Lucie Christine (1844 – 1908)

Französische Mystikerin und Visionärin, bei der es sich um eine fromme und tief religiöse Dame der Pariser Gesellschaft handelte, die sich unter dem Decknamen Lucie Christine verbarg. Sie war Mutter von fünf Kindern und soll vor ihrer Erweckung nur sehr wenige mystische Schriften gelesen haben.


Gott und Seele
25. April 1873. Fest der Berufung.
Am Morgen des heutigen Tages machte ich meine Betrachtung aus der Nachfolge Christi, wie ich es seit 13 Jahren gewohnt war. Da schaute ich plötzlich vor meinen inneren Augen die Worte:
G o t t a l l e i n . Es klingt seltsam, wenn jemand sagt, er s e h e Worte. Und doch habe ich sie in meinem Innern geschaut und vernommen, das ist ganz gewiss, wenn auch nicht in der Weise, wie man sonst sieht und hört. Ich fühle übrigens wohl, wie wenig meine Ausdrücke wiedergeben, was ich empfand, obwohl mir die Erinnerung daran ganz gegenwärtig geblieben ist. Es war ein Licht, eine Anziehung und eine Kraft zugleich. Ein Licht, das mich sehen ließ, wie ich in der Welt Gott allein angehören könne; zugleich erkannte ich, dass ich es bis dahin nicht recht verstanden hatte. Eine Anziehung war es, die mein Herz überwältigte und hinriss. Eine Kraft, die mir einen großmütigen Entschluss eingab und zugleich irgendwie die Mittel in die Hand legte, ihn auch auszuführen. Denn das ist das Eigentümliche solcher göttlichen Worte: sie wirken, was sie sagen. Das waren die ersten, die Gott in seiner Güte meine Seele vernehmen ließ. Durch seine Barmherzigkeit hat mit ihnen ein neues Leben für mich begonnen.

12. Okt 1879.

Ich las das Leben der heiligen Franziska von Chantal von Bougaud. Als ich am Ende des 17. Kapitels anlangte, fand ich den Satz: »Eine ganz innige Vereinigung erfasste sie, sobald sie sich ins Gebet begab, und gestattete weder ihrem Verstande, noch ihrem Willen irgendwelche Tätigkeit . . .« Da hielt ich tief ergriffen inne; ich hatte den geheimnisvollen Zustand wieder erkannt, der meine Seele seit zwei Jahren so oft überkam. Die folgenden Seiten (Kap. 18) waren noch deutlicher, und einige Zeilen besonders schilderten den charakteristischen Zug meines Seelenzustandes: »Mein Geist lebt in seinem innersten Grunde in ganz einfacher Vereinigung mit Gott. Er strebt nicht zur Vereinigung; denn sobald er sich bei besonderen Gelegenheiten nach dieser Richtung hin bemühen will, merkt er bald, dass er sich nicht vereinigen, sondern nur vereinigt bleiben kann. Die Seele möchte sich nicht aus diesem Zustand rühren, sie denkt nichts und tut nichts; in ihr lebt nur ein Verlangen, das fast unwahrnehmbar leise wächst und tiefer wird: Gott möge mit ihr und allen Geschöpfen in jeder Beziehung tun, was Ihm gefällt« . . . Als ich das gelesen hatte, überkam mich zuerst jene Freude, die der Geist empfindet, wenn er klar die Wahrheit erkennt, und große, überströmende Liebe und tiefer Dank.

Aug. / Sept. 1880
Ich schaute innerlich Gott, den Grund aller Dinge, wie er alles besitzt und die Quelle ist von allem, was wahr, schön und gut. Oder besser, Gott, wie er das Wahre, das Gute, das Schöne selbst ist und alle Dinge nur durch Ihn etwas sind . . . Und alle geschaffenen Dinge verlieren vor der ungeschaffenen Ursache ihre Geltung. – Diese Art, Gott zu erkennen, kann man nur als ein Schauen bezeichnen. Ohne Zweifel erst eine sehr unvollkommene Schauung Gottes. Allein Gott scheint doch alle Vermittlung auszuschalten und sich der Seele zu zeigen. Und die Seele ist wie ein Mensch, der aus Dunkelheit in einen hellen Tag hinaustritt. Sie fühlt, dass ihr schwacher Blick nicht zu umfassen vermag, was Gott ihr zeigt, und kann nicht begreifen und ist von Bewunderung überwältigt.
In jener Zeit war es, da schenkte mir Gott die Gunst einer tiefen Empfindung seiner Gegenwart im allerheiligsten Sakrament. Dabei ließ Er mir die Freiheit zu mündlichem Gebet oder nahm sie, je nach seinem heiligen Willen. Im Glauben sind wir der wirklichen Gegenwart Christi wie auf fremdes Zeugnis hin gewiss; in der Gnade aber, von der ich rede, fühlen wir Gottes anbetungswürdige Gegenwart mit der gleichen Gewissheit, wie wir etwa die Gegenwart eines Menschen empfinden, der neben uns steht und zu uns spricht, während wir die Augen geschlossen halten.

Mai 1880
Meine Seele war von allerlei Versuchungen und Beängstigungen überfallen worden. Besonders zur Zeit des Gebetes und selbst im Augenblick der heiligen Kommunion wurde ich von ihnen arg verfolgt und gequält . . . Eines Abends, als ich der Maiandacht beiwohnte, befand ich mich in solch peinlichem Zustand und bat meinen gütigen Meister und seine heilige Mutter, mich doch zu befreien. Da durchfuhr der Blick unseres Herrn meine Seele wie ein Blitz und zerstreute meine Feinde, so wie das Licht den Schatten zerstreut . . . In dieser Gnadenstunde habe ich die anbetungswürdigen Augen unseres Herrn nicht deutlich sehen können; aber ich schaute innerlich seinen göttlichen, von großer Macht durchstrahlten Blick. Der Anblick prägte meiner Seele eine solche Ehrfurcht ein, aß ich ihn nie vergessen könnte, und müsste sie hundert Jahre in dieser Welt leben. Auch ward ihre Liebe dadurch außerordentlich gestärkt.

12. August 1881
Diesmal ward mir gestattet, ihn lange zu betrachten. Die Form der anbetungswürdigen Augen unseres Herrn konnte ich nur undeutlich wahrnehmen, aber ich schaute die allgewaltige Ausdruckskraft und unwiderstehliche Schönheit, die von dem Blick ausstrahlten. Diese Allgewalt, diesen göttlichen Zauber habe ich wohl empfunden, aber aussprechen kann ich ihn nicht . . . Je mehr Worte ich spreche, desto mehr schwäche ich ab, was ich sagen will. Das habe ich schon öfter erfahren.

Oktober 1881

Als meine Seele in der heiligen Kommunion mit dem Herrn innig vereinigt war, sah sie die göttliche Tiefe sich vor ihr auftun. Der Anblick ist groß und erschütternd. Die Seele sieht Gott so nah bei sich, in sich, und zugleich so weit entfernt. Die Unermesslichkeit ist das, die Unendlichkeit. Wie fühlt die Seele, in Gottes Tiefe verloren, so deutlich, dass sie nichts ist!

5. August 1882 Herz-Jesu-Messe
Ich ging zum Empfang der heiligen Kommunion, und mein Herr sagte mir: »Ich habe Wonne in dir!« Dann prägte unser Herr ohne alle Worte, aber mit grenzenloser Kraft und Innigkeit seine göttliche Zärtlichkeit in meine Seele ein. Meine Seele war voll unsagbaren Glücks und zugleich so gedemütigt, dass ich darunter litt, mich in der Kirche nicht auf die Erde niederwerfen zu können.

5. Januar 1883

Es ist seltsam, trotz des Verlangens nach Einsamkeit und Stillen hat mir Gott die Gabe verliehen, mit Leichtigkeit mitten im Lärm zu beten und Ihn inmitten der Alltagssorgen zu verehren. Sicher hängt es mit dieser Veranlagung zusammen, dass ich seit meiner frühen Jugend so gern in den Strassen von Paris den Rosenkranz gebetet habe. Ein wirkliches Leiden aber bedeutet es für die Seele, wenn sie sich auch nur eine halbe Stunde der nichts sagenden Unterhaltung dieser Welt widmen muss . . . Sie vergleicht das hohle Gerede mit dem göttlichen Schweigen der Kirche und des Tabernakels, und im Herzen erwacht das Heimweh nach dem Altar.

25. Januar 1883
Es kann geschehen, dass ich von anderen Menschen umgeben oder mitten in der Unterhaltung bin, da kommt mir die Erinnerung an meinen geliebten Herrn, ich vernehme kaum den inneren Laut seiner Stimme . . . und plötzlich wird mein ganzes Sein aufgerührt. Ich fühle, wie meine Wangen erblassen, mein Körper erbebt, meine Hände und Füße plötzlich kalt werden und mein Herz in jener sanften, glühenden Eile klopft, in welche die Seele es versetzt, sobald sie in das passive Gebet eintritt. So erkennt selbst das leibliche Leben das Herannahen des Schöpfers, wenn er sich herablässt, sich derartig innig mit einer armen Seele zu vereinigen.

17. Februar 1883 Am Morgen, heilige Kommunion.
Wieder ist mein Herz durch den erleuchte und durchdrungen worden, »der da ist«. »Ich bin dein Alles, dein Einziges . . . Ich bin der ganzen Welt Ein und Alles.« Und ich sah das Weltall in Jesu Hand ruhen: »Ich bin und ihr seid nicht!« Und meine Seele war von Bewunderung und Freude beim Anblick der prachtvollen Einfachheit dessen erfüllt, der durch selber ist. – O Gott, meine Seele freut sich und benedeit Dich, weil Du Gott bist!

10. März 1883
Die Anschauung der unendlichen Einheit
ist eine der wunderbarsten, die Gott meiner Seele je gewährt hat, eine von denen, durch die Er sich am meisten in sie einprägt und sie ganz rein und einfach, ohne Bilder und irgendwelche andere Gedanken mit sich selber nährt.
S.307ff.
Aus: Gott in uns. Die Mystik der Neuzeit. Von Otto Karrer. Verlag „Ars sacra“ Josef Müller, München