Chaos
griechisch: cháos = leerer Raum, Luftraum, Kluft
(tiefer Riss, Abgrund)
indogermanisch: ´ghii-â (aus der indogermanischen Wurzel hört man den Gähnlaut heraus)
althochdeutsch: gien
altnordisch: ginungagap (das Gähnende=Nach Luft ringender Atemzug)
französisch: chaos
englisch: chaos
holländisch Gas = Luft

Siehe auch Wikipedia, Eisler und Kirchner


Unter Chaos wird nach den griechischen Weltenstehungsmythen der vor allen Dingen vorhandene ungeordnete Urzustand der Welt oder ganz allgemein ein völliges Durcheinander (Wirrwarr) verstanden. Aristoteles interpretierte das Chaos als »alles umfassenden Raum«, und bei Platon ist es die »ungeordnete Urmasse der Welt«. In deutschen Texten taucht der Begriff zuerst als unveränderte Wiedergabe von lat. chaos (Lukas 16, 26) auf, von Luther wird er mit »Kluft« übersetzt. Van Helmont prägte für das Chaos den Begriff Gas, den er aufgrund naturphilosophicher ÜberlegungenI über das Chaos bei Paracelsus ableitete. In der Chaostheorie gewinnt der Begriff eine eminente Bedeutung für die im Weltzusammenhang stattfindenden Ereignisse, die so miteinander verbunden sein sollen, dass z. B, der Flügelschlag eines Schmetterlings in Tokio zeitgleich einen Tsunami in Djarkarta auslösen können soll. Wenn alles mit jedem in einem Zusammenhang stehen soll, dann muss dem Chaos eine wohlgeordnete Grundstruktur zugrundliegen, die den Flügelschlägen der Schmetterlinge ihre Kapriolen gestattet. Diese Ur-Ordnung ist die tiefere Grundlage für die oberflächliche Ordnung des Kosmos. Wenn wir das Chaos ganz einfach als die leere Ausdehnung einer fein gewebten und verwirrend geschlungenen Verbindung, bestens gelungenen Erfindung, betrachten, dann sind wir der Wahrheit in der geheimnisvoll gerundeten Natur auf der Spur. Die Fraktur der Struktur ihrer Kontur ist noch weitgehend unerforscht. Bleiben wir im Bild, das die mystischen Blüten der verschiedesten Mythen treibt. Oberflächlich betrachtet, scheint die Bühne des Chaos ein seelenloser Ur-Zustand zu sein. Doch dieses Bild täuscht die Stille einer Ruhe vor, in deren unergründlichen Tiefe das sich selbst fühlende Ur-Wesen kauert und darauf lauert auf Biegen und Brechen, koste was es wolle, in unserem Eigengefühl ins treibende Spiel zu kommen. So gesehen ist das Chaos der genetische Mutterboden, indem sich der energetische Vaterhoden frenetisch genetisch austobt und in der Ejakulation seiner Eruption die Schöpfung teils evolutionär, teils revolutionär, mit der Triebpeitsche vorantreibt.

Hesiod (um 700 v.Chr.)
Zuerst nun war das Chaos (gähnende Leere des Raumes) . . .
Hesiod: Theogonie 116; Reclams Universal-Bibliothek Band 9763

Furchtbare Glut erfüllte das Chaos. Man meinte mit Augen zu sehen und den Lärm mit Ohren zu hören, gerade wie wenn die Erde und der weite Himmel darüber zusammenstürzen. So schreckliches Getöse entstand, als ob die Erde einbräche und der Himmel von oben herabstürzte. Solches Getöse erscholl. als die Götter im Kampf zusammenstießen. ...
Hesiod: Theogonie 700f; Reclams Universal-Bibliothek Band 9763

Ovid (43 v.Chr. – etwa 17 n.Chr.)
Ehe es Meer, Land und den allumschließenden Himmel gab. hatte die Natur ringsum einerlei Aussesehen:; man nannte es Chaos: eine rohe ungeordnete Masse, nichts als träges Gewicht und auf einen Haufen zusammengeworfene Samen von Dingen, ohne rechten Zusammenhang. Noch kein Titan spendete der Welt Licht, keine Phoebe ließ ihr Mondhorn immer wieder aufs neue nachwachsen. Kein Tellus schwebte in der Luft, die sich um sie ergießt, und hielt sich durch ihre eigene Schwerkraft im Gleichgewicht ; keine Amphitrite hatte die Arme um den Rand der Länder gespannt. Zwar gab es da Erde, Wasser und Luft; doch konnte man auf der Erde nicht stehen, die Woge ließ sich nicht durchschwimmen, und die Luft war ohne Licht . Keinem Ding blieb die eigene Gestalt, im Wege stand eines dem anderen, weil in ein demselben Körper kaltes kämpfte mit Heißem, Feuchtes mit Trockenem, Weiches mit Hartem, Schwereloses mit Schwerem.

Diesen Streit schlichtete ein Gott und die bessere Natur. Er schied nämlich vom Himmmel die Erde und von der Erde die Gewässer, und er sonderte von der dichten Luft den klaren Himmel. Nachdem er diese vier herausgeschält und aus dem unübersichtlichen Haufen genommen hatte, trennte er sie räumlich und verband sie so in einträchtigem Frieden. Die feurige Kraft des schwerelosen Himmelsgewölbes sprühte empor und schuf sich ganz oben in der höchsten Höhe einen Platz. Am nächsten steht ihr die Luft, was die Leichtigkeit und den Standort betrifft. Dichter als beide ist die Erde; sie zog die wuchtigen Elemente an sich und wurde durch die eigene Schwere nach unten gedrückt. Ringsum strömte das Feuchte, nahm den Rand in Besitz und umschloß das feste Erdenrund.

Kaum hatte er - welcher der Götter es auch sein mochte - das Durcheinander so geordnet, zerschnitten und gegliedert, da ballte er zuerst die Erde zusammen, damit sie auf allen Seiten gleich sei und gab ihr die Gestalt einer großen Kugel. Dann gebot er den Meeren, sich weiterhin zu ergießen, von stürmischen Winden gepeitscht anzuschwellen und die Küsten der Erde rings zu umfließen. Dazu schuf er noch Quellen, unermessliche Seen und Teiche.. Mit kreuz und quer sich hinschlängelnden Ufern umsäumte er die abschüssigen Ströme, die, an verschiedenen Orten teils vo der Erde selbst verschlungen werden, teils ins Meer gelangen und, voln der freieren Wasserfläche aufgenommen, statt an Flussufer an Gestade branden. Er gebot auch den Feldern, sich auszubreiten, den Tälern, sich zu senken, den Wäldern, sich mit Laub zu bekleiden, und den steinigen Bergen, sich zu erheben. Und wie den Himmel zwei Zonen zur Rechten und ebenso viele zur Linken durchschneiden, wobei die fünfte heißer ist als die anderen, so teilte des Gottes Vorsorge die vom Himmel umschlossene Erdmasse durch dieselbe Zahl, und gleich viele Zonen hat die schwere Erde. Die mittlere von ihnen ist wegen der Hitze unbewohnbar, zwei Zonene bedeckt tiefer Schnee; ebenso viele hat der Gott dazwischengesetzt und ihnen ein gemäßigtes Klima gegeben, indem er Feuer mit Kälte mischte, Darüber schwebt Luft, die so viel schwerer ist als Feuer, wie Wasser leichter ist als Erde. Dort gebot er den Nebeln, dort den Wolken zu wohnen, den Donnerschlägen, die Menschenherzen erschrecken sollten, und den Winden, die Blitze und Wetterleuchten bewirken. Doch auch ihnen überließ der Schöpfer der Welt die Luft nicht uneingeschränkt; selbst heute kann man ihnen nur mit Mühe verwehren, dass sie die Welt in Stücke reissen, obwohl doch jeder von ihnen in einer ganz anderen Gegend herrscht; so groß ist die Uneinigkeit der Brüder. Der Ostwind entwich zur Morgenröte, zum Reich der Nabataeer, nach Persien und zu den Bergen, auf welche die ersten Strahlen des Tages fallen; der Abend und die Küsten, welche die untergehende Sonne wärmt, sind dem Zephir am nächsten; in Scythien und dem Norden fiel der Nordwind ein, der uns schaudern lässt; das entgegengesetzte Ende der Welt befeuchtete der Südwind beständig durch Regenwolken.- Daüber stülpte der Schöpfer den klaren, schwerelosen Äther, dem gar kein irdischer Bodensatz anhaftet.

Kaum hatte er alles mit klar umrissenen Grenzen aufgegliedert, als plötzlich die Sterne, die lange von undurchdringlichem Dunkel bedeckt gewesen waren, am ganzen Himmel aufzuglühen begannen.Und damit kein Bereich ohne Lebewesen sei, die ihm angehöen, haben Gestirne und Göttergestalten den Himmelsboden inne, den schimmernden Fischen fielen die Wogen als Wohnstatt zu, die Erde nahm Tiere auf und Vögel die bewegliche Luft.
Noch fehlte ein Lebewesen, heiliger als diese, fähiger, den hohen Geist aufzunehmen, und berufen, die übrigen zu beherrschen. Es entstand der Mensch, sei es, dass ihn aus göttlichem Samen jener Weltschöpfer schuf, der Ursprung der besseren Welt sei es, dass die junge Erde, erst kürzlich vom hohen Äther getrennt, noch Samen des verwandten Himmels zurückbehielt; diese mischte der Spross des Iapatus mit Regenwasser und formte sie zum Ebenbild der alles lenkenden Götter. Und während die übrigen Lebewesen nach vorn geneigt zur Erde blicken, gab er dem Menschen ein emporblickendes Anlitz, gebot ihm, den Hmmel zusehen und das Gesicht aufrecht zu den Sternen zu erheben. So nahm die Erde, die eben noch roh und gestaltlos gewesen war, verwandelt die bisher unbekannten menschlichen Formen an. [...]
Aus: P. Ovidius Naso, Metahorphosen . Übersetzt und herausgegeben von Michael von Albrecht, S.7-13
Reclams Universalbibliothek Nr. 1360 . Philipp Reclam jun., Stuttgart 1994 Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages


Immanuel Kant (1724 – 1804)

Das vollkommene Chaos, die Entstehung der Welt und Widerlegung Epikurs
Ich nehme die Materie aller Welt in einer allgemeinen Zerstreuung an und mache aus derselben ein vollkommenes Chaos. Ich sehe nach den ausgemachten Gesetzen der Attraktivität den Stofrf sich bilden und durch die Zurückstoßung ihre Bewegung modifizieren. Ich genieße das Vergnügen, ohne Beihilfe willkürlicher Erdichtungen, unter der Veranlassung ausgemachter Bewegungsgesetze sich ein wohlgeordnetes Ganze erzeugen zu sehen, welches demjenigen Weltsystem so ähnlich siehet, das wir vor Augen haben, dass ich mich nicht entbrechen kann, es vor dasselbe zu halten. Diese unerwartete Auswickelung der Ordnung der Natur im Großen wird mir anfänglich verdächtig, , da sie auf so schlechten und einfachen Grunde eine so zusammengesetzte Richtigkeit gründet. Ich belehre mich endlich aus der voher gezeigten Betrachtung: dass eine solche Auswickelung der Natur nicht etwas Unerhörtes an ihr ist, sondern dassihre wesentliche Bestrebung solche notwendig mit sich bringt, und dass dieses das herrlichste Zeugnis ihrer Abhängigkeit von demjenigen Urwesen ist, welches sogar die Quelle der Wesen selber und ihrer ersten Wirkungsgesetze in sich hat. Diese Einsicht verdoppelt mein Zutrauen auf den Entwurf den ich gemacht habe. Die Zuversicht vermehrt sich bei jedem Schritte, den ich mit Fortgang weiter setze, und meine Kleinmütigkeit hört völlig auf.
Aber die Verteidigung deines Systems, wird man sagen, ist zugleich die Verteidigung der Meinungen des Epikurs, welches damit die größeste Ähnlichkeit haben. Ich will nicht völlig alle Übereinstimmung mit demselben ablehnen. Viele sind durch den Schein solcher Gründe zu Atheisten geworden, welche bei genauerer Erwägung sie von der Gewissheit des höchsten Wesens am Kräftigsten hätten überzeugen können. Die Folgen, die ein verkehrter Verstand aus untadelhaften Grundsätzen zieht, sind öfters sehr tadelhaft, und so waren es auch die Schlüsses Epikurs, ohnerachtet sein Entwurf der Scharfsinnigkeit eines großen Geistes gemäß war.
Ich werde es also nicht in Abrede sein, dass die Theorie des Epikurs, Leukipps, und Democritus mit der meinigen viele Ähnlichkeit habe. Ich setze den erstenn Zustand der Natur, so wie jene Weltweise, in der allgemeinen Zerstreuung des Urstoffs aller Weltkörper, oder der Atome, wie sie bei jenen genannt werden. Epikur setzte eine Schwere, die diese elementarischen Teilchen zum Sinken trieb, und dieses scheint
von der Newtonschen Anziehung, die ich annehme, nicht sehr verschieden zu sein; er gab ihnen auch eine gewisse Abweichung von der geradlinichten Bewegung des Falles, ob er gleich in Ansehung der Ursache und ihren Folgen ungereimte Einbildungen hatte: diese Abweichung kommt einigermaßen mit der Veränderung der geradlinichten Senkung, die wir aus der Zurückstoßungskraft der Teilchen herleiten, überein; endlich waren die Wirbel, die aus der verwirreten Bewegung der Atome entstanden, ein Hauptstück in dem Lehrbegriffe des Leukipps und Democritus und man wird sie auch in der unsrigen antreffen. So viel Verwandtschaft mit einer Lehrverfassung, die die wahre Gottesleugnung im Altertum, zieht indessen die meinige nicht in die Gemeinschaft ihrer Irrtümer. Auch in den aller unsinnigsten Meinungengen, welche sich bei den Menschen aben Beifall erwerben können, wird man jederzeit etwas Wahres bemerken. Ein falscvher Grundsatz, oder ein paar unüberlegte Verbindungssätze leiten den Menschen von der Fußsteige der Wahrheit durch unmerkliche Abwege bis in den Abgrund. Es bleibt ohnerachtet der angeführten Ähnlichkeit dennoch ein wesentlicher Unterschied zwischen der alten Kosmosgonie und der gegenwärtigen, um aus dieser ganz entgegengesetzte Folgen ziehen zu können.
Die angeführten Lehrer der mechanischen Erzeugung des Weltbaues leiteten alle Ordnung, die sich an dem wahrnehmen lässt, aus dem ungefähren Zufalle her, der die Atome so glücklich zusammentreffen ließ, dass sie ein wohlgeordnetes Ganze ausmachten. Epikur war gar so unverschämt, dass er verlangte, die Atome wichen von ihrer geraden Bewegung ohne alle Ursache ab, um einander begegnen zu können. Alle insgesamt trieben diese Ungereimtheit so weit, dass sie den Ursprung aller belebten Geschöpfe diesem blinden Zusammenlauf beimaßen und die Vernunft aus der Unvernunft herleiteten. in meiner Lehrverfassung hingegen finde ich die Materie an gewisse notwendige Gesetze gebunden. Iczh sehe ini hrer gänzlichen Auflösung und Zerstreuung ein schönes und ordentliches Ganze sich ganz natürlich daraus entwickeln. Es geschieht dieses nicht durch einen Zufall und von ungefähr, sondern man bemerkt, dass natürliche Eigenschaften es notwendig also mit sich bringen. Wird man hierdurch nicht bewogen zu fragen: warum musste denn die Materie gerade solche Gesetze, die auf Ordnung und Wohlanständigkeit abzwecken? war es wohl möglich, dass viele Dinge, deren jedes seine von dem andern unabhängige Natur hat, einander von selber gerade so bestimmen sollten, , dass ein wohlgeordnetes Ganze daraus entspringe, und wenn sie dieses tun, gibt es nicht einen unleugbaren Beweis von der Gemeinschaft ihres ersten Ursprungs ab, der ein allgenugsamer höchster Verstand sein muss, in welchem die Naturen der Dinge zu vereinbarten Absichten entworfen worden?
Die Materie. die der Urstoff aller Dinge ist, ist also an gewisse Gesetze gebunden, welchen sie frei überlassen notwendig schöne Verbindungen hervorbringen muss. Sie hat keine Freiheitr, von diesem Plane der Vollkommenheit abzuweichen. Da sie also sich einer höchst weisen Absicht unterworfen befindet, so muss sie notwendig in solche übereinstimmende Verhältnisse durch eine über sie herrschende erste Ursache versetzt worden sein. und
Immanuel Kant: Vorkritische Schriften bis 1768I, Allgemeine Naturgeschichte, Vorrede, S.232f, suhrkamp taschenbuch wissenschaft StW 186

es ist ein Gott
eben deswegen; weil die Natur auch selbst im Chaos nicht anders als regelmäßig und ordentlich verfahren kann.
Immanuel Kant: Vorkritische Schriften bis 1768I, Allgemeine Naturgeschichte, Vorrede, S.235, suhrkamp taschenbuch wissenschaft StW 186


Im Anfang aller Dinge

Ich nehme an: dass alle Materien, daraus die Kugeln, die zu unserer Sonnenwelt gehören, alle Planeten und Kometen, bestehen, im Anfange aller Dinge, in ihren elementarischen Grundstoff aufgelöset, den ganzen Raum des Weltgebäudes erfüllt haben, darin jetzt diese gebildete Körper herumlaufen. Dieser Zustand der Natur, wenn man ihn auch ohne Absicht auf ein System an und für sich selbst betrachtet, scheint nur der einfachste zu sein, der auf das Nichts folgen kann. Damals hatte sich noch nichts gebildet. Die Zusammensetzung von einander abstehender Himmelskörper, ihre nach den Anziehungen gemäßigte Entfernung, ihre Gestalt, die aus dem Gleichgewichte der versammelten Materie entspringt, sind ein späterer Zustand. Die Natur, die unmittelbar mit der Schöpfung grenzte, war so roh, so ungebildet als möglich. Allein auch in den wesentlichen Eigenschaften der Elemente, die das Chaos ausmachen, ist das Merkmal derjenigen Vollkommenheit zu spüren, die sie von ihrem Ursprunge her haben, indem ihr Wesen aus der ewigen Idee des göttlichen Verstandes eine Folge ist. Die einfachsten, die allgemeinsten Eigenschaften, die ohne Absicht scheinen entworfen zu sein, die Materie, die bloß leidend und der Formen und Anstalten bedürftig zu sein scheint, hat in ihrem einfachsten Zustande eine Bestrebung, sich durch eine natürliche Entwickelung zu einer vollkommenern Verfassung zu bilden. Allein die Verschiedenheit in den Gattungen der Elemente trägt zu der Regung der Natur und zur Bildung des Chaos das Vornehmste bei, als wodurch die Ruhe, die bei einer allgemeinen Gleichheit unter den zerstreuten Elementen herrschen würde, gehoben wird und das Chaos in den Punkten der stärker anziehenden Partikeln sich zu bilden anfängt. […]
mmanuel Kant: Vorkritische Schriften bis 1768I, Allgemeine Naturgeschichte, Vorrede, S.275, suhrkamp taschenbuch wissenschaft StW 186

Nikolaus von Kues
(1401 – 1464)
Im Chaos ist der formlose Geist, in dem die Seelen der Möglichkeit nach sind
Einer der Unsrigen sagte, das Chaos sei der Welt naturgemäß vorhergegangen, als Möglichkeit der Dinge, im Chaos sei der formlose Geist gewesen, in dem alle Seelen der Möglichkeit nach sind. […]

Wenn nun die Vernunft, frei vom Körper, in dem sie den Meinungen der Zeit unterworfen ist (in quo opinionibus ex tempore subjicitur), nicht zum erwünschten Ziele gelangt, sondern vielmehr, während sie doch nach der Wahrheit ein Verlangen hat, in Unwissenheit versinkt, und während ihr höchstes Sehnen kein anderes ist, als die Wahrheit selbst, nicht wie in Rätseln und Symbolen, sondern mit höchster Gewissheit von Angesicht zu erfassen, in der Stunde des Scheidens von dieser Welt wegen ihrer Abkehr von der Wahrheit und Hinkehr zu dem Vergänglichen in dieses von ihr erstrebten Vergängliche hinabsinkt, in die Ungewissheit und Verworrenheit, in das finstere Chaos der bloßen Möglichkeit, in der keine wirkliche Gewissheit ist (cum cadat ad incertitudinem et confusionem, in ipsum tenebrosum chaos merae possibilitatis, ubi nihil certi actu), so sagt man mit Recht, sie sei dem geistigen Tode verfallen (recte ad intellectualem mortem descendisse dicitur). Denn für die Seele ist das vernünftige Erkennen ihr Sein, das Ersehnte erkennen - ihr Leben. Wie es daher ihr ewiges Leben ist, zuletzt das Ersehnte, Beharrliche, Ewige zu erfassen, so ist es ihr ewiger Tod, von diesem ersehnten festen Ziele getrennt und in das Chaos der Verwirrung hinabgestürzt zu werden, wo sie nach ihrer Weise von dem ewigen Feuer gequält wird, das wir uns nicht anders denken können, als die Qual dessen, der der lebengebenden Nahrung und der Gesundheit, ja, was noch mehr ist, auch der Hoffnung, je diese Güter zu erlangen, beraubt ist, und daher, ohne je zu erlöschen, ohne Ende beständig stirbt in ewigem Todeskampfe (ut sine extinctione et fine semper moriatur agonizando). Das ist ein über allen Begriff qualvolles Leben, denn es ist ein solches Leben, das zugleich Tod ist, ein Sein, das ein Nichtsein, ein Erkennen, das ein Nichtwissen ist.
[Nicolaus von Cues: Von der Wissenschaft des Nichtwissens, S. 112. Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie, S. 9065ff (vgl. Nicolaus-S, S. 52)ff]

Paracelsus (1493 – 1541)
Eidotter und Chaos
Es ist vielmehr die Natur und das Mysterium derselben, dass das Chaos das Gestirn hebt und trägt, Sonne und Mond. Wir sehen diesen Stuhl und diesen Träger nicht. Nun ist der Eierdotter gleich dem Gestirn zu verstehen, derselbe wird vom Eierklar getragen, das ist seine Luft. Nun ist aber das Eierklar sichtbar und greiflich; es ist so in der Natur geordnet, dass das Chaos im Ei sichtbar sein soll, im Gestirn unsichtbar. Und ihr sollt wissen, dass von der Sphäre Erde und Wasser nichts anderes zu verstehen ist; dieselbe ist rund und niemand sieht es, was sie trägt. Und wir, die Erde und Wasser tragen, gehen in dem und wandern in dem, das sie trägt; das ist, wir gehen im Chaos, welches Chaos die selbige Sphäre trägt, dass sie nicht fallen kann. Sowenig wie ein Dotter im Ei, das kann sich nicht verrücken, nach keiner Seite, sondern muss inmitten seines Klars liegen bleiben. Wie der Dotter gezwungen wird im Klar zu liegen, aus derselben Kraft wird auch die Erde und ihr Wasser gezwungen, dermaßen unverrückt in ihrem Klar zu bleiben, und das Klar ist lauter und klar, und niemand sieht es, niemand greift es, es ist aber da und ist der selbe Klar, der die Erde trägt, und ist das Chaos. Im selbigen wandern wir gleicherweise, wie ein Hühnlein aus dem Klar schlüpft, nicht aus dem Dotter, und sein Leben ist im Klar und sein Wandern im Klar, und es wird und lebt im selbigem. Gleichermaßen sollt ihr auch wissen, dass wir Menschen wie ein Hühnlein in diesem Chaos wandern und leben. Dem Hühnlein ist das Chaos beschaffen auf seine Art, dem Eierdotter auf seine Art, und dem Menschen auf seine Art. So bleibt das Ei in seinem Klar ein Ei, und die Erde in ihrem Chaos eine Erde. Drum wit, weil die Stätte in diesen Dingen so viel besagt, und der Ort einen Unterschied macht, und es ist doch ein Ding , das Ei und die Welt, und sind hinwiederum zweierlei, dass wir solchergestalt auch den Mikrokosmos in dem verstehen, wenn ich ihn setze, dass er von der Luft und dem Gestirn gesetzt sei, das ist, das selbige selbst zu sein. Nämlich, im Menschen sind Sonne und Mond und alle Planeten, desgleichen sind auch in ihm alle Sterne und das ganze Chaos.
Paracelsus: Das Buch Paragranum.(Paracelsus-W Bd. 1, S. 525