar, Dichter wie ich, Dir rufe ich Dieses zu: Auch ich bin durch Venedig gegangen und habe den »immerwährenden unsichtbaren Dogen« erlebt. Aber ich fand ihn nicht im stickigen Lärm der engen Gassen und Kanäle; da fand ich nur die »unsichtbaren Heiligen«, und keine Heiligen des Geistes, sondern einer sehr dumpfen Sinnlichkeit. Doch eines Abends stieg ich auf den Glockenturm, und in dem Augenblick, als ich hinauftrat und jenseits der Kuppeln des Markusdomes die sinkende Sonne über das Meer die sterbenskranke Farbenpracht herbststiller Wälder ausbreiten sah, und jenseits des Meeres die leuchtenden Säume der Wolkenberge aufsteigen sah: in diesem Augenblick fing unten auf der Piazza die Militärkapelle zu spielen an: den Trauermarsch aus der »Eroica« — und Tränen überwältigten mich. Da sah ich ihn, den Geist des unsichtbaren Dogen; aber es war kein lebendiger Geist, es war ein Spukgeist traurigster Art, kein »Herr« mehr des geflügelten Löwen. Nur den zu Einsamen erscheint er noch, nicht mehr der wimmelnden Menge dort unten, und Keiner hat ihn klarer geschaut als jener deutsche Dichter, der mit todsiecher Brust »das Herz Venedigs durch die Stille bluten« hörte: Graf Strachwitz in den klagenden Terzinen:

»Mich aber packt ein innerstes Erheben,
Seh ich um dieses wimmelnde Gewürme
Die alte Pracht ihr fürstlich Haupt erheben.
Wie dumpfer Vorwurf tönt der Mund der Türme,
Und von dem Meere durch des Löwen Mähne
Ergeht ein Wehen längst verbrauster Stürme.«


Seht zu, Ihr Dichter, die ihr eine bürgerliche Macht begehrt, dass ihr die Stürme wieder entfacht in der Menge! Sie werden auch Euch die Flügel entfalten! Es ist nicht mehr die Zeit, einsam zu träumen! — S. 205-216
Aus: Betrachtungen von Richard Dehmel über Kunst, Gott und die Welt, S. Fischer Verlag/Berlin

Erlösungen - Gedichte und Sprüche
Fürsprüche
Laßt uns nur ins Blaue schweifen;
scheltet nur, wie weit wir's treiben.
Aber Ein Band sollte bleiben:
Jeden, wie er strebt, begreifen.

Nicht zum Guten, nicht vom Bösen
wollen wir die Welt erlösen,
nur zum Willen, der da schafft;
Dichterkraft ist Gotteskraft.

Laßt uns gern einander lauschen,
innerst grenzenlos gesellt,
Sinn und Seele liebreich tauschen,
so wird kleine große Welt.
S. 5

Das Opfer
Ich sah im Traum Apollos Tempelhallen,
doch ringsum hört ich dunkle Donner grollen;
ich sah vom blassen First die unruhvollen
gebrochnen letzten Sonnenblicke prallen.
Herab zu mir vom schroffen Abhang quollen
die Schatten, schwer, wie Trauertücher fallen;
als wollt er drüberher ein Grabmal ballen,
so schaufelte der Sturm die Wolkenschollen.
Und ich verstand des Gottes Gram und Zorn
und brach mir Bahn zu seinem heiligen Born
und schöpfte Urglut aus den Finsternissen
und hob die Schale auf zu seinem Thron:
entflamme, großer Vater, deinen Sohn,
es gibt so Wenige, die zu opfern wissen!
S. 6

Welt und Zeit
Es klagt die Zeit: die Welt vergreist,
wo ist der alte heilige Geist!
Indeß liegt Seine Heiligkeit
im Schooß der Jungfrau Sinnlichkeit,
was zwar die Jungfernschaft befleckt,
doch eine junge Welt ausheckt.
Dann ruft die Zeit: Halleluja,
der heilige Geist ist wieder da!
S. 7

Bekenntnis
Ich will ergründen alle Lust,
so tief ich dürsten kann;
ich will sie aus der ganzen Welt
schöpfen, und stürb' ich dran.

Ich will's mit all der Schöpferwut,
die in uns lechzt und brennt;
ich will nicht zähmen meiner Glut
heißhungrig Element.

Ward ich durch frommer Lippen Macht,
durch zahmer Küsse Tausch?
Ich ward erzeugt in wilder Nacht
und großem Wollustrausch!

Und will nun leben so der Lust,
wie mich die Lust erschuf,
Schreit nur den Himmel an um mich
ihr Beter von Beruf!
S. 7f.

Selbstzucht
Mensch, du sollst dich selbst erziehen.
Und das wird dir Mancher deuten:
Mensch, du mußt dir selbst entfliehen.
Hüte dich vor diesen Leuten!

Rechne ab mit den Gewalten
in dir, um dich. Sie ergeben
zweierlei: wirst Da das Leben,
wird das Leben dich gestalten?

Mancher hat sich selbst erzogen;
hat er auch ein Selbst gezüchtet?
Noch hat keiner Gott erflogen,
der vor Gottes Teufeln flüchtet.
S. 8f.

Erleuchtung
Plötzlich wird, was dunkel war,
dir von Grund aus offenbar;
und dann kannst du nicht verstehen,
daß du sonst es nicht gesehen.

Aus dem Grund der Welt durch dich
offenbart die Welt es sich;
aus der Ewigkeit geboren
bleibt es ewig unverloren.
S. 58

Allgegenwart
Du gehst nie von mir,
ich bleibe bei dir;
denn du bist in mir
fern wie nah.

In jedem Herzschlag,
der mich belebt,
bist du's, die mit mir
durchs Leben strebt.

Mit jedem Atemzug,
der mir die Seele klärt,
fühl ich, wie deine
Seele mich nährt,

die mir allinnerlich
Seele der Welt ist,
in Allem such ich dich,
du Welt mit mir!

In Allem find ich dich:
dich in dem bangen
Hinausverlangen
des Winds im Wald,

dich in dem Widerstreit
der Blätter über mir,
dich in der Innigkeit
der Gräser hier,

dich in der Wolke dort,
aus der die Sonne quillt,
wie du so lauter,
so warm und mild,

dich in der Träne,
die jetzt von Herzen still
aus meinen Augen
zu dir will.
S. 70f.

Dante Guidante
Wer sich durch eine Hölle hat gesungen,
den fragt, welch Paradies ihm endlich tagte!
Doch wer an seinem Leben nie verzagte,
hat um das höchste Leben nie gerungen.
S. 89

Lobgesang
Wie das Meer
ist die Liebe:
unerschöpflich,
unergründlich,
unermeßlich:
Woge zu Woge
stürzend gehoben,
Woge in Woge
wachsend verschlungen,
sturm-und-wetter-geberdig nun,
sonneselig nun,
willig nun dem Mond
die unaufhaltsame Fläche -
doch in der Tiefe
stetes Walten ewiger Ruhe,
ungestört,
undurchdringbar dem irdischen Blick,
starr verdämmernd in gläsernes Dunkel -
und in der Weite
stetes Wirken ewiger Regung,
ungestillt,
unentwirrbar dem irdischen Blick,
wild verschwimmend im Licht der Lüfte:
Aufrausch der Unendlichkeit
ist das Meer,
ist die Liebe.
S. 90f.

Trauschwur
Nun wollen wir zur Andacht uns bereiten;
nun leg in meine deine Hand und höre
den Schwur der Treue, den ich heut uns schwöre
bei unseren und dem Geist der Ewigkeiten.

Und was die Völker Heiligstes gesprochen,
zu Meiner Sprache wird's in dieser Stunde,
und wird ein neu Gesetz in meinem Munde,
und jede alte Deutung sei zerbrochen!

Und somit frevl' ich an der heiligen Sage,
daß heiliger noch mein Eigenstes sich künde;
denn ich bin größer jetzt als meine Sünde,
denn Schöpfer bin ich, während ich zerschlage.

Ich bin der Herr dein Gott! -Du sollst mich ehren:
auf meine Kraft dein ganzes Leben bauen,
in jeder Drangsal selig mir vertrauen,
nach keiner Zuflucht außer mir begehren.

Du sollst mir dienen: sollst vor den Gewalten,
die mich bewegen, dich anbetend beugen,
von meinerSanftmut jedem Lästrer zeugen,
vor meiner Wildheit fromm die Hände falten.

Und sollst mir weihn die besten deiner Güter:
mit deiner Klarheit meinen Geist verklären,
mit deiner Reinheit meine Inbrunst nähren,
der ich dein Herr, dein Gott und dein Behüter.

Denn Du bist meine Welt! - Dich will ich segnen,
will mit dir sein, will Eins sein deinen Bahnen,
belauschen, wecken dein geheimstes Ahnen,
all deiner Sehnsucht wie mir selbst begegnen.

Und will dir huldigen: was immer Reines
in dumpfer Einsamkeit ich fühle reifen,
das will in dir ich läutern und begreifen,
und all mein Lauterstes befruchte deines!

Und will auch dir mich weihn: will meine Fehle
durch unsern Bund entsühnen und versöhnen,
mich mit dir, in dir immerfort verschönen,
du meine Welt, du deines Gottes Seele!
S. 91f.

Werksprüche
Was Natur in trüben Bächen
still durch Tier und Menschheit gießt,

Dichtermund wills heilig sprechen,
bis es klar zur Gottheit fließt.

Echo von der Himmelsleiter,
langsam klingt's auf Erden weiter.

Wort, an das wir redlich glauben,
endlich tönt es selbst dem Tauben
. S. 107f.

Weihspruch
Klage und juble, Dichter,
wie du willst;
das wirkt Seele ins All
du bist Gott.
Aber beklage nicht!
bejuble nicht!
nichts!
Du bist Gottes Werk;
brüste dich nicht!
S. 108

Schicksalsworte
Was ist dein Loos? Das Menschenloos.
Das Menschenloos ist immer groß.
Es ist, o Mensch, der Weltenschooß.

Wenn du auch irrst
auf den Bergen des Strebens:
nichts ist vergebens,
denn du wirst.
Nur: bleib Herr deines Strebens!

Das Schicksal will's - nun meinst du: bah,
ein Narr, wer, eignen Willen schätzt
Du Narr! du stehst als Beispiel da,
welch Schicksal sich der Wille setzt.
S. 112

Nachruf an Nietzsche
Und es kam die Zeit,
daß Zarathustra abermals
aus seiner Höhle niederstieg vom Berge;
und viel Volkes
küßte seine Spuren.
Der Jünger aber, der ihn liebte,
stand von ferne,
und der Meister kannte ihn nicht.
Und der Jünger trat zu ihm und sprach:
Meister, was soll ich tun,
daß ich selig werde?
Zarathustra aber wandte sich
und schaute hinter sich,
und seine Augen wurden fremd,
und gab zur Antwort:
Folge mir nach!

Da ward der Jünger sehend
und verstand den Meister:
folgte ihm
und verließ ihn
.

Als er aber seines Weges wanderte,
wurde er traurig
und sprach also zu seiner Sehnsucht:

Warlich, Viele sind,
deren Zunge trieft vom Namen Zarathustras,
und im Herzen beten sie
zum Gotte Tamtam;
allzu früh erschien er diesem Volk.
Seinen Adler sahen sie fliegen,
der da heißt
der Wille zur Macht
über die Kleinen;
und seine Schlange nährten sie an ihrer Brust,
die Schlange Klugheit.
Aber seiner Sonne ist ihr Auge blind,
die da heißt
der Wille zur Macht
über den Einen: den Gott Ich.
Wiedergeburten feiern sie
und Wiedertaufen aller Götzen,
aber Keiner wußte noch
sich selber zu befruchten
und seinem Samen jubelnd sich zu opfern.

Der Du Deinen Opferwillen lehrtest,
fahr denn wohl! gern hätt ich dir
dein letztes Wort vom Mund geküßt,
du lächelnder Priester des fruchtbaren Todes.
Aber wir leben,
und mancher Art sind
die Sonnenpfeile und Blumengifte
des fruchtbaren Todes.
Weh, daß dein Jünger dir zu spät erschien! –
S. 113ff.

Heidnischer Glaube
Als der kindliche Mensch noch seinen Träumen vertraute
und dem luftigen Raum luftige Wesen ersann,
als sein Sehnen die Freiheit, die keinem Irdischen glückte,
einem himmlischen Volk schenkte mit betender Hand:
da verlieh er den Bildern des Traums leibhaftiges Leben,
auf erstrittenen Herd thronte der ruhige Gott.
Seinem seligen Wahn entwuchs die beglückende Schönheit;
weil edel geirrt, wurde ein Edleres wahr.
wo er Gottheit geglaubt, da hatte die Menschheit gewaltet;
glaub an die Menschheit, Mensch, und sie befreit dich zum Gott.
S. 118f.

Christliche Frage
Ist euch der »Heiland der Welt« als Gott nur wert der Verehrung?
Gilt euch ein menschlicher Gott mehr als ein göttlicher Mensch?
S. 119

Deutsches Tun
Humane Epistel
Lieber Freund! ich sitze verstimmt bei Schillern und Goethen,
plötzlich reicht mir die Magd deine Bescherung aus Rom.
Nämlich die hellen Gemächer und glänzenden Säle der Beiden
hatt ich verlassen und saß zwischen dem Küchengerät,
wo's drin dampfte und schmorte, der Xenien salziges Frühstück
wider den schlechten Geschmack ihrer gepriesenen Zeit.
Da empfahl ich mich gern, und Goethe lächelte nickend,
denn er witterte wohl etwas Italisches gleich.

Und nun steh ich entzückt und atme den Duft der Orangen,
will mit süßestem-Reim, klingendstem Dank dich erfreun,
aber da sitzt mir derKüchengeruch von Goethen undSchillern
zäh in Nase und Mund, klassisch dampft mein Gehirn.

Ja, sie haben so Manchen auf ihrem olympschen Gewissen,
seit sie ihr deutsches Gericht füllten in griechisch Geschirr.
Oder liegt es dem Deutschen im Blut, mit trotzigem Willen
immer auf Staffeln zu stehn, die er der Fremde geraubt?
Mißt er nicht Freiheit und Recht sich zu nach Römischer Elle,
gab nicht zum Bau seines Staats Gallien das Winkelmaß her!
Will er den Bau der Natur, Dasein und Werden ergründen,
nimmt er den Grundriß vor, den ihm der Britte entwarf;
oder er möchte sich selber erbaun, dann strebt er zum Himmel
gar auf der Leiter hinauf, die ihm der Jude gebaut.

Doch nun heb' ich den Blick: da versinkt der Bestrebungen Fülle,
und es entschwebt dem Gewirr stark ein vereinender Geist.
Zwar der Tragwind, ja, der kam aus fremden Bezirken;
aber die Flugkraft, Freund, die doch ist eigen, ist deutsch.
Ruhig jetzt, fast trug, so schwebt er im Völkerzenithe,
zu noch höherem Flug sammelt er heimliche Kraft:
schon verspürt er die Höhn, wo Volk und Völker verschwinden,
wo ihn, das ewige Haupt hebend, die Menschheit begrüßt.
Nein, kein Gallier war's, kein Römer, kein Britte, kein Jude:
Mensch war Jeder, mein Volk, der dich zum Aufstieg erzog.
Und, mein römischer Freund, so stieg auch ich auf des Griechen
klappriges Schaukelpferd, hopp! reit es auf eigene Faust.
Lächeln wirst du vielleicht: dazu die erhabenen Worte,
daß sich das winzige Ich etwas gehobener fühlt?
Aber so geht's wohl stets: nimm irgend etwas, es deutet
immer vom Ganzen auf Uns, immer aufs Ganze zurück.
Hier dein Dutzend Orangen: ich lasse die rundeste rollen,
und sie werden im Nu Bild des Planetensystems.

Stets enteignet der Mensch sich selbst, je eignet sein Wille;
was sein innerster Trieb, äußert sich lehrhaft als Zweck.
Drum quält Mancher sich ab mit Einer Erlösung für Alle,
wo doch Jedem das All tausend Erlösungen gönnt;
was den Menschen entzückt, entsetzt, empört, das erlöst ihn,
weil's ihn außer sich bringt, weil's ihn mit Leben erfüllt.

Und so lernte mein Geist die Zweifel der Zwecksucht belächeln,

ob man lebt für sich selbst oder dem Ganzen zur Pflicht.
Denn kein Zweck gibt Kraft, allein der Antrieb begeistert;
Arbeit, unterste Pflicht, macht er zum obersten Recht.
Unabweisbar treibt Natur jed Wesen zum Wirken,
aber im Menschen der Trieb kennt sich als Wille und Wahl.
Und beim Jupiter, Freund: nie wieder wähl ich des Griechen
klappriges Schaukelpferd, brrr! hopp, aus poetischem Trieb.
Nur als Mensch, mein Freund, laß diesen Brief dir gefallen,
und mein Abschiedswort gelte der Menschheit in uns:
Treibe Jeder den Andern auf immer eignere Wahlstatt,
mag er erliegen im Kampf, mag er als Sieger bestehn!
Dann, wie immer du wählst, dann lebst du dem Ganzen zu Liebe
lebst dir selber zur Lust - Alles in Allem: leb wohl!
S. 119ff.

Gesetz
Jeder will möglichst viel vom Leben
und möglichst wenig dafür geben.
Als bloßer Anblick scheint's abscheulich,
doch handle, Mensch, dann weicht der Schein;
du wirst.dir wert, das ist erfreulich,
nun muß das Ganze wertvoll sein.
Vergieb dir nichts, tu nichts vergebens,
das ist das Lohngesetz des Lebens
. S. 122

Ungleiche Geschwister
Schlauheit erwägt das Schlechte,
Klugheit des Rechte,
Weisheit die Mächte.

Schlauheit fristet sich hin,
Klugheit bringt Gewinn,
Weisheit schenkt dem Leben Sinn
. S. 122

Die Hauptperson
Kraft und Klugheit waren Schwestern,
machten sich das Leben schwer;
kam zu Gast Frau Ruhe gestern,
kam Frau Weisheit bald nachher.
S. 123

Zwecksprüche
Lebe mit Zweck, wirf dich nicht weg,
gieb dich den Andern hin
mit eignem Sinn!

Jeder nach seiner Art:
die Einen lichten,
die Andern sichten
bis endlich Einer
den hellen Kien zu Berge karrt.
Zwecklos war Keiner.

Wem Zweckbesinnung fehlt,
den knechten seine Triebe;
es sei denn, ihn beseelt
die Herrscherin, die Liebe.
S. 123

Freispruch
Mit Lust und Liebe sein Werk anpacken,
macht frei von allem Zweckzwickzwacken.
S. 124

Den Schreihälsen
Verdammte Liebe! schimpft Hans Aff,
dem seine Liebschaft schlecht bekam.
Verfluchte Lust! stöhnt Christian Pfaff,
der sich in Wollust übernahm.
Herr, schenke diesen beiden Armen
mit Lust und Liebe dein Erbarmen!

Ein Spaß für Götter:
Affen als Menschheitsretter.

X schreit: der Mensch ward ungesund!
U will den Übermenschen züchten.
V will's mit Unzucht, W mit Züchten.
Z schreit: ihr bringt ihn auf den Hund!
Sie greifen schließlich noch zum Messer,
die - idealen Menschenfresser.
S. 124

Quintessenz
Was ist ein Ideal?
Dem Weisen eine Not,
dem Helden eine Qual,
dem Schwätzer Himmelsbrot
. S. 125

Fatalitäten
Die misera plebs begreift es nie:
wer für sie kämpft, ist wider sie.

Hebt nur die Staatsgewalt, ihr Memmen oben!
Ihr hebt so lange, bis sie aufgehoben.

Macht spornt den Wicht, Kraft den Braven;
Kraft schuf den Herrn, Macht den Sklaven
. S. 125

Heldentümliches
Ihr meint, ihr hättet euch ermahnt,
weil ihr euch hart wie Brutus stellt?
Jesus kam mit weichster Hand
und brachte Schwerter in die Welt.

»Er hat als Gott sich aufgespielt!«
Das sei mit Freuden ihm verziehn.
Doch daß er euch für Götter hielt,
dafür, ihr Menschen, kreuzigt ihn!

Wer sich nicht um Menschlichkeiten,
wer sich rein zu Gott erhebt,
will kein Weltglück mehr erstreiten,
mitbeglückt, wie's lebt und webt
. S. 126

Traurige Wahrheit
»Du bester Mensch, den's giebt,
willst von der Menschheit lassen?«
Ach, wer die Menschheit liebt,
der lernt die Menschen hassen.
S. 126

Unterschied
Ein Tropf, wer nie sich selbst gehört;
man dankt ihm kaum, wenn er sich plagte.
Doch Jesus wird als Gott verehrt,
weil er sich selbst entsagte.
S. 129

Zweierlei Treiben
Dir selbst entrinnen:
wohin und wie?
Kommst nie von hinnen,
zum Ziele nie.

Laß dich doch gehen,
laß dich treiben;
lerne dich drehen,
lern oben bleiben!

Treiben - gut!
nach dem Gesetze:
Ich bin die Flut,
ihr seid die Klötze
. S. 129

Wahlspruch
Ich weiß ein Wort.
das setzt mich über Alles fort,
über Raum und Zeit
und Traurigkeit:
Ich und die Zukunft!
S. 130

Sprüche der Zeit
Daß du über der Zukunft
nur nicht ihr stetes Dasein vergißt!
Es gibt eine Gegenwart,
die ewig ist.

Lern in der Zeit dein Urbild finden,
geht dem Leben Hand in Hand,
es gilt den Stoff zu überwinden
Tod ist des Lebens höchstes Unterpfand.

Prüfe, was Bestand verleiht;
Starrheit ist nicht Festigkeit.
S. 130

Menschenrecht
Dein Recht ist deine Kraft - drum bläh dich nicht,
du stehst mit deinem Recht vorm Weltgericht.
»Was? Weltgericht? ein längst entkräftet Wort!
Doch setzt die Welt das Richten kräftig fort.
»Und wenn mein Recht mit Macht dagegenrennt?«
Kein Recht wird Macht, das seine Pflicht verkennt.
»Und was ist meine Pflicht, o Weltgewalt?«
Da siehe Du zu - lacht das Scheusal kalt
. S.131

Das Spiel der Welt
Philosophisches Scherzo
1.Dialog:
Die Seele sprach zur Welt:
Du machst dich viel zu wichtig.
Dein Spiel ist ohne mich
im Grunde null und nichtig.

Zur Seele sprach die Welt:
Das ist im Grunde richtig.
Das Spiel machst du, nicht ich;
drum ist es gründlich nichtig.

2. Moral:
Die Seele macht sich gern
mit ihrer Welt zu wichtig
Weltseele muß man sein,
dann macht man Alles richtig.

3. Kritik:
Das ist ein schlechter Spaß;
du lhältst die Welt zum Narren
und rätst ihr obendrein
zu deinem eignen Sparren.

4. Antikritik:
Das ist kein schlechter Spaß,
ich hab gar gut erfahren:
wo Weisheit ratlos steht,
ist Narrheit flugs im Klaren.

5. Supermoral:
Die Seele mahnt sich stets:
sei endlich ganz und tüchtig!
so bleibt sie ewig halb
weltsüchtig, halb weltflüchtig
. S. 131f.

In summa
Bin Mensch, All, Nichts,
nach Wahl des Lichts
. S. 132

Scheinkunst
Bild und Unbild: Bild der Züge,
aber Bild der Seele nicht,
und die Wahrheit wird zur Lüge,
weil Berechnung aus ihr spricht.

Schein statt Wesen nimmt sie wichtig;
Punkt für Punkt und Strich an Strich,
alles Einzelne ist richtig,
aber nie vereint es sich.

Und so gibt sie statt Gestalten
allerhand Geberden nur,
die viel Studium enthalten,
aber Leben keine Spur.

Statt Natur zu offenbaren,
ist's ein schulgerecht Verfahren,
Wahrheit nach dem A-B-C -
ach, ihr tut mir leid und weh!
S. 135

Einem und jedem Schöpfer
Du hast uns mehr als Leben,
du hast uns aus dem Geist,
der das Leben speist,
eine Welt gegeben.
S. 137

Kunstgenuss
Wie man würdig Kunst empfängt?
Wenn man würdigt, was sie schenkt!

Nimm, vernimm, und frag nicht viel,
tiefster Ernst wird höchstes Spiel;
sieh nur, mit dem Schmerz der Zeit
spielt die ewige Seligkeit.

Schönheit wird wie Glück empfangen:
Freude krönt dein bang Genießen,
und die Freude ein Verlangen,
sich als Liebe zu erschließen.
Denn der Schöpfung schöne Hülle
hält ihr Wesen wohlverwahrt,
ist von Reiz so spröd wie zart
und erschließt des Glückes Fülle
Dem nur, dessen eigne Art
die Art des Schöpfers offenbart
.
S. 139

Stossgebete
Aus der Enge in die Weite
drängt die Seele, lockt das Leben.
O entfalte, Herz, dein Streben,
eh's der Tod ins All befreite!

Neue Gefühle:
neue Ziele:
neue Riegel.
Flügel! Flügel!

Gefühl treibt eins das andre fort;
o gieb uns, Geist, das Fassungswort!
S. 143

Sprachgeheimnis
Was wir reden,
ist nicht für Jeden.
Es will nur zeigen,
was wir beschweigen.
Das wirkt, das ist uns Allen eigen.
S. 143

Die Vollendung
Metaphysisches Oratorium
EINE GEISTERSCHAAR
den Herrn der Kraft geleitend:
Kommt, frohlockt dem Herrn der Gewalten,
Geister der Lust, der Liebe zum Leben,
die wir aus Sonnen Gluten entfalten,
die wir Sonnen aus Gluten weben!
Seht von Erden zu Monden ihn schreiten,
Samen ihn streun mit strahlender Hand:
um seine Schultern brausen die Weiten,
Sterne bekränzen ihm Haupt und Seiten,
feurige Nebel sind sein Gewand.

GESANG DER MENSCHEN
aus der Tiefe
Doch was frommt dem Sterblichen
ewiger Mächte maßlos Recht?
Aus seines Schicksals engem Becher,
mit harten Würfeln,
werft ihr dem Schwachen bald Wonne bald Schmerz.

EINE ANDRE GEISTERSCHAAR
den Herrn der Ordnung geleitend:
Hört sie, die wir doch zur Freude schufen!
durch das Weltall dröhnt ihr dumpfes Rufen:
Qual nur zeugt der wilde Liebesgott.
Doch den rohen Trieben lebt ein Meister,
ihm lobsingen alle milderen Geister,
ihm erschallt kein Klagelied zum Spott.
Vor dem Joch der Lüste schützt er weise
mit dem Band der Pflichten seine Kreise.
Die nach Frieden schmachten,
er bezähmt ihr Trachten;
der Gewohnheit sanfte Kraft
läutert nun die trübe Leidenschaft.

DIE MENSCHEN:

Doch wer stillt die Sehnsucht,
wer erbarmt sich, ach, des Erdensohns!
Weh: ein Sklave der Freiheit selbst,
ewiger Mächte eherne Ketten schleppt er.

DER HERR DER KRAFT:
Aus dem Strudel der Liebe quellen
all eures Lebens Ströme und Wellen,
wälzt sich der Wünsche uferlos Meer.
Folgt nur, folgt den bewegenden Wogen:
willig zusammen ins Weite gezogen,
wachsen die Kräfte zum wuchtigen Heer.
Das ist ein Schäumen, das ist ein Schweben,
das ist ein rastlos Bäumen und Beben
hin durch Höhen und Tiefen des Glücks;
doch wer bedachtsam wehrt den Mächten,
die den Reigen des Daseins flechten,
spürt die Leere des Augenblicks.
Immer in Zweifel zerläuft der Gedanke,
oder nur höher häuft er die Schranke
um den versessenen Geist empor;
aber im Zaubermantel der Liebe
trägt dich der lachende Sturm der Triebe
auf vom Staub und ins Himmelstor.
Soll dein Sehnen nicht siech verwehen,
mußt du den Wirbel der Lust bestehen,
an dich reißen, was dir gefällt;
nur durch die Pforte, durch die dich ins Leben
die Brünste stießen, kann dein Streben
brünstig zurück in den Schooß der Welt.

DIE MENSCHEN:
Bebend lauscht der gefangene Blinde:
soll er folgen den lockenden Klängen?

DIE GEISTER DER LÜSTE:
Folgt nur, folgt! so fällt die Binde,
fallen die Banden, die euch zwängen.
Auf aus dem drückenden Dunkel der Pflicht!
euch lockt der Freiheit entzückendes Licht.

DIE MEISTEN MENSCHEN
stimmen ein:

Auf aus dem drückenden Dunkel der Pflicht!
uns lockt der Freiheit entzückendes Licht.

DIE GEISTER DER PFLICHTEN:
Weh den gern betrognen Toren,
rasch erlischt der Traum vom Glück;
immer sinkt zum Staub zurück,
was von Staubes Stoff geboren.

DER HERR DER ORDNUNG:

Nach dem Urquell seines Lichtes
wendet immer wieder sich dein Blick empor;
aber immer senkt er sich geblendet,
trüber siehst du alles als zuvor.
Zwar versinkst du in der Sonnenfülle
eine selig helle kurze Frist,
doch du fühlst, daß deines Auges Hülle
Heil und Notdurft deiner Sehkraft ist.
Willst du nicht dem öden Drang entsagen,
der nur buhlt um eine flüchtige Lust?
Wer nur immer will nach Wonnen jagen,
wird nur bittrer seines Wehs bewußt.
Der Genuß geht im Genuß verloren,
eilender berührt er als ein Hauch;
nur vom Augenblick wird er geboren,
mit dem Augenblick erstirbt er auch.
Aber allem Wechsel überlegen
thront die Freude der Zufriedenheit;
beuge deine Stirne ihrem Segen,
leg in ihren Schooß dein eitles Leid!
Lerne auf das frevle Glück verzichten,
das sich nähren muß von fremder Qual!
Alle Sehnsucht sucht ihr Heil in Pflichten;
bändige des Herzens wilde Wahl!
Ohnmacht rächt den Taumel der Sekunden;
aber ewige den Bund der Kraft,
und gestillt wird Herz an Herz gesunden,
unberührt vom Leid der Leidenschaft.
Ruhlust übermannt den Schwall der Schmerzen,
den die Wollust immer rege hält;
wer so ruht an einem Menschenherzen,
ruht am Herzen dieser ganzen Welt.

DIE MENSCHEN:

Wieder winkt aus Nacht und Grauen
dem einsam irrenden Wandrer ein Licht.
Trügt es? Führt es zum schützenden Herd?

DIE PFLICHTEN:
Sagt es euch die treue Stimme nicht,
die so heilig in euch spricht,
daß sie allem Zweifel wehrt:
wollt ihr eurem Glauben nicht mehr trauen?
Nur der gläubige Pilgr wird die Auen,
wo der Friede wartet, schauen.


DIE MEISTEN MENSCHEN:
Ja, wir glauben, wir vertrauen.
Gläubige Pilger, werden wir die Auen,
wo der Friede waltet, schauen.


DIE LÜSTE:

Jammer und Fluch! in Trägheit verstricken
wollen sie listig das blinde Geschlecht,
wollen den Sterblichen schmeichelnd berücken
um sein lebendiges Schöpfer-Recht.
Sehnsucht und Wille, Wahl und Verlangen,
himmlische Keime irdischer Werke,
sollen im Wucher der eignen Stärke
den Drang ersticken, dem sie entsprangen?


DIE MENSCHEN ALLE:
Weh uns! in ewigem Zwiespalt
hadern die ewigen Mächte
um die Seele des Menschensohns.
Jäh von Zweifel zu Zweifel,
froh des Kampfspiels, schleudern sie
um wie Bälle von Wand zu Wand;
nimmer rührt sie der irdische Schmerz.
Ach, wann kommt der Heiland,
der den Glauben uns schenkt
an die Liebe der Himmlischen,
der die Hoffnung uns bringt
auf Erlösung der Sterblichen?
Wann einst dürfen wir offen
unserm Schicksal ins herrische Antlitz schaun,
das aus bleierner Maske dumpf
auf die Gebannten herab
rätselumschauerten Auges starrt!


DER HERR DER KRAFT:
Will der Gram euch wieder beschleichen?
Laßt die Waffen der Lust euch reichen!
Liebe gibt Leben, gibt fröhlichen Krieg.


DIE LÜSTE:

Auf! euch schützen die schrankenlos schaltenden
Diener des Meisters, des rastlos gestaltenden;
sein ist die Herrschaft, sein ist der Sieg.


DER HERR DER ORDNUNG:

Flieh die Wünsche! trüb ist ihr Gewühle.
Suche, bis dir still die köstlich kühle
Quelle einer klaren Seele lacht.

DIE PFLICHTEN:
Kommt! euch helfen die heilsam waltenden
Diener des Meisters, des friedsam erhaltenden;
sein ist die Hoheit, sein ist die Macht.

DIE MENSCHEN:
Weh, uns starb der Glaube
an die Liebe der Himmlischen.
Weh, uns stirbt die Hoffnung
auf Erlösung der Sterblichen.
Ach, wann kommt der Heiland?
Wer verklärt uns unser Geschick?


DER GEIST DER MENSCHHEIT
erscheint:

Die ihr im Abgrund
brütet in Schweigen,
seht aus dem Abgrund
die Rettung steigen!
Denn aus den Tiefen,
drinnen ihr kreist,
wurde und wuchs auch
euer Geist;
und zu den Tiefen wieder,
die ihn erschufen,
neigt er sich nieder,
den ihr gerufen.
Lernt, O lernt in der Taufe der Not
aller Erlösung innerst Gebot:
dem ihr vergebens
flucht, dem Leid
dankt ihr des Lebens
Unendlichkeit:
nur wer gebannt ist in tägliche Pein,
will sich erlösen, will ewig sein.
Wenn dann in Zweifels läuternden Fluten,
wenn dann in Schmerzes stählenden Gluten
einsam der Mensch zu vergehen meint:
dann erscheint,
der zu den Mächten des Alls ihn eint,
der zu ewiger Wirksamkeit
sein vergängliches Wirken befreit,
der im Erschaffenen schaffend sich weist,
erscheint der Menschheit heiliger Geist.


DIE MENSCHEN:
Hört des Erbarmers mahnende Stimme!
Ja, wir bedachten das Ziel nicht,
das Alle versöhnende, einende Ziel.
unsrer Vollendung selige Zeit.
Aber, ein gütiger Vater,
zürnt er den irrenden Kindern nicht,
weist er den Suchenden wieder den Weg;
hört den gütigen Vater!


DIE LÜSTE UND PFLICHTEN
gemeinsam:

Welche wundersamen Töne,
treiben plötzlich uns zu Paaren!
was bewegt die undankbaren,
nie zufriednen Erdensöhne?
Ach, und will uns selber nicht
eine alte Ahnung beschleichen,
daß wir müssen dem Mächtigen weichen,
fürchten müssen, was er spricht?!


DER GEIST DER MENSCHHEIT:
Aller der Kräfte Schaar
ist mir verbündet,
wenn ihr ergründet,
was mich gebar.
Die um euch ringen, die in euch toben,
haben auch Mir die Schwingen gehoben;
denn von den Kämpfen, die euch plagen,
laß Ich mich willig nach Oben tragen.
Nur nicht gewaltsam
abgewehrt,
was unaufhaltsam
Leben begehrt!
Müßt euch versenken
tief in den innern Streit,
fühlend zerdenken,
was in euch schreit.
Wie's immer wühlt:
wenn ihr's zerrfühlt,
seid ihr befreit.
Nur wie ihr's auslegt, wird's euch bewußt,
wird Heil aus Unheil, Qual aus Lust.
Denn der Kreislauf der waltenden Mächte
will nicht das Gute, will nicht das Schlechte.
Was euch mit Willen, mit Sehnsucht füllt:
wie ihr's begreift, wie ihr's enthüllt,
wird es das Falsche, wird es das Rechte.
Die euch gestalten,
die euch erhalten:
schaffend zerstörende,
tötend gebärende
Weltgewalten:
deckt ihr in eurem
ihr Wirken auf,
lenkt ihr mit eurem
ihren Lauf.
Die in euch wühlen,
alle die Geister,
müssen denn fühlen:
Ich bin ihr Meister!


GEBET DER MENSCHEN:

Danket dem gütigen Vater!
Rühme dich, Menschheit, des herrlichen Namens!
Die uns dem Tode weihn,
die Ihm das Leben gaben,
dunkle Gewalten,
müssen sich beugen dem leuchtenden Sohn.
Geist des Heils, erlöse uns!
Denn wir spüren es,
unbezwinglich
wartet der Wille der Tiefe:
immer im jungen Bild
will er das alte,
eigenen Bildes Wiedergeburt,
und stürzt in Schuld das neue Geschlecht.
Höchster, erhebe uns!
Reinster, laß uns
täglich glühn dein nährend Licht,
daß wir wachsen und fühlen,
welche der Mächte,
die uns unklar versuchen,
Dein Reich zu uns kommen lassen:
unsrer Vollendung selige Zeit!
Du, der Klarheit heiliger Geist,
aller Gewalten allgewaltiger Sohn du,
Vater der Zukunft, ewiger Vater:
wen Du mit Deiner
Sehnsucht erfüllst,
der ist erlöst.


DIE LÜSTE UND PFLICHTEN:

Weh, der Trotz der Schwachen schwand,
ist in Demut ganz vergangen;
weh, nun schwindet auch ihr Bangen,
das sie gab in unsre Hand.
Lust und Pflicht, die ihnen schienen
höchster Urgewalten zwei,
rufen sie nun selbst herbei,
einem Höheren zu dienen.
Geist der Ordnung, Geist der Kraft,
weh, in Schweigen harrn Beide,
wie der Mächtige entscheide,
wer am reichsten für ihn schafft.

DER HERR DER KRAFT
Wollt ihr verzagen?
greisisch entsagen.
heißerem Streit winkt süßerer Sieg!
Aus dem Gewühle
blöder Gefühle
tauchte der Wunsch, dem Begeistrung entstieg;
Inbrunst bezwang den brünstigen Feind,
Kampf und Liebe sind ewig geeint.
Nur wer zu ringen hat, erlebt den Vollgenuß;
wer im Besitz ist, den würgt der Überdruß.
Schwül ist des Friedens Luft,
Ruhe die dumpfe Gruft,
aus der die Werdelust aufschreit nach Licht!

DER HERR DER ORDNUNG:

Doch die Edeltriebe
seliger Nächstenliebe
wuchsen all im schmalen Beet der Pflicht.
Eine zarte Blume
ist die Menschlichkeit;
nicht wo wild einherstürmt die Natur,
in dem Heiligtume
milder Sitte nur
sprießt die scheue Knospe und gedeiht.

DIE MENSCHEN:
Führe uns, Vater,
nimm uns gnädig an die Hand!
Denn es schreitet die Wahrheit,
deine listige Tochter,
verhüllten Wandels ihre Bahn,
die Füße im Staub,
das Haupt in Wolken,
die spärliche Leuchte
mit dunkeln Fingern schützend.
Doch wen sie anglänzt, nur von fern,
der muß von fern, von fern ihr folgen,
nicht wissend warum,
nicht wissend wohin,
ewig bleibt sie unberührt.
Reich uns, Vater, Du die Hand;
deine Tochter, die Wahrheit,
lockt uns sonst ins Nebelland,
du Herr der Klarheit!

DER GEIST DER MENSCHHEIT:

Wollt ihr verstehen,
wie die Gewalten
schöpferisch schalten,
müßt ihr sehen,
was sie entfalten!
Keine bringt
den andern Untergang:
jede bedingt
der andern Lebensdrang.
Denn es vergeht
nur der Gestalten Art;
doch was als Wesen sich offenbart,
ist und besteht.
Ewig notwendig
bleibt das Ursprüngliche,
das Alt-Verjüngliche,
immer lebendig;
aber sein Wesen
könnt ihr nur lesen,
seht ihr mit Andacht an,
wie es Gestalt gewann.
Denn nur das Endliche
ist das Verständliche;
und die Erscheinung
ist die Vereinung
alles Bestehenden,
alles Vergehenden.

DIE LÜSTE:

Aus dem Gewühle
blöder Gefühle
tauchte der Wunsch, dem Beseelung entstieg!
Seht, euch reizten die schrankenlos schaltenden
Diener des Meisters, des rastlos gestaltenden;
Er, Er brachte der Menschheit den Sieg!


DIE PFLICHTEN:

Doch die edleren Samen,
die zur Blüte kamen,
wuchsen nur durch Zucht und stete Wacht!
Seht, euch schützten die heilsam waltenden
Diener des Meisters, des friedsam erhaltenden;
Er, Er wahrt der Menschheit die Macht!


DIE MENSCHEN:

Vater, erleuchte uns.
was bringt Glück?!
Alle Genüsse
bietet die Lust;
doch den Frieden
wahrt die Pflicht.
Ach, aber enge
scheint die Pflicht,
und die Welt ist weit, ist weit.
Und der Augenblick nur lockt,
doch mit der Zukunft
droht die Zeit.
Vater, führe uns,
O verklär uns unser Geschick!

DER GEIST DER MENSCHHEIT:
Wenn auf der Wage deiner Gedanken
unstät deine Wünsche schwanken,
schmähe nicht den Augenblick;
Augenblick bestimmt die Zeiten,
lerne dir ihn vorbereiten,
dann verstehst du dein Geschick.
Nein, mit nichten sollt ihr verzichten
auf die Lust, sie weckt die Kraft;
aber, weil sie sonst erschlafft,
lernt euch Pflichten
draus erdichten!
Seht: aus Einem Leib
schieden in Mann und Weib
einst die Gewalten
ihre Gestalten,
schöner in ihnen sich selbst zu entfalten,
reiner, freier, eigner zu schalten.
Und so werde im Menschen die Lust
ihrer göttlichen Pflicht bewußt;
was sich nur schied, daß es wachse an Stärke,
eint sich dann neu dem unendlichen Werke.
So gewinnt die Werdegewalt
in Gesetzen klare Gestalt,
so erkämpfen ihr festen Grund
die Kraft, die Ordnung in heimlichem Bund.

KRAFT UND ORDNUNG
gemeinsam:
Ihr habt gehört das Heilandswort:
nicht streiten Lust und Pflicht hinfort,
wenn ihr dem einen Ziele lebt,
zu dem All-Alles treibt und strebt:
die kämpfenden Mächte feiern Versöhnung
im Heim der Allmacht, zu ihrer Verschönung.
Denn immer williger enthüllt
der Geist sich, der die Welt erfüllt;
drum ward der Triebe irre Lust
zu steter Liebespflicht bewußt,
drum will der Menschenseele Sinn
mit allen Sinnen zur Menschheit hin.


DIE LÜSTE UND PFLICHTEN:

Die kämpfenden Mächte feiern Versöhnung
im Heim der Allmacht, zumWerk derVerschönung.
Drum will der Mensch, je mehr allein,
mit aller Macht ein Allmensch sein;
drum strahlt ihm jegliches Gestirn
Beseligung durch Herz und Hirn.


DIE MENSCHEN:

O Glück! nun klärt sich uns die Welt,
von allem Wahrheitswahn befreit:
in jedem seligen Augenblick
enthüllt sich uns die Ewigkeit.


DER GEIST DER MENSCHHEIT:
Denn Eines füllt den Augenblick
und hebt dich über alle Zeit
und eint dich mit der ganzen Welt:
das Glück der Selbstvergessenheit
-

ALLE:
das aus der Fülle seiner Kraft
ein Bild der ewigen Ordnung schafft.
S. 144-161

Das erlösende Wort
Er weinte, schwieg. Noch, hier ich ihn stammeln,
höre ihn leiden bei jedem Laut,
und höre das Lied meiner Seele dazu,
o selig Lied!

»Ich b-b-b-bebe« - ich bebe mit,
»wie kein M-M-Mensch sonst« - wie einst der Urmensch,
»bei j-jedem W-Wort« - armer Sünder!

»Jedes Wort« - einst Gestammel -
»ist m-mir haha-heilig« -
ist Allen heiliger noch als dir;
»sie aber lalala-lachen darüber!«
sie lachen, und du leidest noch?

»Ich k-kann nie s-sagen« - wer kann je sagen,
»was meine S-Seele will« - Aller Seele!
»ich b-bin so verlassen« - vom einigen Geist.

»Nur m-manchmal, w-wenn ich mein Lalala-Leiden
v-vergesse« -
o lache, befreiter Geist -
»dann glückt mir« - o Glück - »das erlösende Wort«.
Er weinte, schwieg. S. 162
Aus: Erlösungen, Gedichte und Sprüche von Richard Dehmel, S. Fischer/Verlag/Berlin