Fritjof Capra (1939 - )

In Wien geborener amerikanischer Philosoph, Physiker und Erfolgsautor. 1966 promovierte der Heisenberg-Schüler in Atomphysik, 1968-70 Forschungsauftrag an der University of California, 1970 Forschungen im Zentrum für Linear-Beschleunigung in Stanford, seit 1970 feldtheoretische Untersuchungen am Imperial College in London. Capra setzt sich in seinen Büchern intensiv mit dem Verhältnis zwischen moderner Physik und östlicher Mystik auseinander, die er in einem »ganzheitlichen, ökologisch-orientierten, neuen Weltbild« zu harmonisieren sucht. Seine bekanntesten Werke sind die im Scherz Verlag erschienenen Bücher »Wendezeit« und »Der kosmische Reigen«.

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Inhaltsverzeichnis
Wendezeit
Wissenschaft und Mystik

Wendezeit
Die Anschauung, dass der Mann die Natur und die Frau beherrschen solle, und der Glaube an die überlegene Rolle der Vernunft wurden gestützt und ermutigt von der jüdisch-christlichen Tradition, die dem Bilde eines männlichen Gottes, der Personifizierung der höchsten Vernunft und Quelle allerhöchster Macht, huldigt, eines Gottes, der die Welt von oben regiert, indem er ihr sein göttliches Gesetz auferlegt. Die von den Naturwissenschaftlern gesuchten Naturgesetze galten als Spiegelungen dieses göttlichen Gesetzes, als von Gott geschaffen.

Es ist jetzt deutlich geworden, da
ss die Überbetonung der wissenschaftlichen Methode und des rationalen, analytischen Denkens zu Verhaltensweisen geführt hat, die zutiefst anti-ökologisch sind. Tatsächlich wird unser Verständnis des Ökosystems durch die innerste Natur des rationalen Geistes behindert. Rationales Denken verläuft linear, während das ökologische Bewusstsein aus einer intuitiven Erkenntnis nichtlinearer Systeme entsteht. Für Menschen unseres Kulturkreises ist es sehr schwer zu begreifen, dass man aus einer guten Tat nicht automatisch eine bessere macht, wenn man ihr noch mehr Gutes hinzufügt. Das ist für mich das Entscheidende am ökologischen Denken. Ökosysteme existieren dadurch, dass sie sich in einem dynamischen Gleichgewicht halten, welches auf Zyklen und kontinuierlichen Schwankungen beruht, also auf nichtlinearen Prozessen. Lineares Geschehen — beispielsweise unbegrenztes wirtschaftliches und technologisches Wachstum oder, um ein spezifisches Beispiel zu geben, die Lagerung von radioaktiven Abfällen über riesige Zeitspannen hinweg — wird zwangsläufig das natürliche Gleichgewicht stören und früher oder später schweren Schaden anrichten.

Ökologisches Bewu
sstsein wird also nur entstehen, wenn wir unser rationales Wissen mit Intuition für das nichtlineare Wesen unserer Umwelt verbinden. Eine solche intuitive Weisheit ist charakteristisch für traditionelle, nicht durch Aufzeichnungen überlieferte Kulturen, insbesondere für amerikanische Indianerkulturen, in denen ein stark entwickeltes Umweltbewusstsein das gesamte Leben bestimmte. Dagegen wurde im Hauptstrom der abendländischen Kultur die Pflege der intuitiven Weisheit vernachlässigt. Das mag daher kommen, dass es innerhalb unserer Evolution immer stärker zu einer Trennung zwischen biologischen und kulturellen Aspekten der menschlichen Natur gekommen ist. Die biologische Evolution des Menschen war vor etwa 50000 Jahren beendet. Von da ab schritt die Evolution nicht länger genetisch, sondern gesellschaftlich und kulturell voran, während Struktur und Umfang des menschlichen Körpers und Gehirns im wesentlichen dieselben blieben. In unserer Zivilisation haben wir während dieser kulturellen Evolution unsere Umwelt in einem derartigen Ausmaß verändert, daß wir mehr als jede andere Kultur der Vergangenheit den Kontakt mit unserer biologischen und ökologischen Grundlage verloren haben. Diese Trennung manifestiert sich in einem auffallenden Ungleichgewicht zwischen der Entwicklung der intellektuellen Kraft, der wissenschaftlichen Kenntnis und den technologischen Fähigkeiten auf der einen und Weisheit, Spiritualität und Ethik auf der anderen Seite. Seitdem die Griechen sich im 6. Jahrhundert v. Chr. auf den Weg der Wissenschaften begaben, sind die wissenschaftlichen und technologischen Kenntnisse enorm gewachsen, doch hat es in diesen fünfundzwanzig Jahrhunderten kaum Fortschritte in der Gestaltung unseres Gesellschaftslebens gegeben. Es steht wohl außer Frage, dass die Spiritualität und die ethischen Normen eines Lao-tzu oder Buddha, die ebenfalls im 6. Jahrhundert v. Chr. lebten, den unseren keineswegs unterlegen waren.

Unser Fortschritt war also weithin rationaler und intellektueller Art. Diese einseitige Evolution hat nunmehr ein höchst alarmierendes Stadium erreicht, eine Situation, die so paradox ist, da
ss sie schon an Wahnsinn grenzt. Wir können die sanfte Landung von Raumschiffen auf entfernten Planeten kontrollieren, sind jedoch nicht in der Lage, die giftigen Schwaden auszuschalten, die von unseren Kraftwagen und Fabriken in die Luft geblasen werden. Wir entwerfen utopische Gemeinwesen in gigantischen Weltraumkolonien, können jedoch unsere Großstädte nicht mehr ordnungsgemäß verwalten. Die Geschäftswelt macht uns glauben, dass riesige Industrien, die Hundefutter und Kosmetika erzeugen, das Zeichen für einen hohen Lebensstandard seien, während die Nationalökonomen uns weismachen wollen, daß wir »es uns nicht leisten können«, einen angemessenen Gesundheitsdienst, Bildungswesen oder öffentliche Transportmittel zu unterhalten. Die medizinische Wissenschaft und die Pharmakologie gefährden unsere Gesundheit, und die Verteidigungsministerien sind zur größten Gefahr für unsere nationale Sicherheit geworden. Dies ist ein Ergebnis davon, dass wir unser Yang, anders gesagt unsere maskuline Seite — rationales Wissen, Analyse, Expansion —, überbetont haben, und unser Yin, also unsere weibliche Seite — intuitive Weisheit, Synthese und ökologisches Bewußtsein—, vernachlässigen.

Die
Yin/Yang-Terminologie ist besonders nützlich, wenn man ein kulturelles Ungleichgewicht umfassend analysiert, und zwar auf der Grundlage einer ökologischen Anschauung, die man im Sinne der allgemeinen Systemtheorie auch Systemschau nennen könnte. Für die Systemtheorie sind alle Phänomene in der Welt miteinander verbunden und voneinander abhängig. Innerhalb dieser Lehre nennt man ein integriertes Ganzes, dessen Eigenschaften nicht mehr auf die seiner Teile reduziert werden können, ein System. Lebende Organismen, Gesellschaften und Ökosysteme — sie alle sind Systeme. Es ist faszinierend zu sehen, daß die alte chinesische Vorstellung von Yin und Yang auf eine wesentliche Eigenschaft von Natursystemen bezogen ist, mit der sich die abendländische Wissenschaft erst seit kurzem befasst.

Lebende Systeme sind so organisiert, daß sie Strukturen auf mehreren Ebenen bilden, wobei jede Ebene aus Untersystemen besteht, die in bezug auf ihre Teile Ganzheiten sind, und Teile in bezug auf die größeren Ganzheiten. So verbinden sich Moleküle zu Organellen, die ihrerseits Zellen bilden. Die Zellen bilden Gewebe und Organe, die ihrerseits größere Systeme bilden — wie etwa das Verdauungssystem oder das Nervensystem. Diese schließen sich dann zusammen, um den lebenden Mann oder die lebende Frau zu bilden. Damit jedoch endet diese geschichtete Ordnung noch nicht. Menschen bilden Familien, Stämme, Gesellschaften, Nationen. Alle diese Einheiten — von den Molekülen bis zu den menschlichen Wesen und hin bis zu Gesellschaftssystemen — können als Ganzheiten angesehen werden und zwar in dem Sinne, dass sie integrierte Strukturen sind, und dann wieder als Teile von noch größeren Ganzheiten auf höheren Ebenen der Komplexität. Tatsächlich werden wir sehen, daß Teile und Ganzheiten im absoluten Sinne überhaupt nicht existieren. Arthur Koestler hat das Wort »Holonen« geprägt für diese Untersysteme, die zugleich Ganzes und Teil sind. Er hat betont, dass jedes Holon zwei entgegengesetzte Tendenzen verfolgt: Eine integrierende Tendenz möchte als Teil des größeren Ganzen fungieren, während eine Tendenz zur Selbstbehauptung die individuelle Autonomie zu bewahren strebt. In einem biologischen oder gesellschaftlichen System muss jedes Holon seine Individualität behaupten, um die geschichtete Ordnung des Systems aufrechtzuerhalten, doch muss es sich auch den Anforderungen des Ganzen unterwerfen, um das System lebensfähig zu machen. Diese beiden Tendenzen sind gegensätzlich und doch komplementär. In einem gesunden System — einem Individuum, einer Gesellschaft oder einem Ökosystem — halten sich Integration und Selbstbehauptung im Gleichgewicht. Dieses Gleichgewicht ist nicht statisch, sondern besteht aus einem dynamischen Wechselspiel zwischen den beiden komplementären Tendenzen, was das gesamte System flexibel und offen für den Wandel hält.

Nunmehr wird die Beziehung zwischen der modernen Systemlehre und dem alten chinesischen Denken deutlich. Die chinesischen Weisen scheinen die grundlegende Polarität erkannt zu haben, welche lebende Systeme kennzeichnet. Selbstbehauptung erreicht man durch Yang-Verhalten, wenn man fordernd, aggressiv, wettbewerbs- und nach außen orientiert ist, und — soweit es sich um menschliches Verhalten handelt — durch Anwendung linearen, analytischen Denkens. Integration wird gefördert durch Yin-Verhalten; dann ist man empfangend, kooperativ, intuitiv und umweltbewu
sst. Sowohl Yin als auch Yang, die integrierenden und selbstbehauptenden Tendenzen, sind für harmonische gesellschaftliche und ökologische Beziehungen notwendig.
Aus: Fritjof Capra, „Wendezeit“, (S. 38-42)
© 1982 und 1985 by Fritjof Capra
Gesamtdeutsche Rechte beim Scherz Verlag, Bern
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung des Scherz Verlages

Wissenschaft und Mystik
Physiker leiten ihr Wissen von Versuchen ab, Mystiker von meditativen Erkenntnissen. Beides sind Beobachtungen, und in beiden Bereichen werden diese Beobachtungen als einzige Quelle des Wissens anerkannt. Der Gegenstand der Beobachtung ist freilich in beiden Fällen sehr verschieden. Die Mystiker schauen nach innen und erforschen ihr Bewußtsein auf verschiedenen Ebenen, die den Körper als physische Manifestation des Geistes einschließen. Die Körpererfahrung wird in vielen östlichen Traditionen betont und oft als Schlüssel zur mystischen Welterfahrung betrachtet. Wenn wir gesund sind, fühlen wir die einzelnen Teile unseres Körpers nicht, sondern sind uns seiner als integriertes Ganzes bewußt, und dieses Bewußtsein erzeugt ein Gefühl des Wohlbehagens und des Glücks. Auf ähnliche Weise ist sich der Mystiker der Ganzheit des gesamten Kosmos bewusst, der als Ausdehnung des Körpers erfahren wird: Mit den Worten Lama Govindas:

Der erleuchtete Mensch aber, dessen Bewusstsein das Universum umfasst, hat das Universum zum »Körper«, während sein physischer Körper zur Manifestation des universellen Geistes wird, seine Schauung zum Ausdruck höchster Wirklichkeit und seine Rede zum mantrischen Machtwort und heiliger Verkündung.
(Govinda: Grundlagen tibetanischer Mystik)

Im Gegensatz zum Mystiker beginnt der Physiker seine Erforschung des Wesens der Dinge mit dem Studium der materiellen Welt. Beim Eindringen in die tieferen Schichten der Materie wurde er sich der Einheit aller Dinge und Vorgänge bewusst. Darüber hinaus hat er auch gelernt, daß er selbst und sein Bewusstsein ein integraler Teil dieser Einheit sind. So kommen der Mystiker und der Physiker zu derselben Schlussfolgerung, der eine ausgehend vom Reich des Inneren, der andere von der äußeren Welt. Die Harmonie zwischen ihren Ansichten bestätigt die alte indische Weisheit, dass Brahman, die letzte äußere Realität, mit Atman, der inneren Realität, identisch ist.

Eine weitere Ähnlichkeit zwischen dem Weg des Physikers und dem des Mystikers liegt darin, dass ihre Beobachtungen auf Ebenen stattfinden, die den gewöhnlichen Sinnen nicht zugänglich sind. In der modernen Physik ist dies die atomare und subatomare Welt; in der Mystik sind es die
außergewöhnlichen Bewusstseinszustände, in denen die Welt der Sinne überschritten wird. Die Mystiker sprechen oft von der Erfahrung höherer Dimensionen, in denen Eindrücke von verschiedenen Bewusstseinszentren zu einem harmonischen Ganzen integriert sind. Ähnlich verhält es sich in der modernen Physik, wo ein vierdimensionales Raum-Zeit-Formelsystem entwickelt wurde, das Begriffe und Beobachtungen vereint, die in der gewöhnlichen dreidimensionalen Welt verschiedenen Kategorien angehören. Auf beiden Gebieten überschreiten die mehrdimensionalen Erfahrungen die Welt der Sinne, und es ist daher fast unmöglich, sie in gewöhnlicher Sprache auszudrücken.

Wenn die Parallelen zwischen westlicher Wissenschaft und östlicher Mystik einmal anerkannt sind, wird eine Reihe von Fragen über ihre Bedeutung auftauchen. Entdeckt die moderne Physik mit ihrer komplizierten Maschinerie nur alte Weisheiten neu, die die östlichen Weisen seit Jahrtausenden kennen? Sollten die Physiker ihre wissenschaftliche Methode aufgeben und zu meditieren anfangen? Können Wissenschaft und Mystik sich gegenseitig befruchten, vielleicht sogar zu einer Synthese führen?

Ich meine, dass die Antwort auf alle diese Fragen nein lautet. Ich sehe Wissenschaft und Mystik als zwei sich ergänzende Manifestationen des menschlichen Geistes, seiner rationalen und seiner intuitiven Fähigkeiten. Die moderne Physik erfährt die Welt durch eine extreme Spezialisierung des rationalen Verstandes, die Mystik durch extreme Schärfung des intuitiven Sinnes. Die beiden Ansätze sind ganz verschieden und umfassen weit mehr als eine bestimmte Anschauung von der physikalischen Welt. Sie sind jedoch »komplementär«, wie wir in der Physik sagen. Keine von ihnen ist in der anderen enthalten, noch kann eine auf die andere zurückgeführt werden, aber beide sind notwendig und ergänzen sich für ein vollständiges Begreifen der Welt. Um ein altes chinesisches Sprichwort abzuwandeln: Mystiker verstehen die Wurzeln des Tao, aber nicht seine Zweige; Wissenschaftler verstehen seine Zweige, aber nicht seine Wurzeln. Die Wissenschaft braucht die Mystik nicht und die Mystik nicht die Wissenschaft, aber der Mensch braucht beides. Mystische Erfahrung ist nötig, um das Wesen der Dinge zu begreifen, und Wissenschaft ist für das moderne Leben unerlässlich. Wir brauchen daher keine Synthese, sondern ein dynamisches Zusammenspiel der mystischen Intuition und der wissenschaftlichen Analyse.


Dies wurde bisher in unserer Gesellschaft nicht erreicht. Zur Zeit ist unsere Haltung zu »Yang«, um wieder einen chinesischen Ausdruck zu benutzen, zu rational, männlich und aggressiv. Die Wissenschaftler selbst sind typische Beispiele. Obwohl ihre Theorien zu einer Weltanschauung führen, die derjenigen der Mystiker ähnlich ist, fällt auf, wie wenig dies die Einstellung der meisten Wissenschaftler beeinflußt hat. In der Mystik kann Wissen nicht von einer bestimmten Lebensweise getrennt werden, die zu ihrer lebendigen Manifestation wird. Mystisches Wissen zu erwerben heißt, sich einer Wandlung zu unterziehen. Man könnte sogar sagen, dass dieses Wissen die Wandlung ist. Dagegen kann das wissenschaftliche Wissen oft im Abstrakten und Theoretischen bleiben. So nehmen die meisten heutigen Physiker die philosophischen, kulturellen und spirituellen Auswirkungen ihrer Theorien anscheinend nicht zur Kenntnis. Viele von ihnen unterstützen aktiv eine Gesellschaft, die immer noch auf der mechanistischen, fragmentarischen Weltanschauung basiert, und sehen nicht ein, dass die Wissenschaft darüber hinausweist, zu einer Einheit des Universums, die nicht nur unsere natürliche Umgebung, sondern auch unsere Mitmenschen umfasst. Ich glaube, dass die Weltanschauung, die aus der modernen Physik hervorgeht, mit unserer gegenwärtigen Gesellschaft unvereinbar ist, weil sie den harmonischen Zusammenhängen, die wir in der Natur beobachten, nicht Rechnung trägt. Um einen solchen Zustand des dynamischen Gleichgewichts zu erreichen, bedarf es einer völlig anderen sozialen und ökonomischen Struktur: einer kulturellen Revolution im wahren Sinne des Wortes. Das Überleben unserer ganzen Zivilisation kann davon abhängen, ob wir zu einer solchen Wandlung fähig sind. Es geht letztlich darum, dass wir einige der »Yin«-Anschauungen der östlichen Mystik übernehmen, die Natur ganzheitlich erfahren und mit ihr in Harmonie leben.
Aus: Fritjof Capra, „Der kosmische Reigen“, (S. 305-307)
© 1975, 1983 by Fritjof Capra
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