Ivan Cankar (1876 – 1918)
Slowenischer Dichter und Denker,
in dessen Werken sich die geistige und soziale Wirklichkeit seines Volkes widerspiegelt. Mit zunehmendem Alter schuf das Metaphysische die geistige
Wirklichkeit in ihm, in der er sich – losgelöst vom Körperlichen
- in das seelische Reich erheben konnte, in dem sich ihm als letzte Wahrheiten nur noch symbolhaft verklärte Begriffe, wie Mutter, Heimat und Gott offenbarten, deren Eindruck er in einem exzellenten expressionistischen
Stil zum Ausdruck zu bringen wusste. Siehe auch Wikipedia |
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Tod, Mutter,
Heimat und Gott
Es überfiel mich eine bleierne Müdigkeit, schwarz und schwer legte
sie sich auf meine Seele wie ein Sargdeckel. Ich saß einsam und verlassen
da, in meiner kalten und unfreundlichen Stube. Mein Körper wurde starr
wie ein Leichnam. Alle Zugänge zu Leben, Freude und Trauer waren meinem
Herzen verschlossen, selbst das Gedächtnis ließ nach. Alles lag irgendwo
in weiter Ferne, im Nichts und in Kälte.
Es klopfte, zaghaft und gedämpft. So mag wohl das Klopfen des Gefangenenwärters
klingen, wenn er den Verurteilten holt, um mit ihm den letzten Gang anzutreten.
Ich wusste Bescheid, wer draußen stehen könnte, fast möchte
ich sagen, ich habe auf ihn gewartet, auf diesen einen Gast.
»Ave!«
Geräuschlos, feierlich ging die Tür auf, und an der Schwelle stand
hochaufgerichtet der Tod. In einen schwarzen Mantel gehüllt, mit einem
Federbusch auf dem Kopf. Mein ausgemergelter und doch schwerer Körper erhob
sich vom Platze, um den Gast zu begrüßen, wie es sich schickt.
Er setzte sich an den Tisch, behielt aber den Federbusch auf, schlang seinen
Mantel nur noch enger um seinen Körper und blickte aus tiefliegenden und
scheelen Augen starr vor sich hin. Nur mit Mühe konnte ich in die Zimmerecke
gelangen, um dort den Samowar aufzustellen und meinem Gast ein Getränk
zu bereiten. Ich spürte, daß seine kalten und stechenden Blicke mir
überallhin nachgingen. Der Tee war gekocht, ich stellte den Samowar auf
den Tisch, gab zwei Becher dazu und setzte mich zu meinem Gaste. Mit zittriger
Hand schenkte ich ein, aber mein Gast griff nicht nach dem Becher. Krampfhaft
und unbeweglich hielt er seine knöchrigen Hände auf der Brust verschränkt,
die Feuer in den Höhlen unter seiner Stirne trübten sich ein und wurden
ruhiger.
»Trink!« sagte ich und schob ihm den
Becher zu.
Doch der Gast rührte sich nicht.
Kalter Schauer kroch aus meinem Herzen zu den Wangen und zurück ins Herz
und ergoß sich dann über meinen ganzen armen Körper.
Die unheimliche Stille in der Stube schwoll an, so dass sie zum Himmel
zu schreien begann. Mit der ganzen Inbrunst meiner Seele sehnte ich mich nach
einem Laut, einem Wort aus dem Munde meines düsteren Gastes und sollte
es auch das schrecklichste und letzte Wort sein. Und der Tod öffnete seinen
Mund. Ernst und hohl klang seine Stimme, es lag aber auch schon etwas Weichheit
darin.
»Mensch, sprich, wie war dein Leben, welchen Zweck
hat es gehabt?« Mir wurde himmelangst, das Bewusstsein meines
erbärmlichen Nichts überkam mich. Ich blieb die Antwort schuldig,
ich fand keine.
Da begann der Tod an meiner Statt zu sprechen, seine Stimme war dumpf und unrein
wie der Klang der Abendglocke hinter einem Nebelvorhang.
»Ich hielt eine großartige Ernte; auf weiten
Feldern, wo die Menschheit selbst säte, ließ ich meine Sense singen.
Der Schnitt währte von morgens früh, bis abends spät und von.
abends spät bis morgens früh, bis mir die Hand erlahmte und die Sense
stumpf wurde. Auf dem Fahrweg entlang des Feldes kamst du daher und betrachtetest
mich nur von der Seite, mich, die dunkle Magd Gottes. Die eine oder andere der
goldenen Ähren, die fallen mußte, bewegte dein Herz und erregte dein
Mitleid. Halb aus Angst, halb geheuchelt verdrücktest du papierene Tränen
nach Milavec, Valencic, Berce und anderen. - Im Grunde deines Herzens aber dachtest
du immer nur an dich, was hätte dein Gemüt sonst auch bewegen können?
Dachtest du nicht daran, daß diese Ähren nicht fallen, um für
immer tot zu sein, sondern um tausendfaches Leben zu wecken? Wußtest du
nicht, daß noch nie eine Träne umsonst vergossen wurde und noch nie
ein Tropfen Blutes nutzlos war? Konntest du nicht begreifen, daß der Tod
eigentlich eine Mutter ist, und dass der himmlische Zimmermann sowohl Totenbetten
als auch Wiegen baut? All dies ließest du beiseite und kanntest nur dich.
Du hattest nur um dich Angst und um dein Schicksal am Tage des Letzten Gerichts.
Du brachtest auch nicht den Mut auf, dir die Frage zu stellen: Wozu dies Leben
und für wen? - Sag mir wenigstens jetzt, in dieser Stunde deines Gerichts
und Heils, da ich vor dir stehe, um dich auf die letzte Fahrt mitzunehmen: Wen
willst du zu Hilfe rufen, damit er dir im Leid zur Seite stehe, und dein Wortführer
vor dem allmächtigen gerechten Richter sei?«
Hart und befehlend klang bei diesen Worten die Stimme des Todes.
Meine Seele, mein ganzes bejammernswertes, in den Staub getretenes Ich wurde
zum willenlosen Opfer seiner Blicke, der dunklen Feuer.
Aus der Tiefe meines sterbenden Herzens drang der Schrei: »Mutter!«
Ruhig und düster wurde das Feuer seiner Augen. Der kalte Hauch seiner Lippen
berührte meine von Angst gepreßte Seele. Im Vorgefühl des Todes
bäumte ich mich auf: »Heimat!«
Sanfter, heller wurden seine Augen, schon zogen Vergebung und Erlösung
in ihnen auf. Aber mein Gast gab noch immer keine Antwort und ließ nicht
ab von mir.
Da zerrissen Angst und Schmerz mein Herz, es gab das Letzte, was es in sich
barg.
»Gott!«
In diesem Augenblicke, bei diesem Wort erwachte ich wie aus einer langen schweren
Krankheit. Friedlich neben mir saß meine Retterin. Sie hielt mich bei
der Hand und lächelte, wie nur eine Mutter dem eben genesenen Kinde zulächeln kann. Ihr Name
war: Leben, Jugend und Liebe. –
Enthalten in: Slavische Geisteswelt 3. West- und Südslavien,
Mensch und Welt. (S.132ff) Herausgegeben von St. Hafner, O. Turecek und C. Wytrzens,
Holle Verlag