Ivan Cankar (1876 – 1918)

  Slowenischer Dichter und Denker, in dessen Werken sich die geistige und soziale Wirklichkeit seines Volkes widerspiegelt. Mit zunehmendem Alter schuf das Metaphysische die geistige Wirklichkeit in ihm, in der er sich – losgelöst vom Körperlichen - in das seelische Reich erheben konnte, in dem sich ihm als letzte Wahrheiten nur noch symbolhaft verklärte Begriffe, wie Mutter, Heimat und Gott offenbarten, deren Eindruck er in einem exzellenten expressionistischen Stil zum Ausdruck zu bringen wusste.

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Tod, Mutter, Heimat und Gott
Es überfiel mich eine bleierne Müdigkeit, schwarz und schwer legte sie sich auf meine Seele wie ein Sargdeckel. Ich saß einsam und verlassen da, in meiner kalten und unfreundlichen Stube. Mein Körper wurde starr wie ein Leichnam. Alle Zugänge zu Leben, Freude und Trauer waren meinem Herzen verschlossen, selbst das Gedächtnis ließ nach. Alles lag irgendwo in weiter Ferne, im Nichts und in Kälte.

Es klopfte, zaghaft und gedämpft. So mag wohl das Klopfen des Gefangenenwärters klingen, wenn er den Verurteilten holt, um mit ihm den letzten Gang anzutreten. Ich wusste Bescheid, wer draußen stehen könnte, fast möchte ich sagen, ich habe auf ihn gewartet, auf diesen einen Gast.

»Ave!«


Geräuschlos, feierlich ging die Tür auf, und an der Schwelle stand hochaufgerichtet der Tod. In einen schwarzen Mantel gehüllt, mit einem Federbusch auf dem Kopf. Mein ausgemergelter und doch schwerer Körper erhob sich vom Platze, um den Gast zu begrüßen, wie es sich schickt.

Er setzte sich an den Tisch, behielt aber den Federbusch auf, schlang seinen Mantel nur noch enger um seinen Körper und blickte aus tiefliegenden und scheelen Augen starr vor sich hin. Nur mit Mühe konnte ich in die Zimmerecke gelangen, um dort den Samowar aufzustellen und meinem Gast ein Getränk zu bereiten. Ich spürte, daß seine kalten und stechenden Blicke mir überallhin nachgingen. Der Tee war gekocht, ich stellte den Samowar auf den Tisch, gab zwei Becher dazu und setzte mich zu meinem Gaste. Mit zittriger Hand schenkte ich ein, aber mein Gast griff nicht nach dem Becher. Krampfhaft und unbeweglich hielt er seine knöchrigen Hände auf der Brust verschränkt, die Feuer in den Höhlen unter seiner Stirne trübten sich ein und wurden ruhiger.

»Trink!« sagte ich und schob ihm den Becher zu.

Doch der Gast rührte sich nicht.

Kalter Schauer kroch aus meinem Herzen zu den Wangen und zurück ins Herz und ergoß sich dann über meinen ganzen armen Körper.

Die unheimliche Stille in der Stube schwoll an, so dass sie zum Himmel zu schreien begann. Mit der ganzen Inbrunst meiner Seele sehnte ich mich nach einem Laut, einem Wort aus dem Munde meines düsteren Gastes und sollte es auch das schrecklichste und letzte Wort sein. Und der Tod öffnete seinen Mund. Ernst und hohl klang seine Stimme, es lag aber auch schon etwas Weichheit darin.


»Mensch, sprich, wie war dein Leben, welchen Zweck hat es gehabt?« Mir wurde himmelangst, das Bewusstsein meines erbärmlichen Nichts überkam mich. Ich blieb die Antwort schuldig, ich fand keine.

Da begann der Tod an meiner Statt zu sprechen, seine Stimme war dumpf und unrein wie der Klang der Abendglocke hinter einem Nebelvorhang.

»Ich hielt eine großartige Ernte; auf weiten Feldern, wo die Menschheit selbst säte, ließ ich meine Sense singen. Der Schnitt währte von morgens früh, bis abends spät und von. abends spät bis morgens früh, bis mir die Hand erlahmte und die Sense stumpf wurde. Auf dem Fahrweg entlang des Feldes kamst du daher und betrachtetest mich nur von der Seite, mich, die dunkle Magd Gottes. Die eine oder andere der goldenen Ähren, die fallen mußte, bewegte dein Herz und erregte dein Mitleid. Halb aus Angst, halb geheuchelt verdrücktest du papierene Tränen nach Milavec, Valencic, Berce und anderen. - Im Grunde deines Herzens aber dachtest du immer nur an dich, was hätte dein Gemüt sonst auch bewegen können? Dachtest du nicht daran, daß diese Ähren nicht fallen, um für immer tot zu sein, sondern um tausendfaches Leben zu wecken? Wußtest du nicht, daß noch nie eine Träne umsonst vergossen wurde und noch nie ein Tropfen Blutes nutzlos war? Konntest du nicht begreifen, daß der Tod eigentlich eine Mutter ist, und da
ss der himmlische Zimmermann sowohl Totenbetten als auch Wiegen baut? All dies ließest du beiseite und kanntest nur dich. Du hattest nur um dich Angst und um dein Schicksal am Tage des Letzten Gerichts. Du brachtest auch nicht den Mut auf, dir die Frage zu stellen: Wozu dies Leben und für wen? - Sag mir wenigstens jetzt, in dieser Stunde deines Gerichts und Heils, da ich vor dir stehe, um dich auf die letzte Fahrt mitzunehmen: Wen willst du zu Hilfe rufen, damit er dir im Leid zur Seite stehe, und dein Wortführer vor dem allmächtigen gerechten Richter sei?«

Hart und befehlend klang bei diesen Worten die Stimme des Todes.

Meine Seele, mein ganzes bejammernswertes, in den Staub getretenes Ich wurde zum willenlosen Opfer seiner Blicke, der dunklen Feuer.

Aus der Tiefe meines sterbenden Herzens drang der Schrei:
»Mutter!«

Ruhig und düster wurde das Feuer seiner Augen. Der kalte Hauch seiner Lippen berührte meine von Angst gepreßte Seele. Im Vorgefühl des Todes bäumte ich mich auf:
»Heimat!«

Sanfter, heller wurden seine Augen, schon zogen Vergebung und Erlösung in ihnen auf. Aber mein Gast gab noch immer keine Antwort und ließ nicht ab von mir.
Da zerrissen Angst und Schmerz mein Herz, es gab das Letzte, was es in sich barg.

»Gott!«

In diesem Augenblicke, bei diesem Wort erwachte ich wie aus einer langen schweren Krankheit. Friedlich neben mir saß meine Retterin. Sie hielt mich bei der Hand und lächelte, wie nur eine Mutter dem eben genesenen Kinde zulächeln kann. Ihr Name war: Leben, Jugend und Liebe. –

Enthalten in: Slavische Geisteswelt 3. West- und Südslavien, Mensch und Welt. (S.132ff) Herausgegeben von St. Hafner, O. Turecek und C. Wytrzens, Holle Verlag