Jacob Christoph Burckhardt (1818 – 1897)

 

Schweizer Theologe, Kultur- und Kunsthistoriker, dessen frühe Hauptwerke sind: »Die Zeit Constantin des Großen 1852«, »Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens« 1855 und »Die Kultur der Renaissance in Italien «. 1860. Als Nachlass erschienen folgende Werke: »Erinnerungen aus Rubens« 1898; »Griechische Kulturgeschichte« 4 Bände 1898 - 1902; »Weltgeschichtliche Betrachtungen« 1905. In der Kunstbetrachtung stellt Burckhardt den Wert des visuellen Erlebnisses über den der literarischen Überlieferung. Sein universales Denken, historisches Einfühlungsvermögen und schriftstellerisches Konnen, ließen Burckhardt zu einem der einflussreichsten Geisteswissenschaftler des 19. Jahrhunderts werden.
Über Burckhardt sagt Friedrich Nietzsche in seinen »Unzeitgemässe Betrachtungen, Abschn. 155«: ... wo sind die Historiker. die nicht von allgemeinen Flausen beherrscht, die Dinge ansehn? Ich sehe nur einen, Burckhardt! Und in seiner Götzen-Dämmerung bezeichnet er Burckhardt als Freund und verehrungswürdige Ausnahmeerscheinung: - Eine jener allerseltensten Ausnahmen ist mein verehrungswürdiger Freund Jacob Burckhardt in Basel: Ihm zuerst verdankt Basel seinen Vorrang an Humanität. -
Burckhardt erkannte zwar damals das vielversprechende Talent des jungen Nietzsche, hielt ihn aber dennoch höflich auf Distanz und konnte wohl auch mit Nietzsches späteren philosophischen Werken kaum etwas anfangen..

Siehe auch Wikipedia , Kirchenlexikon und Projekt Gutenberg

Inhaltsverzeichnis
Autobiographische Aufzeichnungen
Die Religion in weltgeschichtlicher Betrachtung
GrundlagenEntstehungReligionsstifterGeeignete Völker und Kulturstufen Einteilung der Religionen
EschatologiePriestermachtMissionierungNational- und WeltreligionenBedeutungAuflösung
Religionskämpfe und Verfolgungen ReformatorenUntergang der Religionen
Gegenseitige Bedingtheiten
Die Kultur in ihrer Bedingtheit durch die Religion, Der Staat in seiner Bedingtheit durch die Religion
Die Religion in ihrer Bedingtheit duch den Staat, Die Religion in ihrer Bedingtheit duch die Kultur
Das Unglück und das Kompensationsgesetz in der Weltgeschichte


Autobiographische Aufzeichnungen
Der Schreiber dieser Zeilen, Jacob Christoph Burckhardt, wurde zu Basel am 25. Mai 1818 geboren als das vierte Kind des damaligen Obersthelfers, späteren Antistes Jacob Burckhardt und seiner Gattin Margaretha Susanna geb. Schorendorf. Das Familienleben, in dem er aufwuchs, war ein überaus glückliches; noch in sehr früher Jugend aber traf ihn mit dem Tode der lieben Mutter, den 17. März des Jahres 1830, in welchem Jahre das Haus auch durch Krankheit heimgesucht war, das erste Leid im Leben.

So machte sich bei ihm schon frühe der Eindruck von der großen Hinfälligkeit und Unsicherheit alles Irdischen geltend und bestimmte seine Auffassung der Dinge bei all seiner sonst zur Heiterkeit angelegten Gemütsart, wahrscheinlich einem Erbe seiner seligen Mutter.

Auch wurde Schreiber dieses frühe inne, dass es ihm bei manchen Anlässen nicht schlimmer und oft besser ging als andern, welche in ähnlicher Lage waren.

Den Schulen von Basel ist er schon Dank schuldig dafür, dass er sich nicht überarbeiten musste und keinen Hass gegen das Lernen fasste, sodann ganz besonders für diejenige Grundlage in den alten Sprachen, welche ihm in allen Zeiten seines Lebens die Vertrautheit mit dem Altertum möglich gemacht hat. Ein besonderes Andenken widmet er mit zahlreichen andern Schülern vieler Generationen der Methode und der Persönlichkeit des verehrten Herrn Rektors Dr. Rudolf Burckhardt.

Nach Absolvierung des Pädagogiums folgte 1836/37 ein dreivierteljähriger Aufenthalt in Neuenburg, wo ihm der Eingang in die französische Gedankenwelt eröffnet und eine zweite geistige Heimat bereitet wurde.

Auf den Wunsch des seligen Vaters begann er hierauf an der hiesigen Universität (Basel) das Studium der Theologie und widmete demselben die vier Semester vom Frühjahr 1837 bis 1859, worauf ihm der Übergang zur Geschichtswissenschaft vom seligen Vater ohne Widerstand gestattet wurde. Er hat später seine Beschäftigung mit der Theologie, unter Lehrern wie de Wette und Hagenbach, niemals bereut oder für verlorene Zeit erachtet, sondern für eine der wünschenswertesten Vorbereitungen gehalten, welche dem Geschichtsforscher zuteil werden können. Nachdem das letzte Semester in Basel bereits dem neuen Studium angehört hatte, bezog er im Herbst 1839 die Universität Berlin, welcher er bis zum Frühling 1845 angehörte, mit Ausnahme des in Bonn zugebrachten Sommersemesters 1841.

Nicht sehr systematisch, sondern im wechselnden Angriff von verschiedenen Seiten her suchte er sich seiner nunmehrigen Fachwissenschaft zu bemächtigen. Er hatte das Glück, für Rankes Seminar zwei umfangreichere Arbeiten zu liefern und die Zufriedenheit des großen Lehrers als Lohn zu empfangen.

Außer der Geschichte aber hatte ihn auch die Betrachtung der Kunst von jeher mächtig angezogen, und neben den reichen geistigen Anregungen jeder Art, welche Berlin ihm gewährte, waren die dortigen Museen von Anfang an für ihn eine Quelle des Lernens und des ersehnten Genusses. Es wurde ihm die Lehre und der nahe Umgang Franz Kuglers zuteil, welchem er im wesentlichen seine geistige Richtung zu verdanken haben sollte. Eine edle Persönlichkeit öffnete ihm Horizonte weit über die Kunstgeschichte hinaus.

Nach einem längeren Aufenthalt in Paris (1845) habilitierte er sich 1844 an unserer Universität als Dozent der Geschichte und erhielt 1845 den Titel eines außerordentlichen Professors. Vom Frühling 1846 an folgte wieder eine zweijährige Abwesenheit zum Zwecke von Studien und literarischen Arbeiten in Berlin und Italien. Der Geschichte und den Denkmälern dieses Landes hat er auch weiterhin nach bestem Vermögen seine Kräfte geweiht und dies nie zu bereuen gehabt. Im Frühling 1848 trat er sein hiesiges Amt wieder an, jetzt zugleich als Lehrer der Geschichte an der realistischen Abteilung des Pädagogiums, und glaubte nun zum ersten Mal in gesicherter Lage seiner Wissenschaft leben zu können. Allein bei der Umwandlung dieser Anstalt zur Gewerbeschule 1853 büßte er diese Stelle ein und sah. sich nun wesentlich auf literarische Tätigkeit angewiesen, anfangs wieder in Italien, dann hier, wo er seine Vorlesungen wieder aufnahm. Eine entscheidende Wendung trat für ihn ein durch die Berufung als Professor der Kunstgeschichte am Eidgenössischen Polytechnikum, welches Amt er im Herbst 1855 antrat.

Der Aufenthalt in Zürich, an einer neu beginnenden Anstalt, gewährte ihm Anregungen und Erfahrungen aller Art; auch war ihm jetzt ruhige Arbeit nach bestimmten Zielen gegönnt.

Im Frühling 1858 folgte er dem Rufe an die hiesige Universität, welcher er seither als ordentlicher Professor der Geschichte angehörte. Der selige Vater hat noch die vollständige Rehabilitation des Sohnes erleben dürfen.

Die Jahrzehnte, welche er in diesem Amte verlebte, sind die glücklichsten seines Lebens geworden. Eine feste Gesundheit erlaubte ihm, sich ungestört seinen Aufgaben. zu widmen, ohne eine einzige Stunde aussetzen zu müssen bis zu einem Unfall im Mai 1891. Auch in andern Beziehungen verfloß sein Dasein jetzt fast ungetrübt. Nachdem in den ersten Jahren die Ausarbeitung unternommener Schriftwerke beendigt war, lebte er ausschließlich seinem Lehramt, in welchem die beharrliche Mühe durch ein wahres Gefühl des Glückes aufgewogen wurde. Die Aufgabe seines akademischen Lehrstuhls glaubte er, den Bedürfnissen einer kleinern Universität gemäß, weniger in der Mitteilung spezieller Gelehrsamkeit erkennen zu sollen als in der allgemeinen Anregung zu geschichtlicher Betrachtung der Welt. Eine zweite Tätigkeit, der Unterricht am Pädagogium (zuerst an den zwei obern, dann nur noch an der obersten Klasse), welcher ihm ebenfalls zu einer beständigen Freude gereichte, wurde — ungerne — teilweise und endlich völlig aufgegeben, um dafür an der Universität neben der Geschichte noch ein möglichst vollständiges Pensum der Kunstgeschichte zu übernehmen, so daß in den Jahren 1882 bis 1886 die akademische Verpflichtung wöchentlich zehn Stunden betrug. Endlich ist Schreiber dieses auch häufig vor dem Publikum unserer Stadt aufgetreten, anfangs mit eigenen Zyklen von Vorträgen, später in der Reihe der allgemeinen Unternehmungen dieser Art, welche teils in der Aula, teils im Bernoullianum stattfinden.

Möge die wohlwollende Erinnerung der ehemaligen Studierenden der Universität Basel, die seine Zuhörer waren, der Schüler des Pädagogiums und der Zuhörerschaft der Winter-vorträge ihm über das Grab hinaus gesichert bleiben; er hat dies Amt in seinem ganzen Umfang stets hochgehalten und daneben auf literarische Erfolge von Herzen gerne verzichtet. Ein bescheidener Wohlstand hat ihn in der spätern Zeit davor bewahrt, um der Honorare willen schreiben zu müssen und in der Knechtschaft buchhändlerischer Geschäfte zu leben.

Mahnungen der herannahenden Altersbeschwerden bewogen ihn zu Ende 1885, bei der hohen Behörde um Entlassung von seinem Amt als Lehrer der Geschichte einzukommen; auf seinen Wunsch blieb ihm noch seit Herbst 1886 der Lehrstuhl der Kunstgeschichte. Asthmatische Beschwerden nötigten ihn endlich, im April 1893 um gänzlichen Abschied einzukommen.

Aus: Jacob Burckhardt, Briefe. Ausgewählt von Walter Rehm, Insel-Bücherei Nr. 331

Die Religion in weltgeschichtlicher Betrachtung
Grundlagen
Die Religionen sind der Ausdruck des ewigen und unzerstörbaren metaphysischen Bedürfnisses der Menschennatur.

Ihre Größe ist, daß sie die ganze übersinnliche Ergänzung des Menschen, alles das, was er sich nicht selber geben kann, repräsentieren. Zugleich sind sie der Reflex ganzer Völker und Kulturepochen in ein großes Anderes hinein oder: der Abdruck und Kontur, welchen diese ins Unendliche hineinziehen und bilden.
Dieser aber ist, obwohl sich für stabil und ewig haltend, wandelbar, er ist es partiell oder ganz, allmählich oder plötzlich.

Unmöglich ist es zu vergleichen, welcher Prozeß der größere gewesen: die Entstehung des Staates oder die einer Religion.

Entstehung
Des betrachtenden Geistes aber bemächtigt sich eine Doppelempfindung: neben dem Betrachten, Vergleichen und Zersetzen hat er das Mitgefühl der Größe und nimmt das riesige Bild einer Sache auf, die in ihrem Entstehen vielleicht individuell war und in ihrer Ausbreitung weltgroß, universell, säkulär wurde. Wir haben hier den höchsten Gegenstand für das Studium der Herrschaft eines Allgemeinen über unzählige Geister bis zur völligen Verachtung alles Irdischen bei sich und andern, d.h. bis zum Selbstmord durch Askese und bis zum Martyrium, das man mit Freuden aufsucht, aber auch über andere verhängt. Freilich sind die metaphysischen Anlagen und Schicksale der Völker überaus verschieden. Gleich ausgeschieden mögen hier die Religionen der geringern Rassen, die der Negervölker usw., der Wilden und Halbwilden werden. Sie sind für die Primordien [Anfänge, Ursprünge] des Geistigen noch weniger maßgebend als der Negerstaat für die Anfänge des Staates überhaupt. Denn diese Völker sind von Anfang an die Beute einer ewigen Angst; ihre Religionen gewähren uns nicht einmal einen Maßstab für die Anfänge der Entbindung des Geistigen, weil der Geist dort überhaupt nie zu spontaner Entbindung bestimmt ist.

Aber auch bei höhern Kulturvölkern findet sich dem Inhalt nach eine große Stufenreihe von der Verehrung von Reichsgöttern, die in öder Weise Eroberten aufgezwungen worden sind, vom Orgiasmus und Bacchantentum und ähnlichen Formen unfreier Besessenheit vom Gotte bis zu der reinsten Gottesverehrung und Kindschaft unter einem himmlischen Vater.

Ebenso groß ist die Stufenreihe im Verhältnis der Religionen zur Sittlichkeit. Man darf aus ihnen noch nicht auf die religiös-sittliche Anlage der betreffenden Völker schließen. Bei den Griechen z. B. war die Sittlichkeit von der Religion wesentlich unabhängig und hing jedenfalls enger mit der idealen Auffassung des Staates zusammen.

Auch halte man Völker, die es nicht über eine Naturreligion „hinausbrachten“, deshalb noch nicht für geistig oder sittlich geringer angelegt; es war ein Schicksal, daß sich bei ihnen die Religion auf einem sehr naiven Stadium ihrer Geschichte fixierte und daß später dann nicht mehr dagegen aufzukommen war. Denn der Moment der Fixierung ist bei der Religion wie beim Staatswesen von entscheidender Wichtigkeit und unabhängig vom Wollen oder Laufen der Völker.

Was die Entstehung der Religion betrifft, so scheint eine große Unmöglichkeit obzuschweben, uns die primitive Entbindung des Geistigen überhaupt vorzustellen; denn wir sind später abgeleitete Leute. Gegen das primus in orbe deos fecit timor wendet sich Renan, indem er ausführt, daß, wenn die Religionen bloß durch Berechnung des Schreckens entstanden wären, der Mensch nicht in seinen erhöhten Momenten religiös sein würde; sie seien auch nicht, wie die italienischen Sophisten des 16. Jahrhunderts glaubten, durch die Einfältigen und Schwachen erfunden, sonst wären nicht die edelsten Naturen die religiösesten; vielmehr sei die Religion eine Schöpfung des normalen Menschen. So richtig dies ist, gibt es doch Religion der Bangigkeit genug. Wir finden bei den Urvölkern einen teils verehrenden, teils erschrockenen Kult von Naturgegenständen, Naturkräften und Naturerscheinungen, sodann den Kult der Ahnen und den Kult von Fetischen, wobei der Mensch das Gefühl seiner Abhängigkeit in einen einzelnen, ihm individuell gehörenden Gegenstand legt. Diese Religionen entsprechen zum Teil unheimlichen Kinderträumen, deren Schreckgestalten versöhnt werden, zum Teil dem Staunen vor den Himmelslichtern und Elementen; sie sind bei den Nationen, die noch keiner Literatur fähig sind, die bisweilen einzige Urkunde des Geistes.

Religionsstifter
Richtiger als die Annahme eines ursprünglichen Gottesbewußtseins ist jedenfalls die eines langen, unbewußten metaphysischen Bedürfnisses. Ein großer oder schrecklicher Moment oder ein zum Religionsstifter begabter Mensch bringt dies zum Bewußtsein; das, was in den begabteren Stammesgenossen ohnehin schon verhüllt lebt, findet seinen Ausdruck; der Prozeß kann sich bei Neumischung und Trennung der Völker wiederholen.

Entscheidend ist jedenfalls das Gefühl der Abhängigkeit von einem Gewaltigeren, das Bangen mitten im Gefühl der subjektiven Kraft und Gewalttat.
Da nun der Anlässe zum Schrecken, d. h. zur Versöhnung des Furchtbaren viele sind, so hat die stärkste Präsumption [Voraussetzung, Annahme] der Priorität der Polytheismus für sich; jene Einheit des primitiven Gottesbewußtseins ist nichts als ein Traum.

Das Urgefühl des Bangens war vielleicht ein großartiges; denn sein Objekt war das Unendliche; dagegen gewährte der Beginn der Religion eine Begrenzung, Verkleinerung, Definition, welche etwas sehr Wohltuendes haben mochte, man glaubte vielleicht plötzlich zu wissen, wie man dran sei. Die Angst mochte sich dann im Fetisch- und Dämonendienst ihren neuen Winkel suchen.

Wie weit sind die Religionen gestiftet? Jedenfalls sind sie wesentlich als die Schöpfungen einzelner Menschen oder einzelner Momente, d. h. eben der Fixierungsmomente ruckweise, strahlenweise entstanden. Ein Teil der Menschen hält mit, weil der Stifter oder das Ereignis gerade den Punkt des metaphysischen Bedürfnisses getroffen hat, der in den lebendigsten Menschen empfunden wird, die große Masse hält mit, weil sie nicht widerstehen kann, und weil alles Bestimmte ein Königsrecht hat gegenüber dem Dumpfen, Unsicheren und Anarchischen. Diese Massen hangen freilich hernach auch am festesten und mühelosesten an der äußeren Form und den Begehungen der betreffenden Religion und halten sie (sintemal ihnen der Kern jeder Religion unzugänglich bleibt) aufrecht, bis eine stärkere Macht, welche genugsam Schale gewonnen hat, so daß sie sich nun hieran halten können, sie auch äußerlich umstößt, worauf sie sich dieser anschließen.

Allmählich können die Religionen nicht wohl entstanden sein; sonst besäßen sie den siegreichen Glanz ihrer Blütezeit nicht, welcher der Reflex eines großen einmaligen Momentes ist. Die uns historisch bekannten nennen ihre Stifter oder Erneuerer (d. h. Lenker großer Krisen), und selbst die teilweisen Naturreligionen und polytheistischen Religionen können durch bloßes späteres Zusammenschmelzen früher entstandener, einmal gestifteter Kulte entstanden sein. Es waren teils plötzliche, teils allmähliche Wandlungen und Reunionen, aber kein allmähliches Entstehen.

Bisweilen verflicht sich ihr Entstehen mit dem eines Staates; ja die Religion gründet den Staat (Tempelstaaten). Ob sie sich ihn erst später dienstbar macht, und wie sie sich sonst zu ihm verhält, wird später zu erörtern sein.

Geeignete Völker und Kulturstufen
Welches sind die geeigneten Völker und Kulturstufen? Das metaphysische Bedürfnis haben alle Völker und alle Zeiten und alle halten eine einmal ergriffene Religion fest.

Allein zum ersten Festwurzeln einer Religion, welche über das Gewöhnliche hinausgeht, taugen weniger die Völker des Weltlebens und der Arbeit als die der Kontemplation, die, welche mit weniger Arbeit schon ihr Leben gewinnen, daher auch eine Art von Bildung sehr allgemein sein kann, ohne die Scheidung der jetzigen Zeit in Gebildete und Nichtgebildete; ferner Völker von großer Sobrietät [Enthaltsamkeit, Mäßigkeit] und nervöser Erregbarkeit, bei welchen ein feiner, präziser Geist herrschen kann, ohne dem Wunder, dem Übernatürlichen, den Visionen Eintrag zu tun; bei solchen Völkern kann auch eine längere Vorbereitung, eine religiöse Schwangerschaft stattfinden. Daß er solche Zustände in concreto kennt und seiner Geschichte des Urchristentums zugrunde legt, darauf beruht Renans große Bedeutung.

Völker des Weltlebens und der Arbeit nehmen wohl die Religion aus den Händen von ekstatisch-kontemplativen Völkern an und erfüllen sie allmählich mit ihrem Geiste. So noch bei der Reformation England und Holland, die keinen originalen Reformator hatten und doch an die Spitze des Protestantismus kamen. Auch Griechen und Römer als Völker des Weltlebens vermochten wenigstens nicht mehr wie die Hindus ihre Religion aus eigener Kraft umzuwälzen, sondern waren ad hoc auf Juden (Christen) angewiesen.

Wir begreifen die großen religiösen Krisen schwer, und daher kommt auch unser ewiger Streit über die spekulativen Ideen in den Religionen. Den einen werden sie immer urtümlich, den andern später hineingetragen erscheinen, ohne daß man sich verständigen kann. Jene werden darin immer Reste einer Urweisheit, ja einer lichteren Jugend des Menschengeschlechts erkennen, die anderen einen mühsamen späteren Erwerb.

Aber trotz unserer geringen Fähigkeit, uns einen Begriff zu machen von dem Zustand von Exaltation bei der Geburt einer Religion und zumal von der völligen Kritiklosigkeit solcher Zeiten und Menschen, ist doch gerade dieser Zustand, so kurz er dauern mag, für die ganze Zukunft entscheidend; er gibt der betreffenden Religion ihre Farbe und ihre Mythen, — ja bisweilen schon ihre Einrichtungen und ihr Priestertum.

Die späteren ,,Einrichtungen“ einer Religion sind nämlich einzelne Reste oder Nachklänge aus dem Gesamtzustand bei ihrer Entstehung, wie denn z. B. die Klöster der Rest des anfänglichen gemeinsamen Lebens der Urgemeinde sind.

Sodann mag aus Gründern und Zeugen der Entstehung einer Religion durch Ergänzung ein bleibendes Kollegium entstehen, — und hiermit mag Zusammentreffen das Bedürfnis einer Korporation für die heiligen Begehungen, mit allmählichem Alleinrecht auf Opfer, Bann usw.

Bei späteren Religionen mag dergleichen noch historisch nachweisbar sein; die alten Religionen dagegen werden uns überliefert als kaum entrollbares Konvolut von Metaphysischem, alten Trümmern früherer geschichtlicher und Kulturüberlieferung, alten Volkserinnerungen aller Art, längst als eins geschaut von den betreffenden Völkern selbst, ja zum allgemeinen, untrennbaren Sinnbild ihrer Psyche geworden.

Einteilung der Religionen
Die Religionen werden von Lasaulx in die drei folgenden großen Gruppen eingeteilt:

a) die pantheistischen Systeme des Orients und die polytheistischen des Occidents, jene mit den Indern, diese mit den Hellenen als höchsten Repräsentanten,

b) den Monotheismus der Juden und dessen Nachzügler, den Islam (wobei Lasaulx auch den persischen Dualismus hätte unterbringen müssen),

c) die Trinitätslehre, die von Anfang an nicht als nationale, sondern als Weltreligion (wobei sie freilich auch ein Weltreich vorfindet) auftritt. (Dies Auftreten als Weltreligion gilt aber auch vom Buddhismus.)

Dieser Einteilung nach Grundanschauungen und Ursprüngen ließe sich aber mehr als eine andere gegenüberstellen, so vor allem eine, welche nicht nur die Religionen zueinander anders gruppiert, sondern auch durch die einzelnen Perioden und Bekennerschichten einer und derselben Religion mitten durchschneidet. Es würden sich hiernach ergeben:

a) Religionen, welche ein stark betontes, vergeltendes Jenseits und außerdem etwa noch eine Eschatologie haben, und

b) solche, die dies wesentlich oder ganz entbehren, wie die der Griechen, welche bei ihrer hellen Einsicht in das Menschliche und in die Grenzen des Individuellen nur ein farbloses Jenseits statuierten und wenig daran dachten, die Eschatologie aber als ein physisches Problem den Philosophen überließen. Diese Philosophen aber hingen zum Teil der dritten Lösung an, nämlich

c) der Metempsychose, deren offenes oder verschwiegenes Korrelat die Ewigkeit der Welt ist. Dies ist der große Glaube der Inder, der u. a. in der Albigenserlehre in das Abendland einzudringen versucht; Buddha aber will

d) die Menschen auch von dieser Art des Weiterlebens durch Nirwana erlösen.

Eschatologie
Höchst merkwürdig ist das ungemein starke Zusammenstimmen in der Grundidee des Weltuntergangs bei Christen und Skandinaven, um so mehr, als die letzteren daneben vom persönlichen Jenseits des einzelnen keinen sonderlichen Gebrauch machen und ihr Walhalla auf gefallene Helden beschränken. Die großartige; umständliche Eschatologie, welche sich bei Otto von Freisingen auf die biblische Lehre vom Antichrist kurz vor dem Weltuntergang oder von der Losgebundenheit Satans nach den tausend Jahren seiner Fesselung aufbaut, gibt im ganzen die Ansichten des christlichen Mittelalters über diese Dinge. Nach der skandinavischen Tradition sind es drei Jahre der äußersten sittlichen Verderbnis, welche den großen Erdkatastrophen vorangehen. Diese Verfinsterung der sittlichen Mächte ist die Verfinsterung der Götter, Ragnarök, mit welchem Worte also nicht die Folge, sondern die Ursache des Untergangs der Welt bezeichnet wird. Die Götter, und die von ihnen in Walhalla gesammelten Helden, fallen dabei im Kampfe gegen die Mächte der Nacht, und es erfolgt der Weltbrand, worauf freilich endlich die neugeborene Welt mit einem neuen, ungenannten obersten Gotte und dazu auch ein verjüngtes Menschengeschlecht kommt. Zwischen beiden Vorstellungen steht der Muspilli, wo Elias mit dem Antichrist streitet, aber, indem er ihn tötet, selbst verwundet wird, aus seinem Blut, sobald es auf die Erde träuft, sofort der Weltbrand entsteht. Die gemeinsame Anschauung bei Christen und Skandinaven ist: das Ideal weiß gleichsam, daß auch wenn es sich verwirklicht hat, tödliche Feinde drohen, die stärker sein und ihm den Untergang bringen werden, worauf dann aberbald (nach Cyrill von Jerusalem nach dreiundeinhalbjähriger, auch nach Otto von Freisingen nach zweiundvierzigmonatlicher Herrschaft des Antichrists) die allgemeine Vergeltung folgt. Das Ideal fühlt, daß es zu heilig für diese Welt sei.

Priestermacht
Mit diesem stärkeren oder schwächeren Hereinragen der Lehre vom Jenseits und den letzten Dingen hängt bisweilen, obgleich nicht immer, die größere oder geringere Ausbildung der Priestermacht zusammen, als welche über die Verbindung mit diesem Jenseits mehr oder weniger zu verfügen hat. Diese mag freilich auch noch andere, diesseitige Quellen und Gründe haben, so die Kraft ihres Rituals zum Götterzwang, die Theurgie, die Leitung von Gottesurteilen zur Ermittelung von Tatbeständen, endlich die Verflechtung von Priestertum und Heilkunde, teils durch das nähere Verhältnis zu den Göttern, teils durch priesterliche Wissenschaft, teils durch die Anschauung, daß Krankheiten Strafen für Begangenes — auch in einem früheren Dasein Begangenes — oder Wirkungen von Dämonen seien, denen der Priester begegnen könne . Von selbst versteht sich schließlich die Macht der Priester von Staats- oder Volksreligionen.

Missionierung
Missionieren werden im ganzen nur Jenseitsreligionen und nicht einmal diese alle, z. B. taten es die Ägypter und Zendleute nicht. Der Eifer des Missionierens ist nicht bloß von der Stärke einer Religion bedingt, denn gerade sehr starke Religionen begnügen sich etwa, das, was nicht ist wie sie, zu verachten, zu vernichten, höchstens zu bemitleiden, — sondern er ist bedingt von ihrem Inhalt und zwar wesentlich von ihrem jenseitigen, denn wegen des Erdenlebens nähme man sich die Mühe nicht und würde auch schwerlich viele Proselyten machen.

Es drängt sich daher die Frage auf, ob das Judentum, als es sich 50 v. Chr. bis 50 n. Chr. im vorderen Orient und im Imperium ausdehnte, nicht etwa eine pharisäische Jenseitslehre in sich hatte. Oder schloß man sich daran auch ohne Mission von seiner Seite? Vertraten irdisch messianische Hoffnungen das Jenseits?

Jedenfalls bezogen sich sämtliche orientalische Mysterienkulte, die im Imperium Eingang fanden, auf das Jenseits. Und das Christentum selbst wirkte bei den Römern wesentlich durch seine Verheißung der seligen Unsterblichkeit.

Ja vielleicht haben überhaupt nur die Jenseitsreligionen, die zugleich dogmatisch stark ausgestattete Religionen sind, diejenigen eifrigen Persönlichkeiten im Vorrat, welche entweder werben oder alles zersprengen müssen. Besonders aus den Proselyten selbst, die vorher heftige Gegner waren, erwachsen die eifrigsten Boten.

Ganz logisch und nur scheinbar paradox rechnen wir hierher auch die Verbreiter des Buddhismus, welcher die orientalische Gestalt des Jenseits, die Seelenwanderung, stille zu stellen verspricht.

In vollem Gegensatz aber zu den missionierenden Religionen steht der klassische, besonders der römische Polytheismus, welcher wohl seine Götter in den Westen verbreitet, hauptsächlich aber die Götter anderer Völker in sein Pantheon einlädt. Er ist eine Nationalreligion, welche zur Reichsreligion geworden ist, sich aber dabei stark modifiziert hat.

National- und Weltreligionen
Und hier kommen wir nun auf den Gegensatz der Nationalreligionen und der Weltreligionen, welcher mit dem durch das Verhalten zum Jenseits bedingten Gegensatz teilweise koinzidiert.

Beide geben das Menschlich-Übermenschliche auf ganz verschiedenen Stufen, die einen mit Hülle, die anderen ohne Hülle.
Die Nationalreligionen sind die früheren. Sie sind mit Erinnerungen, Kultur und Geschichte der betreffenden Völker eng verflochten, haben Götter, welche dieses bestimmte Volk oder diesen bestimmten Staat zu schützen oder zu schrecken haben, sind in ihrem Benehmen heroisch und stolz, solange das Volk gedeiht, lassen allenfalls eine allgemeine Hoffnung wie die zu, daß einst alle Völker auf Moriah zur Anbetung Jehovas erscheinen werden, sind aber einstweilen national abgegrenzt, ja durch eine heilige Sprache ebensowohl im Innern gestärkt als nach außen isoliert und einstweilen auch nicht proselytisch; gegen andere sind sie bald, wie wir dies soeben von den Griechen und Römern gesehen haben, polytheistisch freundlich, einladend, Affinitäten erkennend, zum Göttertausch geneigt, bald verachtungsvoll, doch mit Ausnahme der Perser nicht verfolgerisch.

Diesen gegenüber stehn die Weltreligionen: Buddhismus, Christentum und Islam. Sie sind spät gekommen; ihr stärkstes Vehikel ist meist ein soziales, indem sie die Aufhebung von Kasten mit sich bringen, und sich als Armenreligionen und Sklavenreligionen, daher an sich auch antinational, geben, während der Islam eine Religion von Siegern ist.

Sie abstrahieren von einer heiligen Sprache und übersetzen ihre Urkunden, ausgenommen der Islam, der seinen Koran arabisch behauptet und die Völker zu einer beschränkten Kenntnis des Arabischen zwingt. Nur eine beschränkte Beibehaltung einer heiligen Sprache ist es, wenn der katholische Kultus mit einem großartigen praktischen Zweck das Lateinische beibehalten hat, und ein vereinzelter Fall ist das merkwürdige Schicksal der koptischen Nationalsprache, die dadurch zur heiligen Sprache geworden ist, daß die Kopten, die jetzt nur noch Arabisch sprechen und verstehen, die ehemals ins Koptische übersetzten heiligen Schriften und Ritualien in dieser ihnen nun unverständlichen Landessprache beibehalten haben.

Die Weltreligionen sind es, welche die größten historischen Krisen herbeiführen. Sie wissen von Anfang an, daß sie Weltreligionen sind, und wollen es sein.

Bedeutung der Religionen
Enorm verschieden ist die Bedeutung der verschiedenen Religionen im Leben. Vergleichen wir sie zunächst untereinander, so finden wir die einen fast ohne kenntliche Dogmen. Sie haben keine Urkunden gehabt oder sie verloren und die Poesie und Kunst dafür angenommen; sie sind zufrieden mit gelinderer oder strengerer Verehrung und Sühnung der Götter, mit prichtigeren oder mäßigeren Zeremonien; das Leben ist wenig von der Religion bedingt. Philosophie und Aufklärung mögen eine solche Religion frühe zersetzen und ausschwatzen, so daß wir alles erfahren.

Die andern haben Urkunden, einen Priesterstand, einen strengen Ritus bis ins Kleinlichste hinein; ihr Dogmatismus mag sehr künstlich sein, sich rechts in Sekten und links in Philosophie verlaufen, — das Volk erfährt wenig davon und begnügt sich mit der äußeren Schale. Aber sein Leben kann hart und fest in den Kultus eingeschnürt sein, so die Brahminenreligion.

Endlich kommen die großen, wesentlich dogmatischen Weltreligionen, wo das Dogma (nicht, wie dort, der Ritus) die einzelne Seele zu beherrschen verlangt. Die Taxation des Irdischen hat sich hiermit abzufinden wie sie kann.

Viel schwieriger aber ist die Beurteilung des jeweiligen Geltungsgrades einer und derselben Religion nach Zeiten und nach Schichten ihrer Bekenner.

Zeitlich hätte man etwa zu unterscheiden das primäre Stadium des originalen Glaubens oder das naive Stadium, das sekundäre, da der Glaube Tradition geworden, und das tertiäre, da er sich bereits auf sein Altertum beruft und zugleich aufs stärkste mit den nationalen Erinnerungen verflochten, ja stellenweise der nationale Anhalt geworden ist.

Von der schichtweisen Geltung der Religion wäre etwa zu sagen, daß die Religionen der höheren Kulturvölker immer auf diesen drei und auf noch viel mehr Stadien zugleich leben, je nach sozialen Schichten und Kultureinflüssen. Man möge hierbei an den Polytheismus der gebildeten Römer denken oder an das Christentum von heute, das bei den einen hierarchisch-äußerlich, bei andern dogmatisch, bei den dritten fromm-gemütlich, bei vielen zur bloßen Religiosität verinnerlicht oder verblaßt erscheint.

Groß ist hier die Unsicherheit unseres Urteils. Es ist uns z. B. zweifelhaft, inwiefern die byzantinische Religion noch Religiosität gewesen ist, wo neben spitzfindigem dogmatischem Hader der Geistlichen die größte Veräußerlichung in pathetischem Symboldienst und Zeremoniell und eine despotische Entwürdigung des Menschen einhergeht. Und doch darf man auch hier nicht zu früh aburteilen: die besten byzantinischen Eigenschaften sind immer noch in Verbindung mit jener Religion vorhanden gewesen, welche auch jetzt noch verdient, das Salz der dortigen Erde genannt zu werden.

Auflösung
Und nun die Auflösung der Religionen und ihre Gegenwehr. Eine Religion gründet z. B. früh ein heiliges Recht, d. h. sie verschlingt sich enge mit einem ganzen, von ihr garantierten öffentlichen Zustand, oder sie gründet ihre Hierarchie neben den Staaten, aber im politischen Rapport mit ihnen. Diese ihre äußeren Einrichtungen, enge mit allem Materiellen verflochten und auf die Massen und deren Gewöhnung gestützt, können eine solche Religion unendlich lang äußerlich aufrechterhalten, wie alte Bäume, innen ganz morsch, von ihrer Rinde und ihren Blättern leben und noch große Figur damit machen; der Geist aber ist schon lange teilweise daraus gewichen und nur noch nicht im Besitz eines neuen klar bewußten metaphysischen Elementes, auf welches er eine neue, des Kampfes und Sieges fähige Gegenreligion aufbauen könnte.

Was er inzwischen einzelnes aufstellt, heißt dann Häresie und wird als solche verfolgt oder doch exekriert.

Auch die schärfst beaufsichtigten Völker, deren ganzer Gedankenkreis sorgfältig auf die herrschende Religion orientiert schien, fallen bisweilen plötzlich schichtweise der Häresie anheim. Man denke an die unter dem Einfluß des Manichäismus entstandene Häresie der Mazdak im Sassanidenreiche, die staatengründenden Häresien des Islams, die Albigenser des 12. und 13. Jahrhunderts, diese Neumanichäer mit ihrem Seelenwanderungsglauben, der zu der Frage verführen könnte, ob die Metempsychose nicht vielleicht bestimmt sei, noch einmal das Christentum zu durchkreuzen. Jedesmal ist die Häresie ein Zeichen, daß die herrschende Religion dem metaphysischen Bedürfnis, das sie einst geschaffen, nicht mehr genau entspricht.

Sehr verschieden ist nun die Widerstandskraft der Religionen je nach der Schicht oder Macht, welche sie verteidigt. Kleinstaaten, wo die sacra enge mit dem Bürgertum oder Staat verflochten sind, können eine neue Ketzerei oder Religion vielleicht besser abwehren als große Weltreiche mit nivellierter Kultur und allgemeinem Verkehr, welche die Kleinstaaten unterworfen haben, weil dieselben schon müde waren. Solchen ist auch vielleicht schon die Bändigung der Einzelvölker eben darum leichter geworden, weil sie ihnen ihre Religion ließen. Das Christentum wäre durch die Poleis des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. schwer durchgedrungen; das römische Imperium öffnete ihm alle Pforten und wehrte sich dann nur politisch dagegen.

Und nun hat es zwar sehr leichte, rasche und massenhafte Übergänge von Religion zu Religion gegeben; in Thesi aber verlangen alle Religionen mindestens so ewig zu sein als die sichtbare Welt, und jede hat einen bleibenden menschlichen Gehalt in sich, welcher sie hiezu teilweise berechtigt.

Religiöse Kämpfe und Verfolgungen
Schrecklich sind nun die religiösen Kämpfe, zumal bei den Religionen, wo der Gedanke des Jenseits sehr vorherrscht, oder wo die Sittlichkeit sonst total an die gegebene Religionsform gebunden erscheint, oder wo die Religion sehr stark national geworden ist und in und mit ihr ein Volkstum sich verteidigt. Am schrecklichsten geht es gerade bei den zivilisierten Völkern zu: die Mittel des Angriffs und der Verteidigung haben keine Grenzen; die gewöhnliche Sittlichkeit und das Recht werden dem ,,höheren Zweck“ zu Gefallen völlig suspendiert, Transaktionen und Vermittelungen verabscheut; man kann nur alles oder nichts haben.

Was das Entstehen von Verfolgungen betrifft, so ist zunächst ein Urstadium zu konstatieren in der Bestrafung der Blasphemie: man fürchtet von den Lästerungen eines Gottesfeindes eine Strafe der Gottheit und wünscht ihr deshalb den Betreffenden auszuliefern, um nicht mitleiden zu müssen. Solches kann — man möge an die athenischen Asebieprozesse denken — bei den tolerantesten Polytheismen vorkommen, sobald sie direkt Trotz erfahren.

Hievon wesentlich verschieden ist das Verfahren besonders von Weltreligionen und Jenseitsreligionen.

Diese erwidern nicht bloß geschehene Angriffe, sondern bekämpfen schon das bloße, wenn auch geheime Dasein einer von der ihrigen abweichenden Metaphysik mit den äußersten Mitteln, solange sie können.

Die Zendreligion begehrt zwar nicht zu bekehren, zeigt aber ihren äußersten Haß gegen alles, was nicht Ormuzdlehre ist; Kambyses zerstört die ägyptischen Tempel und tötet den Apis; Xerxes verwüstet die Heiligtümer Griechenlands.

Auch der Islam missioniert nicht oder doch nur zeit- und stellenweise; solange er kann wenigstens, dehnt er sich nicht durch Mission, sondern durch Eroberung aus und findet das Dasein zinsender Giaurs sogar bequem, tötet sie aber durch Verachtung und Mißhandlung und massakriert sie in Wutanfällen auch etwa.

Das Christentum aber verlangt seit dem 4. Jahrhundert, Seele und Gewissen des einzelnen für sich allein zu besitzen, und nimmt, wovon später noch die Rede sein soll, den weltlichen Arm in Anspruch, als verstände sich dies von selbst, gegen Heiden und ganz besonders gegen christliche Ketzer. Dieselbe Religion, deren Sieg ein Triumph des Gewissens über die Gewalt war, operiert nun auf die Gewissen mit Feuer und Schwert los.

Furchtbar ist die Stärke seiner Affirmation. Der Märtyrer wird, wenn er seine Qualen überlebt hat, konsequent Verfolger, nicht sowohl aus Vergeltung, als vielmehr, weil ihm seine Sache über alles geht. Ohnehin war vielleicht sein äußeres Leben wenig wert; er hatte sogar Lust zu leiden und zu sterben. (Dergleichen auch außerhalb des Christentums, ja außerhalb der Religion vorkommt, ohne daß damit der geringste Beweis für den objektiven Wert der betreffenden Sache geleistet wäre.)

Jetzt, mit ihrer unendlichen Bekümmernis für die Seele des einzelnen, läßt die Kirche demselben nur die Wahl zwischen ihrem Dogma (ihren Syllogismen) und dem Scheiterhaufen. Ihre schreckliche Voraussetzung ist, daß der Mensch ein Recht über die Meinungen von seinesgleichen haben müsse.

Subintelligiert oder oft zugestanden wird, daß Irrlehre gleich ewiger Verdammnis, daher deren Verbreitung über unschuldige Seelen, ja über ganze Völker, durch alle Mittel zu verhindern sei, daß der Tod, relativ weniger, nicht in Betracht komme gegen die ewige Verdammnis ganzer Nationen.

Bei den Massen wird allenfalls grobe Unwissenheit des Wahren, bei den Irrlehrern kaum je etwas anderes als Bosheit vorausgesetzt, indem ja der wahre Glaube völlig einleuchte. ,,On est bien près de brûler dans ce monde-ci les gens que l‘on brûle dans l‘autre.“ Seelenrettung geht allem voran, auch durch Kinderraub und gewaltsame Erziehung.

Von den Kirchenlehrern ist schon St. Augustin für die blutige Verfolgung der Donatisten: ,,Nicht wir sind es, die euch verfolgen, sondern eure eigenen Werke“ (d. h. weil ihr euch aus Gottlosigkeit von der Kirche getrennt habt). ,,Was für ein Unrecht soll darin liegen, wenn diejenigen für ihre Sünden und auf Befehl der Regierung gestraft werden, welche Gott durch dies gegenwärtige Gericht und Züchtigung ermahnt, sich dem ewigen Feuer zu entziehen? Sie sollen zuerst beweisen, daß sie weder Häretiker noch Schismatiker sind und sich dann beklagen.“ St. Hilarius und St. Hieronymus äußern sich nicht gelinder, und im Mittelalter verpflichtet und bedroht Innocenz III. die weltlichen Herren und ladet gegen die Ketzer zu einem Kreuzzuge ein mit Landprämien und Ablaß wie für das heilige Land. Freilich wurde man den Gegner —Heiden oder Ketzer — wirklich nur durch materielle Vernichtung los. Man hat die Albigenser wirklich ausgerottet.

Die Nemesis lag darin, daß die Kirche mehr und mehr ein Polizeiinstitut wurde, und daß die Hierarchen danach rochen.

Reformatoren
Die Reformatoren dachten über die ewige Verdammnis nicht anders als die katholische Kirche, stellten aber die Sache in praxi wesentlich Gott anheim, etwa schwere Fälle von Blasphemie ausgenommen, womit man wieder in jenes Urstadium des Verfolgen zurücktrat.

Die großen geistigen Bewegungen des 18. Jahrhunderts machten einen starken Riß in die Verfolgungen. Abgesehen davon, daß der weltliche Arm sich nicht mehr hergab, weil ein neuer Begriff des Staates aufgekommen war, war wohl ganz wesentlich entscheidend, daß — mit unter dem Einfluß des kopernikanischen Systems — die Beschäftigung mit dem Jenseits zurücktrat, daß es mauvais genre und Zeichen eines harten Herzens wurde, sich mit der ,,ewigen“ Verdammnis anderer Seelen abzugeben, und daß allmählich eine gelinde Seligkeit für jedermann postuliert werden konnte.

Die Aufklärungsphilosophie und ,,Toleranz“ des 18. Jahrhunderts, welche eifrige, überzeugte Bekenner und selbst Märtyrer gehabt und die Geisterwelt umgestaltet hat, ohne daß ein Mensch auf einen Paragraphen vereidigt gewesen wäre, war freilich ihrerseits auch eine Art von Religion, was man etwa auch von dieser oder jener Philosophie des Altertums, z. B. von der Stoa, behaupten könnte: können doch — um das Phänomen im allgemeinen zu nennen —bloße Denkweisen, ohne Dogma, Versammlungen und spezielle Verpflichtungen, bei großer Varietät unter ihren Bekennern, selbst völlig den Wert einer Religion oder Sekte annehmen.

Untergang der Religionen
Und nun der Untergang der Religionen. Hiezu genügt noch lange nicht, was man die innere Zersetzung nennt: die geistige Abwendung einzelner Kategorien der Bevölkerung (sei es als Sekte innerhalb der Bevölkerung oder als gebildete, reflektierende Sozietät). Ja, es genügt noch nicht die Anwesenheit einer neuen, dem zeitweiligen metaphysischen Bedürfnis viel besser entsprechenden Religion.

Sekten können verfolgt und ausgerottet oder ihrer eigenen Unbeständigkeit und Metamorphose überlassen werden. Die gebildeten Stände, welche durch Kultureinflüsse der herrschenden Religion entzogen worden sind, kehren wohl (wie dies das Schicksal fast sämtlicher romanischer Völker ist) wieder zu ihr zurück oder arrangieren sich wieder mit ihr aus Klugheitsrücksichten (während beim Volk von altersher die Religion das wesentliche Stück der Kultur ist). Eine neue Religion kann sich neben die alte stellen, sich mit ihr in die Welt teilen, aber von sich aus sie unmöglich verdrängen, selbst nicht, wenn sie die Massen für sich hat — falls nicht die Staatsgewalt eingreift.

Jede ausgebildete Religion höheren Ranges ist vielleicht relativ ewig (d. h. so weit ewig, als das Leben der sie bekennenden Völker), wenn nicht ihre Gegner diese Macht gegen sie aufzubieten vermögen. Vor der Gewalt unterliegen sie alle, wenn dieselbe konsequent gehandhabt wird, und zumal wenn es sich um ein einziges, unentrinnbares Weltreich wie das römische handelt. Ohne Gewalt oder doch ohne gleichmäßig gehandhabte Gewalt leben sie fort und tränken ihre Macht stets neu aus dem Geiste der Massen, ja am Ende bekommen sie den weltlichen Arm wieder auf ihre Seite. So die Religionen des Orients.

Mit Hilfe der staatlichen Gewalt konnte der Buddhismus in Indien durch die Brahminenreligion ausgerottet werden. Ohne die Kaisergesetzgebung von Constantin bis auf Theodosius würde die römisch-griechische Religion nach bis heute leben. Ohne ein wenigstens zeitweises völliges, vom weltlichen Arm gehandhabtes (nötigenfalls mit den äußersten Mitteln verbündetes) Verbot würde die Reformation sich nirgends behauptet haben. Sie hat alle diejenigen Territorien wieder verloren, wo sie diesen Vorteil des weltlichen Arms nicht besaß und irgendeine beträchtliche Quote von Katholiken mußte fortleben lassen. So kann selbst eine junge und kräftig scheinende Religion partiell, gebietweise untergehen, vielleicht für solche Gegenden auf immer. Denn es fragt sich, ob später wieder ein neuer Andrang mit ,,einem günstigen Fixierungsmoment“ zusammentreffen wird.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 55, Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Herausgegeben von Rudolf Marx S.39ff.
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlichem Einverständnis des Alfred Kröner Verlags, Stuttgart

Die Kultur in ihrer Bedingtheit durch die Religion
Religion ist Vorbedingung jeder Kultur
Hohe Ansprüche haben die Religionen auf die Mutterschaft über die Kulturen, ja die Religion ist eine Vorbedingung jeder Kultur, die den Namen verdient, und kann sogar geradezu mit der einzig vorhandenen Kultur zusammenfallen.

Zwar entsprechen sie zwei wesentlich verschiedenen Bedürfnissen, dem metaphysischen und dem geistig-mate¬riellen. Allein in der Wirklichkeit reißt das eine das andere mit sich und macht es sich dienstbar.

Eine mächtige Religion entfaltet sich in alle Dinge des Lebens hinein und färbt auf jede Regung des Geistes, auf jedes Element der Kultur ab.

Freilich reagieren dann diese Dinge mit der Zeit wieder auf die Religion; ja deren eigentlicher Kern kann erstickt werden von den Vorstellungs- und Bilderkreisen, die sie einst in ihren Bereich gezogen hat. Das »Heiligen aller Lebensbeziehungen« hat seine schicksalsvolle Seite.

Jede Religion würde, wenn man sie rein machen ließe, Staat und Kultur völlig dienstbar, d. h. zu lauter Außenwerken ihrer selbst machen und die ganze Gesellschaft von sich aus neu bilden. Ihre Repräsentanten, d. h. ihre Hierarchie, würden vollkommen jede andere Herrschaft ersetzen. Und wenn dann der Glaube Tradition geworden und versteinert ist, darin würde es der Kultur nicht mehr helfen, wenn sie Fortschritt bleiben und sich ändern wollte; sie bliebe gefangen.
Diese Gefahr ist besonders groß in den Staaten des heiligen Rechtes; hier ist es die vereinte Macht von Staat und Religion, welche die Kultur im Zaum hält.

Außerdem aber kann schon der Inhalt einer Religion, ihre Lehre, der Kultur, und selbst einer hochangelegten, sehr strenge und schade Schranken anweisen.
Vor allem kann die Beschäftigung mit dem Jenseits das Diesseits völlig überschatten. Am Anfang der Geschichte begegnet uns schon die ägyptische Gräberreligion, die den Ägypter zu so großen Opfern für sein Grabwesen genötigt hat. Und dann finden wir trübe Kontemplation und Askese bis zur Verleidung des Erdenlebens erst recht wieder am Ende des Altertums.

So fing das Christentum an, die römische Kultur nicht bloß zu durchdringen, sondern sie zu ersetzen. Im 4. Jahrhundert überwindet die Kirche die arianische Spaltung, und seit Theodosius sind Imperium und Orthodoxie synonym. Und nun ist nicht nur die Kircheneinheit der Reichseinheit überlegen, sondern die Kirche verdrängt fast alle andere Literatur; wir erfahren fast nichts mehr von den profanen Gedankenkreisen; die Askese färbt äußerlich das ganze Leben; alles stürzt sich in die Klöster; die gebildete alte Welt, auch vom Staate übel gequält, scheint ehelos ausleben zu wollen. Kirche und Barbaren führen allein das Wort; Hierarchen sind die mächtigsten Personen, Kultus und Dogmenstreit, selbst im Volk, die Hauptbeschäftigung.

Doch hatte die Kultur dabei das unaussprechliche Glück, daß wenigstens nicht im Abendlande (während es in Byzanz allerdings bis zu einem gewissen Grade der Fall war) Staat und Kirche in ein erdrückendes Eins zusammenrannen, und daß dann die Barbaren weltliche, zunächst meist arianische Reiche errichteten.

Der Islam
Dies Zusammenrinnen geschah im Islam, welcher seine ganze Kultur wesentlich beherrscht, bedingt und färbt. Er hat nur einerlei unvermeidlich despotisches Staatswesen, nämlich die vom großen Kalifat auf alle Dynastien wie selbstverständlich übergegangene weltlich-geistliche, theokratische Machtvollkommenheit. Auch alle Stücke also wiederholen nur das Weltreich im kleinen, d. h. arabisiert und despotisch. Alle Macht stammt in dem gleichen Sinne von Gott wie bei den Juden.

Der Islam, der eine so furchtbar kurze Religion ist, ist mit dieser seiner Trockenheit und trostlosen Einfachheit der Kultur wohl vorwiegend eher schädlich als nützlich gewesen, und wäre es auch nur, weil er die betreffenden Völker gänzlich unfähig macht, zu einer andern Kultur überzugehen. Die Einfachheit erleichterte sehr seine Verbreitung, war aber mit derjenigen höchsten Einseitigkeit verbunden, welche der starre Monotheismus bedingt, und aller politischen und Rechtsentwicklung stand und steht der elende Koran entgegen; das Recht bleibt halbgeistlich.

Das Beste vielleicht, was vom Kultureinfluß des Koran sich sagen ließe, wäre, daß er die Tätigkeit als solche nicht proskripiert, die Beweglichkeit (durch Reinen) veranlaßt— worauf die Einheit dieser Bildung vom Ganges bis Senegal beruht — und ganz wüste orientalische Gaukelmagie ausschließt.

Aber auch die trübste christliche Kontemplation und Askese war der Kultur nicht so schädlich als der Islam, sobald man folgendes erwägt:

Abgesehen von der allgemeinen Rechtlosigkeit vor dem Despotismus und seiner Polizei, von der Ehrlosigkeit aller derer, die mit der Macht zusammenhängen , wofür die Gleichheit aller, die Abwesenheit von Adel und Klerus keinen Ersatz gewähren, entwickelt sich ein diabolischer Hochmut gegenüber dem nichtislamischen Einwohner und gegenüber andern Völkern, bei periodischer Erneuerung des Glaubenskrieges, ein Hochmut, wodurch man gegen den noch immer unverhältnismäßig größten Teil der Welt und dessen Verständnis abgesperrt ist.

Die einzigen Ideale des Lebens sind die beiden Pole: der Fürst und der zynisch-asketische Derwisch-Sufi, zu denen allenfalls noch der Landstreicher in Art des Abu Seid kommt. In die Satire, das Landstreichertum und »Büßertum« mag sich das Freie und Individuelle noch allenfalls flüchten.

In der Bildung fällt auf das Vordrängen der Sprache und Grammatik über den Inhalt, die sophistische Philosophie, an der nur die häretische Seite frei und bedeutend ist, dann eine erbärmliche Geschichtswissenschaft, weil alles außerhalb des Islam gleichgültig und alles innerhalb des Islam Partei- oder Sektensache ist, und eine im Verhältnis zu ganz ungehemmter Empirie doch nur mangelhafte Pflege der Naturkunde. Sie haben lange nicht so viel geforscht und entdeckt, als sie frei gedurft hätten, es fehlte der allgemeine Drang zur Ergründung der Welt und ihrer Gesetze.

Die Poesie kennzeichnet hier vor allem der Haß des Epischen, weil die Seele der Einzelvölker darin fortleben könnte; Firdusi ist nur per Konterbande da. Dazu kommt noch die für das Epos tödliche Richtung auf das Lehrhafte, die Tendenz, das Erzählende nur als Hülle eines allgemeinen Gedankens, als Parabel wert zu achten. Der Rest flüchtete sich in das figurenreiche, aber gestaltenlose Märchen. Ferner gibt es kein Drama. Der Fatalismus macht die Herleitung des Schicksals aus Kreuzung der Leidenschaften und Berechtigungen unmöglich; — ja vielleicht hindert schon der Despotismus an sich die poetische Objektivierung von irgend etwas. Und eine Komödie ist unmöglich, schon weil es keine gemischte Geselligkeit gibt, und weil Witz, Spott, Parabel, Gaukler usw. die ganze betreffende Stimmung vorwegnehmen.

In der bildenden Kunst ist nur die Architektur ausgebildet, zuerst durch persische Baumeister, dann mit Benützung des byzantinischen und überhaupt jedes vorgefundenen Stiles und Materials. Skulptur und Malerei existieren so gut wie gar nicht, weil man die Vorschrift des Koran nicht nur innehielt, sondern weit über den Wortlaut übertrieb. Was dabei der Geist überhaupt einbüßte, läßt sich denken.

Daneben besteht freilich das täuschende Bild von blühenden, volkreichen, gewerblichen islamitischen Städten und Ländern mit Dichterfürsten, edelgesinnten Großen usw., wie z. B. in Spanien unter und nach den Ommayaden.

Aber über jene Schranken hinaus, zur Totalität des Geistigen, drang man auch hier nicht durch, und Unfähigkeit zur Wandelung, zur Einmündung in eine andere, höhere Kultur war auch hier das Ende, wozu dann noch die politisch-militärische Schwäche gegen Almoraviden, Almohaden und Christen kam.

Die Wirkung der Religionen auf die Kulturen hängt natürlich sehr von ihrem Geltungsgrad im Leben überhaupt ab, allein nicht bloß vom gegenwärtigen, sondern auch von den ehemaligen Geltungsgraden. Eine Religion knickt im entscheidenden geistigen Entwicklungsaugenblick eine Falte in den Geist eines Volkes, die nie mehr auszuglätten ist. Und wenn dann später auch alle Pforten in die freie Kultur hinein geöffnet werden, so ist die Neigung oder doch die beste Neigung für das früher Verwehrte vorüber. Denn derjenige Moment kehrt nicht wieder, da der betreffende Kulturzweig, im Zusammenhang mit sonstiger Erhöhung des nationalen Lebens, geblüht haben würde. Wie große Wälder einmal und dann, wenn ausgerottet, nicht wieder wachsen, so besitzen oder erwerben Mensch und Volk gewisse Dinge in der Jugend oder nie.

Übrigens ließe sich in betreff der Kultur überhaupt fragen, ob wir berechtigt sind, ihre unbedingte Ausbreitung von irgendeinem Stadium aus für wünschbar zu halten, ob nicht das, was hier geknickt wird und unentfaltet stirbt, bestimmt ist, bei künftigen Völkern und Kulturen als völlig Neues und zum erstenmal Geborenes an den Tag zu treten, damit es einmal naiv vorhanden sei.

Die klassischen Religionen
Am wenigsten hemmend für die Kultur waren die beiden klassischen Religionen als Religionen ohne Hierarchie, ohne heilige Urkunden und ohne sonderliche Betonung des Jenseits.

Die griechische Götter- und Heroenwelt war ein idealer Reflex der Menschenwelt mit göttlichen und heroischen Vorbildern für jedes hohe Streben und für jeden Genuß. Es war eine Vergötterung der Kultur und doch keine Versteinerung derselben, wenn aus dem Feuergott der vielkundige Schmied, aus der Blitz- und Kriegsgöttin die Schützerin jeder Kultur und Kunst und der klaren und besonnenen Menschen, aus dem Herdengott der Herr der Straßen, aller Botschaft und alles Verkehrs wurde. Die Römer vergöttlichten vollends jedes irdische Treiben bis auf die pulchra Laverna hinab.

Bei den Alten setzte die Religion dann jeder weiteren Entwicklung der Gedankenwelt nur geringen Widerstand entgegen; da, wo die Poesie als Erzieherin den Menschen entließ, durfte ihn die Philosophie in Empfang nehmen und zum Monotheismus, Atheismus, Pantheismus führen.

Unvermeidlich höhlte sich dann wohl die dennoch fortlebende Religion zum bloßen Massenglauben, zur verkommenden Mantik und Goetie aus, und diese schlug dann seit dem 2. Jahrhundert ihre schwarzen Fittiche wieder um die ermattete Kultur. Die späte Konkurrenz dieser Religion mit dem eindringenden Christentum mußte zur Niederlage führen.

Künste und Kultus
Gesondert ist nun noch in ihrer Bedingtheit durch die Religion die Kunst zu betrachten.

Die Künste, welches auch ihr Ursprung sei, haben jedenfalls ihre wichtigste, entscheidende Jugendzeit im Dienste der Religion zugebracht.

Schon vorher müssen oder können existiert haben: Nachbildungen des Wirklichen in plastischer wie in flacher Darstellung mit der Farbe, Ausschmückungen des Gebauten, Anfänge von erzählendem Dichten und von Seelenausdruck im Gesang, vielleicht auch schon ein sehr künstlicher Tanz; wenn auch eine Art von Religion schon daneben existierte, so waren diese Dinge doch noch nicht in deren Dienst.

Allein nur Religion und Kultus brachte diejenigen feierlichen Schwingungen in der Seele hervor, welche imstande waren, in dies alles das höchste Vermögen hineinzulegen; sie erst brachten in den Künsten das Bewußtsein höherer Gesetze zur Reife und nötigten den einzelnen Künstler, der sich sonst hätte gehen lassen, zum Stil; d. h. eine einmal erreichte Höhenstufe wird festgehalten gegenüber dem daneben weiterlebenden Volksgeschmack (welcher vielleicht von jeher für das Süßliche, Bunte, Grauenvolle usw. würde gestimmt haben).

Zugleich ergab sich dabei eine Entbindung von der religiösen Angst; die Gestaltung der Götter sicherte vor dem Grauenbild, der Hymnus läuterte die Seele.
Auch die Despoten mochten dann die priesterlich entstandene Kunst wohl für sich ausnützen.

Allein die Kunst wird dann mit der Zeit nicht bloß auf einer gewissen Höhe erhalten, sondern auch nach oben festgehalten, d. h. die weiteren, höheren Entwicklungen werden einstweilen abgeschnitten durch hieratische Stillstellung, das einmal mit enormer Anstrengung Erreichte gilt als heilig, wie besonders am Anfang und am Ausgang der alten Kulturwelt Ägypten und Byzanz lehren.

Ägypten ist dabei geblieben, hat die Schritte zum Individuellen nie machen dürfen und ist unfähig geworden, überhaupt in ein Neues auszumünden und überzugehen. »Sint, ut sunt, aut non sint« muß man von seinen Künstlern sagen.

Die allergrößte Knechtung einer ehemals großen und viel¬leicht bei Freiheit immer noch großer Dinge fähigen Kunst aber findet sich in Byzanz; hier ist fast nur das Heilige erlaubt und nur in patentierter Auswahl und Darstellungsweise, mit feststehenden Mitteln; die Kunst wird typischer als sonst je.

Anderswo, wie im Islam, wird die Kunst durch die Religion gewaltsam reduziert, ja völlig verneint, wie dies der Kalvinismus und Puritanismus tun, wo die kirchliche Bilderflucht sich unvermeidlich auch auf das Leben überhaupt ausdehnt.

Die Griechen aber durchbrachen, während der hieratische Stil noch immer fortdauerte, die Schranken, und zwar noch immer im Dienste des Kultus. Es kamen der große, freie Stil der höchsten Blütezeit, sodann eine reiche Ge¬schichte der künstlerischen Wandelungen, zugleich die Oberleitung der Kunst auch auf das Profane und endlich die auf die Verherrlichung des Individuellen und Momentanen.

Die Ablösung der einzelnen Künste vom Kultus möchte nach ihren Stadien aber etwa folgende gewesen sein:

Zuerst macht sich die Poesie im wesentlichen los und entwickelt eine neutrale, heroische, lyrische Welt des Schönen; ja bei Hebräern und Griechen auffallend früh auch eine didaktische Dichtung. Die Religion kann sie am frühesten entbehren und entlassen; denn mit den ihr nötigen Ritualien wird sie längst versehen sein und vielleicht die in ihrer Urzeit entstandenen am liebsten beibehalten, woneben sich dann noch eine freie Poesie erbaulichen Inhalts behaupten mag, indem ein freies Walten der Phantasie über das Heilige keine Bedenken hat. Ein Gefäß des Mythus, wo er existiert, bleibt außerdem noch das Volksepos, weil der Mythus von der bloßen Volkssage nicht zu trennen ist. Die profane Poesie aber wird nun um so mehr Bedürfnis, als alle für Haltbarkeit und Überlieferbarkeit bestimmten Aufzeichnungen überhaupt auf die poetische Form angewiesen sind.

Dann trennt sich ein Gebiet der Erkenntnis nach dem andern von der Religion, wenn diese nicht durch ein heiliges Recht Herrin bleibt, und endlich entsteht eine ganz profane Wissenschaft.

Und doch spricht eine Ahnung dafür, daß alles Dichten und aller Geist einst im Dienste des Heiligen gewesen und durch den Tempel hindurchgegangen ist.

Länger dagegen und für einen wichtigen Teil ihres Schaffens auf immer bleibt die bildende Kunst im Dienste der Religion, oder doch eng mit ihr verbunden (denn die Sache hat, wie wir später sehen werden, zwei Seiten).

Die Religion bietet der Architektur ihre höchste Aufgabe und der Skulptur und Malerei einen anerkannten, überall verständlichen Gedankenkreis, eine homogen über weite Lande verbreitete Beschäftigung.

Enorm ist aber der Wert des Gleichartigen in der Kunst für die Bildung der Stile; es enthält die Aufforderung, im Längstdargestellten ewig jung und neu zu sein und dennoch dem Heiligtum gemäß und monumental, woher es denn kommt, daß die tausendmal dargestellten Madonnen und Kreuzabnahmen nicht das Müdeste, sondern das Beste in der ganzen Blütezeit sind.

Keine profane Aufgabe gewährt von ferne diesen Vorteil. An ihnen, die eo ipso stets wechseln, würde sich nie ein Stil gebildet haben; die jetzige profane Kunst lebt mit davon, daß es heilige Stile gegeben hat und noch gibt; man kann sagen, daß ohne Giotto Jan Steen anders und vermutlich geringer wäre.

Endlich bietet die Religion der Musik einen unvergleichlichen Gefühlskreis; freilich kann, was die Musik innerhalb desselben schafft, in seiner Halbbestimmtheit die Religion selber lange überleben.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 55, Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Herausgegeben von Rudolf Marx S.98ff.
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlichem Einverständnis des Alfred Kröner Verlags, Stuttgart


Der Staat in seiner Bedingtheit durch die Religion

Religion ist das hauptsächliche Band der menschlichen Gesellschaft
So wie es noch spät anerkannt wird, daß die Religion das hauptsächliche Band der menschlichen Gesellschaft sei, indem nur sie eine genügende Hüterin desjenigen moralischen Zustandes sei, welcher die Gesellschaft zusammenhalte, so ist gewiß bei den Gründungen der Staaten — vermutlich nach furchtbaren Krisen — die Religion mächtig mitbestimmend gewesen und hat von daher einen dauernden Einfluß auf den ganzen Lebenslauf des Staates beansprucht.
Durch diese Verflechtung erklärt sich die Entstehung eines heiligen, von den Priestern befestigten Rechtes; der Staat sollte dadurch eine größtmögliche Haltbarkeit bekommen; Herrschern und Priestern war damit anfangs gleichmäßig gedient.

Das Unglück dabei war, selbst wenn die jetzt verdoppelte Macht nicht schon von selbst zu doppeltem Mißbrauch eingeladen hätte — die Hemmung alles Individuellen. Jeder Bruch mit dem Bestehenden wird zugleich ein Sakrilegium und daher mit höchst grausamen Strafen und Henkerserfindungen geahndet; eine weitere Entwickelung ist bei dieser heiligen Versteinerung nicht möglich.

Heiliges Recht
Die Lichtseite ist, daß in Zeiten, wo das Individuelle gebändigt wird, durch die Staats- und Priestermacht wirklich Großes geschehen kann, daß große Zwecke erreicht werden, viel Wissen gewonnen wird, und daß die ganze Nation darin ihren Ausdruck, ihr Pathos und ihren Stolz gegenüber anderen Völkern zu finden vermag. Die Völker des heiligen Rechts sind wirklich für etwas dagewesen und haben eine mächtige Spur zurückgelassen; es ist höchst wichtig, wenigstens ein solches zu studieren und zu betrachten, wie hier die Individualität des einzelnen gebunden und nur das Ganze individuell ist

Das heilige Recht gehört im höchsten Sinne zu den Schicksalen der Völker, die ihm je gedient haben. Zur Freiheit allerdings taugen sie nie mehr; die Knechtschaft der frühesten Generationen wirkt im Geblüt bis heute nach. Wie aber die geistige Kultur bei diesem Zustande gehemmt wird, haben wir früher am Beispiele des alten Ägyptens gesehen.

Lehrreich im höchsten Maße sind die heiligen Bücher nämlich nicht allein, sondern erst in Verbindung mit der Gegenrechnung dessen, was bei einem solchen Volke verhindert und unterdrückt worden ist.

Dazu kommt noch, daß über kurz oder lang unfehlbar die Despotie Meister zu werden und die Religion als ihre Stütze zu mißbrauchen pflegt.

Tempel- und Orakelstaaten
Besondere Schattierungen stellen die Tempel- und Orakelstaaten Vorderasiens - eingerechnet das Ammonium — dar. Hier ist, freilich für einen nur kleinen Kreis, die Religion das Gründende, Alleinherrschende Eine Bürgerschaft besitzen sie selten, meist: aber Tempelsklaven, teils durch Schenkung, teils aus Stämmen, welche dem Gott irgendwie durch heilige Kriege oder auf andere Art dienstbar gemacht worden sind.

Auch Delphi und Dodona mögen als kleine Orakelstaaten ähnlicher Art hier genannt werden. Die Verfassung Delphis war so, daß aus einer Anzahl von Familien, die von Deukalion abstammten, die fünf regierenden Hauptpriester durch das Los gewählt wurden, und dazu kam dann noch als obere Behörde der Amphiktyonenrat.

Mit einem Worte wollen wir auch hier des interessanten diodorischen Berichtes von der in Meroe von Ergamenes durchgeführten Säkularisation eines solchen Priesterstaates gedenken, und endlich möge noch die um 100 v. Chr. blühende dazisch-getische Theokratie erwähnt sein, in der neben dem Könige noch ein Gott (d. h. ein Mensch als Gott) waltete.

Jüdische und Zend-Theokratie

Die größten, geschichtlich bedeutendsten, stärksten Theokratien fanden sich aber überhaupt nicht bei den Polytheismen, sondern bei solchen Religionen, die sich — vielleicht mit einem heftigen Ruck — dem Polytheismus entzogen haben, welche gestiftet, geoffenbart und durch eine Reaktion entstanden sind.

So sieht man die Juden durch alle Wandlungen ihrer Geschichte hindurch beständig wieder der Theokratie zustreben, wie sich am deutlichsten aus ihrer späteren Restauration als Tempelstaat zeigt. Sie hoffen nicht sowohl Weltherrschaft ihrer Nation als ihrer Religion; alle Völker sollen kommen, auf Moriah anzubeten. Freilich schlägt mit David und Salomo auch die jüdische Theokratie zeitweise in weltlichen Despotismus um; aber periodisch suchen die Juden wieder von ihrem Wesen alles das auszuscheiden, was Staat und was Weltkultur hineinzumischen trachten.

Durch Umstülpen des arischen Polytheismus zum Pantheismus entstand die Brahminenreligion, die Zendreligion dagegen durch dessen große Veränderung zu einem Dualismus ohnegleichen. Und zwar kann diese nur eine einmalige und plötzliche von einem großen (sehr großen) Individuum getragene gewesen sein, weshalb denn an Zarduschts Persönlichkeit nicht zu zweifeln ist.

Sie ist im stärksten Sinne theokratisch gemeint gewesen; die ganze sichtbare und unsichtbare Welt, auch die ver¬gangene Geschichte (Schah-Name) wird den beiden Prin¬zipien und ihren (kaum mehr individualisierten) Gefolgreihen zugeteilt. Und zwar in vorwiegend pessimistischem Sinne, so daß der früher gottgeliebte Herrscher als Böser in den Netzen Ahrimans endigt.

Aber gerade hier ist das leichte Umschlagen der Bedingtheit zwischen Religion und Staat wieder zu beachten: dies alles hat das tatsächliche persische Königtum (wenigstens das achämenidische) nicht gehindert, die Vertretung des Ormuzd auf Erden für sich einzukassieren und sich unter dessen besonderer und permanenter Leitung zu glauben, während es selbst ein scheußlicher orientalischer Despotismus wurde. Ja gerade aus diesem Wahn heraus hält es sich alles für erlaubt und verfügt die infamsten Quälereien gegen seine Feinde. Die Magier — deren Macht im Leben ungleich geringer als die der Brahminen ist — erscheinen nur als Besorger dieser und jener Hofsuperstition, nicht als Lenker und Warner. Im ganzen sind hier Staat und Religion zu ihrem großen Verderb verbunden gewesen.

Überhaupt sieht man nicht, daß die Sittlichkeit von diesem Dualismus den geringsten Vorteil gehabt hätte. Sie scheint schon a priori nicht als eine freie gemeint gewesen zu sein; denn Ahriman betört die Gemüter der Guten, bis sie böse handeln. Und dazu kommt dann gleichwohl ein vergeltendes Jenseits.

So mächtig war aber diese Religion, um die Perser zu hochmütigem Haß gegen alles Götzentum zu stacheln.

Überhaupt war sie kräftig mit dem nationalen Pathos verflochten und daher auch stark genug, um es zu einer Renaissance zu bringen; auf Makedonier und Parther folgen die Sassaniden, welche mit jenem Pathos ihr großes, politisches Geschäft machen und die alte Lehre scheinbar rein herstellen. Freilich hält dann der Dualismus auch nicht stand gegen den Islam. War er schon eine gewaltsame Vereinfachung gewesen, so erlag er logisch der noch gewaltsameren; eine Abstraktion machte dabei einer anderen, noch einfacheren, Platz.

Restaurationen
Im Anschluß an die Renaissance der Zendreligion in der Sassanidenzeit möge nun aber im Vorübergehen von derartigen Restaurationen überhaupt kurz die Rede sein. Hierbei scheiden wir völlig aus die Restaurationen nach bloßen Bürgerkriegen, auch kommt die Wiederherstellung Messeniens zur Zeit des Epaminondas in Abrechnung, ebenso die Restaurationen von 1815, wo der Staat erst die Kirche herbeiwinkt, und ferner die noch zu vollziehenden Restaurationen: die der Juden, welche nach zweimaligem Verlust ihres Tempels ihre Sehnsucht an einen dritten Tempel gehängt haben, und die der Griechen, welche sich auf die Aja Sophia bezieht. Die Restaurationen aber, die wir meinen, sind fast immer Wiederaufrichtungen eines vergangenen Volks- und Staatstums durch die Religion oder doch mit ihrer Hilfe, und die Hauptbeispiele sind neben der genannten sassanidischen die der Juden unter Cyrus und Darius, das Imperium Karls des Großen, von welchem die kirchliche Vorstellung einen Zustand wie unter Konstantin und Theodosius postuliert zu haben scheint, und die Herstellung des Königreichs Jerusalem durch den ersten Kreuzzug. Was die Größe dieser Restaurationen betrifft, so liegt sie nicht im Erfolg, denn dieser ist meist geringer als die anfängliche optische Täuschung hoffen ließ, sondern in der Anstrengung, welche dazu gemacht wird, in der Kraft, etwas ersehntes Ideales, nämlich nicht die wirkliche Vergangenheit, sondern ihr verklärtes Gedächtnisbild herzustellen. Dies fällt denn freilich, da sich ringsum alles geändert hat, sehr eigentümlich aus; was übrigbleibt, ist etwa eine geschärfte alte Religion.

Machtreligion
Und nun müssen wir nochmals auf den Islam zurückkommen mit seiner Ertötung des Vaterlandsgefühls und seiner auf die Religion gepfropften elenden Staats- und Rechtsform, über welche seine Völker niemals hinauskamen. Höchst uninteressant als politisches Bild ist hier der Staat, wo sich beim Kalifat fast von Anfang an, und dann durch eine ganz unlogische Operation auch bei seinen Abtrünnlingen der nach oben und unten garantielose Despotismus wie von selber versteht. Höchst interessant aber ist, wie dies so kam und kommen mußte; und wie es vom Islam selber und von der Herrschaft über Giaurs bedingt ist, daher denn die große Ähnlichkeit der islamitischen Staaten vom Tajo bis an den Ganges, die nur hier mit mehr, dort mit weniger Stetigkeit und Talent regiert werden; nur beim seldschukischen Adel schimmert eine Art von Teilung der Macht durch.

Es scheint, daß es bei den Moslemin fast von Anfang an mit dem Jenseitsglauben nie weit her war. Kein Bann auf abendländische Manier hat Kraft, keine sittlichen Beängstigungen kommen dem Despoten an den Leib, und sich bei der Orthodoxie oder der eben herrschenden Sekte zu halten, ist ihm leicht. Freilich besteht dazwischen eine große Zärtlichkeit für gerechte Despoten; diese aber können doch nur in ihrer Nähe etwas wirken. Und nun mag die Frage sein, inwieweit der Islam (ähnlich dem älteren Parsismus und Byzantinismus) überhaupt ein Staatstum vertritt. Sein Stolz ist, daß er eben der Islam ist, und es ist dieser einfachsten aller Religionen selbst durch die eigenen Leute gar nicht beizukommen: Sakramente kann man dem Bösen nicht entziehen; sein Fatalismus hilft ihm über vieles hinweg; an Gewalt und Bestechung ist alles gewöhnt. Wer die Moslemin nicht ausrotten kann oder will, läßt sie am besten in Ruhe; ihre leeren ausgesogenen und baumlosen Länder kann man ihnen vielleicht nehmen, ihren wirklichen Gehorsam aber unter ein nicht koranisches Staatstum nicht erzwingen. Ihre Sobrietät schafft ihnen einen hohen Grad individueller Unabhängigkeit, ihr Sklavenwesen und ihre Herrschaft über Giaurs hält die zum Pathos nötige Verachtung der Arbeit, soweit diese nicht Ackerbau ist, aufrecht.

Eine eigentümliche Stetigkeit zeigt das osmanische Staatstum; sie ist vielleicht damit zu erklären, daß die Kräfte zur Usurpation aufgebraucht sind. Aber jede Annäherung an die okzidentalische Kultur scheint für die Moslemin unbedingt verderblich zu sein, anzufangen von Anleihen und Staatsschulden.

Antike
Im vollen Gegensatz zum Staats- und Religionswesen des alten Orients steht in der Zeit ihrer völligen Entwicklung die griechische und die römische Welt. Hier ist die Religion wesentlich vom Staat und von der Kultur bedingt; es sind Staats- und Kulturreligionen und die Götter Staats- und Kulturgötter, nicht der Staat ein Gottesstaat, daher es denn hier auch keine Hierarchien gibt.

Nachdem also hier die Religion durch den Staat bedingt gewesen war, weshalb wir auf das klassische Altertum später werden zu sprechen kommen, schlug dies alles mit dem christlichen Imperium um, und man kann sagen: es ist dies der größte Umschlag, der jemals vorgekommen. Wie sehr in der nun folgenden Zeit der christlichen Kaiser und ihrer Explikation in der byzantinischen Zeit die Kultur durch die Religion bedingt wurde, haben wir früher gesehen; bald wurde es der Staat fast ebenso sehr, und seither treffen wir bis auf die Gegenwart die Einmischung des Metaphysischen in alle Politik, alle Kriege usw. irgendwie und an irgendeiner Stelle, und wo es nicht Hauptursache ist, wirkt es doch mit zur Entschließung und Entscheidung, oder es wird nachträglich hinein¬ger.ogen (z. B. in den jetzigen großen Krieg).

Byzantinismus

Der Byzantinismus entwickelt sich nun analog dem Islam und in häufiger Wechselwirkung mit ihm. Hier aber bildet den Grund der ganzen Macht und Handlungsweise der Hierarchie immer die stark betonte Lehre vom Jenseits. Diese war schon dem späteren Heidentum eigen gewesen, bei den Byzantinern kam aber in concreto noch die über den Tod hinaus dauernde kirchliche Bannkraft hinzu. Man hat es vor allem mit einem höchst gemischten, ja volklosen Rest des römischen Reiches mit uneinnehmbarer Hauptstadt und großer Ansammlung von Mitteln und politisch-militärischen Fähigkeiten zu tun, der imstande ist, eine große slawische Einwanderung zu amalgamieren und überhaupt Verlorenes stückweise wiederzugewinnen. Das Verhältnis der Bedingtheit aber wechselt: bis zum Bilderstreit herrscht im wesentlichen die Kirche und erkennt und beurteilt das Imperium nur nach seiner Ergebenheit für ihre Zwecke, wie denn auch die Autoren die Kaiser rein nach der Förderung behandeln, welche der orthodoxen Kirche erwiesen wird. Selbst Justinian muß sich wesentlich als Repräsentant der Orthodoxie, als ihr Schwert und Verbreiter geltend machen. Nach diesem Maßstab garantiert die Kirche dem Imperium auch den Gehorsam der Völker und das Glück auf Erden. Seit Konstantin sind sämtliche Kaiser zum Mittheologisieren genötigt.

Dies geht so lange, bis endlich Leo der Isaurier von sich aus theologisiert. Vielleicht schon bei ihm, jedenfalls aber bei Kopronymos und dessen Nachfolgern macht sich der politische Hintergedanke geltend, das Heft selber wieder in die Hände zu nehmen und Luft zu bekommen gegen Klerus und Mönche. Im ganzen wird doch das Imperium wieder der bestimmende Teil und ist es deutlich zur Zeit der Makedonier und Komnenen; die höhere geistige Triebkraft der Kirche stirbt ab, was sich am Erlöschen aller wichtigeren Häresie zeigt; Kaisertum, Staat und Orthodoxie gelten seither als selbstverständlich identisch; die Orthodoxie ist dem Imperium nicht mehr gefährlich, sondern eher die stützende Seele des Reiches. Die Religion dient ihm in Gestalt eines nationalen Pathos, gegen die Franken fast mehr als gegen die Mohammedaner.

Überhaupt beginnt dann ihr merkwürdiges letztes Stadium: einmal noch (1261) hilft sie den Staat herstellen. Dann (seit 1453) beginnt sie, zur Nationalsache geworden, den untergegangenen Staat zu ersetzen und beständig auf dessen Herstellung zu dringen. Daß sie so ohne den Staat wirklich unter den Türken weiterdauert, kann als Beleg ihrer Lebenskraft oder ihrer völligen Ertötung dienen.

Kirche und abendländische Kultur

In den germanischen Staaten der Völkerwanderung treffen wir zunächst den denkwürdigen Versuch, vermöge des Arianismus ohne Mitherrschaft der Hierarchie durchzukommen.

Dieser Versuch scheitert im Laufe der Zeiten überall; die orthodoxe Kirche wird Herrin und erzwingt sich eine gebietende politische Stellung, weshalb wir denn im folgenden zwischen der Kirche und ihrer hierarchischen Ausgestaltung gar nicht mehr zu unterscheiden brauchen; es handelt sich nur darum, wer diese Kirche in jedem Augenblick ist.

Zwar wird im Abendlande die Identifikation von Religion und Staat glücklich vermieden: es bildet sich eine höchst eigentümlich neben und ins Dasein hineingestellte große besitzende Korporation mit Anteil an der obersten Staatsgewalt und am Rechtswesen und mit stellenweiser Souveränität.

Mehrmals kommt die Kirche in einen Verfall, der jederzeit im Eindringen der weltlichen Gier und in der Rich¬tung auf ihre stückweise Ausbeutung besteht. Aber da pflegen ihr oder doch wenigstens ihrem Zentralinstitut, dem Papsttum, weltliche Gewalten beizuspringen, welche sie zeitweise retten und moralisch bessern: Karl der Große, Otto der Große, Heinrich III. Diese haben die Absicht, sie dann als instrumentum imperii (und zwar über das ganze Abendland) zu brauchen.

Der Erfolg ist jedesmal der entgegengesetzte. Das Reich Karls zersplittert, und die Kirche wird mächtiger als zuvor; von Heinrich III. aus tiefstem Elend emporgerissen, richtet sie sich gegen seinen Nachfolger und alle anderen weltlichen Gewalten baumhoch auf. Denn der Lehnstaat ist eigentlich nur in Stücken vorhanden, während sie

a) was Besitz und Rechte betrifft, eben auch ein Stück davon, aber

b) gegenüber den Königtümern in der Regel überstark, also ein Teil und dann erst noch das Ganze ist.

So steht sie mit ihrer Einheit und ihrem Geiste neben der Vielheit und schwachen Organisation der Staaten. Mit Gregor VII. schickt sie sich zu deren Absorption an, und indem sie unter Urban II. hievon etwas nachläßt, kommandiert sie doch das Abendland nach dem Orient.

Aber seit dem 12. Jahrhundert spürt sie den Rückschlag davon, daß sie sich zu einem enormen »Reiche von dieser Welt«, welches ihre geistlichen und geistigen Kräfte zu überwiegen beginnt, ausgewachsen hat. Sie findet sich gegenüber nicht bloß der waldensischen Lehre von der Urkirche, sondern einem Pantheismus und (bei Amalrich von Bena und den Albigensern) einem mit Metempsychosenlehre verbundenen Dualismus.

Da zwingt sie den Staat, ihr als selbstverständlich das brachium saeculare zu leihen. Sobald man dieses zur Disposition hat, ist der Weg von dem »Eins ist not« zum »nur Eines ist erlaubt« nicht mehr weit. So gewinnt Innozenz III. mit den Drohungen und Versprechungen seiner Instruktionen den Sieg.

Seitdem aber steht die Kirche als: siegreiche, rücksichtslose Reaktion gegen den eigentlichen Geist der Zeit, als Polizei da; sie ist an die äußersten Mittel gewöhnt und befestigt nun das Mittelalter künstlich aufs neue.

Dabei ist sie mit der Welt durch ihr Besitz- und Machtwesen tausendfältig verflochten, sie muß tatsächlich ihre höchstdotierten Stellen an den Adel verschiedener Länder überlassen, auch der Benediktinerorden versinkt im Junkertum, weiter unten herrscht allgemeine Pfründenjagd und das Treiben der Leute vom jus canonicum und von der Scholastik; Junker, Advokaten und Sophisten sind die Hauptpersonen; man hat es mit einer allgemeinen Ausbeutung und dem größten Beispiel der Überwältigung einer Religion durch ihre Institute und Repräsentanten zu tun.

Indem nun für Fortdauer der Orthodoxie nur noch rein polizeilich gesorgt wird, während sie den Mächtigen innerlich gleichgültig wird, kann man von demjenigen Institut, welches äußerlich weiter regiert, im Zweifel sein, ob es überhaupt noch eine Religion repräsentiere. Dazu kommt noch das spezielle Verhältnis des Kirchenstaates zur italienischen Politik; die eigentliche Andacht aber ist in strengere Orden, zu Mystikern und einzelnen Predigern geflüchtet.

Damals muß in der Kirche die Gesinnung des absoluten Konservatismus bereits begonnen haben, da ihr bei keiner Art von Änderung mehr wohl sein konnte und jede Bewegung ihr verdächtig war, weil das komplizierte Besitzwesen und Machtwesen dabei immer irgendwie leiden konnte.

Vor allem bekämpft sie den auftauchenden zentralisierten Gewaltstaat (in Unteritalien und in Frankreich unter Philipp dem Schönen) und drängt — doch immerhin mit Ausnahmen — wenigstens große Konfiskationen zurück. Heiß klammert sie sich an die Vergangenheit in Macht und Besitz an und ebenso in der Unbeweglichkeit der Lehre, nur daß man die Theorie von den Machtbefugnissen noch emporschraubt, während sie doch, was sie mehr bekommt, gierig annimmt, bis sie einen Dritteil aller Dinge besitzt. Und das alles besitzt sie eigentlich nur zum geringen Teile für sich und ihre geistlichen Zwecke, zum größeren nur für diejenigen Mächtigen, die sich ihr aufgedrängt haben.

Reformation
Nachdem so der bloße Widerspruch mit der Religion, welcher sie entsprechen sollte, schon längst da ist, ist sie dann endlich auch in handgreiflichem Widerspruch mit den sie umgebenden Staatsbegriffen und Kulturkräften. Daher zeitweise ihre Akkorde mit dem Staat, welche tatsächlich Partialabtretungen sind, wie z. B. das Konkordat Franz des Ersten. Freilich erspart ihr dies in solchen Staaten die Reformation.

Von der Reformation an wird sie dann wieder nach einer Seite hin ernstlich dogmatisch; aber die Kirche der Gegenreformation wird den Charakter einer Reaktion noch viel deutlicher bewahren als die Kirche Innozenz des Dritten. Zum seitherigen Charakter des Katholizismus gehört — von Ausnahmen wie der Demagogie der Ligue abgesehen der Bund von Thron und Altar; beide erkennen die Komplizität ihrer beiderseitigen Konservatismen gegenüber vom Geist der modernen Völker. Die Kirche liebt zwar keinen Staat, neigt sich aber demjenigen Staatswesen zu, welches das bereitwilligste und fähigste ist, für sie die Verfolgungen zu exequieren. Sie richtet sich auf den modernen Staat ein, wie sie sich einst auf das Lehenswesen eingerichtet.

Dagegen ist ihr der moderne politische Völkergeist ganz direkt zuwider, und sie läßt sich nie selber mit ihm ein, wohl aber läßt sie es geschehen, daß einzelne ihrer Vorposten (Geistliche und Laien, welche nicht wissen, was sie dabei für Ketzerei begehen) sich mit ihm einlassen und allerlei milde Grenzpraxis befürworten.
Sie leugnet die Volkssouveränität und behauptet das göttliche Recht der Regierungen; sie geht dabei von der menschlichen Verderbtheit aus und von der Aufgabe der Seelenrettung um jeden Preis; ihre wesentliche Schöpfung ist die moderne Idee der Legitimität.

Sie hat sich im Mittelalter auf die drei Stände eingerichtet, wovon sie der eine war. Dagegen perhorresziert sie die moderne konstitutionelle Repräsentation sowohl als die Demokratie. Sie selbst ist in ihrem Innern zuerst immer aristokratischer und endlich immer monarchischer geworden.

Sie übt Toleranz nur, wo und insoweit sie durchaus muß. Sie verfolgt jede für sie bedenkliche geistige Regung auf das äußerste.

Trennung von Staat und Kirche

Die protestantischen Kirchen in Deutschland und in der Schweiz wie auch in Schweden und Dänemark wurden von Anfang an Staatskirchen, weil die Regierungen von Anfang an übergingen und sie einrichteten. Der Kalvinismus, anfangs die Kirche derjenigen Westvölker, welche katholische und verfolgende Regierungen hatten, wurde später in Holland und England ebenfalls als Staatskirche organisiert, obwohl in England noch als Stand mit unabhängigem Vermögen und mit Repräsentation im Oberhaus; hier ist Kalvinismus auf ein Stück Lehnswesen geimpft.

Die Schulen sind in den katholischen und protestantischen Ländern bald mehr vom Staat, bald mehr von der Kirche bedingt.

Nach so engem Zusammenhang und so vielfachen Wechselbeziehungen zwischen Staat und Religion ist das Problem unserer Zeit die Trennung von Staat und Kirche. Sie ist die logische Folge der Toleranz, d. h. der tatsächlichen unvermeidlichen Indifferenz des Staates, verbunden mit der wachsenden Lehre der Gleichberechtigung aller, und sobald es einen Staat gibt, der die Leute zu Worte kommen läßt, ergibt sich die Sache von selbst; denn es ist eine der stärksten Überzeugungen unserer Zeit, daß Religionsunterschied keinen Unterschied der bürgerlichen Rechte mehr begründen dürfe, und zugleich dehnen sich diese bürgerlichen Rechte sehr weit aus: auf allgemeine Ämterfähigkeit und auf Freiheit von Besteuerung zum Unterhalt von Einrichtungen, an welchen man keinen Teil nimmt.

Zu gleicher Zeit hat der Begriff des Staates auch sowohl von oben, von den Herrschenden, als von unten, von der Bevölkerung her neue Veränderung erfahren, welche ihn nicht mehr zum Gefährten der Kirche tauglich macht, so daß es dem Religionsbegriff nichts hilft, wenn er derselbe bleibt, da der Staatsbegriff nicht mehr derselbe ist; denn den Staat zur Beibehaltung des bisherigen Verhältnisses zu zwingen, hängt nicht von der Kraft der Religion ab.

Der Staat ist nämlich erstlich von oben — speziell in Deutschland und der Schweiz — paritätisch, indem er seit Anfang dieses Jahrhunderts durch Mischungen, Abtretungen, Friedensschlüsse usw. sogenannte »Staatsbürger« verschiedener Konfessionen, oft in starken Quoten beiderseits, enthält und seiner Bevölkerung nun gleichmäßiges Recht garantieren muß. Er übernimmt zunächst zwei oder mehrere Staatsreligionen und Staatskirchen, besoldet ihre Geistlichen — was er muß, weil er ihre früheren unabhängigen Güter aufgefressen hat — und hofft, auf diese Weise durchzukommen, käme auch wirklich durch, wenn nicht innerhalb der sämtlichen einzelnen Religionsgemeinschaften der große Riß zwischen Orthodoxie und »Aufklärung« vorhanden wäre, und hier wird ihm das Aufrechthalten einer Parität so unendlich sauer! Denn mit Bevorzugung von »Majoritäten« kommt er nicht durch, da diese weder maßgebend noch auch nur tatsächlich zu konstatieren sind.

Zweitens, von den Bevölkerungen her, ist es mehr und mehr die Kultur (im weitesten Umfang des Wortes), welche an die Stelle der Religion tritt, sobald es sich darum handelt, wer den Staat bedingen soll. Sie schreibt ihm bereits im großen seine jetzigen Programme.

Die Kirchen aber werden mit der Zeit das Verhältnis zum Staat so gerne aufgeben als dieser das Verhältnis zu ihnen. Gleichen sie jetzt dem Schiff, welches einst auf den Wogen ging, aber seit langer Zeit zu sehr ans Vorankerliegen gewohnt ist, so werden sie wieder schwimmen lernen, sobald sie einmal im Wasser sind; selbst der Katholizismus hat es ja in Amerika bereits gelernt. Dann werden sie wieder Elemente und Belege der Freiheit sein.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 55, Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Herausgegeben von Rudolf Marx S.106ff.
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlichem Einverständnis des Alfred Kröner Verlags, Stuttgart

Die Religion in ihrer Bedingheit durch den Staat
Antike
Zu den Religionen, die durch den Staat bedingt sind, gehören vor allem die beiden klassischen Religionen. Man darf sich dabei nicht durch die vielen Ausdrücke der Frömmigkeit irre machen lassen, wie das horazische »dis te minorem quod gens imperas« oder Cicero, de legibus I, 7 (und sonst) oder die Stelle bei Valerius Maximus I : »omnia namque post religionem ponenda semper nostra civitas duxit ... quapropter non dubitaverunt sacris imperia servire«.

Welches auch ihre Religiosität gewesen sei, Griechen und Römer waren eine völlige Laienwelt; sie wußten eigentlich (wenigstens in ihren entwickelten Zeiten) nicht, was ein Priester sei; sie hatten stehende Zeremonien, aber kein Gesetz und keine schriftliche Offenbarung, welche die Religion über den Staat und das übrige Leben emporgehalten hätte.

Ihre poetisch vermenschlichten, gegenseitiger Feindschaften fähigen Götter sind zum Teil sehr ausdrücklich Staatsgötter und speziell zum Schutze des Staates verpflichtet; Apoll ist u. a. der Gott des Kolonienaussendens und muß in Delphi darüber Auskunft geben.

Mögen auch die Götter für alle Hellenen, ja auch für die Barbaren und für die ganze Welt geltend gedacht werden (was der Reflexion später nicht schwer fiel), so werden sie doch mit einem Zunamen lokalisiert und für die betreffende Stadt, den Staat oder eine spezielle Lebenssphäre verpflichtet.

Wenn Griechen und Römer Priester und eine Theologie gehabt hätten, so würden sie freilich auch ihren auf die menschlichen Bedürfnisse und Beziehungen gestelIten, vollendeten Staat nicht geschaffen haben.

Der einzige Fall, wo sich die römische Religion willentlich proselytisch zeigt, war etwa die Romanisierung der gallischen und anderen nördlichen und westlichen Götter; die Christen aber wollte man zur Kaiserzeit nicht etwa bekehren, sondern nur von Sakrilegien abhalten, und übrigens geschah dies beides im Dienste des Staates.

Die übrige alte Welt, der Orient, die Staaten des heiligen Rechts usw. sind viel mehr von der Religion bedingt, von welcher ja auch ihre Kultur in Schranken gehalten wird, als die Religion von ihnen; nur daß, wie oben gesagt, der Despotismus mit der Zeit vorschlägt, die Göttlichkeit auf sich bezieht und sich dabei satanisch aufführt.

Die Religionen behaupten ihre Idealität am ehesten, solange sie sich gegen den Staat leidend, protestierend verhalten, was freilich ihre schwerste Feuerprobe ist, an welcher gewiß schon mancher hohe Aufschwung untergegangen ist; denn die Gefahr, vom Staate ausgerottet zu werden, wenn derselbe eine andere, intolerante Religion vertritt, ist wirklich vorhanden. Das Christentum ist eigentlich das Leidende und seine Lehre vorhanden für Leidende, und es ist vielleicht von allen Religionen nächst dem Buddhismus am wenigsten geeignet mit dem Staat in irgendeine Verbindung zu treten. Schon seine Universalität ist dem entgegen. Wie kam es, daß es dennoch mit dem Staate in die engsten Beziehungen trat?

Der Grund wurde schon sehr früh, bald nach dem apostolischen Zeitalter, gelegt. Das Entscheidende war, daß die Christen des 2. und 3. Jahrhunderts antike Menschen waren, und zwar in einer Zeit des Einheitsstaates. Und nun verführte das Staatstum das Kirchentum, sich nach seinem Vorbilde zu gestalten; die Christen bildeten um jeden Preis eine neue Gesellschaft, schieden mit der größten Anstrengung eine Lehre als die orthodoxe von allen Nebenauffassungen (als Häresien) aus und organisierten ihre Gemeinde schon wesentlich hierarchisch. Vieles war schon sehr irdisch; man denke an die Zeit des Paulus von Samosata und die Klagen Eusebs.

So war das Christentum schon während der Verfolgungen eine Art einheitlicher Reichsreligion, und als nun mit Konstantin der Umschlag eintrat, war die Gemeinde plötzlich so mächtig, daß sie den Staat beinahe hätte in sich auflösen können. Sie wurde jetzt wenigstens zur übermächtigen Staatskirche, und über die ganze Völkerwanderung und bis weit in die byzantinische Zeit, im Okzident aber das ganze Mittelalter hindurch, ist dann. wie wir gesehen haben, die Religion das Bestimmende. Karls des Großen Weltmonarchie ist wie die des Konstantin und Theodosius wesentlich eine christliche, und wenn die Kirche etwa zu fürchten hatte, von ihr als Werkzeug mißbraucht zu werden, so dauerte diese Sorge nicht lange; das Imperium zersplitterte, und die Kirche blieb im Lehnszeitalter wenigstens mächtiger als alles andere, was daneben war.

Aber jede Berührung mit dem Irdischen wirkt stark auf die Religion zurück; mit der äußeren Machtgestaltung ist unfehlbar eine innere Zersetzung verbunden, schon weil ganz andere Leute an die Spitze kamen als in der ecclesia pressa.

Die Wirkungen dieser Ansteckung des Kirchentums durch das Staatstum sind nun folgende:

Erstlich erwächst im spätrömischen und byzantinischen Reich, wo Imperium und Kirche sich genau zu decken zensiert sind und die Kirche gleichsam ein großes zweites Staatswesen bildet, aus diesem Parallelismus der falsche Machtsinn in ihr. Statt eine sittliche Macht im Völkerleben zu sein, wird sie, indem sie sich politisiert, selber Staat, also eine zweite politische Macht mit dem hierbei ganz unvermeidlich innerlich-profanen Personal. Macht und Besitz sind es, die in der abendländischen Kirche das Heiligtum mehr und mehr mit Unberufenen anfüllen. Macht aber ist schon an sich böse.

Die zweite Folge aber ist die enorme Überschätzung der Einheit, in engem Verband hiermit. Die Tradition stammt, wie wir sahen, schon aus der Zeit der Urkirche und der Verfolgung; die ecclesia triumphans aber bietet nun alle Machtmittel auf zur Behauptung der Einheit und entwickelt aus ihrer Einheit immer mehr Machtmittel, ja sie kann deren nicht mehr genug vor sich sehen und füllt am Ende das ganze Dasein mit ihren Graben und Festungswerken an. Dies gilt von der abendländischen Kirche so gut wie von der byzantinischen. Umsonst ertönt dazwischen immer wieder die Ansicht, das göttliche Wesen freue sich verschiedenartiger Verehrung.

Jetzt glaubt kein abendländischer Mensch mehr an das Dogma der ecclesia triumphans z. B. des 5. Jahrhunderts; man hat sich allmählich an den Anblick der religiösen Vielheit gewöhnt, die zumal in den englisch sprechenden Ländern mit stark verbreiteter Religiosität vereinbar erscheint, und sieht die Religionsmischung, Parifät usw. in den gemischten Bevölkerungen vor sich, von welchem allem damals noch niemandem träumte. Auch übt die gegenwärtige Dogmengeschichte gegen die Häresien Gerechtigkeit, von denen man weiß, daß sie bisweilen das Beste von Geist und Seele der betreffenden Zeiten enthalten haben.

Aber welche Hekatomben sind der Einheit — einer wahren fixen Idee — zum Opfer gefallen! Und diese fixe Idee hatte ihre volle Entwicklung nur erreichen können, weil die politisierte Kirche absolut machtgierig geworden war. Die dogmatische Begründung der Einheit und ihre poetische Verherrlichung als tunica inconsutilis ist Nebensache.

Mit der Reformation, die in die Zeit fällt, da der moderne Machtstaat an sich schon in starkem Fortschreiten ist, tritt dann eine große allgemeine Veränderung auf beiden Seiten ein.

Thron und Altar

In den großen Staaten des Westens, England ausgenommen, besiegelt die Gegenreformation den »Bund zwischen Thron und Altar«, d. h. die Kirche, um sich zu behaupten, braucht noch einmal im weitesten Sinne das brachium saeculare. Seither besteht eine enge Komplizität beider; es ist z. B. in dem Spanien Philipps II. kaum auseinanderzulesen, was jedem von beiden gehört, und doch hat eher die Kirche, welche dabei an den Staat enorm gezahlt hat, helfen sollen, den spanischen Bankerott über möglichst viele Länder auszudehnen; auch bei Ludwig XIV. ist der Katholizismus wesentlich ein instrumentum imperii, und seinen großen kirchlichen Schreckensakt hat der König, obwohl auch von seinem Klerus angereizt, wesentlich aus politischer Uniformitätsgier gegen die Ansicht des Papstes vollzogen.

In neuerer Zeit ist dieser Bund stets ungleicher und für beide Teile gefährlicher geworden, weit entfernt, beiden so nützlich zu sein, wie das heilige Recht den Gewaltstaaten des Altertums war. Während Prinzipien ewig sein können, sind Interessen unter allen Umständen wandelbar, und nun ist dies eben statt eines Bundes der Prinzipien tatsächlich mehr und mehr ein Bund der Interessen, von welchen es sehr fraglich ist, wie lange sie noch zusammengehen werden. So konservativ die Kirche sich geben mag, der Staat sieht auf die Länge keine Stütze, sondern eine Verlegenheit in ihr.

In Frankreich wird der Staat, so oft er sich wieder der Denkweise und Partei der großen französischen Revolution nähert, auch deren Todfeindschaft gegen die katholische Kirche adoptieren. Diese aber ist durch Napoleons 1. Konkordat von 1801 auf die verhängnisvollste Weise zum Staatsinstitut geworden, mit Hilfe einer allgemeinen Voraussetzung, wonach der Staat alles, was nun einmal vorhanden sei, von sich abhängig machen und organisieren müsse. Schon der Anfang der Revolution hatte die constitution civile du clergé von 1791 gebracht, mit Versäumnis des einzigen Moments, da man mit Erfolg trennen konnte, und 1795 war dann die juridische Trennung zu spät gekommen, weil die Kirche inzwischen ein Märtyrertum aufweisen konnte.

Nun ist von diesen politischen Zuständen nicht bloß die Kirche, sondern auch die Religion wesentlich mitbedingt. Sie steht unter einem jetzigen Schutz und Sold des Staates, der ihrer unwürdig, für sie unanständig ist, kann aber von heute auf morgen, wenn dieser Staat in andere Hände fallen sollte, dessen schwerste Feindschaft erleiden und ist unter allen Umständen von der allgemeinen Krisis des europäischen Staatsbegriffs, von der wir oben sprachen, mitbedroht.
In den meisten katholischen Ländern gilt mehr oder weniger dasselbe; der Staat ist im Begriff, den erschütterten Rund zwischen Thron und Altar, als jetzund unvorteilhaft geworden, zu künden; die katholische Kirche aber verläßt sich viel zu wenig auf innere Kräfte und sucht viel zu sehr nach äußeren Stützpunkten.

Ob das Konzil eine Lösung bereit hält?

Von seiten des Staates aber ist es lächerlich, wenn er gerne »liberale Prälaten« hätte, die seiner Bureaukratie keine sauern Tage machen sollen. Den nordamerikanischen Regierungen ist es ganz gleichgültig, wie ultramontan oder »aufgeklärt« die katholischen Bischöfe der Union sind.

Zusatz 1873: Nachdem den Regierungen das Verhältnis zur katholischen Kirche längst lästig gewesen und höchstens Louis Napoleon sie als Hilfe seiner Macht be¬nützen konnte, Preußen aber ihr wenigstens alles gestattete und Lobsprüche von Pius IX. erntete, nachdem der moderne demokratische und industrielle Geist in eine stets größere Feindschaft mit ihr geraten, fand die Kirche für nötig, ihre Ansprüche auf dem vatikanischen Konzil zu systematisieren; der schon lange vorhandene Syllabus wurde in seinen Hauptzügen zum Kirchengesetz; die Infallibilität krönte das ganze System.

Alle mezzi termini wurden abgeschnitten, die so nützlich erscheinenden Übergänge eines liberalen Katholizismus u. dgl. total desavouiert, das vernünftige Verhandeln mit den Staaten schwer oder unmöglich gemacht, die ganze Stellung des Katholizismus in der Welt unermeßlich erschwert.

Was war der Zweck? Vor allem ist hier jede voraussehende Beziehung auf den Krieg von 1870 zu eliminieren; den Krieg sah jedermann im Anzug; aber beim Sieg Napoleons wäre es der katholischen Kirche kaum besser ergangen.

Ein bloß theoretischer Hochmut war es nicht; eine große praktische Absicht muß zugrunde gelegen haben, als man der ganzen höheren katholischen Bildung so derb den Abschied gab und unbedingte gleichartige Fügsamkeit verlangte — und endlich erhielt.

Ein straffes Anziehen aller Zügel der Einheit mag notwendig geschienen haben gegenüber der allgemeinen Entwicklung des modernen Geistes, in Voraussicht baldigen Verlustes des dominio teniporale; denn auf offenes Ergreifen der Waffen konnte die Kirche gar nirgends hoffen; diesen Faktor mußte sie völlig außer Rechnung lassen.

Und nun das jetzige verschiedene Verhalten der Regierungen. Die meisten nehmen die Sache wie ein bloßes theoretisches Vergnügen des Papsttums, das man demselben lassen könne; Deutschland und die Schweiz dagegen nahmen den Kampf als Kampf auf. Die große Schwierigkeit dabei ist, die Ausgetretenen als Kirche zu konstituieren und ihnen einen neuen Klerus zu schaffen.

Die einzige wahre Lösung, die Trennung von Kirche und Staat, ist an sich sehr schwer, und mehrere Staaten wollen nicht mehr trennen, weil ihnen vor einer wirklich unabhängigen Religion und Kirche bange wäre. — Und gerade ebenso denkt in der Regel auch der Radikalismus.

Staats- und Volkskirche
Das protestantische Staatskirchentum, im Drang des 16. Jahrhunderts von selber entstanden, hat seine Abhängigkeit vorn Staate von Anfang an und oft bitter fühlen müssen. Ohne dasselbe aber wäre die Reformation in den meisten Ländern sicher wieder zugrunde gegangen, weil die Masse der Unentschiedenen sich bald wieder zur alten Kirche würde gehalten haben, und weil auch ohnedies die alte Kirche ihre Staaten gegen die der neuen würde ins Feld geführt haben. Das Staatskirchentum war schon um der Wehrhaftigkeit wilIen unvermeidlich.

Aber unvermeidlich war auch, daß die Kirche ein Zweig der Staatsregierung wurde. Gefürchtet und für den Staat ein Element der Macht, solange er sie mit seiner Autorität deckte, wird sie seit der Aufklärungszeit mehr und mehr eine Verlegenheit für ihn, während er einstweilen ihr Notschirmer bleibt.

Sie wird es riskieren müssen, aus einer Staatskirche zur Volkskirche zu werden, ja in mehrere unabhängige Kirchen und Sekten auseinanderzugehen, sobald einmal die Krisis des Staatsbegriffes weit genug gediehen sein wird.

Hochgefährdet ist besonders die anglikanische Kirche mit ihrem Besitz, konstitutionellem Vorrecht und Hochmut, bei statistisch zählbarer Menge der Bekenner der rechtlosen Nebenkirchen.

Eine indirekte Sicherung erweisen die europäischen Großstaaten gegenwärtig allen von ihnen unterhaltenen oder geduldeten Religionen: ihre Polizei und Gesetzgebung macht das Aufkommen einer neuen Religion (welches ohne Vereinsrecht u. dgl. unmöglich ist) außerordentlich schwer, wenn sich überhaupt eine melden sollte.

Rußland
Derjenige Staat, welcher seine Kirche im Innern am meisten zum Staatsinstitut umgeschaffen hat und sie zugleich zum politischen Werkzeug nach außen braucht, ist Rußland. Das Volk ist indolent und tolerant, aber der Staat proselytisch und (gegen den polnischen Katholizismus und den baltischen Protestantismus) verfolgend.

Die byzantinische Kirche dauert bei den Griechen als Ersatz und Stütze des byzantinischen Volkstums unter der Herrschaft der Türken auch ohne den Staat weiter. Aber wie würde es in Rußland mit Religion und Kultur ohne den Zwangsstaat aussehen? Die Religion würde wohl auseinanderlaufen in Aufklärung der wenigen und Schamanentum der vielen.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 55, Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Herausgegeben von Rudolf Marx S.136ff.
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlichem Einverständnis des Alfred Kröner Verlags, Stuttgart

Die Religion in ihrer Bedingtheit durch die Kultur
Natur- und Kulturvergötterung
Bei der Bedingtheit der Religion durch die Kultur handelt es sich um zwei sich berührende, aber verschiedene Phänomene. Erstlich nämlich kann die Religion zum Teil durch Vergötterung der Kultur entstehen. Sodann aber kann eine gegebene Religion auch durch Einwirkung der Kulturen verschiedener Völker und Zeiten wesentlich verändert oder doch gefärbt werden ja mit der Zeit erhebt sich aus der Mitte der Kultur eine Kritik der Religion. In besonderem Sinne gehört hiezu auch die Rückwirkung der Kunst auf die Religion, welche sie in Anspruch nimmt.

In den klassischen Religionen, ja mehr oder weniger in fast allen Polytheismen — denn Kriegs- und Ackerbaugottheiten gibt es fast überall — findet sich neben der Vergötterung der Natur und der astralen Kräfte ganz naiv auch die gewisser Zweige der Kultur. Die Naturvergötterung ist das Frühere, worauf die Kulturvergötterung erst gepfropft wird. Aber, nachdem die Naturgottheiten zu ethischen und Kulturgottheiten geworden sind, überwiegt zuletzt diese Seite.

Hier ist kein ursprünglicher Zwiespalt zwischen Religion und Kultur, beides ist vielmehr in hohem Grade identisch; die Religion vergöttert mit der Zeit so viele Tätigkeiten als man will, indem sie die einzelnen Götter als Schützer derselben mit ihren Namen versieht. Und nun gibt die Leichtigkeit des Götterschaffens freilich sehr zu denken und mag dem Mythologen die Frage ans Herz legen: bist du imstande, dich ernstlich in eine solche Zeit und Nation hineinzuversetzen? Aber ein wohligeres Mitgefühl gibt es nicht, als das Hineinversenken in jene Welt, wo jeder neue Gedanke sogleich seine poetische Vergöttlichung und später dann seine ewige Kunstform findet, wo so vieles unaussprechlich bleiben darf, weil die Kunst es ausspricht.

Freilich hat dann die Philosophie, der höchste Zweig der Kultur, mit dieser Religion ein gar zu leichtes Spiel. Und nach der Philosophie und ihrem kritischen griechischen Geiste kommt erst leise und dann mächtiger der Gedanke an das Jenseits und macht — allerdings mit Hilfe der Kaiser — dieser Religion den Garaus.

Auch der germanische Polytheismus hat seine Kulturgötter. Neben der rein elementarischen Seite schließt sich an mehrere göttliche Gestalten auch eine der Kultur angehörende an: sie sind Schmiede, Weberinnen, Spinnerinnen, Runenerfinder usw.

Ein Analogon ist im Mittelalter der Kultus der Nothelfer und Spezialheiligen, wie St. Georg, S. S. Crispin und Crispinian, S. S. Kosmas und Damian, St. Eligius u. a. Doch sind diese bloße Nachklänge der antiken Kulturvergötterung.

Wie würde aber der Olymp der heutigen Erwerbenden aussehen, wenn sie noch Heiden sein müßten?

Nun ist aber keine Religion jemals ganz unabhängig von der Kultur der betreffenden Völker und Zeiten gewesen.

Gerade, wenn sie sehr souverän mit Hilfe buchstäblich gefaßter heiliger Urkunden herrscht und scheinbar alles sich nach ihr richtet, wenn sie sich »mit dem ganzen Leben verflucht«, wird dieses Leben am unfehlbarsten auch auf sie einwirken, sich auch mit ihr verflechten. Sie hat dann später an solchen innigen Verflechtungen mit der Kultur keinen Nutzen mehr, sondern lauter Gefahren; aber gleichwohl wird eine Religion immer so handeln, solange sie wirklich lebenskräftig ist.

Die Geschichte der christlichen Kirche zeigt zunächst eine Reihe von Modifikationen, je nach dem sukzessiven Eintreten der neuen Völker: der Griechen, Römer, Germanen, Kelten, — und je nach den Zeiten ist es vollends eine ganz andere Religion, d. h. die Grund-Stimmungen sind die entgegengesetzten. Denn der Mensch ist gar nicht so frei, zugunsten einer »Offenbarung« von der Kultur seiner Zeit und seiner Schicht zu abstrahieren. Zwang aber erzeugt Heuchelei und böses Gewissen.

Das Christentum der apostolischen Zeit hat am wenigsten Berührung mit der Kultur; es ist nämlich von der Erwartung der Wiederkunft des Herrn dominiert, welche die Gemeinde wesentlich zusammenhält. Weltende und Ewigkeit sind vor der Tür, die Abwendung von der Welt und ihren Genüssen leicht, der Kommunismus fast selbstverständlich und bei der allgemeinen Sobrietät und Dürftigkeit unbedenklich, was ganz anders ist, wenn er mit einem Erwerbssinn in Konflikt tritt.

In der heidnischen Kaiserzeit tritt an die Stelle der verblaßten Wiederkunftsidee Jenseits und Jüngstes Gericht; aber die griechische Bildung dringt von allen Seiten in die Religion ein und zugleich ein buntfarbiger Orientalismus. Häresien und gnostische Nebenreligionen würden vielleicht das Ganze zersprengt haben, wenn dasselbe im Frieden sich selbst überlassen geblieben wäre; wahrscheinlich waren es nur die Verfolgungen, welche das Weiterleben einer herrschenden Hauptauffassung möglich machten. Lange nicht so lehrreich ist die Parallele der Geschichte des Islam bei seinen verschiedenen Völkern und in seinen verschiedenen Zeiten.

Wandlungen des Christentums
Eine totale Wandlung bringt die christliche Kaiserzeit. Die Kirche wird ein Analogon des Reichs und seiner Einheit und demselben überlegen, und Hierarchen werden die mächtigsten Personen, in deren Händen enorme Dotationen und die Benefizenz des ganzen Reiches sind. Und nun siegen einerseits die griechische Dialektik im Schrauben der Trinitätsbegriffe und der orientalische Dogmensinn in der Vernichtung der Andersdenkenden, welche sonst der klassischen Welt gar nicht gemäß war; denn auch die Christenverfolgungen der heidnischen Kaiser waren nicht gegen die Denkweise der Christen gerichtet gewesen. Anderseits ist die Wirkung des Ein¬stroms der großen Massen in die Kirche daran kenntlich, daß der Kultus sich an die Stelle der Religion drängt, d. h. daß er die Religion genugsam mit Zeremonien, Bilderdienst, Verehrung der Märtyrergräber und Reliquien usw. sättigt, um den im tieferen Grunde stets heidnisch fühlenden Massen zu genügen.

Das Christentum von Byzanz ist kenntlich als das einer geknechteten Nation; während es selber nach Kräften die Nation mitknechten hilft, entbehrt es jeder freien Wirkung auf die Sittlichkeit, denn der Bann bezieht sich nur auf Lehre und äußere Disziplin; Orthodoxie und Fastenbeobachtung genügen für das Leben, und einem mäßigen und geizigen Volke wird die Askese leicht. Zwar hört der Geist von Syrien, Ägypten und Afrika seit dem 7. Jahrhundert auf, Byzanz zu beeinflussen, aber erst, nachdem er sein volles Unheil gestiftet. Der spätere Zusatz ist dann mehr slawischer Aberglaube, Vampyrglaube usw., hier und da mit wiedererwachtem antiken Aberglauben vermischt. Das Christentum von Abessinien und andern ganz verkommenen oder geistig unfähigen Völkern verträgt sich tatsächlich mit völlig heidnischem Inhalt.

Was das lateinische Christentum des Frühmittelalters betrifft, so bleiben zunächst die arianischen Germanen stumm, und wir nähern uns ihnen nur durch Hypothesen; das Wort führen bloß orthodoxe Bischöfe und andere Hierarchen.

Klostertum
Endlich nach dem Sturz des germanischen Arianismus, bei rascher Verwilderung und Verweltlichung des nunmehr allein vorhandenen orthodoxen Episkopats, erscheint das Schreiben auf eine Korporation beschränkt, welche dann die ganze Überlieferung färbt. Hier zeigt sich nun die Einwirkung der Nichtkultur: nur noch die Benediktiner führen die Feder und halten (obwohl infolge ihres Reichtums selber beständig von Verweltlichung bedroht) irgendeinen Grad der lateinischen Bildung aufrecht. Der herrschende Gesichtspunkt, der früher allgemein kirchlich war, wird ein klösterlicher; man erfährt nur noch Klösterliches und einzelnes aus der Welt nur als Beigabe; auch von dem damaligen Volkstum vernehmen wir nur insofern etwas, als es an die Klostermauern grenzt und mit den Mönchen in Kontakt tritt, was damals immerhin eine der wichtigsten Lebensbeziehungen ist. Während also zwei sehr verschiedene Dinge: Volksphantasie und Mönchtum an der Klosterpforte zusammentreffen und hier das wenige austauschen, was sie gemeinsam haben und empfinden, treten die historiae zurück neben dem Lokalen, den Legenden und annales; es droht eine Zeit, da die Übersicht der Welt und der Weltgeschichte aufhören könnte.

Die Bevölkerungen aber verlangen von den Kirchenleuten nichts mehr als Askese (im Namen der vielen, welche sie nicht mitzumachen brauchen) und permanente Wunder, und die Kirche richtet sich — unbewußt — auf diese Volksvoraussetzungen hinsichtlich ihrer Magie ein und benützt dergleichen als Stütze für ihre weltlich-politische Macht.

Merkwürdig ist, wie das Wunderwesen und die Askese seit der Rettung des Reiches durch die Karolinger und während ihrer Machtperiode zurücktreten, — unter Karl dem Großen ist kaum davon die Rede, — wie sie dann aber im 9. und 10. Jahrhundert wieder ihre alte Macht gewinnen, weil die karolingische Kultur wieder der wilden Volksdenkweise Platz gemacht hat. Die Gefühlswelt des 10. Jahrhunderts ist fast dieselbe wie die des 6. und 7.

Der Kampf des Mittelalters

Scheinbar die völligste Unterordnung der Kultur unter die Religion, welche je dagewesen, zeigt das Christentum des 11. Jahrhunderts. Das inzwischen emporgekommene, ganz achtbare Streben vieler Benediktinerklöster weicht vor dem cluniacensischen Fanatismus. Dieser besteigt mit Gregor VII. den päpstlichen Thron und richtet nunmehr seine Postulate an die Welt. Aber es läßt sich fragen, ob nicht etwa das herrschende Papsttum selbst nur das Eindringen einer besondern Art von Welt in die Kirche, ob nicht etwa das Kriegertum, welches als bewaffnete militia S. Petri im Investiturstreit auftritt, doch nur eine verhüllte Kraft der damaligen Welt und ihrer Kultur ist. Die Kreuzzugsidee jedenfalls war ein gemischtes, geistlich-weltliches Ideal.

Und das 11. Jahrhundert verwirklicht dies Ideal und seufzt nicht bloß danach; es schließt mit einem enormen Willensakt des ganzen, mehr und mehr in Feuer geratenen Okzidents.

Im 12. Jahrhundert tut sich dann eine baldige Reaktion auf das Abendland kund. Große weltliche Interessen, Rittertum und Städtetum werden durch die überhaupt geweckten Kräfte an den Tag gebracht und machen der Kirche unbewußt Konkurrenz; die Kirche selber wird wieder unfrommer und weltlicher; ein kenntliches Sinken der Askese ist zu konstatieren; statt ihrer machen sich der Kirchenbau und die Kunst geltend. Es beginnt ein weltliches Raisonnement, und es entstehen die Pariser Schulen und die großen Häresien in den Niederlanden, am Rhein, in Italien und besonders in Südfrankreich mit ihren teils pantheistischen, teils dualistischen Lehren. Es läßt sich fragen, wieweit diese Häresien ein Eindringen fremder Kulturelemente und wieweit sie ein bloßer Beleg des religiösen Schwunges der vorhergegangenen Zeit seien. Letzteres gilt jedenfalls von den Vertretern der ecclesia primitiva, den Waldensern.

Es folgt das Christentum des 13. bis 15. Jahrhunderts, da die Kirche sich als Reaktion im Siege, ja als Polizei darstellt. Künstlich wird das Mittelalter neu befestigt; die Hierarchie, an die äußersten Mittel gewöhnt, ist tatsächlich größtenteils mit Junkern und Kanonisten besetzt; die Wissenschaft ist die kirchlich völlig dienstbare Scholastik, und zwar in den Händen der Bettelorden.

Die Volksreligion aber macht damals ein höchst merkwürdiges Durchgangsstadium durch; sie verflicht sich auf das engste mit der damaligen Volkskultur, wobei man nicht mehr sagen kann, welches das andere bedingt. Sie schließt ein Bündnis mit dem ganzen äußern und innern Leben der Menschen, mit all ihren Geistes- und Seelenvermögen, statt sich im Zwiespalt damit zu erklären.

Das Volk, sehr religiös, mit seinem Seelenheil ernstlich beschäftigt, und zwar mit Hilfe des Werkdienstes, ist jetzt von pantheistischen und dualistischen Auswegen abgeschnitten; auch die Mystiker sind orthodox und unpopulär. Für die Kontinuität des Kultus ist man sehr besorgt, selbst beim Bann. Die starke Versenkung in das Leiden Christi, der sehr gesteigerte Kultus der Hostie und der Mariendienst — alles ist schon als wesentlicher Protest gegen alle Häresie von Bedeutung. In dem naiv polytheistischen Kultus der Nothelfer, Stadtpatrone und Fachheiligen spricht sich eine wirkliche Teilung der göttlichen Kraft aus. Denken wir auch an die populären Mariensagen, die geistlichen Dramen, die Fülle von Bräuchen, die der damalige Kalender verzeichnet, die Naivetät der religiösen Kunst.

Bei allen Mißbräuchen, Erpressungen, dem Ablaß usw. hatte die damalige Religion den großen Vorzug, daß sie alle höheren Vermögen des Menschen reichlich mitbeschäftigte, zumal die Phantasie. Während die Hierarchie zeitweise über die Maßen verhaßt war, war sie, die Religion, daher wirklich populär und den Massen nicht bloß zugänglich, sondern diese lebten darin, sie war ihre Kultur.

Reformation
Ja, hier wäre die Frage aufzuwerfen, ob nicht der wahre Lebensbeweis einer Religion doch darin liegt, daß sie sich auf eigene Gefahr jederzeit kühn mit der Kultur verflechte. Das Christentum gab Beweis von seinem Wachstum, solange es neue Dogmen, Kultformen und Kunstformen trieb, d. h. bis zur Reformation. — Nur daß in den letzten Zeiten vorher bedenkliche Zeichen am Horizont aufstiegen: die ruchlose Machtsucht der Fürsten, die schrecklichen Päpste, die Zunahme der Macht des Teufels in dem (halb populären, halb dominikanischen) Hexenwesen.

Vom Christentum der Reformation wird das Heil auf einen innern Prozeß zurückgeführt, nämlich auf die Rechtfertigung und die Aneignung der Gnade durch den Glauben, woneben der Kalvinismus dann noch die Lehre von der Gnadenwahl aufstellt. Gerade aus dem Gegensatz zum katholischen Werkdienst macht man das Hauptdogma der neuen Lehre. — Wie wandelbar sind alle so auf die Spitze getriebenen Dinge!

Die Religion ist »gereinigt«, d. h. sie ist jetzt ohne jene Außenwerke und Verpflichtungen, in welche überall Werkdienst eingenistet schien, sie sollte auf einmal mit einem mächtigen Vermögen des Menschen, mit der Phantasie, als einer rein sündlichen und weltlichen, irreführenden Potenz nichts mehr zu tun haben und sich dafür »verinnerlichen«. — Dazu gehörte schon Muße und Bildung, d. h. Unpopulärität, soweit man nicht das allgemeine Mitmachen durch Gewalt erzwang. Und dabei hatte man erst noch die größte Mühe, die unbeschäftigt gelassene Phantasie vom Nebenhinausgehen abzuhalten. Dies war denn auch der Grund, weshalb die Gegenreformation wenigstens in der Kunst eine gewaltsame Herstellung des Verhältnisses zur volkstümlichen Phantasie durchsetzte und der Pomp der Charakter des Barocco wurde.

Ferner erfolgte die Herstellung der Religion in der urchristlichen Auffassung als einer ewig gültigen doch in einer sehr davon abweichenden Zeitlichkeit, bei gewerblichen, kräftig emporstrebenden Völkern, in einer Epoche gewaltiger Bildungsgärung. welche dann mit Gewalt durch zwei Orthodoxien, eine katholische und eine protestantische, zur schweigenden Huldigung gezwungen wurde.

Neueres Christentum und Kultur
Die Kultur, auf doppelte Weise (als Phantasie = Kunst und Lebensgestaltung und als Bildung) geknechtet und abgewiesen, legte sich dann auf heimliche Meuterei, bis in der Literatur des 18. Jahrhunderts die Abwendung der Geister offen hervorbricht, gegen die katholische Kirche als reine Negation, gegen die protestantische als Auflösung in allgemeine Vernunft, als Umschlag in Aufklärung und Humanität, auch als individuelle Religiosität, je nach den Gemütern und Phantasien. Zuletzt kann auch der offizielle Protestantismus, als durch einen Prozeß der Geister entstanden, sich der Konzessionen nicht mehr erwehren.

Und nun das neuere Verhältnis des Christentums zur Kultur. Zunächst weist die Kultur in Gestalt von Forschung und Philosophie dem Christentum seine menschliche Entstehung und Bedingtheit nach; sie behandelt die heiligen Schriften wie andere Schriften. Das Christentum, wie alle Religionen, in völlig kritiklosen Momenten und unter völlig hingerissenen und kritikunfähigen Menschen entstanden, kann sich nicht mehr als sensu proprio und buchstäblich gültig gegenüber einem allseitigen Geistesleben behaupten. Neben der rationellen Anschauung von Natur und Geschichte ist die Behauptung eines eximierten Stückes eine Unmöglichkeit. Je mehr dergleichen dennoch versucht wird, desto unerbittlicher steigt beim Gegner die Neigung zur Kritik und zur Auflösung alles Mythischen. Dabei möge man sich immerhin der Schwierigkeit bewußt sein, welche unsere einseitige Kulturzeit hat, zu glauben und uns vorzustellen, daß und wie andere geglaubt haben, und auch unserer Unfähigkeit, uns bei fernen Völkern und Zeiten diejenige Einseitigkeit und hartnäckige Marterbereitheit klarzumachen, welche für die religiösen Bildungskrisen unumgänglich war.

Zweitens stellt sich die Moral, so gut sie kann, von der Religion getrennt, auf ihre eigenen Füße. Die Religionen stützen sich in ihren späteren Zeiten gern auf die Moralen als ihre angeblichen Töchter; allein dagegen erhebt sich sowohl theoretisch die Doktrin einer vom Christentum unabhängigen, rein auf die innere Stimme gegründeten Sittlichkeit, als auch praktisch die Tatsache, daß im großen und ganzen die heutige Pflichtübung enorm viel mehr vom Ehrgefühl und vom eigentlichen Pflichtgefühl im engeren Sinne als von der Religion bestimmt wird. Deutliche Anfänge hiervon treten seit der Renaissance zutage. Das künstliche Neupflanzen von Christentum zum Zwecke der guten Aufführung aber war immer völlig vergeblich. Wie lange freilich das Ehrgefühl noch als »letzter mächtiger Damm gegen die allgemeine Flut« vorhalten wird, ist fraglich.

Ein einzelner Beleg von der Abtrennung der Moral vom Christentum liegt z. B. in der heutigen von optimistischer Grundvoraussetzung ausgehenden Philanthropie, welche, insofern sie den Menschen vorwärts helfen, Tätigkeit befördern will, viel mehr ein Korrelat des Erwerbsinnes und der Diesseitigkeit überhaupt als eine Frucht des Christentums ist, das ja konsequenterweise nur Weggeben aller Habe oder Almosen kennt. Indem ferner die liberalen Ansichten vom Jenseits in starkem Fortschreiten begriffen sind, abstrahiert die Moral von einer zukünftigen Vergeltung. Überhaupt dringt der moderne Geist auf eine Deutung des ganzen hohen Lebensrätsels unabhängig vom Christentum.

Drittens sind das Weltleben und seine Interessen, zu schweigen von derjenigen Sorte von Optimismus, die einen idealen Zustand auf Erden herzustellen hofft, stärker als alles geworden. Die gewaltige zeitlich-irdische Bewegung und Arbeit jedes Grades, mit Inbegriff der freien geistigen Tätigkeit, wobei schon materiell die Muße zur Kontemplation fehlt, steht in einem großen Mißverhältnis zum Dogma der Reformation, welches — ob man nun an die Rechtfertigung oder an die Gnadenwahl denke — an sich schwierig und ohnehin nie jedermanns Sache wäre. Vollends aber steht das Urchristentum selbst zum geschärftesten Christentum unserer Tage (etwa die Trappisten ausgenommen) im Kontrast. Man liebt das demütige Sichwegwerfen und die Geschichte von der rechten und linken Backe nicht mehr; man will die gesellschaftliche Sphäre behaupten, wo man geboren ist; man muß arbeiten und viel Geld verdienen, überhaupt der Welt alle mögliche Einmischung gestatten, selbst wenn man die Schönheit und den Genuß haßt; in Summa: man will bei aller Religiosität doch nicht auf die Vorteile und Wohltaten der neueren Kultur verzichten und gibt damit wiederum einen Beweis von der Wandlung, in welcher sich die Ansichten vom Jenseits befinden.

Die kalvinistischen Länder, die schon von der Reformation an wesentlich die erwerbenden sind, sind zu dem angloamerikanischen Kompromiß zwischen kalvinistischem Pessimismus in der Theorie und rastlosem Erwerb in der Praxis gekommen. Sie haben damit einen starken Einfluß ausgeübt, können es aber, sollte man denken, mit dem petit nombre des élus nie so recht ernst genommen haben.

Bedenkliche Mittel der jetzigen Orthodoxien sind das Eingehen auf die »Solidarität der konservativen Interessen«, das Anschließen an den Staat, der doch nicht mehr gerne mithalten mag, das Aufrechterhalten des Mythus um jeden Preis u. a. Irgendwie aber wird sich das Christentum zurückziehen auf seine Grundidee vom Leiden dieser Welt; wie sich damit das Leben- und Schaffenwollen in derselben auf die Länge ausgleichen wird, ahnen wir noch nicht.

Zusatz 1871. Ob wir jetzt am Eingang einer großen religiösen Krisis stehen, wer vermag es zu ahnen? Ein Kräuseln auf der Oberfläche wird man bald inne werden — aber erst in Jahrzehnten, ob eine Grundveränderung vorgegangen.

Bedingtheit der Religion durch Kunst und Poesie
Zum Schluß möge hier noch als Ergänzung und Gegenstück zu früher Gesagtem von der besonderen Bedingtheit der Religion durch Kunst und Poesie die Rede sein.

Beide haben von jeher in hohem Grade zum Ausdruck des Religiösen beigetragen. Allein jede Sache wird durch ihren Ausdruck irgendwie veräußerlicht und entweiht.

Schon die Sprachen üben Verrat an den Sachen: »ut ubi sensus vocabulum regere debeat, vocabulum imperet sensui«, wozu dann kommt, daß die Unzähligen, welche sich, obwohl unberufen, mit den Sachen abgeben müssen, froh sind, sich mit dem Wort abfinden zu können.

Vollends aber ist die Kunst eine Verräterin, erstens indem sie den Inhalt der Religion ausschwatzt, d. h. das Vermögen der tieferen Andacht wegnimmt und ihm Augen und Ohren substituiert, Gestalten und Hergänge an die Stelle der Gefühle setzt und diese damit nur momentan steigert, zweitens aber, indem ihr eine hohe und unabhängige Eigentümlichkeit innewohnt, vermöge deren sie eigentlich mit allem auf Erden nur temporäre Bündnisse schließt und auf Kündung. Und diese Bündnisse sind sehr frei; denn sie läßt sich von der religiösen oder anderen Aufgabe nur anregen, bringt aber das Wesentliche aus geheimnisvollem eigenem Lebensgrunde hervor.

Freilich kommt dann eine Zeit, da die Religion inne wird, wie frei die freie Kunst verfährt, ihre Stoffe ballt usw. Sie versucht dann die stets gefährliche Restauration eines vergangenen und befangenen Stiles als eines hieratischen, der nur das Heilige an den Dingen darstellen soll, d. h. von der Totalität der lebenden Erscheinung abstrahiert und natürlich neben dem gleichzeitigen Vollbelebten (wobei die Kunst von dem Baum der Erkenntnis gegessen) um ein Großes zurücksteht.

Hierher gehört die mürrische Dezenz und Behutsamkeit z. B. der neueren katholischen Kunst und Musik. Und vollends wissen Kalvinismus und Methodismus recht gut, warum sie die Kunst mit Gewalt abweisen, so gut es der Islam wußte. Hierbei hat man es freilich vielleicht auch mit einer unbewußten Nachwirkung des Pessimismus des älteren Christentums zu tun, welcher keine Stimmung zur Darstellung von irgend etwas übrig hatte, auch wenn ihm die Sündlichkeit der Kreatur deren Nachbildung nicht schon verleidet hätte.

Es kommt eben auf das Naturell der Völker und der Religionen an. Das Gegenbild von diesem allem sind Zeiten, in welchen die Kunst den Inhalt der Religionen bestimmen hilft. So, wenn Homer und Phidias den Griechen ihre Götter schaffen, wenn im Mittelalter die Bilderkreise, zumal die der Passion, die ganze Andacht und die Gebete stückweise vorschreiben, oder wenn das religiös-festliche griechische Drama die höchsten Fragen coram populo von sich aus darstellt, und wenn die katholischen Dramen des Mittelalters und die autos sagramentales die heiligsten Ereignisse und Begehungen derb der Volksphantasie zur Beute hinlegen, ohne alle Sorge vor Profanation.

Ja die Kunst ist eine wundersam zudringliche Verbündete der Religion und läßt sich unter den befremdlichsten Umständen nicht aus dem Tempel weisen; sie stellt die Religion dar, selbst nachdem diese, wenigstens bei den Gebildeten (und selbst bei einigen Malern, wie bei Pietro Perugino), erloschen ist; im späteren Griechenland, in Italien zur Zeit der Renaissance lebt die Religion (außer etwa noch als Superstition) wesentlich nur noch als Kunst fort.

Aber die Religionen irren sich sehr, wenn sie glauben, daß die Kunst bei ihnen einfach nach Brot gehe.

Sie geht in ihren hohen und primären Repräsentanten auch nicht bei der jeweiligen Profankultur nach Brot, so sehr es oft diesen Anschein hat, wenn geschickte und berühmte Leute sich dazu hergeben, die Lektüre der Philister zu illustrieren.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 55, Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Herausgegeben von Rudolf Marx S.144ff.
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlichem Einverständnis des Alfred Kröner Verlags, Stuttgart

Das Unglück und das Kompensationsgesetz in der Weltgeschichte
Und nun ist das Böse auf Erden allerdings ein Teil der großen weltgeschichtlichen Ökonomie: es ist die Gewalt, das Recht des Stärkeren über den Schwächeren, vorgebildet schon in demjenigen Kampf ums Dasein, welcher die ganze Natur, Tierwelt wie Pflanzenwelt, erfüllt, weitergeführt in der Menschheit durch Mord und Raub in den früheren Zeiten, durch Verdrängung resp. Vertilgung oder Knechtung schwächerer Rassen, schwächerer Völker innerhalb derselben Rasse, schwächerer Staatenbildungen, schwächerer gesellschaftlicher Schichten innerhalb desselben Staates und Volkes.

Der Stärkere ist als solcher noch lange nicht der Bessere. Auch in der Pflanzenwelt ist ein Vordringen des Gemeineren und Frecheren hie und da erweisbar. In der Geschichte aber bildet das Unterliegen des Edlen, weil es in der Minorität ist, besonders für solche Zeiten eine große Gefahr, da eine sehr allgemeine Kultur herrscht, welche sich alle Rechte der Majorität beilegt. Und nun waren alle diese unterlegenen Kräfte vielleicht edler und besser; allein die Sieger, obwohl nur von Herrschsucht vorwärts getrieben, führen eine Zukunft herbei, von welcher sie selbst noch keine Ahnung haben. Nur in der Dispensation der Staaten vom allgemeinen Moralgesetz, bei fortwährender Geltung desselben für den einzelnen, blickt etwas wie eine Ahnung durch.

Das größte Beispiel bietet das römische Weltreich, begonnen mit den entsetzlichsten Mitteln bald nach Erlöschen des Kampfes zwischen Patriziern und Plebejern in Gestalt der Samniterkriege, vollendet durch Unterwerfung von Orient und Okzident mit unermeßlichen Strömen von Blut.

Hier erkennen wir im großen einen wenigstens für uns recht scheinbaren weltgeschichtlichen Zweck: die Schöpfung einer gemeinsamen Weltkultur, wodurch auch die Verbreitung einer neuen Weltreligion möglich wurde, beides überlieferbar auf die barbarischen Germanen der Völkerwanderung als künftiger Zusammenhalt eines neuen Europas.

Allein daraus, daß aus Bösem Gutes, aus Unglück relatives Glück geworden ist, folgt noch gar nicht, daß Böses und Unglück nicht anfänglich waren, was sie waren. Jede gelungene Gewalttat war böse und ein Unglück und allermindestens ein gefährliches Beispiel. Wenn sie aber Macht begründete, so kam in der Folge die Menschheit heran mit ihrem unermüdlichen Streben, bloße Macht in Ordnung und Gesetzlichkeit umzuwandeln; sie brachte ihre heilen Kräfte herbei und nahm den Gewaltzustand in die Kur.

Und das Böse herrscht bisweilen lange als Böses auf Erden, nicht bloß bei Fatimiden und Assassinen. Der Fürst dieser Welt ist laut der christlichen Lehre Satan. Nichts Unchristlicheres, als der Tugend eine dauernde Herrschaft, einen materiellen Gotteslohn auf Erden zu verheißen, wie die Kirchenschriftsteller den christlichen Kaisern versprachen. Aber das herrschende Böse hat eine hohe Bedeutung: nur neben ihm gibt es ein uneigennütziges Gutes. Es wäre ein unerträglicher Anblick, wenn infolge konsequenter Belohnung des Guten und Bestrafung des Bösen hienieden die Bösen sich alle aus Zweckmäßigkeit anfingen gut aufzuführen; denn unvermeidlich vorhanden und innerlich böse wären sie ja doch. Man könnte in die Stimmung kommen, den Himmel wieder um eine Straflosigkeit der Bösen auf Erden zu bitten, nur damit dieselben wenigstens ihre wahren Züge wieder an den Tag legten. Es ist schon so Verstellung genug in der Welt.

Suchen wir nun auch einigen der erlaubtesten Klagen der Weltgeschichte den unserer Ahnung zugänglichen Trost gegenüberzustellen.

Zunächst hat zwar gar nicht jede Zerstörung auch Verjüngung zur Folge. So wie das Zerstören des edleren Pflanzenwuchses ein Land auf ewig zur verbrannten Wüste machen kann, so wird sich auch ein zu übel mißhandeltes Volk nie mehr erholen. Es gibt (wenigstens scheinbar) absolut zerstörende Mächte, unter deren Hufschlag kein Gras mehr wächst. Asien scheint dauernd und auf alle Zeiten durch die zweimalige Herrschaft der Mongolen in seiner wesentlichen Kraft geknickt worden zu sein; besonders Timur wütete entsetzlich mit seinen Schädelpyramiden und seinen Mauern aus Stein, Kalk und lebenden Menschen. Es ist gut, daß man sich beim Bilde eines solchen Zerstörers, wie er seinen und seines Volkes Egoismus im Triumph durch die rauchenden Ruinen der Welt spazieren führt, davon Rechenschaft gebe, mit welcher Wucht das Böse sich zuzeiten vordrängen darf. In solchen Ländern wird man auf ewig nie mehr an Recht und an menschliche Güte glauben. Und doch hat er vielleicht Europa vor den Osmanen gerettet; man denke sich ihn hinweg und Bajazeth und die Hussiten zugleich sich über Deutschland und Italien werfend! Die späteren Osmanen, Volk und Sultane, so schrecklich sie für Europa waren, haben doch nicht mehr jenen Höhepunkt der Kraft erreicht, welchen Bajazeth 1. vor der Schlacht bei Angora darstellte.

Es gibt schon in den alten Zeiten ein entsetzliches Bild, wenn man sich die Summe von Verzweiflung und Jammer vorstellt, welche das Zustandekommen z. B. der alten Weltmonarchien voraussetzte. Unser besonderes Mitleid würden vielleicht jene Einzelvölker verdienen, welche in verzweifeltem Kampfe um ihre Nationalität den Königen von Persien, vielleicht schon denjenigen von Assyrien und Medien unterlegen sein müssen. All die einsamen Königsburgen der Einzelvölker (Hyrkanier, Baktrier, Sogdianer, Gedrosier u. a.), welche Alexander antraf, bezeichnen lauter entsetzliche letzte Kämpfe, von welchen wir nichts mehr wissen. Haben sie umsonst gekämpft?

Ganz anders stellen sich zu unserem Gefühl diejenigen Bevölkerungen, von deren letzten Kämpfen und Untergang Kunde erhalten ist: die lydischen Städte gegen Harpagus, Karthago, Numantia, Jerusalem gegen Titus. Solche scheinen uns aufgenommen in die Reihe von Lehrern und Vorbildern der Menschheit in der einen großen Sache: daß man an das Gemeinsame alles setze, und daß das Einzelleben der Güter höchstes nicht sei. So daß aus ihrem Unglück ein herbes, aber erhabenes Glück für das Ganze entsteht.

Und wenn persische Keilschriften gefunden werden sollten, die auch vom Untergang jener Völker in den Ostprovinzen des Reiches nähere Meldung täten, sei es auch nur in dem bombastischen Ormuzdstil des geistlosen Siegervolkes, so würden auch sie sich jenen großen Erinnerungen beigesellen.

Beiseite mag hier der Trost bleiben, daß ohne solche vorläufige Zermalmer, wie Assur und Persien, Alexander die Elemente der griechischen Kultur nicht so weit nach Asien hinein hätte tragen können; über Mesopotamien hinaus hat dieselbe keine große Wirkung mehr gehabt. Überhaupt müssen wir uns hüten, unsere geschichtlichen Perspektiven ohne weiteres für den Ratschluß der Weltgeschichte zu halten.

Bei allen Zerstörungen läßt sich aber immer eins behaupten: weil uns die Ökonomie der Weltgeschichte im großen dunkel bleibt, wissen wir nie, was geschehen sein würde, wenn etwas, und sei es das Schrecklichste, unterblieben wäre. Statt einer weltgeschichtlichen Woge, die wir kennen, wäre wohl eine andere gekommen, die wir nicht kennen, statt eines schlimmen Unterdrückers vielleicht ein noch böserer.

Nur soll deshalb kein Mächtiger sich zu entschuldigen glauben mit dem Wort: »Tun wir‘s nicht, so tut's ein anderer«, womit jede Art von Verbrechen gerechtfertigt werden könnte. (Solche halten eine Entschuldigung übrigens auch meist nicht für nötig, sondern finden: »Was wir tun, schlägt ja eo ipso zum Glück aus.«)

Vielleicht würde auch der unterlegene Teil selbst bei längerem Dasein unserer Teilnahme nicht mehr würdig scheinen. Ein Volk z. B., das früh in glorreichem Kampf untergegangen, wäre vielleicht später nicht sehr glücklich, nicht sehr kulturfähig, ja durch eigenes Böses in seinem Innern frühe verrucht und für die Nachbarn verderblich geworden. Dagegen, in seiner Vollkraft dahingenommen, macht es eine ähnliche Wirkung, wie früh gestorbene ausgezeichnete Menschen, welchen die Phantasie bei vorausgesetztem längerem Dasein nur Fortschritt in Glück und Größe andichtet, während sie vielleicht ihre Sonnenhöhe schon erreicht und überschritten hatten.

Von der anderen Seite meldet sich als Trost das geheimnisvolle Gesetz der Kompensation, nachweisbar wenigstens an einer Stelle: an der Zunahme der Bevölkerung nach großen Seuchen und Kriegen. Es scheint ein Gesamtleben der Menschheit zu existieren, welches die Verluste ersetzt.

So ist es z. B. nicht gewiß, wohl aber für unser Auge wahrscheinlich, daß das Zurückweichen der Weltkultur aus dem östlichen Becken des Mittelmeeres im 15. Jahrhundert äußerlich und innerlich kompensiert wurde durch die ozeanische Ausbreitung der westeuropäischen Völker; der Weltakzent rückte nur auf eine andere Stelle.

So wie dort statt eines Todes ein anderer Tod gekommen wäre, so substituiert hier statt eines untergegangenen Lebens die allgemeine Lebenskraft der Welt ein neues.

Nur ist die Kompensation nicht etwa ein Ersatz der Leiden, auf welchen der Täter hinweisen könnte, sondern nur ein Weiterleben der verletzten Menschheit mit Verlegung des Schwerpunktes. Auch darf man nicht etwa den Leidenden und ihren Deszendenten und sonstigen Verwandten damit kommen. Die Völkerwanderung war eine große Erfrischung der Welt für das absterbende Römerreich, aber wenn man in dem östlichen, übriggebliebenen Rest desselben etwa im 12. Jahrhundert unter den Komnenen einen Byzantiner fragte, so redete er so stolz als möglich vom Fortleben Roms am Bosporus und so verachtungsvoll als möglich gegen das »erneute und erfrischte« Abendland; und noch der jetzige Gräkoslawe unter den Türken hält sich nicht für geringer und wohl auch nicht für unglücklicher als den Abendländer. Überhaupt, sobald man die Leute fragt, bedanken sie sich für alle Erneuerung der Welt, welche durch ihren Untergang und durch Einwanderung wilder Horden bewirkt werden soll.

Die Lehre von der Kompensation ist meist doch nur eine verkappte Lehre von der Wünschbarkeit, und es ist und bleibt ratsam, mit diesem aus ihr zu gewinnenden Troste sparsam umzugehen, da wir doch kein bündiges Urteil über diese Verluste und Gewinste haben. Entstehen und Vergehen sind zwar das allgemeine Erdenschicksal; aber jedes wahre Einzelleben, das durch Gewalt und (nach unserem Dafürhalten) vorzeitig dahingerafft wird, darf als schlechthin unersetzlich gelten, sogar als nicht ersetzlich durch ein anderes ebenso treffliches.

Eine andere Schattierung der Kompensation ist die Verschiebung eines versprochen scheinenden Ereignisses. Es unterbleibt einstweilen etwas Großes, sehnsüchtig Gewünschtes, weil eine künftige Zeit es vollkommener vollziehen wird. Deutschland war im Dreißigjährigen Kriege vielleicht zweimal der Einheit ganz nahe: 1629 durch Wallenstein, 1631 durch Gustav Adolf; in beiden Fällen würde ein furchtbarer, kaum zu bändigender Gegensatz im Volke geblieben sein; der Welttag der Nation wurde um 240 Jahre verschoben und trat dann ein in einem Moment, da jener Gegensatz seine Gefährlichkeit völlig verloren hatte. Im Gebiete der Kunst kann man sich in ähnlicher Weise sagen, daß die neue St. Peterskirche des Papstes Nikolaus V. unendlich geringer geworden wäre als die des Bramante und Michelangelo.

Eine Schattierung ist auch der Ersatz von einzelnen Kulturzweigen durch andere: in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei fast völliger Nullität der Poesie und geringer Richtung in der Malerei erreicht die Musik ihre größte Erhabenheit. Allein auch dies sind Imponderabilien, die man nicht so keck gegeneinander abwägen darf. Sicher ist nur, daß eine Zeit, ein Volk nicht alles zugleich besitzen kann, und daß viele an sich unentschiedene Kräfte von derjenigen Gattung angezogen werden, welche sich bereits im größten Schwung befindet.

Die allergerechtesten Klagen jedoch, welche man, wie es scheint, gegen das Schicksal sollte erheben dürfen, beziehen sich auf den Untergang hoher Werke der Kunst und Dichtung. Auf das Wissen des Altertums, auf die Bibliotheken von Pergamus und Alexandrien würden wir am Ende noch verzichten: das neuere Wissen ist erdrückend genug; allein die untergegangenen Dichter höchsten Ranges erfüllen uns mit Jammer, und auch an den Historikern haben wir unersetzliche Verluste erlitten, weil die Kontinuität der geistigen Erinnerungen auf große, wichtige Strecken fragmentarisch geworden ist. Diese Kontinuität ist aber ein wesentliches Interesse unseres Menschendaseins und ein metaphysischer Beweis für die Bedeutung seiner Dauer; denn ob Zusammenhang des Geistigen auch ohne unser Wissen davon vorhanden wäre, in einem Organ, das wir nicht kennen, das wissen wir nicht und können uns jedenfalls keine Vorstellung davon machen, müssen also dringend wünschen, daß das Bewußtsein jenes Zusammenhanges in uns lebe.

Allein unsere unerfüllte Sehnsucht nach dem Untergegangenen ist auch etwas wert; ihr allein verdankt man es, daß noch so viele Bruchstücke gerettet und durch eine rastlose Wissenschaft in Zusammenhang gesetzt worden sind; ja Verehrung der Reste der Kunst und unermüdliche Kombination der Reste der Überlieferung machen einen Teil der heutigen Religion aus.

Die verehrende Kraft in uns ist so wesentlich, als das zu verehrende Objekt.

Vielleicht auch mußten jene hohen Kunstwerke untergehen, damit eine neuere Kunst unbefangen schaffen könne. Wenn z. B. im 15. Jahrhundert plötzlich große Massen wohlerhaltener griechischer Skulpturen und Malereien wären gefunden worden, so hätten Lionardo, Michelangelo, Raffael, Tizian und Gorreggio nicht schaffen können, was sie geschaffen haben, während sie mit dem von den Römern Ererbten wohl in ihrer Weise wetteifern konnten. Und wenn nach der Mitte des 18. Jahrhunderts bei der begeisterten Erneuerung des philologischen und antiquarischen Studiums die verlorenen griechischen Lyriker aufgetaucht wären, so hätten sie möglicherweise den ganzen hohen Flor der deutschen Poesie stören können. Freilich würde wohl nach einigen Jahrzehnten der Störung, nach dem ersten Erstaunen das massenhaft vorhandene Alte mit dem Neuen sich auseinandergesetzt und das Neue seine eigenen Wege gefunden haben, — allein der entscheidende Augenblick des Vermögens der Blüte, welcher nicht mehr in seiner vollen Höhe wiederkehrt, wäre vorüber gewesen. Nun aber war im 15. Jahrhundert für die Kunst, im 18. für die Poesie genug vom Alten da, um anzuregen, und nicht so viel, um zu erdrücken.

Auf diesem Punkt angelangt, ist innezuhalten. Wir sind unmerklich von der Frage des Glückes und Unglückes auf das Fortleben des Menschengeistes geraten, das uns am Ende wie das Leben eines Menschen erscheint. Dieses, wie es in der Geschichte und durch sie bewußt wird, muß allmählich die Blicke des Denkenden dergestalt fesseln, und die allseitige Ergründung und Verfolgung desselben muß seine Anstrengung derart in Anspruch nehmen, daß die Begriffe Glück und Unglück daneben mehr und mehr ihre Bedeutung verlieren. »Reif sein ist alles«. Statt des Glücks wird das Ziel der Fähigen nolentium volentium die Erkenntnis. Und dies nicht etwa aus Gleichgültigkeit gegen einen Jammer, der uns ja mitbetreffen kann, — wodurch wir vor allem kalten Objektiv-tun geschützt sind, — sondern weil wir die Blindheit unseres Wünschens einsehen, indem die Wünsche der Völker und einzelnen wechseln und sich widersprechen und aufheben.

Könnten wir völlig auf unsere Individualität verzichten und die Geschichte der kommenden Zeit etwa mit ebensoviel Ruhe und Unruhe betrachten, wie wir das Schauspiel der Natur, z. B. eines Seesturms vom festen Lande aus mitansehen, so würden wir vielleicht eins der größten Kapitel aus der Geschichte des Geistes bewußt miterleben. In einer Zeit:

Da der täuschende Friede jener dreißig Jahre, in welchen wir aufwuchsen, längst gründlich dahin ist und eine Reihe neuer Kriege im Anzug zu sein scheinen,

Da die größten Kulturvölker in ihren politischen Formen schwanken oder in Übergängen begriffen sind,

Da mit der Verbreitung der Bildung und des Verkehrs auch die des Leidensbewußtseins und der Ungeduld sichtlich und rasch zunimmt,

Da die sozialen Einrichtungen durchgängig durch Bewegungen der Erde beunruhigt werden, — so vieler anderer an gehäufter und unerledigter Krisen nicht zu gedenken, —

Würde es ein wunderbares Schauspiel, freilich aber nicht für zeitgenössische, irdische Wesen sein, dem Geist der Menschheit erkennend nachzugehen, der über all diesen Erscheinungen schwebend und doch mit allen verflochten, sich eine neue Wohnung baut. Wer hievon eine Ahnung hätte, würde des Glückes und Unglückes völlig vergessen und in lauter Sehnsucht nach dieser Erkenntnis dahinleben. S.262ff.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 55, Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Herausgegeben von Rudolf Marx
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlichem Einverständnis des Alfred Kröner Verlags, Stuttgart