Isidore Marie Auguste Francois-Xavier Comte (1798 – 1857)

Französischer Philosoph; Comte war überzeugter Atheist und einer der Begründer des Positivismus. Er lehnte alle Metaphysik und Absolutheitsvorstellungen ab und leugnete die Erkenntnismöglichkeit eines An-sich-Seins der Dinge. Seine Auffassung, die auch das neuzeitliche Verständnis der Naturwissenschaft mitprägte, gründet sich auf empirische Beobachtung von Tatsachen, aus denen mit Hilfe von logischem Denken auf die Konstanz von Beziehungen zwischen den sinnlichen Phänomenen nach Art von Naturgesetzen geschlossen wird, wobei er zwischen abstrakten und konkreten Wissen unterschied. Zu letzteren rechnete er vor allem die Erforschung der Gesellschaft, für die er den Namen »Soziologie« prägte. Er deutete die gesellschaftliche Entwicklung nach seinem »Dreistadiengesetz« (Theologie, Metaphysik, Wissenschaft) als Fortschritt von der theologischen zur metaphysischen und zur positiven Weltdeutung, deren Ausdruck und Verwirklichung die wissenschaftliche Philosophie des Positivismus sei. In der Spätzeit entwickelte er spekulativ-mystische Vorstellungen.

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Über Wesen und Bedeutung der positiven Philosophie.

Bei Betrachtung der Entwicklung des menschlichen Geistes in all seinen verschiedenen Wirkungssphären seit seinem unscheinbaren Aufkeimen bis zur Gegenwart glaube ich ein großes allgemeines Gesetz gefunden zu haben, dem er mit unabwendbarer Notwendigkeit unterworfen ist. Es kann, wie ich meine, fest und sicher begründet werden durch die wissenschaftlichen Theorien über unsere Organisation und die Bestätigungen, welche eine genaue geschichtliche Erforschung der Vergangenheit gegeben hat. Dies Gesetz sagt, daß all unsere letzten Gedanken und einzelnen Kenntnisse nacheinander drei verschiedene Stadien des Erkennens durchlaufen: das theologische oder fiktive, das metaphysische oder abstrakte, das wissenschaftliche oder positive. Mit anderen Worten: der menschliche Geist wendet nach einem Gesetze seiner Natur nacheinander bei jeder seiner Untersuchungen drei Methoden des Philosophierens an, welche ihrem Wesen nach verschieden und selbst einander absolut entgegengesetzt sind: zuerst die theologische Methode, dann die metaphysische und endlich die positive. Daraus entstehen drei Arten der Philosophie oder allgemeine Systeme von Gedanken über den Zusammenhang der Dinge, welche sich gegenseitig ausschließen: die erste ist der notwendige Ausgangspunkt des menschlichen Denkens, die dritte sein End- und Ruhepunkt, die zweite dient nur als Übergang von dem einen zum anderen.

Im theologischen Stadium richtet der menschliche Geist seine Untersuchungen im wesentlichen auf die innere Natur der Dinge und die ersten Ursachen und letzten Ziele alles Geschehens, mit einem Wort: auf eine absolute Erkenntnis. Er sieht in allen Vorgängen das unmittelbare, ununterbrochene Wirken von mehr oder minder zahlreichen übernatürlichen Wesen, deren vermeintliches Eingreifen alle Unregelmäßigkeit im Weltall erklären soll, die ihm in die Augen fällt.

Im metaphysischen Stadium, das im Grunde nur eine einfache Abänderung des ersten ist, werden die übernatürlichen Wesen ersetzt durch abstrakte Kräfte, als wirklich gedachte Wesenheiten (personifizierte Abstraktionen), welche den verschiedenen Dingen der Welt innewohnen sollen. Ihnen schreibt man die Fähigkeit zu alle beobachteten Erscheinungen zu verursachen, deren jede dann durch Ableitung aus einer entsprechenden Wesenheit erklärt wird.

Im positiven Stadium erkennt man endlich die Unmöglichkeit, absolute Erkenntnis zu gewinnen; man verzichtet darauf, Ursprung und Bestimmung des Weltalls zu ergründen und die inneren Ursachen der Erscheinungen zu begreifen. Man strebt einzig und alleine danach, durch wohlüberlegte Vereinigung von Theorie und Beobachtung ihre wirkenden Gesetze, das heißt ihre unveränderlichen Beziehungen nach Zeitfolge und Ähnlichkeit zu entdecken. Die Erklärung der Vorgänge, so erst auf ihr wahres Gebiet beschränkt, besteht jetzt nur noch in der Vereinigung der verschiedenen Einzelerscheinungen mit einigen allgemeinen Tatsachen, deren Zahl die fortschreitende Wissenschaft immer mehr zu vermindern strebt.

Das theologische System erreichte seine höchstmögliche Vollkommenheit, als es das voraussehende Handeln eines einzigen Wesens an die Stelle des wahllosen Eingreifens zahlreicher, unabhängiger Gottheiten setzte, die eine primitive Einbildungskraft erdacht hatte. Ebenso liegt die letzte Vollendung dem metaphysischen Systems in dem Gedanken einer einzigen großen allgemeinen Wesenheit an Stelle verschiedener einzelner: der N a t u r, betrachtet als die einzige Quelle aller Erscheinungen. Ebenso würde die Vollkommenheit der positiven Philosophie, welcher sie sich immer mehr zu nähern strebt, ohne sie wohl jemals zu erreichen, darin bestehen, daß es gelingt, sich die getrennt gegebenen Erscheinungen als besondere Fälle einer einzigen letzten Tatsache zu denken, wie zum Beispiel der Tatsache der Schwerkraft.

Es ist hier nicht der Ort, dies allgemeine Gesetz der geistigen Entwicklung der Menschheit im einzelnen zu erweisen, es scheint mir genug, daß ein solches Gesetz ausgesprochen wird, um unmittelbare Anerkennung bei allen zu finden, welche eine eindringende Kenntnis der allgemeinen Geschichte der Wissenschaften besitzen. Letztere sind heute alle in das positive Stadium gelangt, waren aber früher im wesentlichen aus metaphysischen Abstraktionen zusammengesetzt, nachdem sie anfangs von theologischen Begriffen beherrscht wurden.

Diese allgemeine Umwälzung des menschlichen Geistes findet heute außerdem eine sehr einleuchtende, obgleich indirekte Bestätigung, wenn wir die geistige Entwicklung eines Individuums betrachten.

Der Ausgangspunkt ist bei dem Bildungsgange des Einzelnen derselbe wie bei dem der Gattung, und die verschiedenen Phasen des ersteren müssen die allgemeinen Epochen des letzteren darstellen. Wer erinnert sich nicht in bezug auf seine wichtigsten Erkenntnisse nacheinander ein Gläubiger als Kind, ein Metaphysiker als Jüngling, ein naturwissenschaftlich Forschender als Mann gewesen zu sein?

Doch ich möchte vor allem die theoretischen Gründe betrachten, welche die Notwendigkeit dieses Gesetzes erkennen lassen. Der wichtigste von ihnen liegt in der Natur der Sache, er besteht in dem Bedürfnis jedes Zeitalters nach einer die einzelnen Tatsachen verbindenden Theorie, obgleich es doch offenbar unmöglich für den jugendlichen menschlichen Geist ist, Theorien nach Beobachtungen zu bilden.

Seit Bacon wiederholen alle guten Köpfe, daß wahre Erkenntnis nur aus der Beobachtung von Tatsachen gewonnen werden kann. Dieser Grundsatz gilt, wenn man ihn richtig anwendet, zweifellos für das Mannesalter unseres Denkens. Ebenso gewiß ist aber, daß bei der ersten Bildung von Erkenntnissen der menschliche Geist in seinem primitiven Zustande so nicht denken konnte und auch nicht durfte, denn wenn auch jede Theorie notwendig auf Beobachtungen geführt sein muß, so ist doch anderseits klar, daß wir zur Beobachtung irgend einer Theorie bedürfen. Wenn wir die Beobachtung der Erscheinungen nicht sogleich nach bestimmten Grundsätzen einrichten würden, wäre es uns nicht allein unmöglich, diese vereinzelten Beobachtungen zu vereinigen und dann daraus irgend ein Ergebnis zu ziehen, wir wären sogar gänzlich unfähig, sie festzuhalten: wir würden blind sein mit offenen Augen.

So befand sich das menschliche Denken an seinem Beginn eingeschlossen in einen Kreis, aus dem es nie herausgekommen wäre, wenn sich nicht ein glücklicher Ausweg geöffnet hätte durch die natürliche Entwicklung der theologischen Ideen. Sie gaben den Anstrengungen des Denkens ein gemeinsames Ziel und Stoff seinem Tatendrang.

Daß es so kommen mußte, wird noch deutlicher, wenn wir betrachten, wie vollkommen die theologische Philosophie mit der Eigenart der Probleme übereinstimmt, an deren Überwindung der jugendliche menschliche Geist seine ganze Kraft einsetzt. Es ist merkwürdig, daß sich unser Denken in diesem primitiven Zustande gerade die für uns immer unlösbaren Fragen stellt: nach dem Wesen der Dinge, Anfang und Ende der Welt. Alle wirklich lösbaren Probleme werden kaum ins Auge gefaßt, als wären sie unwert eines ernsteren Nachdenkens. Man sieht leicht den Grund: die Erfahrung allein hat uns das Maß unserer Kräfte zeigen können. Hätte der Mensch nicht mit einer übertriebenen Schätzung seines Könnens begonnen, er hätte niemals entwickeln können, was in ihm lag. So fordert es unsere Organisation.

Sehen wir auf die praktische Bedeutung dieses Philosophierens für den primitiven Menschen, so hatte es für ihn den Reiz, daß er sich als unumschränkten Herrscher fühlte über die ihn umgebende Welt, welche ganz für seinen Nutzen eingerichtet zu sein schien. Diese chimärischen Hoffnungen, diese übertriebenen Anschauungen von der Bedeutung des Menschen innerhalb des Weltalls entstehen aus der theologischen Philosophie, werden aber für immer beim ersten Einfluß der positiven Philosophie zerstört. Indessen, sie sind die unentbehrliche Triebfeder, ohne welche der Entschluß des primitiven Menschen zu so mühsamen Arbeiten unerklärt bleibt. Wir sind erst jetzt reif genug. um schwierige wissenschaftliche Untersuchungen zu unternehmen, ohne daß ein außerordentliches Ziel unsere Phantasie entflammt, wie es bei der Astrologie und Alchymie der Fall war.

Es ist jetzt sehr leicht einzusehen, daß der menschliche Geist, um von dieser vorläufigen Philosophie zur endgültigen überzugehen, natürlich als Übergangsphilosophie die metaphysischen Methoden und Lehren annehmen mußte. Die Theologie und die Physik sind so durchaus unvereinbar, ihre Art zu denken ist so ganz und gar entgegengesetzt, daß der menschliche Geist, ehe er auf die eine verzichtete, um ausschließlich die andere anzuwenden, sich vermittelnder Begriffe bedienen mußte, welche durch ihren zwiespältigen Charakter den Übergang erleichtern konnten. Dies ist die natürliche Bestimmung der metaphysischen Begriffe: sie haben sonst keinen wirklichen Nutzen. Wenn nun der Mensch bei der Erforschung der Erscheinungen an die Stelle einer übernatürlichen Leitung eine den Dingen entsprechende und von ihnen abtrennbare Wesenheit zur Erklärung einsetzte, so wurde diese zwar zuerst begriffen wie eine Ausstrahlung aus jener, aber allmählich gewöhnte man sich daran, nur die gegebenen Tatsachen zu betrachten. Auch wurden die Begriffe dieser metaphysischen Anschauungen allmählich so verfeinert, daß sie für ein klares Denken nur noch abstrakte Namen der Vorgänge waren.

Es wird mir nun leicht sein, das Wesen der positiven Philosophie scharf zu bestimmen. Für sie sind alle Vorgänge unveränderlichen, natürlichen Gesetzen unterworfen, deren genaue Entdeckung und Zurückführung auf eine möglichst geringe Anzahl das Ziel all ihrer Bestrebungen ist. Für sie ist es ein völlig aussichtsloses und sinnloses Unternehmen, nach ersten Ursachen und letzten Zwecken zu forschen. Selbst in den vollendeten, völlig gelungenen positiven Erklärungen haben wir nicht die Anmaßung, die erzeugenden (schaffenden) U r s a c h e n der Vorgänge darzustellen, da wir so nur die Schwierigkeiten hinausschieben würden, Wir wollen nichts als die Bedingungen ihres Auftretens exakt zergliedern und sie untereinander durch die gewöhnlichen Beziehungen von Zeitfolge und Ähnlichkeit verknüpfen.

Um das bewundernswürdigste Beispiel zu nennen: wir sagen, daß die allgemeinen Vorgänge im Weltall e r k l ä r t sind, soweit dies möglich ist, durch Newtons Gesetz der Gravitation. Denn diese schöne Theorie zeigt einerseits, dass die grenzenlose Mannigfaltigkeit der astronomischen Erscheinungen ein und derselbe Vorgang ist, nur von verschiedenen Gesichtspunkten aus angesehen; anderseits wird uns dies allgemeine Geschehen dargestellt auf Grund einer einfachen Verallgemeinerung eines uns ganz vertrauten Vorgangs, der Schwere der Körper auf der Erdoberfläche, und deshalb betrachten wir es als völlig erkannt. Die Frage, was Anziehung und Schwere selbst und welches ihre Ursachen seien, gehört zu den unlösbaren und nicht in das Gebiet der positiven Philosophie, und wir überlassen sie mit Recht der Einbildungskraft der Theologen oder der Spitzfindigkeit der Metaphysiker. Der offenbare Beweis für die Unmöglichkeit, auf solche Fragen Antwort zu erhalten, liegt in der Tatsache, daß bei allen Versuchen, etwas wirklich Wissenschaftliches hierüber auszusagen, die größten Geister immer nur das eine Prinzip durch das andere bestimmen konnten; entweder sagten sie, daß die Anziehung nur eine allgemeine Schwere, oder daß die Schwere nur eine Anziehung der Erde sei. — — — —

Ich habe nun zu untersuchen, zu welcher Phase ihrer Ausbildung die positive Philosophie heute gekommen ist und was noch übrig bleibt, um alle Erscheinungen ihr unterzuordnen.

Ich erinnere zunächst daran, daß die verschiedenen Zweige unserer Kenntnisse die drei groben Phasen ihrer Entwicklung nicht gleichmäßig schnell durchlaufen konnten. Es besteht hier ein unveränderliches und notwendiges Gesetz. Es entspricht der verschiedenen Natur der Erscheinungen und wird bestimmt durch den verschiedenen Grad ihrer Allgemeinheit, Einfachheit und gegenseitigen Abhängigkeit. So sind zuerst die astronomischen Vorgänge durch positive Theorien begriffen worden, dann die physikalischen im eigentlichen Sinne, dann die chemischen und schließlich die physiologischen.

Umfaßt nun die positive Philosophie heute alle Arten der Erscheinungen? Offenbar ist dies nicht der Fall. Es ist noch viel wissenschaftliche Arbeit zu tun, um der positiven Philosophie den Charakter der Universalität zu geben, welcher zu ihrer endgültigen Herrschaft unentbehrlich ist.

Tatsächlich ist innerhalb der vier soeben genannten Hauptkategorien der natürlichen Erscheinungen eine Lücke. Die sozialen Vorgänge verdienen, obgleich sie mitbegriffen werden unter den physiologischen Vorgängen, wegen ihrer Bedeutsamkeit und eigentümlichen Schwierigkeiten für die Forschung, eine besondere Kategorie zu bilden. Diese letzte Begriffsreihe, welche sich auf die eigenartigsten, zusammengesetztesten und am meisten von den anderen beeinflußten Erscheinungen bezieht, mußte sich schon deshalb langsamer vollenden als die vorigen. Es ist einleuchtend, daß sie in den Bereich der positiven Philosophie noch nicht eingetreten ist. Die theologischen und metaphysischen Methoden sind hier noch allein im Gebrauch, obgleich alle guten Köpfe schon völlig davon überzeugt sind, daß sie für diesen Zweck nicht ausreichen.

Das ist die große, aber offenbar einzige Lücke, welche ausgefüllt werden muß, um die Herrschaft der positiven Philosophie ganz zu begründen. Jetzt, wo der menschliche Geist eine Physik des Himmels, der Erde, der organischen Wesen begründet hat, bleibt ihm übrig, das System der Erfahrungswissenschaften zu schließen durch Begründung einer s o z i a l e n P h y s i k. Dies ist heute das größte und dringlichste Bedürfnis unseres Denkens: es ist der erste, der besondere Zweck dieses Werks.

Meine Auffassung der sozialen Vorgänge will dieser Wissenschaft nicht die gleiche Vollkommenheit wie den vorerwähnten verschaffen, aber sie soll dieser letzten Klasse unserer Erkenntnis den positiven Charakter aufprägen, welchen alle anderen schon haben. Wenn diese Forderung einmal wirklich erfüllt ist, so wird das philosophische System der Gegenwart als Ganzes begründet sein; denn jedes beobachtete Phänomen muß offenbar sich unterordnen lassen unter eine der fünf großen Kategorien, der astronomischen, physikalischen, chemischen, physiologischen und sozialen Vorgänge. Sind dann also unsere Grundbegriffe einartig, so wird die Philosophie endgültig den positiven Zustand erreicht haben, ohne jemals ihren Charakter ändern zu können. Sie kann sich nur unbegrenzt weiter entwickeln durch die immer wachsenden Neuerwerbungen, welche notwendig aus neuen Beobachtungen oder tieferen Überlegungen sich ergeben werden. Hat sie so den ihr jetzt noch fehlenden Charakter der Universalität erworben, so wird sie fähig sein, vermöge ihrer natürlichen Überlegenheit die theologische und metaphysische Philosophie zu verdrängen, deren einziger besonderer Wert diese Universalität ist. Ist ihnen diese werbende Kraft genommen, so werden sie für unsere Nachkommen nur noch eine historische Bedeutung haben.

Aus: Philosophisches Lesebuch (S.276-281) Herausgegeben von Max Dessoir und Paul Menzer Verlag von Ferdinand Enke, Stuttgart (1920)