Isidore Marie Auguste Francois-Xavier Comte (1798 – 1857)
Französischer Philosoph; Comte war überzeugter Atheist und einer der Begründer des Positivismus. Er lehnte alle Metaphysik und Absolutheitsvorstellungen ab und leugnete die Erkenntnismöglichkeit eines An-sich-Seins der Dinge. Seine Auffassung, die auch das neuzeitliche Verständnis der Naturwissenschaft mitprägte, gründet sich auf empirische Beobachtung von Tatsachen, aus denen mit Hilfe von logischem Denken auf die Konstanz von Beziehungen zwischen den sinnlichen Phänomenen nach Art von Naturgesetzen geschlossen wird, wobei er zwischen abstrakten und konkreten Wissen unterschied. Zu letzteren rechnete er vor allem die Erforschung der Gesellschaft, für die er den Namen »Soziologie« prägte. Er deutete die gesellschaftliche Entwicklung nach seinem »Dreistadiengesetz« (Theologie, Metaphysik, Wissenschaft) als Fortschritt von der theologischen zur metaphysischen und zur positiven Weltdeutung, deren Ausdruck und Verwirklichung die wissenschaftliche Philosophie des Positivismus sei. In der Spätzeit entwickelte er spekulativ-mystische Vorstellungen. Siehe auch Wikipedia |
Über Wesen
und Bedeutung der positiven Philosophie.
Bei Betrachtung der Entwicklung des menschlichen Geistes in all seinen verschiedenen
Wirkungssphären seit seinem unscheinbaren Aufkeimen bis zur Gegenwart glaube
ich ein großes allgemeines Gesetz gefunden zu haben, dem er mit unabwendbarer
Notwendigkeit unterworfen ist. Es kann, wie ich meine, fest und sicher begründet
werden durch die wissenschaftlichen Theorien über unsere Organisation und
die Bestätigungen, welche eine genaue geschichtliche Erforschung der Vergangenheit
gegeben hat. Dies Gesetz sagt, daß all unsere letzten Gedanken und einzelnen
Kenntnisse nacheinander drei verschiedene Stadien des
Erkennens durchlaufen: das theologische oder fiktive, das metaphysische
oder abstrakte, das wissenschaftliche oder positive. Mit anderen Worten: der
menschliche Geist wendet nach einem Gesetze seiner Natur nacheinander bei jeder
seiner Untersuchungen drei Methoden des Philosophierens an, welche ihrem Wesen
nach verschieden und selbst einander absolut entgegengesetzt sind: zuerst die
theologische Methode, dann die metaphysische
und endlich die positive. Daraus entstehen drei
Arten der Philosophie oder allgemeine Systeme von Gedanken über den Zusammenhang
der Dinge, welche sich gegenseitig ausschließen: die erste ist der notwendige
Ausgangspunkt des menschlichen Denkens, die dritte sein End- und Ruhepunkt,
die zweite dient nur als Übergang von dem einen zum anderen.
Im theologischen Stadium richtet der menschliche Geist seine Untersuchungen im wesentlichen auf die innere
Natur der Dinge und die ersten Ursachen und letzten Ziele alles Geschehens,
mit einem Wort: auf eine absolute Erkenntnis. Er sieht in allen Vorgängen
das unmittelbare, ununterbrochene Wirken von mehr oder minder zahlreichen übernatürlichen
Wesen, deren vermeintliches Eingreifen alle Unregelmäßigkeit im Weltall
erklären soll, die ihm in die Augen fällt.
Im metaphysischen
Stadium, das im Grunde nur eine einfache Abänderung des
ersten ist, werden die übernatürlichen Wesen ersetzt durch abstrakte
Kräfte, als wirklich gedachte Wesenheiten (personifizierte
Abstraktionen), welche den verschiedenen Dingen der Welt innewohnen sollen.
Ihnen schreibt man die Fähigkeit zu alle beobachteten Erscheinungen zu
verursachen, deren jede dann durch Ableitung aus einer entsprechenden Wesenheit
erklärt wird.
Im positiven Stadium erkennt man endlich die Unmöglichkeit, absolute Erkenntnis zu gewinnen;
man verzichtet darauf, Ursprung und Bestimmung des Weltalls zu ergründen
und die inneren Ursachen der Erscheinungen zu begreifen. Man strebt einzig und
alleine danach, durch wohlüberlegte Vereinigung von Theorie und Beobachtung
ihre wirkenden Gesetze, das heißt ihre unveränderlichen Beziehungen
nach Zeitfolge und Ähnlichkeit zu entdecken. Die Erklärung der Vorgänge,
so erst auf ihr wahres Gebiet beschränkt, besteht jetzt nur noch in der
Vereinigung der verschiedenen Einzelerscheinungen mit einigen allgemeinen Tatsachen,
deren Zahl die fortschreitende Wissenschaft immer mehr zu vermindern strebt.
Das theologische System erreichte seine höchstmögliche
Vollkommenheit, als es das voraussehende Handeln eines einzigen Wesens an die
Stelle des wahllosen Eingreifens zahlreicher, unabhängiger Gottheiten setzte,
die eine primitive Einbildungskraft erdacht hatte. Ebenso liegt die letzte
Vollendung dem metaphysischen Systems in dem Gedanken einer einzigen großen
allgemeinen Wesenheit an Stelle verschiedener einzelner: der N
a t u r, betrachtet als die einzige Quelle aller Erscheinungen. Ebenso
würde die Vollkommenheit der positiven Philosophie, welcher sie sich immer
mehr zu nähern strebt, ohne sie wohl jemals zu erreichen, darin bestehen,
daß es gelingt, sich die getrennt gegebenen Erscheinungen als besondere
Fälle einer einzigen letzten Tatsache zu denken, wie zum Beispiel der Tatsache
der Schwerkraft.
Es ist hier nicht der Ort, dies allgemeine Gesetz der geistigen Entwicklung
der Menschheit im einzelnen zu erweisen, es scheint mir genug, daß ein
solches Gesetz ausgesprochen wird, um unmittelbare Anerkennung bei allen zu
finden, welche eine eindringende Kenntnis der allgemeinen Geschichte der Wissenschaften
besitzen. Letztere sind heute alle in das positive Stadium gelangt, waren aber
früher im wesentlichen aus metaphysischen Abstraktionen zusammengesetzt,
nachdem sie anfangs von theologischen Begriffen beherrscht wurden.
Diese allgemeine Umwälzung des menschlichen Geistes findet heute außerdem
eine sehr einleuchtende, obgleich indirekte Bestätigung, wenn wir die geistige
Entwicklung eines Individuums betrachten.
Der Ausgangspunkt ist bei dem Bildungsgange des Einzelnen derselbe wie bei dem
der Gattung, und die verschiedenen Phasen des ersteren müssen die allgemeinen
Epochen des letzteren darstellen. Wer erinnert sich nicht in bezug auf seine
wichtigsten Erkenntnisse nacheinander ein Gläubiger als Kind, ein Metaphysiker
als Jüngling, ein naturwissenschaftlich Forschender als Mann gewesen zu
sein?
Doch ich möchte vor allem die theoretischen Gründe betrachten, welche
die Notwendigkeit dieses Gesetzes erkennen lassen. Der wichtigste von ihnen
liegt in der Natur der Sache, er besteht in dem Bedürfnis jedes Zeitalters
nach einer die einzelnen Tatsachen verbindenden Theorie, obgleich es doch offenbar
unmöglich für den jugendlichen menschlichen Geist ist, Theorien nach
Beobachtungen zu bilden.
Seit Bacon wiederholen alle guten Köpfe, daß
wahre Erkenntnis nur aus der Beobachtung von Tatsachen gewonnen werden
kann. Dieser Grundsatz gilt, wenn man ihn richtig anwendet, zweifellos für
das Mannesalter unseres Denkens. Ebenso gewiß ist aber, daß bei
der ersten Bildung von Erkenntnissen der menschliche Geist in seinem primitiven
Zustande so nicht denken konnte und auch nicht durfte, denn wenn auch jede Theorie
notwendig auf Beobachtungen geführt sein muß, so ist doch anderseits
klar, daß wir zur Beobachtung irgend einer Theorie bedürfen. Wenn
wir die Beobachtung der Erscheinungen nicht sogleich nach bestimmten Grundsätzen
einrichten würden, wäre es uns nicht allein unmöglich, diese
vereinzelten Beobachtungen zu vereinigen und dann daraus irgend ein Ergebnis
zu ziehen, wir wären sogar gänzlich unfähig, sie festzuhalten:
wir würden blind sein mit offenen Augen.
So befand sich das menschliche Denken an seinem Beginn eingeschlossen in einen
Kreis, aus dem es nie herausgekommen wäre, wenn sich nicht ein glücklicher
Ausweg geöffnet hätte durch die natürliche
Entwicklung der theologischen Ideen. Sie gaben den Anstrengungen des
Denkens ein gemeinsames Ziel und Stoff seinem Tatendrang.
Daß es so kommen mußte, wird noch deutlicher, wenn wir betrachten,
wie vollkommen die theologische Philosophie mit der Eigenart der Probleme übereinstimmt,
an deren Überwindung der jugendliche menschliche Geist seine ganze Kraft
einsetzt. Es ist merkwürdig, daß sich unser Denken in diesem primitiven
Zustande gerade die für uns immer unlösbaren Fragen stellt: nach dem
Wesen der Dinge, Anfang und Ende der Welt. Alle wirklich lösbaren Probleme
werden kaum ins Auge gefaßt, als wären sie unwert eines ernsteren
Nachdenkens. Man sieht leicht den Grund: die Erfahrung allein hat uns das Maß
unserer Kräfte zeigen können. Hätte der Mensch nicht mit einer
übertriebenen Schätzung seines Könnens begonnen, er hätte
niemals entwickeln können, was in ihm lag. So fordert es unsere Organisation.
Sehen wir auf die praktische Bedeutung dieses Philosophierens für den primitiven
Menschen, so hatte es für ihn den Reiz, daß er sich als unumschränkten
Herrscher fühlte über die ihn umgebende Welt, welche ganz für
seinen Nutzen eingerichtet zu sein schien. Diese chimärischen Hoffnungen,
diese übertriebenen Anschauungen von der Bedeutung des Menschen innerhalb
des Weltalls entstehen aus der theologischen Philosophie, werden aber für
immer beim ersten Einfluß der positiven Philosophie zerstört. Indessen,
sie sind die unentbehrliche Triebfeder, ohne welche
der Entschluß des primitiven Menschen zu so mühsamen Arbeiten unerklärt
bleibt. Wir sind erst jetzt reif genug. um schwierige wissenschaftliche Untersuchungen
zu unternehmen, ohne daß ein außerordentliches Ziel unsere Phantasie
entflammt, wie es bei der Astrologie und Alchymie der Fall war.
Es ist jetzt sehr leicht einzusehen, daß der menschliche Geist, um von
dieser vorläufigen Philosophie zur endgültigen überzugehen, natürlich
als Übergangsphilosophie die metaphysischen Methoden und Lehren annehmen
mußte. Die Theologie und die Physik sind so durchaus
unvereinbar, ihre Art zu denken ist so ganz und gar entgegengesetzt, daß
der menschliche Geist, ehe er auf die eine verzichtete, um ausschließlich
die andere anzuwenden, sich vermittelnder Begriffe bedienen mußte, welche
durch ihren zwiespältigen Charakter den Übergang erleichtern konnten.
Dies ist die natürliche Bestimmung der metaphysischen Begriffe: sie haben
sonst keinen wirklichen Nutzen. Wenn nun der Mensch bei der Erforschung der
Erscheinungen an die Stelle einer übernatürlichen Leitung eine den
Dingen entsprechende und von ihnen abtrennbare Wesenheit zur Erklärung
einsetzte, so wurde diese zwar zuerst begriffen wie eine Ausstrahlung aus jener,
aber allmählich gewöhnte man sich daran, nur die gegebenen Tatsachen
zu betrachten. Auch wurden die Begriffe dieser metaphysischen Anschauungen allmählich
so verfeinert, daß sie für ein klares Denken nur noch abstrakte Namen
der Vorgänge waren.
Es wird mir nun leicht sein, das Wesen der positiven Philosophie scharf zu bestimmen.
Für sie sind alle Vorgänge unveränderlichen, natürlichen
Gesetzen unterworfen, deren genaue Entdeckung und Zurückführung auf
eine möglichst geringe Anzahl das Ziel all ihrer Bestrebungen ist. Für
sie ist es ein völlig aussichtsloses und sinnloses Unternehmen, nach ersten
Ursachen und letzten Zwecken zu forschen. Selbst in den vollendeten, völlig
gelungenen positiven Erklärungen haben wir nicht die Anmaßung, die
erzeugenden (schaffenden) U r s a c h e n der Vorgänge
darzustellen, da wir so nur die Schwierigkeiten hinausschieben würden,
Wir wollen nichts als die Bedingungen ihres Auftretens exakt zergliedern und
sie untereinander durch die gewöhnlichen Beziehungen von Zeitfolge und
Ähnlichkeit verknüpfen.
Um das bewundernswürdigste Beispiel zu nennen: wir sagen, daß die
allgemeinen Vorgänge im Weltall e r k l ä r
t sind, soweit dies möglich ist, durch Newtons Gesetz der Gravitation.
Denn diese schöne Theorie zeigt einerseits, dass die grenzenlose Mannigfaltigkeit
der astronomischen Erscheinungen ein und derselbe Vorgang ist, nur von verschiedenen
Gesichtspunkten aus angesehen; anderseits wird uns dies allgemeine Geschehen
dargestellt auf Grund einer einfachen Verallgemeinerung eines uns ganz vertrauten
Vorgangs, der Schwere der Körper auf der Erdoberfläche, und deshalb
betrachten wir es als völlig erkannt. Die Frage, was Anziehung und Schwere
selbst und welches ihre Ursachen seien, gehört zu den unlösbaren und
nicht in das Gebiet der positiven Philosophie, und wir überlassen sie mit
Recht der Einbildungskraft der Theologen oder der Spitzfindigkeit der Metaphysiker.
Der offenbare Beweis für die Unmöglichkeit, auf solche Fragen Antwort
zu erhalten, liegt in der Tatsache, daß bei allen Versuchen, etwas wirklich
Wissenschaftliches hierüber auszusagen, die größten Geister
immer nur das eine Prinzip durch das andere bestimmen konnten; entweder sagten
sie, daß die Anziehung nur eine allgemeine Schwere, oder daß die
Schwere nur eine Anziehung der Erde sei. — — — —
Ich habe nun zu untersuchen, zu welcher Phase ihrer Ausbildung die positive
Philosophie heute gekommen ist und was noch übrig bleibt, um alle Erscheinungen
ihr unterzuordnen.
Ich erinnere zunächst daran, daß die verschiedenen Zweige unserer
Kenntnisse die drei groben Phasen ihrer Entwicklung nicht gleichmäßig
schnell durchlaufen konnten. Es besteht hier ein unveränderliches und notwendiges
Gesetz. Es entspricht der verschiedenen Natur der Erscheinungen und wird bestimmt
durch den verschiedenen Grad ihrer Allgemeinheit, Einfachheit und gegenseitigen
Abhängigkeit. So sind zuerst die astronomischen Vorgänge durch positive
Theorien begriffen worden, dann die physikalischen im eigentlichen Sinne, dann
die chemischen und schließlich die physiologischen.
Umfaßt nun die positive Philosophie heute alle Arten der Erscheinungen?
Offenbar ist dies nicht der Fall. Es ist noch viel wissenschaftliche Arbeit
zu tun, um der positiven Philosophie den Charakter der Universalität zu
geben, welcher zu ihrer endgültigen Herrschaft unentbehrlich ist.
Tatsächlich ist innerhalb der vier soeben genannten Hauptkategorien der
natürlichen Erscheinungen eine Lücke. Die sozialen Vorgänge verdienen,
obgleich sie mitbegriffen werden unter den physiologischen Vorgängen, wegen
ihrer Bedeutsamkeit und eigentümlichen Schwierigkeiten für die Forschung,
eine besondere Kategorie zu bilden. Diese letzte Begriffsreihe, welche sich
auf die eigenartigsten, zusammengesetztesten und am meisten von den anderen
beeinflußten Erscheinungen bezieht, mußte sich schon deshalb langsamer
vollenden als die vorigen. Es ist einleuchtend, daß sie in den Bereich
der positiven Philosophie noch nicht eingetreten ist. Die theologischen und
metaphysischen Methoden sind hier noch allein im Gebrauch, obgleich alle guten
Köpfe schon völlig davon überzeugt sind, daß sie für
diesen Zweck nicht ausreichen.
Das ist die große, aber offenbar einzige Lücke, welche ausgefüllt
werden muß, um die Herrschaft der positiven Philosophie ganz zu begründen.
Jetzt, wo der menschliche Geist eine Physik des Himmels, der Erde, der organischen
Wesen begründet hat, bleibt ihm übrig, das System der Erfahrungswissenschaften zu schließen durch Begründung
einer s o z i a l e n P h y s i k. Dies ist heute
das größte und dringlichste Bedürfnis unseres Denkens: es ist
der erste, der besondere Zweck dieses Werks.
Meine Auffassung der sozialen Vorgänge will dieser Wissenschaft nicht die
gleiche Vollkommenheit wie den vorerwähnten verschaffen, aber sie soll
dieser letzten Klasse unserer Erkenntnis den positiven Charakter aufprägen,
welchen alle anderen schon haben. Wenn diese Forderung einmal wirklich erfüllt
ist, so wird das philosophische System der Gegenwart als Ganzes begründet
sein; denn jedes beobachtete Phänomen muß offenbar sich unterordnen
lassen unter eine der fünf großen Kategorien, der astronomischen,
physikalischen, chemischen, physiologischen und sozialen Vorgänge. Sind
dann also unsere Grundbegriffe einartig, so wird die Philosophie endgültig
den positiven Zustand erreicht haben, ohne jemals ihren Charakter ändern
zu können. Sie kann sich nur unbegrenzt weiter entwickeln durch die immer
wachsenden Neuerwerbungen, welche notwendig aus neuen Beobachtungen oder tieferen
Überlegungen sich ergeben werden. Hat sie so den ihr jetzt noch fehlenden
Charakter der Universalität erworben, so wird sie fähig sein, vermöge
ihrer natürlichen Überlegenheit die theologische und metaphysische
Philosophie zu verdrängen, deren einziger besonderer Wert diese Universalität
ist. Ist ihnen diese werbende Kraft genommen, so werden sie für unsere
Nachkommen nur noch eine historische Bedeutung haben.
Aus: Philosophisches Lesebuch (S.276-281) Herausgegeben
von Max Dessoir und Paul Menzer Verlag von Ferdinand Enke, Stuttgart (1920)