Jacob Christoph Burckhardt (1818 – 1897)
Schweizer Theologe, Kultur- und Kunsthistoriker, dessen frühe Hauptwerke sind: »Die Zeit Constantin des Großen 1852«, »Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens« 1855 und »Die Kultur der Renaissance in Italien «. 1860. Als Nachlass erschienen folgende Werke: »Erinnerungen aus Rubens« 1898; »Griechische Kulturgeschichte« 4 Bände 1898 - 1902; »Weltgeschichtliche Betrachtungen« 1905. In der Kunstbetrachtung stellt Burckhardt den Wert des visuellen Erlebnisses über den der literarischen Überlieferung. Sein universales Denken, historisches Einfühlungsvermögen und schriftstellerisches Konnen, ließen Burckhardt zu einem der einflussreichsten Geisteswissenschaftler des 19. Jahrhunderts werden. |
Inhaltsverzeichnis
Autobiographische Aufzeichnungen
Die Religion in weltgeschichtlicher Betrachtung
Grundlagen – Entstehung – Religionsstifter – Geeignete Völker und Kulturstufen – Einteilung der Religionen –
Eschatologie – Priestermacht – Missionierung – National- und Weltreligionen – Bedeutung – Auflösung –
Religionskämpfe und Verfolgungen – Reformatoren – Untergang der Religionen
Gegenseitige Bedingtheiten
Die Kultur in ihrer Bedingtheit durch die Religion, Der Staat in seiner Bedingtheit durch die Religion
Die Religion in ihrer Bedingtheit duch den Staat, Die Religion in ihrer Bedingtheit duch die Kultur
Das Unglück und das Kompensationsgesetz in der Weltgeschichte
Autobiographische
Aufzeichnungen
Der Schreiber dieser Zeilen, Jacob
Christoph Burckhardt, wurde zu Basel am 25. Mai 1818 geboren als das
vierte Kind des damaligen Obersthelfers, späteren Antistes Jacob Burckhardt und seiner Gattin Margaretha Susanna geb. Schorendorf. Das Familienleben, in
dem er aufwuchs, war ein überaus glückliches; noch in sehr früher
Jugend aber traf ihn mit dem Tode der lieben Mutter, den 17. März des Jahres
1830, in welchem Jahre das Haus auch durch Krankheit heimgesucht war, das erste
Leid im Leben.
So machte sich bei ihm schon frühe der Eindruck von der großen Hinfälligkeit
und Unsicherheit alles Irdischen geltend und bestimmte seine Auffassung der
Dinge bei all seiner sonst zur Heiterkeit angelegten Gemütsart, wahrscheinlich
einem Erbe seiner seligen Mutter.
Auch wurde Schreiber dieses frühe inne, dass es ihm bei manchen Anlässen
nicht schlimmer und oft besser ging als andern, welche in ähnlicher Lage
waren.
Den Schulen von Basel ist er schon Dank schuldig dafür, dass er sich
nicht überarbeiten musste und keinen Hass gegen das Lernen fasste,
sodann ganz besonders für diejenige Grundlage in den alten Sprachen, welche
ihm in allen Zeiten seines Lebens die Vertrautheit mit dem Altertum möglich
gemacht hat. Ein besonderes Andenken widmet er mit zahlreichen andern Schülern
vieler Generationen der Methode und der Persönlichkeit des verehrten Herrn
Rektors Dr. Rudolf Burckhardt.
Nach Absolvierung des Pädagogiums folgte 1836/37 ein dreivierteljähriger
Aufenthalt in Neuenburg, wo ihm der Eingang in die französische Gedankenwelt eröffnet und eine zweite geistige Heimat bereitet wurde.
Auf den Wunsch des seligen Vaters begann er hierauf an der hiesigen Universität
(Basel) das Studium der Theologie und widmete demselben die vier Semester vom Frühjahr
1837 bis 1859, worauf ihm der Übergang zur Geschichtswissenschaft vom seligen
Vater ohne Widerstand gestattet wurde. Er hat später seine Beschäftigung
mit der Theologie, unter Lehrern wie de Wette und Hagenbach, niemals bereut
oder für verlorene Zeit erachtet, sondern für eine der wünschenswertesten
Vorbereitungen gehalten, welche dem Geschichtsforscher zuteil werden können.
Nachdem das letzte Semester in Basel bereits dem neuen Studium angehört
hatte, bezog er im Herbst 1839 die Universität Berlin, welcher er bis zum
Frühling 1845 angehörte, mit Ausnahme des in Bonn zugebrachten Sommersemesters
1841.
Nicht sehr systematisch, sondern im wechselnden Angriff von
verschiedenen Seiten her suchte er sich seiner nunmehrigen Fachwissenschaft
zu bemächtigen. Er hatte das Glück, für Rankes Seminar zwei umfangreichere
Arbeiten zu liefern und die Zufriedenheit des großen Lehrers als Lohn
zu empfangen.
Außer der Geschichte aber hatte ihn auch die Betrachtung der Kunst von
jeher mächtig angezogen, und neben den reichen geistigen Anregungen jeder
Art, welche Berlin ihm gewährte, waren die dortigen Museen von Anfang an
für ihn eine Quelle des Lernens und des ersehnten Genusses. Es wurde ihm
die Lehre und der nahe Umgang Franz Kuglers zuteil, welchem er im wesentlichen
seine geistige Richtung zu verdanken haben sollte. Eine edle Persönlichkeit
öffnete ihm Horizonte weit über die Kunstgeschichte hinaus.
Nach einem längeren Aufenthalt in Paris (1845) habilitierte
er sich 1844 an unserer Universität als Dozent der Geschichte und erhielt
1845 den Titel eines außerordentlichen Professors. Vom Frühling 1846
an folgte wieder eine zweijährige Abwesenheit zum Zwecke von Studien und
literarischen Arbeiten in Berlin und Italien. Der Geschichte und den Denkmälern
dieses Landes hat er auch weiterhin nach bestem Vermögen seine Kräfte
geweiht und dies nie zu bereuen gehabt. Im Frühling 1848 trat er sein hiesiges
Amt wieder an, jetzt zugleich als Lehrer der Geschichte an der realistischen
Abteilung des Pädagogiums, und glaubte nun zum ersten Mal in gesicherter
Lage seiner Wissenschaft leben zu können. Allein bei der Umwandlung dieser
Anstalt zur Gewerbeschule 1853 büßte er diese Stelle ein und sah.
sich nun wesentlich auf literarische Tätigkeit angewiesen, anfangs wieder
in Italien, dann hier, wo er seine Vorlesungen wieder aufnahm. Eine entscheidende
Wendung trat für ihn ein durch die Berufung als Professor der Kunstgeschichte
am Eidgenössischen Polytechnikum, welches Amt er im Herbst 1855 antrat.
Der Aufenthalt in Zürich, an einer neu beginnenden Anstalt, gewährte
ihm Anregungen und Erfahrungen aller Art; auch war ihm jetzt ruhige Arbeit nach
bestimmten Zielen gegönnt.
Im Frühling 1858 folgte er dem Rufe an die hiesige Universität, welcher
er seither als ordentlicher Professor der Geschichte angehörte. Der selige
Vater hat noch die vollständige Rehabilitation des Sohnes erleben dürfen.
Die Jahrzehnte, welche er in diesem Amte verlebte, sind die glücklichsten
seines Lebens geworden. Eine feste Gesundheit erlaubte ihm, sich ungestört
seinen Aufgaben. zu widmen, ohne eine einzige Stunde aussetzen zu müssen
bis zu einem Unfall im Mai 1891. Auch in andern Beziehungen verfloß sein
Dasein jetzt fast ungetrübt. Nachdem in den ersten Jahren die Ausarbeitung
unternommener Schriftwerke beendigt war, lebte er ausschließlich seinem
Lehramt, in welchem die beharrliche Mühe durch ein wahres Gefühl des
Glückes aufgewogen wurde. Die Aufgabe seines akademischen Lehrstuhls glaubte
er, den Bedürfnissen einer kleinern Universität gemäß,
weniger in der Mitteilung spezieller Gelehrsamkeit erkennen zu sollen als in
der allgemeinen Anregung zu geschichtlicher Betrachtung der Welt. Eine zweite
Tätigkeit, der Unterricht am Pädagogium (zuerst an den zwei obern,
dann nur noch an der obersten Klasse), welcher ihm ebenfalls zu einer beständigen
Freude gereichte, wurde — ungerne — teilweise und endlich völlig
aufgegeben, um dafür an der Universität neben der Geschichte noch
ein möglichst vollständiges Pensum der Kunstgeschichte zu übernehmen,
so daß in den Jahren 1882 bis 1886 die akademische Verpflichtung wöchentlich
zehn Stunden betrug. Endlich ist Schreiber dieses auch häufig vor dem Publikum
unserer Stadt aufgetreten, anfangs mit eigenen Zyklen von Vorträgen, später
in der Reihe der allgemeinen Unternehmungen dieser Art, welche teils in der
Aula, teils im Bernoullianum stattfinden.
Möge die wohlwollende Erinnerung der ehemaligen Studierenden der Universität
Basel, die seine Zuhörer waren, der Schüler des Pädagogiums und
der Zuhörerschaft der Winter-vorträge ihm über das Grab hinaus
gesichert bleiben; er hat dies Amt in seinem ganzen Umfang stets hochgehalten
und daneben auf literarische Erfolge von Herzen gerne verzichtet. Ein bescheidener
Wohlstand hat ihn in der spätern Zeit davor bewahrt, um der Honorare willen
schreiben zu müssen und in der Knechtschaft buchhändlerischer Geschäfte
zu leben.
Mahnungen der herannahenden Altersbeschwerden bewogen ihn zu Ende 1885, bei
der hohen Behörde um Entlassung von seinem Amt als Lehrer der Geschichte
einzukommen; auf seinen Wunsch blieb ihm noch seit Herbst 1886 der Lehrstuhl
der Kunstgeschichte. Asthmatische Beschwerden nötigten ihn endlich, im
April 1893 um gänzlichen Abschied einzukommen.
Aus: Jacob Burckhardt, Briefe. Ausgewählt
von Walter Rehm, Insel-Bücherei Nr. 331
Die Religion
in weltgeschichtlicher Betrachtung
Grundlagen
Die Religionen sind der Ausdruck des ewigen und unzerstörbaren
metaphysischen Bedürfnisses der Menschennatur.
Ihre Größe ist, daß sie die ganze übersinnliche Ergänzung
des Menschen, alles das, was er sich nicht selber geben kann, repräsentieren.
Zugleich sind sie der Reflex ganzer Völker und Kulturepochen in ein großes
Anderes hinein oder: der Abdruck und Kontur, welchen diese ins Unendliche hineinziehen
und bilden.
Dieser aber ist, obwohl sich für stabil und ewig haltend, wandelbar, er
ist es partiell oder ganz, allmählich oder plötzlich.
Unmöglich ist es zu vergleichen, welcher Prozeß der größere
gewesen: die Entstehung des Staates oder die einer Religion.
Entstehung
Des betrachtenden Geistes aber bemächtigt sich eine Doppelempfindung: neben
dem Betrachten, Vergleichen und Zersetzen hat er das Mitgefühl der Größe
und nimmt das riesige Bild einer Sache auf, die in ihrem Entstehen vielleicht
individuell war und in ihrer Ausbreitung weltgroß, universell, säkulär
wurde. Wir haben hier den höchsten Gegenstand für das Studium der
Herrschaft eines Allgemeinen über unzählige Geister bis zur völligen
Verachtung alles Irdischen bei sich und andern, d.h. bis zum Selbstmord durch
Askese und bis zum Martyrium, das man mit Freuden aufsucht, aber auch über
andere verhängt. Freilich sind die metaphysischen Anlagen und Schicksale
der Völker überaus verschieden. Gleich ausgeschieden mögen hier
die Religionen der geringern Rassen, die der Negervölker usw., der Wilden
und Halbwilden werden. Sie sind für die Primordien [Anfänge, Ursprünge]
des Geistigen noch weniger maßgebend als der Negerstaat für die Anfänge
des Staates überhaupt. Denn diese Völker sind von Anfang an die Beute
einer ewigen Angst; ihre Religionen gewähren uns nicht einmal einen Maßstab
für die Anfänge der Entbindung des Geistigen, weil der Geist dort
überhaupt nie zu spontaner Entbindung bestimmt ist.
Aber auch bei höhern Kulturvölkern findet sich dem Inhalt nach eine
große Stufenreihe von der Verehrung von Reichsgöttern, die in öder
Weise Eroberten aufgezwungen worden sind, vom Orgiasmus und Bacchantentum und
ähnlichen Formen unfreier Besessenheit vom Gotte bis zu der reinsten Gottesverehrung
und Kindschaft unter einem himmlischen Vater.
Ebenso groß ist die Stufenreihe im Verhältnis der Religionen zur
Sittlichkeit. Man darf aus ihnen noch nicht auf die religiös-sittliche
Anlage der betreffenden Völker schließen. Bei den Griechen z. B.
war die Sittlichkeit von der Religion wesentlich unabhängig und hing jedenfalls
enger mit der idealen Auffassung des Staates zusammen.
Auch halte man Völker, die es nicht über eine Naturreligion „hinausbrachten“,
deshalb noch nicht für geistig oder sittlich geringer angelegt; es war
ein Schicksal, daß sich bei ihnen die Religion auf einem sehr naiven Stadium
ihrer Geschichte fixierte und daß später dann nicht mehr dagegen
aufzukommen war. Denn der Moment der Fixierung ist bei der Religion wie beim
Staatswesen von entscheidender Wichtigkeit und unabhängig vom Wollen oder
Laufen der Völker.
Was die Entstehung der Religion betrifft, so scheint eine große Unmöglichkeit
obzuschweben, uns die primitive Entbindung des Geistigen überhaupt vorzustellen;
denn wir sind später abgeleitete Leute. Gegen das primus
in orbe deos fecit timor wendet sich Renan,
indem er ausführt, daß, wenn die Religionen bloß durch Berechnung
des Schreckens entstanden wären, der Mensch nicht in seinen erhöhten
Momenten religiös sein würde; sie seien auch nicht, wie die italienischen
Sophisten des 16. Jahrhunderts glaubten, durch die Einfältigen und Schwachen
erfunden, sonst wären nicht die edelsten Naturen die religiösesten;
vielmehr sei die Religion eine Schöpfung des normalen Menschen. So richtig
dies ist, gibt es doch Religion der Bangigkeit genug. Wir finden bei den Urvölkern
einen teils verehrenden, teils erschrockenen Kult von Naturgegenständen,
Naturkräften und Naturerscheinungen, sodann den Kult der Ahnen und den
Kult von Fetischen, wobei der Mensch das Gefühl seiner Abhängigkeit
in einen einzelnen, ihm individuell gehörenden Gegenstand legt. Diese Religionen
entsprechen zum Teil unheimlichen Kinderträumen, deren Schreckgestalten
versöhnt werden, zum Teil dem Staunen vor den Himmelslichtern und Elementen;
sie sind bei den Nationen, die noch keiner Literatur fähig sind, die bisweilen
einzige Urkunde des Geistes.
Religionsstifter
Richtiger als die Annahme eines ursprünglichen Gottesbewußtseins
ist jedenfalls die eines langen, unbewußten metaphysischen Bedürfnisses.
Ein großer oder schrecklicher Moment oder ein zum Religionsstifter begabter
Mensch bringt dies zum Bewußtsein; das, was in den begabteren Stammesgenossen
ohnehin schon verhüllt lebt, findet seinen Ausdruck; der Prozeß kann
sich bei Neumischung und Trennung der Völker wiederholen.
Entscheidend ist jedenfalls das Gefühl der Abhängigkeit von einem
Gewaltigeren, das Bangen mitten im Gefühl der subjektiven Kraft und Gewalttat.
Da nun der Anlässe zum Schrecken, d. h. zur Versöhnung des Furchtbaren
viele sind, so hat die stärkste Präsumption [Voraussetzung, Annahme]
der Priorität der Polytheismus für sich; jene Einheit des primitiven
Gottesbewußtseins ist nichts als ein Traum.
Das Urgefühl des Bangens war vielleicht ein großartiges; denn sein
Objekt war das Unendliche; dagegen gewährte der Beginn der Religion eine
Begrenzung, Verkleinerung, Definition, welche etwas sehr Wohltuendes haben mochte,
man glaubte vielleicht plötzlich zu wissen, wie man dran sei. Die Angst
mochte sich dann im Fetisch- und Dämonendienst ihren neuen Winkel suchen.
Wie weit sind die Religionen gestiftet? Jedenfalls
sind sie wesentlich als die Schöpfungen einzelner Menschen oder einzelner
Momente, d. h. eben der Fixierungsmomente ruckweise, strahlenweise entstanden.
Ein Teil der Menschen hält mit, weil der Stifter oder das Ereignis gerade
den Punkt des metaphysischen Bedürfnisses getroffen hat, der in den lebendigsten
Menschen empfunden wird, die große Masse hält mit, weil sie nicht
widerstehen kann, und weil alles Bestimmte ein Königsrecht hat gegenüber
dem Dumpfen, Unsicheren und Anarchischen. Diese Massen hangen freilich hernach
auch am festesten und mühelosesten an der äußeren Form und den
Begehungen der betreffenden Religion und halten sie (sintemal ihnen der Kern
jeder Religion unzugänglich bleibt) aufrecht, bis eine stärkere Macht,
welche genugsam Schale gewonnen hat, so daß sie sich nun hieran halten
können, sie auch äußerlich umstößt, worauf sie sich
dieser anschließen.
Allmählich können die Religionen nicht
wohl entstanden sein; sonst besäßen sie den siegreichen Glanz
ihrer Blütezeit nicht, welcher der Reflex eines großen einmaligen
Momentes ist. Die uns historisch bekannten nennen ihre Stifter oder Erneuerer
(d. h. Lenker großer Krisen), und selbst die teilweisen Naturreligionen
und polytheistischen Religionen können durch bloßes späteres
Zusammenschmelzen früher entstandener, einmal gestifteter Kulte entstanden
sein. Es waren teils plötzliche, teils allmähliche Wandlungen und
Reunionen, aber kein allmähliches Entstehen.
Bisweilen verflicht sich ihr Entstehen mit dem eines Staates; ja die Religion
gründet den Staat (Tempelstaaten). Ob sie sich ihn erst später dienstbar
macht, und wie sie sich sonst zu ihm verhält, wird später zu erörtern
sein.
Geeignete Völker und Kulturstufen
Welches sind die geeigneten Völker und Kulturstufen? Das metaphysische
Bedürfnis haben alle Völker und alle Zeiten und alle halten eine einmal
ergriffene Religion fest.
Allein zum ersten Festwurzeln einer Religion, welche über das Gewöhnliche
hinausgeht, taugen weniger die Völker des Weltlebens und der Arbeit als
die der Kontemplation, die, welche mit weniger Arbeit schon ihr Leben gewinnen,
daher auch eine Art von Bildung sehr allgemein sein kann, ohne die Scheidung
der jetzigen Zeit in Gebildete und Nichtgebildete; ferner Völker von großer
Sobrietät [Enthaltsamkeit, Mäßigkeit] und nervöser Erregbarkeit,
bei welchen ein feiner, präziser Geist herrschen kann, ohne dem Wunder,
dem Übernatürlichen, den Visionen Eintrag zu tun; bei solchen Völkern
kann auch eine längere Vorbereitung, eine religiöse Schwangerschaft
stattfinden. Daß er solche Zustände in concreto
kennt und seiner Geschichte des Urchristentums zugrunde legt, darauf beruht
Renans große Bedeutung.
Völker des Weltlebens und der Arbeit nehmen wohl die Religion aus den Händen
von ekstatisch-kontemplativen Völkern an und erfüllen sie allmählich
mit ihrem Geiste. So noch bei der Reformation England und Holland, die keinen
originalen Reformator hatten und doch an die Spitze des Protestantismus kamen.
Auch Griechen und Römer als Völker des Weltlebens vermochten wenigstens
nicht mehr wie die Hindus ihre Religion aus eigener Kraft umzuwälzen, sondern
waren ad hoc auf Juden (Christen) angewiesen.
Wir begreifen die großen religiösen Krisen schwer, und daher kommt
auch unser ewiger Streit über die spekulativen Ideen in den Religionen.
Den einen werden sie immer urtümlich, den andern später hineingetragen
erscheinen, ohne daß man sich verständigen kann. Jene werden darin
immer Reste einer Urweisheit, ja einer lichteren Jugend des Menschengeschlechts
erkennen, die anderen einen mühsamen späteren Erwerb.
Aber trotz unserer geringen Fähigkeit, uns einen Begriff zu machen von
dem Zustand von Exaltation bei der Geburt einer Religion und zumal von der völligen
Kritiklosigkeit solcher Zeiten und Menschen, ist doch gerade dieser Zustand,
so kurz er dauern mag, für die ganze Zukunft entscheidend; er gibt der
betreffenden Religion ihre Farbe und ihre Mythen, — ja bisweilen schon
ihre Einrichtungen und ihr Priestertum.
Die späteren ,,Einrichtungen“ einer Religion sind nämlich einzelne
Reste oder Nachklänge aus dem Gesamtzustand bei ihrer Entstehung, wie denn
z. B. die Klöster der Rest des anfänglichen gemeinsamen Lebens der
Urgemeinde sind.
Sodann mag aus Gründern und Zeugen der Entstehung einer Religion durch
Ergänzung ein bleibendes Kollegium entstehen, — und hiermit mag Zusammentreffen
das Bedürfnis einer Korporation für die heiligen Begehungen, mit allmählichem
Alleinrecht auf Opfer, Bann usw.
Bei späteren Religionen mag dergleichen noch historisch nachweisbar sein; die alten Religionen dagegen werden uns überliefert als kaum entrollbares Konvolut von Metaphysischem, alten Trümmern früherer geschichtlicher und Kulturüberlieferung, alten Volkserinnerungen aller Art, längst als eins geschaut von den betreffenden Völkern selbst, ja zum allgemeinen, untrennbaren Sinnbild ihrer Psyche geworden.
Einteilung
der Religionen
Die Religionen werden von Lasaulx in die drei folgenden großen Gruppen
eingeteilt:
a) die pantheistischen Systeme des Orients und
die polytheistischen des Occidents, jene mit den Indern, diese mit den Hellenen
als höchsten Repräsentanten,
b) den Monotheismus der Juden und dessen Nachzügler,
den Islam (wobei Lasaulx auch den persischen Dualismus hätte unterbringen
müssen),
c) die Trinitätslehre, die von Anfang an nicht
als nationale, sondern als Weltreligion (wobei sie freilich auch ein Weltreich
vorfindet) auftritt. (Dies Auftreten als Weltreligion gilt aber auch vom Buddhismus.)
Dieser Einteilung nach Grundanschauungen und Ursprüngen ließe sich
aber mehr als eine andere gegenüberstellen, so vor allem eine, welche nicht
nur die Religionen zueinander anders gruppiert, sondern auch durch die einzelnen
Perioden und Bekennerschichten einer und derselben Religion mitten durchschneidet.
Es würden sich hiernach ergeben:
a) Religionen, welche ein stark betontes, vergeltendes
Jenseits und außerdem etwa noch eine Eschatologie
haben, und
b) solche, die dies wesentlich oder ganz entbehren, wie die der Griechen, welche
bei ihrer hellen Einsicht in das Menschliche und in die Grenzen des Individuellen
nur ein farbloses Jenseits statuierten und wenig
daran dachten, die Eschatologie aber als ein physisches Problem den Philosophen
überließen. Diese Philosophen aber hingen zum Teil der dritten Lösung
an, nämlich
c) der Metempsychose, deren offenes oder verschwiegenes
Korrelat die Ewigkeit der Welt ist. Dies ist der
große Glaube der Inder, der u. a. in der Albigenserlehre in das Abendland
einzudringen versucht; Buddha aber will
d) die Menschen auch von dieser Art des Weiterlebens durch Nirwana
erlösen.
Eschatologie
Höchst merkwürdig ist das ungemein starke Zusammenstimmen in der Grundidee
des Weltuntergangs bei Christen und Skandinaven, um so mehr, als die letzteren
daneben vom persönlichen Jenseits des einzelnen keinen sonderlichen Gebrauch
machen und ihr Walhalla auf gefallene Helden beschränken. Die großartige;
umständliche Eschatologie, welche sich bei Otto von
Freisingen auf die biblische Lehre vom Antichrist kurz vor dem Weltuntergang
oder von der Losgebundenheit Satans nach den tausend Jahren seiner Fesselung
aufbaut, gibt im ganzen die Ansichten des christlichen Mittelalters über
diese Dinge. Nach der skandinavischen Tradition sind es drei Jahre der äußersten
sittlichen Verderbnis, welche den großen Erdkatastrophen vorangehen. Diese
Verfinsterung der sittlichen Mächte ist die Verfinsterung der Götter,
Ragnarök, mit welchem Worte also nicht die Folge, sondern die Ursache des
Untergangs der Welt bezeichnet wird. Die Götter, und die von ihnen in Walhalla
gesammelten Helden, fallen dabei im Kampfe gegen die Mächte der Nacht,
und es erfolgt der Weltbrand, worauf freilich endlich die neugeborene Welt mit
einem neuen, ungenannten obersten Gotte und dazu auch ein verjüngtes Menschengeschlecht
kommt. Zwischen beiden Vorstellungen steht der Muspilli, wo Elias mit dem Antichrist
streitet, aber, indem er ihn tötet, selbst verwundet wird, aus seinem Blut,
sobald es auf die Erde träuft, sofort der Weltbrand entsteht. Die gemeinsame
Anschauung bei Christen und Skandinaven ist: das Ideal weiß gleichsam,
daß auch wenn es sich verwirklicht hat, tödliche Feinde drohen, die
stärker sein und ihm den Untergang bringen werden, worauf dann aberbald
(nach Cyrill von Jerusalem nach dreiundeinhalbjähriger,
auch nach Otto von Freisingen nach zweiundvierzigmonatlicher
Herrschaft des Antichrists) die allgemeine Vergeltung folgt. Das Ideal fühlt,
daß es zu heilig für diese Welt sei.
Priestermacht
Mit diesem stärkeren oder schwächeren Hereinragen der Lehre vom Jenseits
und den letzten Dingen hängt bisweilen, obgleich nicht immer, die größere
oder geringere Ausbildung der Priestermacht zusammen, als welche über die
Verbindung mit diesem Jenseits mehr oder weniger zu verfügen hat. Diese
mag freilich auch noch andere, diesseitige Quellen und Gründe haben, so
die Kraft ihres Rituals zum Götterzwang, die Theurgie, die Leitung von
Gottesurteilen zur Ermittelung von Tatbeständen, endlich die Verflechtung
von Priestertum und Heilkunde, teils durch das nähere Verhältnis zu
den Göttern, teils durch priesterliche Wissenschaft, teils durch die Anschauung,
daß Krankheiten Strafen für Begangenes — auch in einem früheren
Dasein Begangenes — oder Wirkungen von Dämonen seien, denen der Priester
begegnen könne . Von selbst versteht sich schließlich die Macht der
Priester von Staats- oder Volksreligionen.
Missionierung
Missionieren werden im ganzen nur Jenseitsreligionen und nicht einmal diese
alle, z. B. taten es die Ägypter und Zendleute nicht. Der Eifer des Missionierens
ist nicht bloß von der Stärke einer Religion bedingt, denn gerade
sehr starke Religionen begnügen sich etwa, das, was nicht ist wie sie,
zu verachten, zu vernichten, höchstens zu bemitleiden, — sondern
er ist bedingt von ihrem Inhalt und zwar wesentlich von ihrem jenseitigen, denn
wegen des Erdenlebens nähme man sich die Mühe nicht und würde
auch schwerlich viele Proselyten machen.
Es drängt sich daher die Frage auf, ob das Judentum, als es sich 50 v.
Chr. bis 50 n. Chr. im vorderen Orient und im Imperium ausdehnte, nicht etwa
eine pharisäische Jenseitslehre in sich hatte. Oder schloß man sich
daran auch ohne Mission von seiner Seite? Vertraten irdisch messianische Hoffnungen
das Jenseits?
Jedenfalls bezogen sich sämtliche orientalische Mysterienkulte, die im
Imperium Eingang fanden, auf das Jenseits. Und das Christentum selbst wirkte
bei den Römern wesentlich durch seine Verheißung der seligen Unsterblichkeit.
Ja vielleicht haben überhaupt nur die Jenseitsreligionen, die zugleich
dogmatisch stark ausgestattete Religionen sind, diejenigen eifrigen Persönlichkeiten
im Vorrat, welche entweder werben oder alles zersprengen müssen. Besonders
aus den Proselyten selbst, die vorher heftige Gegner waren, erwachsen die eifrigsten
Boten.
Ganz logisch und nur scheinbar paradox rechnen wir hierher auch die Verbreiter
des Buddhismus, welcher die orientalische Gestalt des Jenseits, die Seelenwanderung,
stille zu stellen verspricht.
In vollem Gegensatz aber zu den missionierenden Religionen steht der klassische,
besonders der römische Polytheismus, welcher wohl seine Götter in
den Westen verbreitet, hauptsächlich aber die Götter anderer Völker
in sein Pantheon einlädt. Er ist eine Nationalreligion, welche zur Reichsreligion
geworden ist, sich aber dabei stark modifiziert hat.
National-
und Weltreligionen
Und hier kommen wir nun auf den Gegensatz der Nationalreligionen
und der Weltreligionen, welcher mit dem durch das Verhalten zum Jenseits
bedingten Gegensatz teilweise koinzidiert.
Beide geben das Menschlich-Übermenschliche auf ganz verschiedenen
Stufen, die einen mit Hülle, die anderen ohne Hülle.
Die Nationalreligionen sind die früheren. Sie sind mit Erinnerungen, Kultur
und Geschichte der betreffenden Völker eng verflochten, haben Götter,
welche dieses bestimmte Volk oder diesen bestimmten Staat zu schützen oder
zu schrecken haben, sind in ihrem Benehmen heroisch und stolz, solange das Volk
gedeiht, lassen allenfalls eine allgemeine Hoffnung wie die zu, daß einst
alle Völker auf Moriah zur Anbetung Jehovas erscheinen werden, sind aber
einstweilen national abgegrenzt, ja durch eine heilige Sprache ebensowohl im
Innern gestärkt als nach außen isoliert und einstweilen auch nicht
proselytisch; gegen andere sind sie bald, wie wir dies soeben von den Griechen
und Römern gesehen haben, polytheistisch freundlich, einladend, Affinitäten
erkennend, zum Göttertausch geneigt, bald verachtungsvoll, doch mit Ausnahme
der Perser nicht verfolgerisch.
Diesen gegenüber stehn die Weltreligionen: Buddhismus, Christentum und
Islam. Sie sind spät gekommen; ihr stärkstes Vehikel ist meist ein
soziales, indem sie die Aufhebung von Kasten mit sich bringen, und sich als
Armenreligionen und Sklavenreligionen, daher an sich auch antinational, geben,
während der Islam eine Religion von Siegern ist.
Sie abstrahieren von einer heiligen Sprache und übersetzen ihre Urkunden,
ausgenommen der Islam, der seinen Koran arabisch behauptet und die Völker
zu einer beschränkten Kenntnis des Arabischen zwingt. Nur eine beschränkte
Beibehaltung einer heiligen Sprache ist es, wenn der katholische Kultus mit
einem großartigen praktischen Zweck das Lateinische beibehalten hat, und
ein vereinzelter Fall ist das merkwürdige Schicksal der koptischen Nationalsprache,
die dadurch zur heiligen Sprache geworden ist, daß die Kopten, die jetzt
nur noch Arabisch sprechen und verstehen, die ehemals ins Koptische übersetzten
heiligen Schriften und Ritualien in dieser ihnen nun unverständlichen Landessprache
beibehalten haben.
Die Weltreligionen sind es, welche die größten historischen Krisen
herbeiführen. Sie wissen von Anfang an, daß sie Weltreligionen sind,
und wollen es sein.
Bedeutung
der Religionen
Enorm verschieden ist die Bedeutung der verschiedenen
Religionen im Leben. Vergleichen wir sie zunächst
untereinander, so finden wir die einen fast ohne
kenntliche Dogmen. Sie haben keine Urkunden gehabt oder sie verloren und die
Poesie und Kunst dafür angenommen; sie sind zufrieden mit gelinderer oder
strengerer Verehrung und Sühnung der Götter, mit prichtigeren oder
mäßigeren Zeremonien; das Leben ist wenig von der Religion bedingt.
Philosophie und Aufklärung mögen eine solche Religion frühe zersetzen
und ausschwatzen, so daß wir alles erfahren.
Die andern haben Urkunden, einen Priesterstand, einen strengen Ritus bis ins
Kleinlichste hinein; ihr Dogmatismus mag sehr künstlich sein, sich rechts
in Sekten und links in Philosophie verlaufen, — das Volk erfährt
wenig davon und begnügt sich mit der äußeren Schale. Aber sein
Leben kann hart und fest in den Kultus eingeschnürt sein, so die Brahminenreligion.
Endlich kommen die großen, wesentlich dogmatischen Weltreligionen, wo
das Dogma (nicht, wie dort, der Ritus) die einzelne Seele zu beherrschen verlangt.
Die Taxation des Irdischen hat sich hiermit abzufinden wie sie kann.
Viel schwieriger aber ist die Beurteilung des jeweiligen
Geltungsgrades einer und derselben Religion nach Zeiten und nach Schichten
ihrer Bekenner.
Zeitlich hätte man etwa zu unterscheiden das primäre Stadium des originalen
Glaubens oder das naive Stadium, das sekundäre, da der Glaube Tradition
geworden, und das tertiäre, da er sich bereits auf sein Altertum beruft
und zugleich aufs stärkste mit den nationalen Erinnerungen verflochten,
ja stellenweise der nationale Anhalt geworden ist.
Von der schichtweisen Geltung der Religion wäre
etwa zu sagen, daß die Religionen der höheren Kulturvölker immer
auf diesen drei und auf noch viel mehr Stadien zugleich leben, je nach sozialen
Schichten und Kultureinflüssen. Man möge hierbei an den Polytheismus
der gebildeten Römer denken oder an das Christentum von heute, das bei
den einen hierarchisch-äußerlich, bei andern dogmatisch, bei den
dritten fromm-gemütlich, bei vielen zur bloßen Religiosität
verinnerlicht oder verblaßt erscheint.
Groß ist hier die Unsicherheit unseres Urteils.
Es ist uns z. B. zweifelhaft, inwiefern die byzantinische Religion noch Religiosität
gewesen ist, wo neben spitzfindigem dogmatischem Hader der Geistlichen die größte
Veräußerlichung in pathetischem Symboldienst und Zeremoniell und
eine despotische Entwürdigung des Menschen einhergeht. Und doch darf man
auch hier nicht zu früh aburteilen: die besten byzantinischen Eigenschaften
sind immer noch in Verbindung mit jener Religion vorhanden gewesen, welche auch
jetzt noch verdient, das Salz der dortigen Erde genannt zu werden.
Auflösung
Und nun die Auflösung der Religionen und ihre Gegenwehr.
Eine Religion gründet z. B. früh ein heiliges Recht, d. h. sie verschlingt
sich enge mit einem ganzen, von ihr garantierten öffentlichen Zustand,
oder sie gründet ihre Hierarchie neben den Staaten, aber im politischen
Rapport mit ihnen. Diese ihre äußeren Einrichtungen, enge mit allem
Materiellen verflochten und auf die Massen und deren Gewöhnung gestützt,
können eine solche Religion unendlich lang äußerlich aufrechterhalten,
wie alte Bäume, innen ganz morsch, von ihrer Rinde und ihren Blättern
leben und noch große Figur damit machen; der Geist aber ist schon lange
teilweise daraus gewichen und nur noch nicht im Besitz eines neuen klar bewußten
metaphysischen Elementes, auf welches er eine neue, des Kampfes und Sieges fähige
Gegenreligion aufbauen könnte.
Was er inzwischen einzelnes aufstellt, heißt dann Häresie und wird
als solche verfolgt oder doch exekriert.
Auch die schärfst beaufsichtigten Völker, deren ganzer Gedankenkreis
sorgfältig auf die herrschende Religion orientiert schien, fallen bisweilen
plötzlich schichtweise der Häresie anheim. Man denke an die unter
dem Einfluß des Manichäismus entstandene Häresie der Mazdak
im Sassanidenreiche, die staatengründenden Häresien des Islams, die
Albigenser des 12. und 13. Jahrhunderts, diese Neumanichäer mit ihrem Seelenwanderungsglauben,
der zu der Frage verführen könnte, ob die Metempsychose nicht vielleicht
bestimmt sei, noch einmal das Christentum zu durchkreuzen. Jedesmal ist die
Häresie ein Zeichen, daß die herrschende Religion dem metaphysischen
Bedürfnis, das sie einst geschaffen, nicht mehr genau entspricht.
Sehr verschieden ist nun die Widerstandskraft der
Religionen je nach der Schicht oder Macht, welche sie verteidigt. Kleinstaaten,
wo die sacra enge mit dem Bürgertum oder Staat
verflochten sind, können eine neue Ketzerei oder Religion vielleicht besser
abwehren als große Weltreiche mit nivellierter Kultur und allgemeinem
Verkehr, welche die Kleinstaaten unterworfen haben, weil dieselben schon müde
waren. Solchen ist auch vielleicht schon die Bändigung der Einzelvölker
eben darum leichter geworden, weil sie ihnen ihre Religion ließen. Das
Christentum wäre durch die Poleis des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. schwer
durchgedrungen; das römische Imperium öffnete ihm alle Pforten und
wehrte sich dann nur politisch dagegen.
Und nun hat es zwar sehr leichte, rasche und massenhafte Übergänge
von Religion zu Religion gegeben; in Thesi aber verlangen alle Religionen mindestens
so ewig zu sein als die sichtbare Welt, und jede
hat einen bleibenden menschlichen Gehalt in sich, welcher sie hiezu teilweise
berechtigt.
Religiöse
Kämpfe und Verfolgungen
Schrecklich sind nun die religiösen Kämpfe,
zumal bei den Religionen, wo der Gedanke des Jenseits sehr vorherrscht, oder
wo die Sittlichkeit sonst total an die gegebene Religionsform gebunden erscheint,
oder wo die Religion sehr stark national geworden ist und in und mit ihr ein
Volkstum sich verteidigt. Am schrecklichsten geht es gerade bei den zivilisierten
Völkern zu: die Mittel des Angriffs und der Verteidigung haben keine Grenzen;
die gewöhnliche Sittlichkeit und das Recht werden dem ,,höheren Zweck“
zu Gefallen völlig suspendiert, Transaktionen und Vermittelungen verabscheut;
man kann nur alles oder nichts haben.
Was das Entstehen von Verfolgungen betrifft, so
ist zunächst ein Urstadium zu konstatieren in der Bestrafung der Blasphemie:
man fürchtet von den Lästerungen eines Gottesfeindes eine Strafe der
Gottheit und wünscht ihr deshalb den Betreffenden auszuliefern, um nicht
mitleiden zu müssen. Solches kann — man möge an die athenischen
Asebieprozesse denken — bei den tolerantesten Polytheismen vorkommen,
sobald sie direkt Trotz erfahren.
Hievon wesentlich verschieden ist das Verfahren besonders von Weltreligionen
und Jenseitsreligionen.
Diese erwidern nicht bloß geschehene Angriffe, sondern bekämpfen
schon das bloße, wenn auch geheime Dasein
einer von der ihrigen abweichenden Metaphysik mit den äußersten Mitteln,
solange sie können.
Die Zendreligion begehrt zwar nicht zu bekehren, zeigt aber ihren äußersten
Haß gegen alles, was nicht Ormuzdlehre ist; Kambyses zerstört die
ägyptischen Tempel und tötet den Apis; Xerxes verwüstet die Heiligtümer
Griechenlands.
Auch der Islam missioniert nicht oder doch nur zeit- und stellenweise; solange
er kann wenigstens, dehnt er sich nicht durch Mission, sondern durch Eroberung
aus und findet das Dasein zinsender Giaurs sogar bequem, tötet sie aber
durch Verachtung und Mißhandlung und massakriert sie in Wutanfällen
auch etwa.
Das Christentum aber verlangt seit dem 4. Jahrhundert, Seele und Gewissen des
einzelnen für sich allein zu besitzen, und nimmt, wovon später noch
die Rede sein soll, den weltlichen Arm in Anspruch, als verstände sich
dies von selbst, gegen Heiden und ganz besonders gegen christliche Ketzer. Dieselbe
Religion, deren Sieg ein Triumph des Gewissens über die Gewalt war, operiert
nun auf die Gewissen mit Feuer und Schwert los.
Furchtbar ist die Stärke seiner Affirmation. Der Märtyrer wird, wenn
er seine Qualen überlebt hat, konsequent Verfolger, nicht sowohl aus Vergeltung,
als vielmehr, weil ihm seine Sache über alles geht. Ohnehin war vielleicht
sein äußeres Leben wenig wert; er hatte sogar Lust zu leiden und
zu sterben. (Dergleichen auch außerhalb des Christentums, ja außerhalb
der Religion vorkommt, ohne daß damit der geringste Beweis für den
objektiven Wert der betreffenden Sache geleistet wäre.)
Jetzt, mit ihrer unendlichen Bekümmernis für die Seele des einzelnen,
läßt die Kirche demselben nur die Wahl zwischen ihrem Dogma (ihren
Syllogismen) und dem Scheiterhaufen. Ihre schreckliche Voraussetzung ist, daß
der Mensch ein Recht über die Meinungen von seinesgleichen haben müsse.
Subintelligiert oder oft zugestanden wird, daß Irrlehre gleich ewiger
Verdammnis, daher deren Verbreitung über unschuldige Seelen, ja über
ganze Völker, durch alle Mittel zu verhindern sei, daß der Tod, relativ
weniger, nicht in Betracht komme gegen die ewige Verdammnis ganzer Nationen.
Bei den Massen wird allenfalls grobe Unwissenheit des Wahren, bei den Irrlehrern
kaum je etwas anderes als Bosheit vorausgesetzt, indem ja der wahre Glaube völlig
einleuchte. ,,On est bien près de brûler
dans ce monde-ci les gens que l‘on brûle dans l‘autre.“
Seelenrettung geht allem voran, auch durch Kinderraub und gewaltsame
Erziehung.
Von den Kirchenlehrern ist schon St. Augustin für die blutige Verfolgung
der Donatisten: ,,Nicht wir sind es, die euch verfolgen, sondern eure eigenen
Werke“ (d. h. weil ihr euch aus Gottlosigkeit von der Kirche getrennt
habt). ,,Was für ein Unrecht soll darin liegen, wenn diejenigen für
ihre Sünden und auf Befehl der Regierung gestraft werden, welche Gott durch
dies gegenwärtige Gericht und Züchtigung ermahnt, sich dem ewigen
Feuer zu entziehen? Sie sollen zuerst beweisen, daß sie weder Häretiker
noch Schismatiker sind und sich dann beklagen.“ St. Hilarius und St. Hieronymus
äußern sich nicht gelinder, und im Mittelalter verpflichtet und bedroht
Innocenz III. die weltlichen Herren und ladet gegen die Ketzer zu einem Kreuzzuge
ein mit Landprämien und Ablaß wie für das heilige Land. Freilich
wurde man den Gegner —Heiden oder Ketzer — wirklich nur durch materielle
Vernichtung los. Man hat die Albigenser wirklich
ausgerottet.
Die Nemesis lag darin, daß die Kirche mehr und mehr ein Polizeiinstitut
wurde, und daß die Hierarchen danach rochen.
Reformatoren
Die Reformatoren dachten über die ewige Verdammnis
nicht anders als die katholische Kirche, stellten aber die Sache in praxi wesentlich
Gott anheim, etwa schwere Fälle von Blasphemie ausgenommen, womit man wieder
in jenes Urstadium des Verfolgen zurücktrat.
Die großen geistigen Bewegungen des 18. Jahrhunderts machten einen starken
Riß in die Verfolgungen. Abgesehen davon, daß der weltliche Arm
sich nicht mehr hergab, weil ein neuer Begriff des Staates aufgekommen war,
war wohl ganz wesentlich entscheidend, daß — mit unter dem Einfluß
des kopernikanischen Systems — die Beschäftigung mit dem Jenseits
zurücktrat, daß es mauvais genre und Zeichen eines harten Herzens
wurde, sich mit der ,,ewigen“ Verdammnis anderer Seelen abzugeben, und
daß allmählich eine gelinde Seligkeit für jedermann postuliert
werden konnte.
Die Aufklärungsphilosophie und ,,Toleranz“ des 18. Jahrhunderts,
welche eifrige, überzeugte Bekenner und selbst Märtyrer gehabt und
die Geisterwelt umgestaltet hat, ohne daß ein Mensch auf einen Paragraphen
vereidigt gewesen wäre, war freilich ihrerseits auch eine Art von Religion,
was man etwa auch von dieser oder jener Philosophie des Altertums, z. B. von
der Stoa, behaupten könnte: können doch — um das Phänomen
im allgemeinen zu nennen —bloße Denkweisen, ohne Dogma, Versammlungen
und spezielle Verpflichtungen, bei großer Varietät unter ihren Bekennern,
selbst völlig den Wert einer Religion oder Sekte annehmen.
Untergang
der Religionen
Und nun der Untergang der Religionen. Hiezu genügt
noch lange nicht, was man die innere Zersetzung nennt: die geistige Abwendung
einzelner Kategorien der Bevölkerung (sei es als Sekte innerhalb der Bevölkerung
oder als gebildete, reflektierende Sozietät). Ja, es genügt noch nicht
die Anwesenheit einer neuen, dem zeitweiligen metaphysischen Bedürfnis
viel besser entsprechenden Religion.
Sekten können verfolgt und ausgerottet oder ihrer eigenen Unbeständigkeit
und Metamorphose überlassen werden. Die gebildeten Stände, welche
durch Kultureinflüsse der herrschenden Religion entzogen worden sind, kehren
wohl (wie dies das Schicksal fast sämtlicher romanischer Völker ist)
wieder zu ihr zurück oder arrangieren sich wieder mit ihr aus Klugheitsrücksichten
(während beim Volk von altersher die Religion das wesentliche Stück
der Kultur ist). Eine neue Religion kann sich neben die alte stellen, sich mit
ihr in die Welt teilen, aber von sich aus sie unmöglich verdrängen,
selbst nicht, wenn sie die Massen für sich hat — falls nicht die
Staatsgewalt eingreift.
Jede ausgebildete Religion höheren Ranges ist vielleicht relativ ewig (d.
h. so weit ewig, als das Leben der sie bekennenden Völker), wenn nicht
ihre Gegner diese Macht gegen sie aufzubieten vermögen. Vor der Gewalt
unterliegen sie alle, wenn dieselbe konsequent gehandhabt wird, und zumal wenn
es sich um ein einziges, unentrinnbares Weltreich wie das römische handelt.
Ohne Gewalt oder doch ohne gleichmäßig gehandhabte Gewalt leben sie
fort und tränken ihre Macht stets neu aus dem Geiste der Massen, ja am
Ende bekommen sie den weltlichen Arm wieder auf ihre Seite. So die Religionen
des Orients.
Mit Hilfe der staatlichen Gewalt konnte der Buddhismus in Indien durch die Brahminenreligion
ausgerottet werden. Ohne die Kaisergesetzgebung von Constantin bis auf Theodosius
würde die römisch-griechische Religion nach bis heute leben. Ohne
ein wenigstens zeitweises völliges, vom weltlichen Arm gehandhabtes (nötigenfalls
mit den äußersten Mitteln verbündetes) Verbot würde die
Reformation sich nirgends behauptet haben. Sie hat alle diejenigen Territorien
wieder verloren, wo sie diesen Vorteil des weltlichen Arms nicht besaß
und irgendeine beträchtliche Quote von Katholiken mußte fortleben
lassen. So kann selbst eine junge und kräftig scheinende Religion partiell,
gebietweise untergehen, vielleicht für solche Gegenden auf immer. Denn
es fragt sich, ob später wieder ein neuer Andrang mit ,,einem günstigen
Fixierungsmoment“ zusammentreffen wird.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 55, Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Herausgegeben von
Rudolf Marx S.39ff.
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlichem Einverständnis
des Alfred Kröner Verlags, Stuttgart
Die
Kultur in ihrer Bedingtheit durch die Religion
Religion ist Vorbedingung
jeder Kultur
Hohe Ansprüche haben die Religionen auf die Mutterschaft über die
Kulturen, ja die Religion ist eine Vorbedingung jeder Kultur, die den Namen
verdient, und kann sogar geradezu mit der einzig vorhandenen Kultur zusammenfallen.
Zwar entsprechen sie zwei wesentlich verschiedenen Bedürfnissen, dem metaphysischen
und dem geistig-mate¬riellen. Allein in der Wirklichkeit reißt das
eine das andere mit sich und macht es sich dienstbar.
Eine mächtige Religion entfaltet sich in alle Dinge des Lebens hinein und
färbt auf jede Regung des Geistes, auf jedes Element der Kultur ab.
Freilich reagieren dann diese Dinge mit der Zeit wieder auf die Religion; ja
deren eigentlicher Kern kann erstickt werden von den Vorstellungs- und Bilderkreisen,
die sie einst in ihren Bereich gezogen hat. Das »Heiligen
aller Lebensbeziehungen« hat seine schicksalsvolle Seite.
Jede Religion würde, wenn man sie rein machen ließe, Staat und Kultur
völlig dienstbar, d. h. zu lauter Außenwerken ihrer selbst machen
und die ganze Gesellschaft von sich aus neu bilden. Ihre Repräsentanten,
d. h. ihre Hierarchie, würden vollkommen jede andere Herrschaft ersetzen.
Und wenn dann der Glaube Tradition geworden und versteinert ist, darin würde
es der Kultur nicht mehr helfen, wenn sie Fortschritt bleiben und sich ändern
wollte; sie bliebe gefangen.
Diese Gefahr ist besonders groß in den Staaten des heiligen Rechtes; hier
ist es die vereinte Macht von Staat und Religion, welche die Kultur im Zaum
hält.
Außerdem aber kann schon der Inhalt einer
Religion, ihre Lehre, der Kultur, und selbst einer hochangelegten, sehr strenge
und schade Schranken anweisen.
Vor allem kann die Beschäftigung mit dem Jenseits das Diesseits völlig
überschatten. Am Anfang der Geschichte begegnet uns schon die ägyptische
Gräberreligion, die den Ägypter zu so großen Opfern für
sein Grabwesen genötigt hat. Und dann finden wir trübe Kontemplation
und Askese bis zur Verleidung des Erdenlebens erst recht wieder am Ende des
Altertums.
So fing das Christentum an, die römische Kultur nicht bloß zu durchdringen,
sondern sie zu ersetzen. Im 4. Jahrhundert überwindet die Kirche die arianische
Spaltung, und seit Theodosius sind Imperium und Orthodoxie synonym. Und nun
ist nicht nur die Kircheneinheit der Reichseinheit überlegen, sondern die
Kirche verdrängt fast alle andere Literatur; wir erfahren fast nichts mehr
von den profanen Gedankenkreisen; die Askese färbt äußerlich
das ganze Leben; alles stürzt sich in die Klöster; die gebildete alte
Welt, auch vom Staate übel gequält, scheint ehelos ausleben zu wollen.
Kirche und Barbaren führen allein das Wort; Hierarchen sind die mächtigsten
Personen, Kultus und Dogmenstreit, selbst im Volk, die Hauptbeschäftigung.
Doch hatte die Kultur dabei das unaussprechliche Glück, daß wenigstens
nicht im Abendlande (während es in Byzanz allerdings bis zu einem gewissen
Grade der Fall war) Staat und Kirche in ein erdrückendes Eins zusammenrannen,
und daß dann die Barbaren weltliche, zunächst meist arianische Reiche
errichteten.
Der Islam
Dies Zusammenrinnen geschah im Islam, welcher seine
ganze Kultur wesentlich beherrscht, bedingt und färbt. Er hat nur einerlei
unvermeidlich despotisches Staatswesen, nämlich die vom großen Kalifat
auf alle Dynastien wie selbstverständlich übergegangene weltlich-geistliche,
theokratische Machtvollkommenheit. Auch alle Stücke also wiederholen nur
das Weltreich im kleinen, d. h. arabisiert und despotisch. Alle Macht stammt
in dem gleichen Sinne von Gott wie bei den Juden.
Der Islam, der eine so furchtbar kurze Religion ist, ist mit dieser seiner Trockenheit
und trostlosen Einfachheit der Kultur wohl vorwiegend eher schädlich als
nützlich gewesen, und wäre es auch nur, weil er die betreffenden Völker
gänzlich unfähig macht, zu einer andern Kultur überzugehen. Die
Einfachheit erleichterte sehr seine Verbreitung, war aber mit derjenigen höchsten
Einseitigkeit verbunden, welche der starre Monotheismus bedingt, und aller politischen
und Rechtsentwicklung stand und steht der elende Koran entgegen; das Recht bleibt
halbgeistlich.
Das Beste vielleicht, was vom Kultureinfluß des Koran sich sagen ließe,
wäre, daß er die Tätigkeit als solche nicht proskripiert, die
Beweglichkeit (durch Reinen) veranlaßt— worauf die Einheit dieser
Bildung vom Ganges bis Senegal beruht — und ganz wüste orientalische
Gaukelmagie ausschließt.
Aber auch die trübste christliche Kontemplation und Askese war der Kultur
nicht so schädlich als der Islam, sobald man folgendes erwägt:
Abgesehen von der allgemeinen Rechtlosigkeit vor dem Despotismus und seiner
Polizei, von der Ehrlosigkeit aller derer, die mit der Macht zusammenhängen
, wofür die Gleichheit aller, die Abwesenheit von Adel und Klerus keinen
Ersatz gewähren, entwickelt sich ein diabolischer Hochmut gegenüber
dem nichtislamischen Einwohner und gegenüber andern Völkern, bei periodischer
Erneuerung des Glaubenskrieges, ein Hochmut, wodurch man gegen den noch immer
unverhältnismäßig größten Teil der Welt und dessen
Verständnis abgesperrt ist.
Die einzigen Ideale des Lebens sind die beiden Pole: der Fürst und der
zynisch-asketische Derwisch-Sufi, zu denen allenfalls noch der Landstreicher
in Art des Abu Seid kommt. In die Satire, das Landstreichertum und »Büßertum«
mag sich das Freie und Individuelle noch allenfalls flüchten.
In der Bildung fällt auf das Vordrängen der Sprache und Grammatik
über den Inhalt, die sophistische Philosophie, an der nur die häretische
Seite frei und bedeutend ist, dann eine erbärmliche Geschichtswissenschaft,
weil alles außerhalb des Islam gleichgültig und alles innerhalb des
Islam Partei- oder Sektensache ist, und eine im Verhältnis zu ganz ungehemmter
Empirie doch nur mangelhafte Pflege der Naturkunde. Sie haben lange nicht so
viel geforscht und entdeckt, als sie frei gedurft hätten, es fehlte der
allgemeine Drang zur Ergründung der Welt und ihrer Gesetze.
Die Poesie kennzeichnet hier vor allem der Haß des Epischen, weil die
Seele der Einzelvölker darin fortleben könnte; Firdusi ist nur per
Konterbande da. Dazu kommt noch die für das Epos tödliche Richtung
auf das Lehrhafte, die Tendenz, das Erzählende nur als Hülle eines
allgemeinen Gedankens, als Parabel wert zu achten. Der Rest flüchtete sich
in das figurenreiche, aber gestaltenlose Märchen. Ferner gibt es kein Drama.
Der Fatalismus macht die Herleitung des Schicksals aus Kreuzung der Leidenschaften
und Berechtigungen unmöglich; — ja vielleicht hindert schon der Despotismus
an sich die poetische Objektivierung von irgend etwas. Und eine Komödie
ist unmöglich, schon weil es keine gemischte Geselligkeit gibt, und weil
Witz, Spott, Parabel, Gaukler usw. die ganze betreffende Stimmung vorwegnehmen.
In der bildenden Kunst ist nur die Architektur ausgebildet, zuerst durch persische
Baumeister, dann mit Benützung des byzantinischen und überhaupt jedes
vorgefundenen Stiles und Materials. Skulptur und Malerei existieren so gut wie
gar nicht, weil man die Vorschrift des Koran nicht nur innehielt, sondern weit
über den Wortlaut übertrieb. Was dabei der Geist überhaupt einbüßte,
läßt sich denken.
Daneben besteht freilich das täuschende Bild von blühenden, volkreichen,
gewerblichen islamitischen Städten und Ländern mit Dichterfürsten,
edelgesinnten Großen usw., wie z. B. in Spanien unter und nach den Ommayaden.
Aber über jene Schranken hinaus, zur Totalität
des Geistigen, drang man auch hier nicht durch, und Unfähigkeit
zur Wandelung, zur Einmündung in eine andere, höhere Kultur war auch
hier das Ende, wozu dann noch die politisch-militärische Schwäche
gegen Almoraviden, Almohaden und Christen kam.
Die Wirkung der Religionen auf die Kulturen hängt natürlich
sehr von ihrem Geltungsgrad im Leben überhaupt ab, allein nicht bloß
vom gegenwärtigen, sondern auch von den ehemaligen Geltungsgraden. Eine
Religion knickt im entscheidenden geistigen Entwicklungsaugenblick eine Falte
in den Geist eines Volkes, die nie mehr auszuglätten ist. Und wenn dann
später auch alle Pforten in die freie Kultur hinein geöffnet werden,
so ist die Neigung oder doch die beste Neigung für das früher Verwehrte
vorüber. Denn derjenige Moment kehrt nicht wieder, da der betreffende Kulturzweig,
im Zusammenhang mit sonstiger Erhöhung des nationalen Lebens, geblüht
haben würde. Wie große Wälder einmal und dann, wenn ausgerottet,
nicht wieder wachsen, so besitzen oder erwerben Mensch und Volk gewisse Dinge
in der Jugend oder nie.
Übrigens ließe sich in betreff der Kultur überhaupt fragen,
ob wir berechtigt sind, ihre unbedingte Ausbreitung von irgendeinem Stadium
aus für wünschbar zu halten, ob nicht das, was hier geknickt wird
und unentfaltet stirbt, bestimmt ist, bei künftigen Völkern und Kulturen
als völlig Neues und zum erstenmal Geborenes an den Tag zu treten, damit
es einmal naiv vorhanden sei.
Die klassischen Religionen
Am wenigsten hemmend für die Kultur waren die beiden klassischen Religionen
als Religionen ohne Hierarchie, ohne heilige Urkunden und ohne sonderliche Betonung
des Jenseits.
Die griechische Götter- und Heroenwelt war
ein idealer Reflex der Menschenwelt mit göttlichen und heroischen Vorbildern
für jedes hohe Streben und für jeden Genuß. Es war eine Vergötterung
der Kultur und doch keine Versteinerung derselben, wenn aus dem Feuergott der
vielkundige Schmied, aus der Blitz- und Kriegsgöttin die Schützerin
jeder Kultur und Kunst und der klaren und besonnenen Menschen, aus dem Herdengott
der Herr der Straßen, aller Botschaft und alles Verkehrs wurde. Die Römer
vergöttlichten vollends jedes irdische Treiben bis auf die
pulchra Laverna hinab.
Bei den Alten setzte die Religion dann jeder weiteren Entwicklung der Gedankenwelt
nur geringen Widerstand entgegen; da, wo die Poesie als Erzieherin den Menschen
entließ, durfte ihn die Philosophie in Empfang nehmen und zum Monotheismus,
Atheismus, Pantheismus führen.
Unvermeidlich höhlte sich dann wohl die dennoch fortlebende Religion zum
bloßen Massenglauben, zur verkommenden Mantik und Goetie aus, und diese
schlug dann seit dem 2. Jahrhundert ihre schwarzen Fittiche wieder um die ermattete
Kultur. Die späte Konkurrenz dieser Religion mit dem eindringenden Christentum
mußte zur Niederlage führen.
Künste und Kultus
Gesondert ist nun noch in ihrer Bedingtheit durch die Religion die
Kunst zu betrachten.
Die Künste, welches auch ihr Ursprung sei, haben jedenfalls ihre wichtigste,
entscheidende Jugendzeit im Dienste der Religion zugebracht.
Schon vorher müssen oder können existiert haben: Nachbildungen des
Wirklichen in plastischer wie in flacher Darstellung mit der Farbe, Ausschmückungen
des Gebauten, Anfänge von erzählendem Dichten und von Seelenausdruck
im Gesang, vielleicht auch schon ein sehr künstlicher Tanz; wenn auch eine
Art von Religion schon daneben existierte, so waren diese Dinge doch noch nicht
in deren Dienst.
Allein nur Religion und Kultus brachte diejenigen feierlichen Schwingungen in
der Seele hervor, welche imstande waren, in dies alles das höchste Vermögen
hineinzulegen; sie erst brachten in den Künsten das Bewußtsein höherer
Gesetze zur Reife und nötigten den einzelnen Künstler, der sich sonst
hätte gehen lassen, zum Stil; d. h. eine einmal
erreichte Höhenstufe wird festgehalten gegenüber dem daneben weiterlebenden
Volksgeschmack (welcher vielleicht von jeher für das Süßliche,
Bunte, Grauenvolle usw. würde gestimmt haben).
Zugleich ergab sich dabei eine Entbindung von der religiösen Angst; die
Gestaltung der Götter sicherte vor dem Grauenbild, der Hymnus läuterte
die Seele.
Auch die Despoten mochten dann die priesterlich entstandene Kunst wohl für
sich ausnützen.
Allein die Kunst wird dann mit der Zeit nicht bloß auf einer gewissen
Höhe erhalten, sondern auch nach oben festgehalten, d. h. die weiteren,
höheren Entwicklungen werden einstweilen abgeschnitten durch hieratische
Stillstellung, das einmal mit enormer Anstrengung Erreichte gilt als heilig,
wie besonders am Anfang und am Ausgang der alten Kulturwelt Ägypten und
Byzanz lehren.
Ägypten ist dabei geblieben, hat die Schritte zum Individuellen nie machen
dürfen und ist unfähig geworden, überhaupt in ein Neues auszumünden
und überzugehen. »Sint, ut sunt, aut non sint« muß man
von seinen Künstlern sagen.
Die allergrößte Knechtung einer ehemals großen und viel¬leicht
bei Freiheit immer noch großer Dinge fähigen Kunst aber findet sich
in Byzanz; hier ist fast nur das Heilige erlaubt und nur in patentierter Auswahl
und Darstellungsweise, mit feststehenden Mitteln; die Kunst wird typischer als
sonst je.
Anderswo, wie im Islam, wird die Kunst durch die Religion gewaltsam reduziert,
ja völlig verneint, wie dies der Kalvinismus und Puritanismus tun, wo die
kirchliche Bilderflucht sich unvermeidlich auch auf das Leben überhaupt
ausdehnt.
Die Griechen aber durchbrachen, während der hieratische Stil noch immer
fortdauerte, die Schranken, und zwar noch immer im Dienste des Kultus. Es kamen
der große, freie Stil der höchsten Blütezeit, sodann eine reiche
Ge¬schichte der künstlerischen Wandelungen, zugleich die Oberleitung
der Kunst auch auf das Profane und endlich die auf die Verherrlichung des Individuellen
und Momentanen.
Die Ablösung der einzelnen Künste vom Kultus möchte nach ihren
Stadien aber etwa folgende gewesen sein:
Zuerst macht sich die Poesie im wesentlichen los
und entwickelt eine neutrale, heroische, lyrische Welt des Schönen; ja
bei Hebräern und Griechen auffallend früh auch eine didaktische Dichtung.
Die Religion kann sie am frühesten entbehren und entlassen; denn mit den
ihr nötigen Ritualien wird sie längst versehen sein und vielleicht
die in ihrer Urzeit entstandenen am liebsten beibehalten, woneben sich dann
noch eine freie Poesie erbaulichen Inhalts behaupten mag, indem ein freies Walten
der Phantasie über das Heilige keine Bedenken hat. Ein Gefäß
des Mythus, wo er existiert, bleibt außerdem noch das Volksepos, weil
der Mythus von der bloßen Volkssage nicht zu trennen ist. Die profane
Poesie aber wird nun um so mehr Bedürfnis, als alle für Haltbarkeit
und Überlieferbarkeit bestimmten Aufzeichnungen überhaupt auf die
poetische Form angewiesen sind.
Dann trennt sich ein Gebiet der Erkenntnis nach dem andern von der Religion,
wenn diese nicht durch ein heiliges Recht Herrin bleibt, und endlich entsteht
eine ganz profane Wissenschaft.
Und doch spricht eine Ahnung dafür, daß alles Dichten und aller Geist
einst im Dienste des Heiligen gewesen und durch den Tempel hindurchgegangen
ist.
Länger dagegen und für einen wichtigen Teil ihres Schaffens auf immer
bleibt die bildende Kunst im Dienste der Religion,
oder doch eng mit ihr verbunden (denn die Sache hat, wie wir später sehen
werden, zwei Seiten).
Die Religion bietet der Architektur ihre höchste Aufgabe und der Skulptur
und Malerei einen anerkannten, überall verständlichen Gedankenkreis,
eine homogen über weite Lande verbreitete Beschäftigung.
Enorm ist aber der Wert des Gleichartigen in der Kunst für die Bildung
der Stile; es enthält die Aufforderung, im Längstdargestellten ewig
jung und neu zu sein und dennoch dem Heiligtum gemäß und monumental,
woher es denn kommt, daß die tausendmal dargestellten Madonnen und Kreuzabnahmen
nicht das Müdeste, sondern das Beste in der ganzen Blütezeit sind.
Keine profane Aufgabe gewährt von ferne diesen Vorteil. An ihnen, die eo
ipso stets wechseln, würde sich nie ein Stil gebildet haben; die jetzige
profane Kunst lebt mit davon, daß es heilige Stile gegeben hat und noch
gibt; man kann sagen, daß ohne Giotto Jan Steen anders und vermutlich
geringer wäre.
Endlich bietet die Religion der Musik einen unvergleichlichen
Gefühlskreis; freilich kann, was die Musik innerhalb desselben schafft,
in seiner Halbbestimmtheit die Religion selber lange überleben.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 55, Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Herausgegeben von
Rudolf Marx S.98ff.
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlichem Einverständnis
des Alfred Kröner Verlags, Stuttgart
Der Staat in seiner Bedingtheit durch die Religion
Religion ist das hauptsächliche
Band der menschlichen Gesellschaft
So wie es noch spät anerkannt wird, daß die Religion das hauptsächliche
Band der menschlichen Gesellschaft sei, indem nur sie eine genügende Hüterin
desjenigen moralischen Zustandes sei, welcher die Gesellschaft zusammenhalte,
so ist gewiß bei den Gründungen der Staaten — vermutlich nach
furchtbaren Krisen — die Religion mächtig mitbestimmend gewesen und
hat von daher einen dauernden Einfluß auf den ganzen Lebenslauf des Staates
beansprucht.
Durch diese Verflechtung erklärt sich die Entstehung eines heiligen, von
den Priestern befestigten Rechtes; der Staat sollte dadurch eine größtmögliche
Haltbarkeit bekommen; Herrschern und Priestern war damit anfangs gleichmäßig
gedient.
Das Unglück dabei war, selbst wenn die jetzt verdoppelte Macht nicht schon
von selbst zu doppeltem Mißbrauch eingeladen hätte — die Hemmung
alles Individuellen. Jeder Bruch mit dem Bestehenden wird zugleich ein Sakrilegium
und daher mit höchst grausamen Strafen und Henkerserfindungen geahndet;
eine weitere Entwickelung ist bei dieser heiligen Versteinerung nicht möglich.
Heiliges Recht
Die Lichtseite ist, daß in Zeiten, wo das Individuelle gebändigt
wird, durch die Staats- und Priestermacht wirklich Großes geschehen kann,
daß große Zwecke erreicht werden, viel Wissen gewonnen wird, und
daß die ganze Nation darin ihren Ausdruck, ihr Pathos und ihren Stolz
gegenüber anderen Völkern zu finden vermag. Die Völker des heiligen
Rechts sind wirklich für etwas dagewesen und haben eine mächtige Spur
zurückgelassen; es ist höchst wichtig, wenigstens ein
solches zu studieren und zu betrachten, wie hier die Individualität
des einzelnen gebunden und nur das Ganze individuell ist
Das heilige Recht gehört im höchsten Sinne zu den Schicksalen der
Völker, die ihm je gedient haben. Zur Freiheit allerdings taugen sie nie
mehr; die Knechtschaft der frühesten Generationen wirkt im Geblüt
bis heute nach. Wie aber die geistige Kultur bei diesem Zustande gehemmt wird,
haben wir früher am Beispiele des alten Ägyptens gesehen.
Lehrreich im höchsten Maße sind die heiligen Bücher nämlich
nicht allein, sondern erst in Verbindung mit der Gegenrechnung dessen, was bei
einem solchen Volke verhindert und unterdrückt worden ist.
Dazu kommt noch, daß über kurz oder lang unfehlbar die Despotie Meister
zu werden und die Religion als ihre Stütze zu mißbrauchen pflegt.
Tempel- und Orakelstaaten
Besondere Schattierungen stellen die Tempel- und Orakelstaaten Vorderasiens
- eingerechnet das Ammonium — dar. Hier ist, freilich für einen nur
kleinen Kreis, die Religion das Gründende, Alleinherrschende Eine Bürgerschaft
besitzen sie selten, meist: aber Tempelsklaven, teils durch Schenkung, teils
aus Stämmen, welche dem Gott irgendwie durch heilige Kriege oder auf andere
Art dienstbar gemacht worden sind.
Auch Delphi und Dodona mögen als kleine Orakelstaaten ähnlicher Art
hier genannt werden. Die Verfassung Delphis war so, daß aus einer Anzahl
von Familien, die von Deukalion abstammten, die fünf regierenden Hauptpriester
durch das Los gewählt wurden, und dazu kam dann noch als obere Behörde
der Amphiktyonenrat.
Mit einem Worte wollen wir auch hier des interessanten diodorischen Berichtes
von der in Meroe von Ergamenes durchgeführten Säkularisation eines
solchen Priesterstaates gedenken, und endlich möge noch die um 100 v. Chr.
blühende dazisch-getische Theokratie erwähnt sein, in der neben dem
Könige noch ein Gott (d. h. ein Mensch als Gott) waltete.
Jüdische und Zend-Theokratie
Die größten, geschichtlich bedeutendsten, stärksten Theokratien
fanden sich aber überhaupt nicht bei den Polytheismen, sondern bei solchen
Religionen, die sich — vielleicht mit einem heftigen Ruck — dem
Polytheismus entzogen haben, welche gestiftet, geoffenbart und durch eine Reaktion
entstanden sind.
So sieht man die Juden durch alle Wandlungen ihrer
Geschichte hindurch beständig wieder der Theokratie zustreben, wie sich
am deutlichsten aus ihrer späteren Restauration als Tempelstaat zeigt.
Sie hoffen nicht sowohl Weltherrschaft ihrer Nation als ihrer Religion; alle
Völker sollen kommen, auf Moriah anzubeten. Freilich schlägt mit David
und Salomo auch die jüdische Theokratie zeitweise in weltlichen Despotismus
um; aber periodisch suchen die Juden wieder von ihrem Wesen alles das auszuscheiden,
was Staat und was Weltkultur hineinzumischen trachten.
Durch Umstülpen des arischen Polytheismus zum Pantheismus entstand die
Brahminenreligion, die Zendreligion
dagegen durch dessen große Veränderung zu einem Dualismus ohnegleichen.
Und zwar kann diese nur eine einmalige und plötzliche von einem großen
(sehr großen) Individuum getragene gewesen sein, weshalb denn an Zarduschts
Persönlichkeit nicht zu zweifeln ist.
Sie ist im stärksten Sinne theokratisch gemeint gewesen; die ganze sichtbare
und unsichtbare Welt, auch die ver¬gangene Geschichte (Schah-Name) wird
den beiden Prin¬zipien und ihren (kaum mehr individualisierten) Gefolgreihen
zugeteilt. Und zwar in vorwiegend pessimistischem Sinne, so daß der früher
gottgeliebte Herrscher als Böser in den Netzen Ahrimans endigt.
Aber gerade hier ist das leichte Umschlagen der Bedingtheit zwischen Religion
und Staat wieder zu beachten: dies alles hat das tatsächliche persische
Königtum (wenigstens das achämenidische) nicht gehindert, die Vertretung
des Ormuzd auf Erden für sich einzukassieren und sich unter dessen besonderer
und permanenter Leitung zu glauben, während es selbst ein scheußlicher
orientalischer Despotismus wurde. Ja gerade aus diesem Wahn heraus hält
es sich alles für erlaubt und verfügt die infamsten Quälereien
gegen seine Feinde. Die Magier — deren Macht im Leben ungleich geringer
als die der Brahminen ist — erscheinen nur als Besorger dieser und jener
Hofsuperstition, nicht als Lenker und Warner. Im ganzen sind hier Staat und
Religion zu ihrem großen Verderb verbunden gewesen.
Überhaupt sieht man nicht, daß die Sittlichkeit von diesem Dualismus
den geringsten Vorteil gehabt hätte. Sie scheint schon a priori nicht als
eine freie gemeint gewesen zu sein; denn Ahriman betört die Gemüter
der Guten, bis sie böse handeln. Und dazu kommt dann gleichwohl ein vergeltendes
Jenseits.
So mächtig war aber diese Religion, um die Perser zu hochmütigem Haß
gegen alles Götzentum zu stacheln.
Überhaupt war sie kräftig mit dem nationalen Pathos verflochten und
daher auch stark genug, um es zu einer Renaissance zu bringen; auf Makedonier
und Parther folgen die Sassaniden, welche mit jenem Pathos ihr großes,
politisches Geschäft machen und die alte Lehre scheinbar rein herstellen.
Freilich hält dann der Dualismus auch nicht stand gegen den Islam. War
er schon eine gewaltsame Vereinfachung gewesen, so erlag er logisch der noch
gewaltsameren; eine Abstraktion machte dabei einer anderen, noch einfacheren,
Platz.
Restaurationen
Im Anschluß an die Renaissance der Zendreligion in der Sassanidenzeit
möge nun aber im Vorübergehen von derartigen
Restaurationen überhaupt kurz die Rede sein. Hierbei scheiden wir
völlig aus die Restaurationen nach bloßen Bürgerkriegen, auch
kommt die Wiederherstellung Messeniens zur Zeit des Epaminondas in Abrechnung,
ebenso die Restaurationen von 1815, wo der Staat erst die Kirche herbeiwinkt,
und ferner die noch zu vollziehenden Restaurationen: die der Juden, welche nach
zweimaligem Verlust ihres Tempels ihre Sehnsucht an einen dritten Tempel gehängt
haben, und die der Griechen, welche sich auf die Aja Sophia bezieht. Die Restaurationen
aber, die wir meinen, sind fast immer Wiederaufrichtungen eines vergangenen
Volks- und Staatstums durch die Religion oder doch mit ihrer Hilfe, und die
Hauptbeispiele sind neben der genannten sassanidischen die der Juden unter Cyrus
und Darius, das Imperium Karls des Großen, von welchem die kirchliche
Vorstellung einen Zustand wie unter Konstantin und Theodosius postuliert zu
haben scheint, und die Herstellung des Königreichs Jerusalem durch den
ersten Kreuzzug. Was die Größe dieser Restaurationen betrifft, so
liegt sie nicht im Erfolg, denn dieser ist meist geringer als die anfängliche
optische Täuschung hoffen ließ, sondern in der Anstrengung, welche
dazu gemacht wird, in der Kraft, etwas ersehntes Ideales, nämlich nicht
die wirkliche Vergangenheit, sondern ihr verklärtes Gedächtnisbild
herzustellen. Dies fällt denn freilich, da sich ringsum alles geändert
hat, sehr eigentümlich aus; was übrigbleibt, ist etwa eine geschärfte
alte Religion.
Machtreligion
Und nun müssen wir nochmals auf den Islam zurückkommen mit seiner
Ertötung des Vaterlandsgefühls und seiner auf die Religion gepfropften
elenden Staats- und Rechtsform, über welche seine Völker niemals hinauskamen.
Höchst uninteressant als politisches Bild ist hier der Staat, wo sich beim
Kalifat fast von Anfang an, und dann durch eine ganz unlogische Operation auch
bei seinen Abtrünnlingen der nach oben und unten garantielose Despotismus
wie von selber versteht. Höchst interessant aber ist, wie dies so kam und
kommen mußte; und wie es vom Islam selber und von der Herrschaft über
Giaurs bedingt ist, daher denn die große Ähnlichkeit der islamitischen
Staaten vom Tajo bis an den Ganges, die nur hier mit mehr, dort mit weniger
Stetigkeit und Talent regiert werden; nur beim seldschukischen Adel schimmert
eine Art von Teilung der Macht durch.
Es scheint, daß es bei den Moslemin fast von Anfang an mit dem Jenseitsglauben
nie weit her war. Kein Bann auf abendländische Manier hat Kraft, keine
sittlichen Beängstigungen kommen dem Despoten an den Leib, und sich bei
der Orthodoxie oder der eben herrschenden Sekte zu halten, ist ihm leicht. Freilich
besteht dazwischen eine große Zärtlichkeit für gerechte Despoten;
diese aber können doch nur in ihrer Nähe etwas wirken. Und nun mag
die Frage sein, inwieweit der Islam (ähnlich dem älteren Parsismus
und Byzantinismus) überhaupt ein Staatstum vertritt. Sein Stolz ist, daß
er eben der Islam ist, und es ist dieser einfachsten aller Religionen selbst
durch die eigenen Leute gar nicht beizukommen: Sakramente kann man dem Bösen
nicht entziehen; sein Fatalismus hilft ihm über
vieles hinweg; an Gewalt und Bestechung ist alles gewöhnt. Wer die Moslemin
nicht ausrotten kann oder will, läßt sie am besten in Ruhe; ihre
leeren ausgesogenen und baumlosen Länder kann man ihnen vielleicht nehmen,
ihren wirklichen Gehorsam aber unter ein nicht koranisches Staatstum nicht
erzwingen. Ihre Sobrietät schafft ihnen einen hohen Grad individueller
Unabhängigkeit, ihr Sklavenwesen und ihre Herrschaft über Giaurs hält
die zum Pathos nötige Verachtung der Arbeit, soweit diese nicht Ackerbau
ist, aufrecht.
Eine eigentümliche Stetigkeit zeigt das osmanische Staatstum; sie ist vielleicht
damit zu erklären, daß die Kräfte zur Usurpation aufgebraucht
sind. Aber jede Annäherung an die okzidentalische Kultur scheint für
die Moslemin unbedingt verderblich zu sein, anzufangen von Anleihen und Staatsschulden.
Antike
Im vollen Gegensatz zum Staats- und Religionswesen des alten Orients steht in
der Zeit ihrer völligen Entwicklung die griechische
und die römische Welt. Hier ist die Religion
wesentlich vom Staat und von der Kultur bedingt; es sind Staats- und Kulturreligionen
und die Götter Staats- und Kulturgötter, nicht der Staat ein Gottesstaat,
daher es denn hier auch keine Hierarchien gibt.
Nachdem also hier die Religion durch den Staat bedingt gewesen war, weshalb
wir auf das klassische Altertum später werden zu sprechen kommen, schlug
dies alles mit dem christlichen Imperium um, und man kann sagen: es ist dies
der größte Umschlag, der jemals vorgekommen. Wie sehr in der nun
folgenden Zeit der christlichen Kaiser und ihrer Explikation in der byzantinischen
Zeit die Kultur durch die Religion bedingt wurde, haben wir früher gesehen;
bald wurde es der Staat fast ebenso sehr, und seither treffen wir bis auf die
Gegenwart die Einmischung des Metaphysischen in alle Politik, alle Kriege usw.
irgendwie und an irgendeiner Stelle, und wo es nicht Hauptursache ist, wirkt
es doch mit zur Entschließung und Entscheidung, oder es wird nachträglich
hinein¬ger.ogen (z. B. in den jetzigen großen Krieg).
Byzantinismus
Der Byzantinismus entwickelt sich nun analog dem
Islam und in häufiger Wechselwirkung mit ihm. Hier aber bildet den Grund
der ganzen Macht und Handlungsweise der Hierarchie immer die stark betonte Lehre
vom Jenseits. Diese war schon dem späteren Heidentum eigen gewesen, bei
den Byzantinern kam aber in concreto noch die über den Tod hinaus dauernde
kirchliche Bannkraft hinzu. Man hat es vor allem mit einem höchst gemischten,
ja volklosen Rest des römischen Reiches mit uneinnehmbarer Hauptstadt und
großer Ansammlung von Mitteln und politisch-militärischen Fähigkeiten
zu tun, der imstande ist, eine große slawische Einwanderung zu amalgamieren
und überhaupt Verlorenes stückweise wiederzugewinnen. Das Verhältnis
der Bedingtheit aber wechselt: bis zum Bilderstreit herrscht im wesentlichen
die Kirche und erkennt und beurteilt das Imperium nur nach seiner Ergebenheit
für ihre Zwecke, wie denn auch die Autoren die Kaiser rein nach der Förderung
behandeln, welche der orthodoxen Kirche erwiesen wird. Selbst Justinian muß
sich wesentlich als Repräsentant der Orthodoxie, als ihr Schwert und Verbreiter
geltend machen. Nach diesem Maßstab garantiert die Kirche dem Imperium
auch den Gehorsam der Völker und das Glück auf Erden. Seit Konstantin
sind sämtliche Kaiser zum Mittheologisieren genötigt.
Dies geht so lange, bis endlich Leo der Isaurier von sich
aus theologisiert. Vielleicht schon bei ihm, jedenfalls aber bei Kopronymos
und dessen Nachfolgern macht sich der politische Hintergedanke geltend, das
Heft selber wieder in die Hände zu nehmen und Luft zu bekommen gegen Klerus
und Mönche. Im ganzen wird doch das Imperium wieder der bestimmende Teil
und ist es deutlich zur Zeit der Makedonier und Komnenen; die höhere geistige
Triebkraft der Kirche stirbt ab, was sich am Erlöschen aller wichtigeren
Häresie zeigt; Kaisertum, Staat und Orthodoxie gelten seither als selbstverständlich
identisch; die Orthodoxie ist dem Imperium nicht mehr gefährlich, sondern
eher die stützende Seele des Reiches. Die Religion dient ihm in Gestalt
eines nationalen Pathos, gegen die Franken fast mehr als gegen die Mohammedaner.
Überhaupt beginnt dann ihr merkwürdiges letztes Stadium: einmal noch
(1261) hilft sie den Staat herstellen. Dann (seit 1453) beginnt sie, zur Nationalsache
geworden, den untergegangenen Staat zu ersetzen und beständig auf dessen
Herstellung zu dringen. Daß sie so ohne den Staat wirklich unter den Türken
weiterdauert, kann als Beleg ihrer Lebenskraft oder ihrer völligen Ertötung
dienen.
Kirche und abendländische Kultur
In den germanischen Staaten der Völkerwanderung
treffen wir zunächst den denkwürdigen Versuch, vermöge des Arianismus
ohne Mitherrschaft der Hierarchie durchzukommen.
Dieser Versuch scheitert im Laufe der Zeiten überall; die orthodoxe
Kirche wird Herrin und erzwingt sich eine gebietende politische Stellung, weshalb
wir denn im folgenden zwischen der Kirche und ihrer hierarchischen Ausgestaltung
gar nicht mehr zu unterscheiden brauchen; es handelt sich nur darum, wer diese
Kirche in jedem Augenblick ist.
Zwar wird im Abendlande die Identifikation von Religion und Staat glücklich
vermieden: es bildet sich eine höchst eigentümlich neben und ins Dasein
hineingestellte große besitzende Korporation mit Anteil an der obersten
Staatsgewalt und am Rechtswesen und mit stellenweiser Souveränität.
Mehrmals kommt die Kirche in einen Verfall, der jederzeit im Eindringen der
weltlichen Gier und in der Rich¬tung auf ihre stückweise Ausbeutung
besteht. Aber da pflegen ihr oder doch wenigstens ihrem Zentralinstitut, dem
Papsttum, weltliche Gewalten beizuspringen, welche sie zeitweise retten und
moralisch bessern: Karl der Große, Otto der Große, Heinrich III.
Diese haben die Absicht, sie dann als instrumentum imperii (und zwar über
das ganze Abendland) zu brauchen.
Der Erfolg ist jedesmal der entgegengesetzte. Das Reich Karls zersplittert,
und die Kirche wird mächtiger als zuvor; von Heinrich III. aus tiefstem
Elend emporgerissen, richtet sie sich gegen seinen Nachfolger und alle anderen
weltlichen Gewalten baumhoch auf. Denn der Lehnstaat ist eigentlich nur in Stücken
vorhanden, während sie
a) was Besitz und Rechte betrifft, eben auch ein Stück davon, aber
b) gegenüber den Königtümern in der Regel überstark, also
ein Teil und dann erst noch das Ganze ist.
So steht sie mit ihrer Einheit und ihrem Geiste neben der Vielheit und schwachen
Organisation der Staaten. Mit Gregor VII. schickt sie sich zu deren Absorption
an, und indem sie unter Urban II. hievon etwas nachläßt, kommandiert
sie doch das Abendland nach dem Orient.
Aber seit dem 12. Jahrhundert spürt sie den Rückschlag davon, daß
sie sich zu einem enormen »Reiche von dieser Welt«,
welches ihre geistlichen und geistigen Kräfte zu überwiegen beginnt,
ausgewachsen hat. Sie findet sich gegenüber nicht bloß der waldensischen
Lehre von der Urkirche, sondern einem Pantheismus und (bei Amalrich von Bena
und den Albigensern) einem mit Metempsychosenlehre verbundenen Dualismus.
Da zwingt sie den Staat, ihr als selbstverständlich das brachium
saeculare zu leihen. Sobald man dieses zur Disposition hat, ist der Weg
von dem »Eins ist not« zum »nur
Eines ist erlaubt« nicht mehr weit. So gewinnt Innozenz III. mit
den Drohungen und Versprechungen seiner Instruktionen den Sieg.
Seitdem aber steht die Kirche als: siegreiche, rücksichtslose Reaktion
gegen den eigentlichen Geist der Zeit, als Polizei da; sie ist an die äußersten
Mittel gewöhnt und befestigt nun das Mittelalter künstlich aufs neue.
Dabei ist sie mit der Welt durch ihr Besitz- und Machtwesen tausendfältig
verflochten, sie muß tatsächlich ihre höchstdotierten Stellen
an den Adel verschiedener Länder überlassen, auch der Benediktinerorden
versinkt im Junkertum, weiter unten herrscht allgemeine Pfründenjagd und
das Treiben der Leute vom jus canonicum und von
der Scholastik; Junker, Advokaten und Sophisten sind die Hauptpersonen; man
hat es mit einer allgemeinen Ausbeutung und dem größten Beispiel
der Überwältigung einer Religion durch ihre Institute und Repräsentanten
zu tun.
Indem nun für Fortdauer der Orthodoxie nur noch rein polizeilich gesorgt
wird, während sie den Mächtigen innerlich gleichgültig wird,
kann man von demjenigen Institut, welches äußerlich weiter regiert,
im Zweifel sein, ob es überhaupt noch eine Religion repräsentiere.
Dazu kommt noch das spezielle Verhältnis des Kirchenstaates zur italienischen
Politik; die eigentliche Andacht aber ist in strengere Orden, zu Mystikern und
einzelnen Predigern geflüchtet.
Damals muß in der Kirche die Gesinnung des absoluten Konservatismus bereits
begonnen haben, da ihr bei keiner Art von Änderung mehr wohl sein konnte
und jede Bewegung ihr verdächtig war, weil das komplizierte Besitzwesen
und Machtwesen dabei immer irgendwie leiden konnte.
Vor allem bekämpft sie den auftauchenden zentralisierten Gewaltstaat (in
Unteritalien und in Frankreich unter Philipp dem Schönen) und drängt
— doch immerhin mit Ausnahmen — wenigstens große Konfiskationen
zurück. Heiß klammert sie sich an die Vergangenheit in Macht und
Besitz an und ebenso in der Unbeweglichkeit der Lehre, nur daß man die
Theorie von den Machtbefugnissen noch emporschraubt, während sie doch,
was sie mehr bekommt, gierig annimmt, bis sie einen Dritteil aller Dinge besitzt.
Und das alles besitzt sie eigentlich nur zum geringen Teile für sich und
ihre geistlichen Zwecke, zum größeren nur für diejenigen Mächtigen,
die sich ihr aufgedrängt haben.
Reformation
Nachdem so der bloße Widerspruch mit der Religion, welcher sie entsprechen
sollte, schon längst da ist, ist sie dann endlich auch
in handgreiflichem Widerspruch mit den sie umgebenden Staatsbegriffen und Kulturkräften.
Daher zeitweise ihre Akkorde mit dem Staat, welche tatsächlich Partialabtretungen
sind, wie z. B. das Konkordat Franz des Ersten. Freilich erspart ihr dies in
solchen Staaten die Reformation.
Von der Reformation an wird sie dann wieder nach einer Seite hin ernstlich dogmatisch;
aber die Kirche der Gegenreformation wird den Charakter einer Reaktion noch
viel deutlicher bewahren als die Kirche Innozenz des Dritten. Zum seitherigen
Charakter des Katholizismus gehört — von Ausnahmen wie der Demagogie
der Ligue abgesehen der Bund von Thron und Altar; beide erkennen die Komplizität
ihrer beiderseitigen Konservatismen gegenüber vom Geist der modernen Völker.
Die Kirche liebt zwar keinen Staat, neigt sich aber demjenigen Staatswesen zu,
welches das bereitwilligste und fähigste ist, für sie die Verfolgungen
zu exequieren. Sie richtet sich auf den modernen Staat ein, wie sie sich einst
auf das Lehenswesen eingerichtet.
Dagegen ist ihr der moderne politische Völkergeist
ganz direkt zuwider, und sie läßt sich nie selber mit ihm ein, wohl
aber läßt sie es geschehen, daß einzelne ihrer Vorposten (Geistliche
und Laien, welche nicht wissen, was sie dabei für Ketzerei begehen) sich
mit ihm einlassen und allerlei milde Grenzpraxis befürworten.
Sie leugnet die Volkssouveränität und behauptet das göttliche
Recht der Regierungen; sie geht dabei von der menschlichen Verderbtheit aus
und von der Aufgabe der Seelenrettung um jeden Preis; ihre wesentliche Schöpfung
ist die moderne Idee der Legitimität.
Sie hat sich im Mittelalter auf die drei Stände eingerichtet, wovon sie
der eine war. Dagegen perhorresziert sie die moderne konstitutionelle Repräsentation
sowohl als die Demokratie. Sie selbst ist in ihrem Innern zuerst immer aristokratischer
und endlich immer monarchischer geworden.
Sie übt Toleranz nur, wo und insoweit sie durchaus muß. Sie verfolgt
jede für sie bedenkliche geistige Regung auf das äußerste.
Trennung von Staat und Kirche
Die protestantischen Kirchen in Deutschland und in der Schweiz wie auch in Schweden
und Dänemark wurden von Anfang an Staatskirchen, weil die Regierungen von
Anfang an übergingen und sie einrichteten. Der Kalvinismus, anfangs die
Kirche derjenigen Westvölker, welche katholische und verfolgende Regierungen
hatten, wurde später in Holland und England ebenfalls als Staatskirche
organisiert, obwohl in England noch als Stand mit unabhängigem Vermögen
und mit Repräsentation im Oberhaus; hier ist Kalvinismus auf ein Stück
Lehnswesen geimpft.
Die Schulen sind in den katholischen und protestantischen Ländern bald
mehr vom Staat, bald mehr von der Kirche bedingt.
Nach so engem Zusammenhang und so vielfachen Wechselbeziehungen zwischen Staat
und Religion ist das Problem unserer Zeit die Trennung von Staat und Kirche.
Sie ist die logische Folge der Toleranz, d. h. der tatsächlichen unvermeidlichen
Indifferenz des Staates, verbunden mit der wachsenden Lehre der Gleichberechtigung
aller, und sobald es einen Staat gibt, der die Leute zu Worte kommen läßt,
ergibt sich die Sache von selbst; denn es ist eine der stärksten Überzeugungen
unserer Zeit, daß Religionsunterschied keinen Unterschied der bürgerlichen
Rechte mehr begründen dürfe, und zugleich dehnen sich diese bürgerlichen
Rechte sehr weit aus: auf allgemeine Ämterfähigkeit und auf Freiheit
von Besteuerung zum Unterhalt von Einrichtungen, an welchen man keinen Teil
nimmt.
Zu gleicher Zeit hat der Begriff des Staates auch sowohl von oben, von den Herrschenden,
als von unten, von der Bevölkerung her neue Veränderung erfahren,
welche ihn nicht mehr zum Gefährten der Kirche tauglich macht, so daß
es dem Religionsbegriff nichts hilft, wenn er derselbe bleibt, da der Staatsbegriff
nicht mehr derselbe ist; denn den Staat zur Beibehaltung des bisherigen Verhältnisses
zu zwingen, hängt nicht von der Kraft der Religion ab.
Der Staat ist nämlich erstlich von oben — speziell in Deutschland
und der Schweiz — paritätisch, indem er seit Anfang dieses Jahrhunderts
durch Mischungen, Abtretungen, Friedensschlüsse usw. sogenannte »Staatsbürger«
verschiedener Konfessionen, oft in starken Quoten beiderseits, enthält
und seiner Bevölkerung nun gleichmäßiges Recht garantieren muß.
Er übernimmt zunächst zwei oder mehrere Staatsreligionen und Staatskirchen,
besoldet ihre Geistlichen — was er muß,
weil er ihre früheren unabhängigen Güter aufgefressen hat —
und hofft, auf diese Weise durchzukommen, käme auch wirklich durch, wenn
nicht innerhalb der sämtlichen einzelnen Religionsgemeinschaften der große
Riß zwischen Orthodoxie und »Aufklärung«
vorhanden wäre, und hier wird ihm das Aufrechthalten
einer Parität so unendlich sauer! Denn mit Bevorzugung von »Majoritäten«
kommt er nicht durch, da diese weder maßgebend noch auch nur tatsächlich
zu konstatieren sind.
Zweitens, von den Bevölkerungen her, ist es mehr und mehr die Kultur (im
weitesten Umfang des Wortes), welche an die Stelle der Religion tritt, sobald
es sich darum handelt, wer den Staat bedingen soll. Sie schreibt ihm bereits
im großen seine jetzigen Programme.
Die Kirchen aber werden mit der Zeit das Verhältnis zum Staat so gerne
aufgeben als dieser das Verhältnis zu ihnen. Gleichen sie jetzt dem Schiff,
welches einst auf den Wogen ging, aber seit langer Zeit zu sehr ans Vorankerliegen
gewohnt ist, so werden sie wieder schwimmen lernen, sobald sie einmal im Wasser
sind; selbst der Katholizismus hat es ja in Amerika bereits gelernt. Dann werden
sie wieder Elemente und Belege der Freiheit sein.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 55, Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Herausgegeben von
Rudolf Marx S.106ff.
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlichem Einverständnis
des Alfred Kröner Verlags, Stuttgart
Die
Religion in ihrer Bedingheit durch den Staat
Antike
Zu den Religionen, die durch den Staat bedingt sind, gehören vor allem
die beiden klassischen Religionen. Man darf sich dabei nicht durch die vielen
Ausdrücke der Frömmigkeit irre machen lassen, wie das horazische »dis
te minorem quod gens imperas« oder Cicero, de legibus I, 7 (und
sonst) oder die Stelle bei Valerius Maximus I : »omnia
namque post religionem ponenda semper nostra civitas duxit ... quapropter non
dubitaverunt sacris imperia servire«.
Welches auch ihre Religiosität gewesen sei, Griechen und Römer waren
eine völlige Laienwelt; sie wußten eigentlich (wenigstens in ihren
entwickelten Zeiten) nicht, was ein Priester sei; sie hatten stehende Zeremonien,
aber kein Gesetz und keine schriftliche Offenbarung, welche die Religion über
den Staat und das übrige Leben emporgehalten hätte.
Ihre poetisch vermenschlichten, gegenseitiger Feindschaften fähigen Götter
sind zum Teil sehr ausdrücklich Staatsgötter und speziell zum Schutze
des Staates verpflichtet; Apoll ist u. a. der Gott des Kolonienaussendens und
muß in Delphi darüber Auskunft geben.
Mögen auch die Götter für alle Hellenen, ja auch für die
Barbaren und für die ganze Welt geltend gedacht werden (was der Reflexion
später nicht schwer fiel), so werden sie doch mit einem Zunamen lokalisiert
und für die betreffende Stadt, den Staat oder eine spezielle Lebenssphäre
verpflichtet.
Wenn Griechen und Römer Priester und eine Theologie gehabt hätten,
so würden sie freilich auch ihren auf die menschlichen Bedürfnisse
und Beziehungen gestelIten, vollendeten Staat nicht geschaffen haben.
Der einzige Fall, wo sich die römische Religion willentlich proselytisch
zeigt, war etwa die Romanisierung der gallischen und anderen nördlichen
und westlichen Götter; die Christen aber wollte man zur Kaiserzeit nicht
etwa bekehren, sondern nur von Sakrilegien abhalten, und übrigens geschah
dies beides im Dienste des Staates.
Die übrige alte Welt, der Orient, die Staaten des heiligen Rechts usw.
sind viel mehr von der Religion bedingt, von welcher ja auch ihre Kultur in
Schranken gehalten wird, als die Religion von ihnen; nur daß, wie oben
gesagt, der Despotismus mit der Zeit vorschlägt, die Göttlichkeit
auf sich bezieht und sich dabei satanisch aufführt.
Die Religionen behaupten ihre Idealität am ehesten, solange sie sich gegen
den Staat leidend, protestierend verhalten, was freilich ihre schwerste Feuerprobe
ist, an welcher gewiß schon mancher hohe Aufschwung untergegangen ist;
denn die Gefahr, vom Staate ausgerottet zu werden, wenn derselbe eine andere,
intolerante Religion vertritt, ist wirklich vorhanden. Das Christentum ist eigentlich
das Leidende und seine Lehre vorhanden für
Leidende, und es ist vielleicht von allen Religionen nächst dem Buddhismus
am wenigsten geeignet mit dem Staat in irgendeine Verbindung zu treten. Schon
seine Universalität ist dem entgegen. Wie kam es, daß es dennoch
mit dem Staate in die engsten Beziehungen trat?
Der Grund wurde schon sehr früh, bald nach dem apostolischen Zeitalter,
gelegt. Das Entscheidende war, daß die Christen des 2. und 3. Jahrhunderts
antike Menschen waren, und zwar in einer Zeit des Einheitsstaates. Und nun verführte
das Staatstum das Kirchentum, sich nach seinem Vorbilde zu gestalten; die Christen
bildeten um jeden Preis eine neue Gesellschaft, schieden mit der größten
Anstrengung eine Lehre als die orthodoxe von allen
Nebenauffassungen (als Häresien) aus und organisierten ihre Gemeinde schon
wesentlich hierarchisch. Vieles war schon sehr irdisch; man denke an die Zeit
des Paulus von Samosata und die Klagen Eusebs.
So war das Christentum schon während der Verfolgungen eine Art einheitlicher
Reichsreligion, und als nun mit Konstantin der Umschlag eintrat, war die Gemeinde
plötzlich so mächtig, daß sie den Staat beinahe hätte in
sich auflösen können. Sie wurde jetzt wenigstens zur übermächtigen
Staatskirche, und über die ganze Völkerwanderung und bis weit in die
byzantinische Zeit, im Okzident aber das ganze Mittelalter hindurch, ist dann.
wie wir gesehen haben, die Religion das Bestimmende. Karls des Großen
Weltmonarchie ist wie die des Konstantin und Theodosius wesentlich eine christliche,
und wenn die Kirche etwa zu fürchten hatte, von ihr als Werkzeug mißbraucht
zu werden, so dauerte diese Sorge nicht lange; das Imperium zersplitterte, und
die Kirche blieb im Lehnszeitalter wenigstens mächtiger als alles andere,
was daneben war.
Aber jede Berührung mit dem Irdischen wirkt stark auf die Religion zurück;
mit der äußeren Machtgestaltung ist unfehlbar eine innere Zersetzung
verbunden, schon weil ganz andere Leute an die Spitze kamen als in der ecclesia
pressa.
Die Wirkungen dieser Ansteckung des Kirchentums
durch das Staatstum sind nun folgende:
Erstlich erwächst im spätrömischen und byzantinischen Reich,
wo Imperium und Kirche sich genau zu decken zensiert sind und die Kirche gleichsam
ein großes zweites Staatswesen bildet, aus diesem Parallelismus der falsche
Machtsinn in ihr. Statt eine sittliche Macht im
Völkerleben zu sein, wird sie, indem sie sich politisiert, selber Staat,
also eine zweite politische Macht mit dem hierbei ganz unvermeidlich innerlich-profanen
Personal. Macht und Besitz sind es, die in der abendländischen Kirche das
Heiligtum mehr und mehr mit Unberufenen anfüllen. Macht aber ist schon
an sich böse.
Die zweite Folge aber ist die enorme Überschätzung
der Einheit, in engem Verband hiermit. Die Tradition stammt, wie wir
sahen, schon aus der Zeit der Urkirche und der Verfolgung; die ecclesia
triumphans aber bietet nun alle Machtmittel auf zur Behauptung der Einheit
und entwickelt aus ihrer Einheit immer mehr Machtmittel, ja sie kann deren nicht
mehr genug vor sich sehen und füllt am Ende das ganze Dasein mit ihren
Graben und Festungswerken an. Dies gilt von der abendländischen Kirche
so gut wie von der byzantinischen. Umsonst ertönt dazwischen immer wieder
die Ansicht, das göttliche Wesen freue sich
verschiedenartiger Verehrung.
Jetzt glaubt kein abendländischer Mensch mehr an das Dogma der ecclesia
triumphans z. B. des 5. Jahrhunderts; man hat sich allmählich an
den Anblick der religiösen Vielheit gewöhnt, die zumal in den englisch
sprechenden Ländern mit stark verbreiteter Religiosität vereinbar
erscheint, und sieht die Religionsmischung, Parifät usw. in den gemischten
Bevölkerungen vor sich, von welchem allem damals noch niemandem träumte.
Auch übt die gegenwärtige Dogmengeschichte gegen die Häresien
Gerechtigkeit, von denen man weiß, daß sie bisweilen das Beste von
Geist und Seele der betreffenden Zeiten enthalten haben.
Aber welche Hekatomben sind der Einheit — einer wahren fixen Idee —
zum Opfer gefallen! Und diese fixe Idee hatte ihre volle Entwicklung nur erreichen
können, weil die politisierte Kirche absolut machtgierig geworden war.
Die dogmatische Begründung der Einheit und
ihre poetische Verherrlichung als tunica inconsutilis
ist Nebensache.
Mit der Reformation, die in die Zeit fällt,
da der moderne Machtstaat an sich schon in starkem Fortschreiten ist, tritt
dann eine große allgemeine Veränderung auf beiden Seiten ein.
Thron und Altar
In den großen Staaten des Westens, England ausgenommen, besiegelt die
Gegenreformation den »Bund
zwischen Thron und Altar«, d. h. die Kirche, um sich zu behaupten,
braucht noch einmal im weitesten Sinne das brachium saeculare.
Seither besteht eine enge Komplizität beider; es ist z. B. in dem Spanien
Philipps II. kaum auseinanderzulesen, was jedem von beiden gehört, und
doch hat eher die Kirche, welche dabei an den Staat enorm gezahlt hat, helfen
sollen, den spanischen Bankerott über möglichst viele Länder
auszudehnen; auch bei Ludwig XIV. ist der Katholizismus wesentlich ein instrumentum
imperii, und seinen großen kirchlichen Schreckensakt hat der König,
obwohl auch von seinem Klerus angereizt, wesentlich aus
politischer Uniformitätsgier gegen die
Ansicht des Papstes vollzogen.
In neuerer Zeit ist dieser Bund stets ungleicher und für beide Teile gefährlicher
geworden, weit entfernt, beiden so nützlich zu sein, wie das heilige Recht
den Gewaltstaaten des Altertums war. Während Prinzipien ewig sein können,
sind Interessen unter allen Umständen wandelbar, und nun ist dies eben
statt eines Bundes der Prinzipien tatsächlich mehr und mehr ein Bund der
Interessen, von welchen es sehr fraglich ist, wie lange sie noch zusammengehen
werden. So konservativ die Kirche sich geben mag, der Staat sieht auf die Länge
keine Stütze, sondern eine Verlegenheit in ihr.
In Frankreich wird der Staat, so oft er sich wieder der Denkweise und Partei
der großen französischen Revolution nähert, auch deren Todfeindschaft
gegen die katholische Kirche adoptieren. Diese aber ist durch Napoleons 1. Konkordat
von 1801 auf die verhängnisvollste Weise zum Staatsinstitut geworden, mit
Hilfe einer allgemeinen Voraussetzung, wonach der Staat alles, was nun einmal
vorhanden sei, von sich abhängig machen und organisieren müsse. Schon
der Anfang der Revolution hatte die constitution civile
du clergé von 1791 gebracht, mit Versäumnis des einzigen
Moments, da man mit Erfolg trennen konnte, und 1795 war dann die juridische
Trennung zu spät gekommen, weil die Kirche inzwischen ein Märtyrertum
aufweisen konnte.
Nun ist von diesen politischen Zuständen nicht bloß die Kirche, sondern
auch die Religion wesentlich mitbedingt. Sie steht unter einem jetzigen Schutz
und Sold des Staates, der ihrer unwürdig, für sie unanständig
ist, kann aber von heute auf morgen, wenn dieser Staat in andere Hände
fallen sollte, dessen schwerste Feindschaft erleiden und ist unter allen Umständen
von der allgemeinen Krisis des europäischen Staatsbegriffs, von der wir
oben sprachen, mitbedroht.
In den meisten katholischen Ländern gilt mehr oder weniger dasselbe; der
Staat ist im Begriff, den erschütterten Rund zwischen Thron und Altar,
als jetzund unvorteilhaft geworden, zu künden; die katholische Kirche aber
verläßt sich viel zu wenig auf innere Kräfte und sucht viel
zu sehr nach äußeren Stützpunkten.
Ob das Konzil eine Lösung bereit hält?
Von seiten des Staates aber ist es lächerlich, wenn er gerne
»liberale Prälaten« hätte, die seiner Bureaukratie
keine sauern Tage machen sollen. Den nordamerikanischen Regierungen ist es ganz
gleichgültig, wie ultramontan oder »aufgeklärt«
die katholischen Bischöfe der Union sind.
Zusatz 1873: Nachdem den Regierungen das Verhältnis
zur katholischen Kirche längst lästig gewesen und höchstens Louis
Napoleon sie als Hilfe seiner Macht be¬nützen konnte, Preußen
aber ihr wenigstens alles gestattete und Lobsprüche von Pius IX. erntete,
nachdem der moderne demokratische und industrielle Geist in eine stets größere
Feindschaft mit ihr geraten, fand die Kirche für nötig, ihre Ansprüche
auf dem vatikanischen Konzil zu systematisieren; der schon lange vorhandene
Syllabus wurde in seinen Hauptzügen zum Kirchengesetz; die Infallibilität
krönte das ganze System.
Alle mezzi termini wurden abgeschnitten, die so
nützlich erscheinenden Übergänge eines liberalen Katholizismus
u. dgl. total desavouiert, das vernünftige Verhandeln mit den Staaten schwer
oder unmöglich gemacht, die ganze Stellung des Katholizismus in der Welt
unermeßlich erschwert.
Was war der Zweck? Vor allem ist hier jede voraussehende Beziehung auf den Krieg
von 1870 zu eliminieren; den Krieg sah jedermann im Anzug; aber beim Sieg Napoleons
wäre es der katholischen Kirche kaum besser ergangen.
Ein bloß theoretischer Hochmut war es nicht; eine große praktische
Absicht muß zugrunde gelegen haben, als man der ganzen höheren katholischen
Bildung so derb den Abschied gab und unbedingte gleichartige Fügsamkeit
verlangte — und endlich erhielt.
Ein straffes Anziehen aller Zügel der Einheit mag notwendig geschienen
haben gegenüber der allgemeinen Entwicklung des modernen Geistes, in Voraussicht
baldigen Verlustes des dominio teniporale; denn
auf offenes Ergreifen der Waffen konnte die Kirche gar nirgends hoffen; diesen
Faktor mußte sie völlig außer Rechnung lassen.
Und nun das jetzige verschiedene Verhalten der Regierungen. Die meisten nehmen
die Sache wie ein bloßes theoretisches Vergnügen des Papsttums, das
man demselben lassen könne; Deutschland und die Schweiz dagegen nahmen
den Kampf als Kampf auf. Die große Schwierigkeit dabei ist, die Ausgetretenen
als Kirche zu konstituieren und ihnen einen neuen Klerus zu schaffen.
Die einzige wahre Lösung, die Trennung von Kirche und Staat, ist an sich
sehr schwer, und mehrere Staaten wollen nicht mehr trennen, weil ihnen vor einer
wirklich unabhängigen Religion und Kirche bange wäre. — Und
gerade ebenso denkt in der Regel auch der Radikalismus.
Staats- und Volkskirche
Das protestantische Staatskirchentum, im Drang
des 16. Jahrhunderts von selber entstanden, hat seine Abhängigkeit vorn
Staate von Anfang an und oft bitter fühlen müssen. Ohne dasselbe aber
wäre die Reformation in den meisten Ländern sicher wieder zugrunde
gegangen, weil die Masse der Unentschiedenen sich bald wieder zur alten Kirche
würde gehalten haben, und weil auch ohnedies die alte Kirche ihre Staaten
gegen die der neuen würde ins Feld geführt haben. Das Staatskirchentum
war schon um der Wehrhaftigkeit wilIen unvermeidlich.
Aber unvermeidlich war auch, daß die Kirche ein Zweig der Staatsregierung
wurde. Gefürchtet und für den Staat ein Element der Macht, solange
er sie mit seiner Autorität deckte, wird sie seit der Aufklärungszeit
mehr und mehr eine Verlegenheit für ihn, während er einstweilen ihr
Notschirmer bleibt.
Sie wird es riskieren müssen, aus einer Staatskirche zur Volkskirche zu
werden, ja in mehrere unabhängige Kirchen und Sekten auseinanderzugehen,
sobald einmal die Krisis des Staatsbegriffes weit genug gediehen sein wird.
Hochgefährdet ist besonders die anglikanische Kirche mit ihrem Besitz,
konstitutionellem Vorrecht und Hochmut, bei statistisch zählbarer Menge
der Bekenner der rechtlosen Nebenkirchen.
Eine indirekte Sicherung erweisen die europäischen Großstaaten gegenwärtig
allen von ihnen unterhaltenen oder geduldeten Religionen: ihre Polizei und Gesetzgebung
macht das Aufkommen einer neuen Religion (welches ohne Vereinsrecht u. dgl.
unmöglich ist) außerordentlich schwer, wenn sich überhaupt eine
melden sollte.
Rußland
Derjenige Staat, welcher seine Kirche im Innern am meisten zum Staatsinstitut
umgeschaffen hat und sie zugleich zum politischen Werkzeug nach außen
braucht, ist Rußland. Das Volk ist indolent
und tolerant, aber der Staat proselytisch und (gegen den polnischen Katholizismus
und den baltischen Protestantismus) verfolgend.
Die byzantinische Kirche dauert bei den Griechen
als Ersatz und Stütze des byzantinischen Volkstums unter der Herrschaft
der Türken auch ohne den Staat weiter. Aber wie würde es in Rußland
mit Religion und Kultur ohne den Zwangsstaat aussehen? Die Religion würde
wohl auseinanderlaufen in Aufklärung der wenigen und Schamanentum der vielen.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 55, Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Herausgegeben von
Rudolf Marx S.136ff.
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlichem Einverständnis
des Alfred Kröner Verlags, Stuttgart
Die
Religion in ihrer Bedingtheit durch die Kultur
Natur- und Kulturvergötterung
Bei der Bedingtheit der Religion durch die Kultur handelt es sich um zwei sich
berührende, aber verschiedene Phänomene. Erstlich nämlich kann
die Religion zum Teil durch Vergötterung der Kultur entstehen. Sodann aber
kann eine gegebene Religion auch durch Einwirkung der Kulturen verschiedener
Völker und Zeiten wesentlich verändert oder doch gefärbt werden
ja mit der Zeit erhebt sich aus der Mitte der Kultur eine Kritik der Religion.
In besonderem Sinne gehört hiezu auch die Rückwirkung der Kunst auf
die Religion, welche sie in Anspruch nimmt.
In den klassischen Religionen, ja mehr oder weniger
in fast allen Polytheismen — denn Kriegs- und Ackerbaugottheiten gibt
es fast überall — findet sich neben der Vergötterung der Natur
und der astralen Kräfte ganz naiv auch die gewisser Zweige der Kultur.
Die Naturvergötterung ist das Frühere, worauf die Kulturvergötterung
erst gepfropft wird. Aber, nachdem die Naturgottheiten zu ethischen und
Kulturgottheiten geworden sind, überwiegt zuletzt diese Seite.
Hier ist kein ursprünglicher Zwiespalt zwischen Religion und Kultur, beides
ist vielmehr in hohem Grade identisch; die Religion vergöttert mit der
Zeit so viele Tätigkeiten als man will, indem sie die einzelnen Götter
als Schützer derselben mit ihren Namen versieht. Und nun gibt die Leichtigkeit
des Götterschaffens freilich sehr zu denken und mag dem Mythologen die
Frage ans Herz legen: bist du imstande, dich ernstlich in eine solche Zeit und
Nation hineinzuversetzen? Aber ein wohligeres Mitgefühl gibt es nicht,
als das Hineinversenken in jene Welt, wo jeder neue Gedanke sogleich seine poetische
Vergöttlichung und später dann seine ewige Kunstform findet, wo so
vieles unaussprechlich bleiben darf, weil die Kunst es ausspricht.
Freilich hat dann die Philosophie, der höchste
Zweig der Kultur, mit dieser Religion ein gar zu leichtes Spiel. Und nach der
Philosophie und ihrem kritischen griechischen Geiste kommt erst leise und dann
mächtiger der Gedanke an das Jenseits und macht — allerdings mit
Hilfe der Kaiser — dieser Religion den Garaus.
Auch der germanische Polytheismus hat seine Kulturgötter. Neben der rein
elementarischen Seite schließt sich an mehrere göttliche Gestalten
auch eine der Kultur angehörende an: sie sind Schmiede, Weberinnen, Spinnerinnen,
Runenerfinder usw.
Ein Analogon ist im Mittelalter der Kultus der Nothelfer und Spezialheiligen,
wie St. Georg, S. S. Crispin und Crispinian, S. S. Kosmas und Damian, St. Eligius
u. a. Doch sind diese bloße Nachklänge der antiken Kulturvergötterung.
Wie würde aber der Olymp der heutigen Erwerbenden aussehen, wenn sie noch
Heiden sein müßten?
Nun ist aber keine Religion jemals ganz unabhängig von der Kultur der betreffenden
Völker und Zeiten gewesen.
Gerade, wenn sie sehr souverän mit Hilfe buchstäblich gefaßter
heiliger Urkunden herrscht und scheinbar alles sich nach ihr richtet, wenn sie
sich »mit dem ganzen Leben verflucht«,
wird dieses Leben am unfehlbarsten auch auf sie einwirken, sich auch mit ihr
verflechten. Sie hat dann später an solchen innigen Verflechtungen mit
der Kultur keinen Nutzen mehr, sondern lauter Gefahren; aber gleichwohl wird
eine Religion immer so handeln, solange sie wirklich lebenskräftig ist.
Die Geschichte der christlichen Kirche zeigt zunächst
eine Reihe von Modifikationen, je nach dem sukzessiven Eintreten der neuen Völker:
der Griechen, Römer, Germanen, Kelten, — und je nach den Zeiten ist
es vollends eine ganz andere Religion, d. h. die Grund-Stimmungen sind die entgegengesetzten.
Denn der Mensch ist gar nicht so frei, zugunsten einer »Offenbarung«
von der Kultur seiner Zeit und seiner Schicht zu abstrahieren. Zwang
aber erzeugt Heuchelei und böses Gewissen.
Das Christentum der apostolischen Zeit hat am wenigsten Berührung mit der
Kultur; es ist nämlich von der Erwartung der Wiederkunft des Herrn dominiert,
welche die Gemeinde wesentlich zusammenhält. Weltende und Ewigkeit sind
vor der Tür, die Abwendung von der Welt und ihren Genüssen leicht,
der Kommunismus fast selbstverständlich und bei der allgemeinen Sobrietät
und Dürftigkeit unbedenklich, was ganz anders ist, wenn er mit einem Erwerbssinn
in Konflikt tritt.
In der heidnischen Kaiserzeit tritt an die Stelle der verblaßten Wiederkunftsidee
Jenseits und Jüngstes Gericht; aber die griechische Bildung dringt von
allen Seiten in die Religion ein und zugleich ein buntfarbiger Orientalismus.
Häresien und gnostische Nebenreligionen würden vielleicht das Ganze
zersprengt haben, wenn dasselbe im Frieden sich selbst überlassen geblieben
wäre; wahrscheinlich waren es nur die Verfolgungen, welche das Weiterleben
einer herrschenden Hauptauffassung möglich
machten. Lange nicht so lehrreich ist die Parallele der Geschichte des Islam
bei seinen verschiedenen Völkern und in seinen verschiedenen Zeiten.
Wandlungen des Christentums
Eine totale Wandlung bringt die christliche Kaiserzeit. Die Kirche wird ein
Analogon des Reichs und seiner Einheit und demselben überlegen, und Hierarchen
werden die mächtigsten Personen, in deren Händen enorme Dotationen
und die Benefizenz des ganzen Reiches sind. Und nun siegen einerseits die griechische
Dialektik im Schrauben der Trinitätsbegriffe und der orientalische Dogmensinn
in der Vernichtung der Andersdenkenden, welche sonst der klassischen Welt gar
nicht gemäß war; denn auch die Christenverfolgungen der heidnischen
Kaiser waren nicht gegen die Denkweise der Christen gerichtet gewesen. Anderseits
ist die Wirkung des Ein¬stroms der großen Massen in die Kirche daran
kenntlich, daß der Kultus sich an die Stelle der Religion drängt,
d. h. daß er die Religion genugsam mit Zeremonien, Bilderdienst, Verehrung
der Märtyrergräber und Reliquien usw. sättigt, um den im tieferen
Grunde stets heidnisch fühlenden Massen zu genügen.
Das Christentum von Byzanz ist kenntlich als das einer geknechteten Nation;
während es selber nach Kräften die Nation mitknechten hilft, entbehrt
es jeder freien Wirkung auf die Sittlichkeit, denn der Bann bezieht sich nur
auf Lehre und äußere Disziplin; Orthodoxie und Fastenbeobachtung
genügen für das Leben, und einem mäßigen und geizigen Volke
wird die Askese leicht. Zwar hört der Geist von Syrien, Ägypten und
Afrika seit dem 7. Jahrhundert auf, Byzanz zu beeinflussen, aber erst, nachdem
er sein volles Unheil gestiftet. Der spätere Zusatz ist dann mehr slawischer
Aberglaube, Vampyrglaube usw., hier und da mit wiedererwachtem antiken Aberglauben
vermischt. Das Christentum von Abessinien und andern ganz verkommenen oder geistig
unfähigen Völkern verträgt sich tatsächlich mit völlig
heidnischem Inhalt.
Was das lateinische Christentum des Frühmittelalters betrifft, so bleiben
zunächst die arianischen Germanen stumm, und wir nähern uns ihnen
nur durch Hypothesen; das Wort führen bloß orthodoxe Bischöfe
und andere Hierarchen.
Klostertum
Endlich nach dem Sturz des germanischen Arianismus, bei rascher Verwilderung
und Verweltlichung des nunmehr allein vorhandenen orthodoxen Episkopats, erscheint
das Schreiben auf eine Korporation beschränkt,
welche dann die ganze Überlieferung färbt. Hier zeigt sich nun die
Einwirkung der Nichtkultur: nur noch die Benediktiner
führen die Feder und halten (obwohl infolge ihres Reichtums selber beständig
von Verweltlichung bedroht) irgendeinen Grad der lateinischen Bildung aufrecht.
Der herrschende Gesichtspunkt, der früher allgemein kirchlich war, wird
ein klösterlicher; man erfährt nur noch Klösterliches und einzelnes
aus der Welt nur als Beigabe; auch von dem damaligen Volkstum vernehmen wir
nur insofern etwas, als es an die Klostermauern grenzt und mit den Mönchen
in Kontakt tritt, was damals immerhin eine der wichtigsten Lebensbeziehungen
ist. Während also zwei sehr verschiedene Dinge: Volksphantasie und Mönchtum
an der Klosterpforte zusammentreffen und hier das wenige austauschen, was sie
gemeinsam haben und empfinden, treten die historiae zurück neben dem Lokalen,
den Legenden und annales; es droht eine Zeit, da die Übersicht der Welt
und der Weltgeschichte aufhören könnte.
Die Bevölkerungen aber verlangen von den Kirchenleuten nichts mehr als
Askese (im Namen der vielen, welche sie nicht mitzumachen brauchen) und permanente
Wunder, und die Kirche richtet sich — unbewußt — auf diese
Volksvoraussetzungen hinsichtlich ihrer Magie ein und benützt dergleichen
als Stütze für ihre weltlich-politische Macht.
Merkwürdig ist, wie das Wunderwesen und die Askese seit der Rettung des
Reiches durch die Karolinger und während ihrer Machtperiode zurücktreten,
— unter Karl dem Großen ist kaum davon die Rede, — wie sie
dann aber im 9. und 10. Jahrhundert wieder ihre alte Macht gewinnen, weil die
karolingische Kultur wieder der wilden Volksdenkweise Platz gemacht hat. Die
Gefühlswelt des 10. Jahrhunderts ist fast dieselbe wie die des 6. und 7.
Der Kampf des Mittelalters
Scheinbar die völligste Unterordnung der Kultur unter die Religion, welche
je dagewesen, zeigt das Christentum des 11. Jahrhunderts. Das inzwischen emporgekommene,
ganz achtbare Streben vieler Benediktinerklöster weicht vor dem cluniacensischen
Fanatismus. Dieser besteigt mit Gregor VII. den päpstlichen Thron und richtet
nunmehr seine Postulate an die Welt. Aber es läßt sich fragen, ob
nicht etwa das herrschende Papsttum selbst nur das Eindringen einer besondern
Art von Welt in die Kirche, ob nicht etwa das Kriegertum,
welches als bewaffnete militia S. Petri im Investiturstreit auftritt, doch nur
eine verhüllte Kraft der damaligen Welt und
ihrer Kultur ist. Die Kreuzzugsidee jedenfalls war ein gemischtes, geistlich-weltliches
Ideal.
Und das 11. Jahrhundert verwirklicht dies Ideal und seufzt nicht bloß
danach; es schließt mit einem enormen Willensakt des ganzen, mehr und
mehr in Feuer geratenen Okzidents.
Im 12. Jahrhundert tut sich dann eine baldige Reaktion auf das Abendland kund.
Große weltliche Interessen, Rittertum und Städtetum werden durch
die überhaupt geweckten Kräfte an den Tag gebracht und machen der
Kirche unbewußt Konkurrenz; die Kirche selber wird wieder unfrommer und
weltlicher; ein kenntliches Sinken der Askese ist zu konstatieren; statt ihrer
machen sich der Kirchenbau und die Kunst geltend. Es beginnt ein weltliches
Raisonnement, und es entstehen die Pariser Schulen und die großen Häresien
in den Niederlanden, am Rhein, in Italien und besonders in Südfrankreich
mit ihren teils pantheistischen, teils dualistischen Lehren. Es läßt
sich fragen, wieweit diese Häresien ein Eindringen fremder Kulturelemente
und wieweit sie ein bloßer Beleg des religiösen Schwunges der vorhergegangenen
Zeit seien. Letzteres gilt jedenfalls von den Vertretern der ecclesia
primitiva, den Waldensern.
Es folgt das Christentum des 13. bis 15. Jahrhunderts, da die Kirche sich als
Reaktion im Siege, ja als Polizei darstellt. Künstlich wird das Mittelalter
neu befestigt; die Hierarchie, an die äußersten Mittel gewöhnt,
ist tatsächlich größtenteils mit Junkern und Kanonisten besetzt;
die Wissenschaft ist die kirchlich völlig dienstbare Scholastik, und zwar
in den Händen der Bettelorden.
Die Volksreligion aber macht damals ein höchst merkwürdiges Durchgangsstadium
durch; sie verflicht sich auf das engste mit der damaligen Volkskultur, wobei
man nicht mehr sagen kann, welches das andere bedingt. Sie schließt ein
Bündnis mit dem ganzen äußern und innern Leben der Menschen,
mit all ihren Geistes- und Seelenvermögen, statt sich im Zwiespalt damit
zu erklären.
Das Volk, sehr religiös, mit seinem Seelenheil ernstlich beschäftigt,
und zwar mit Hilfe des Werkdienstes, ist jetzt von pantheistischen und dualistischen
Auswegen abgeschnitten; auch die Mystiker sind orthodox und unpopulär.
Für die Kontinuität des Kultus ist man sehr besorgt, selbst beim Bann.
Die starke Versenkung in das Leiden Christi, der sehr gesteigerte Kultus der
Hostie und der Mariendienst — alles ist schon als wesentlicher Protest
gegen alle Häresie von Bedeutung. In dem naiv polytheistischen Kultus der
Nothelfer, Stadtpatrone und Fachheiligen spricht sich eine wirkliche Teilung
der göttlichen Kraft aus. Denken wir auch an die populären Mariensagen,
die geistlichen Dramen, die Fülle von Bräuchen, die der damalige Kalender
verzeichnet, die Naivetät der religiösen Kunst.
Bei allen Mißbräuchen, Erpressungen, dem Ablaß usw. hatte die
damalige Religion den großen Vorzug, daß sie
alle höheren Vermögen des Menschen reichlich mitbeschäftigte,
zumal die Phantasie. Während die Hierarchie zeitweise über die Maßen
verhaßt war, war sie, die Religion, daher wirklich populär und den
Massen nicht bloß zugänglich, sondern diese lebten darin, sie war
ihre Kultur.
Reformation
Ja, hier wäre die Frage aufzuwerfen, ob nicht der wahre Lebensbeweis einer
Religion doch darin liegt, daß sie sich auf eigene Gefahr jederzeit kühn
mit der Kultur verflechte. Das Christentum gab Beweis von seinem Wachstum, solange
es neue Dogmen, Kultformen und Kunstformen trieb, d. h. bis zur Reformation.
— Nur daß in den letzten Zeiten vorher bedenkliche Zeichen am Horizont
aufstiegen: die ruchlose Machtsucht der Fürsten, die schrecklichen Päpste,
die Zunahme der Macht des Teufels in dem (halb populären, halb dominikanischen)
Hexenwesen.
Vom Christentum der Reformation wird das Heil auf
einen innern Prozeß zurückgeführt, nämlich auf die Rechtfertigung
und die Aneignung der Gnade durch den Glauben, woneben der Kalvinismus dann
noch die Lehre von der Gnadenwahl aufstellt. Gerade aus dem Gegensatz zum katholischen
Werkdienst macht man das Hauptdogma der neuen Lehre. — Wie wandelbar sind
alle so auf die Spitze getriebenen Dinge!
Die Religion ist »gereinigt«, d. h.
sie ist jetzt ohne jene Außenwerke und Verpflichtungen, in welche überall
Werkdienst eingenistet schien, sie sollte auf einmal mit einem mächtigen
Vermögen des Menschen, mit der Phantasie, als einer rein sündlichen
und weltlichen, irreführenden Potenz nichts mehr zu tun haben und sich
dafür »verinnerlichen«. —
Dazu gehörte schon Muße und Bildung, d. h. Unpopulärität,
soweit man nicht das allgemeine Mitmachen durch Gewalt erzwang. Und dabei hatte
man erst noch die größte Mühe, die unbeschäftigt gelassene
Phantasie vom Nebenhinausgehen abzuhalten. Dies war denn auch der Grund, weshalb
die Gegenreformation wenigstens in der Kunst eine gewaltsame Herstellung des
Verhältnisses zur volkstümlichen Phantasie durchsetzte und der Pomp
der Charakter des Barocco wurde.
Ferner erfolgte die Herstellung der Religion in der urchristlichen Auffassung
als einer ewig gültigen doch in einer sehr davon abweichenden Zeitlichkeit,
bei gewerblichen, kräftig emporstrebenden Völkern, in einer Epoche
gewaltiger Bildungsgärung. welche dann mit Gewalt durch zwei Orthodoxien,
eine katholische und eine protestantische, zur schweigenden Huldigung gezwungen
wurde.
Neueres Christentum und Kultur
Die Kultur, auf doppelte Weise (als Phantasie = Kunst und Lebensgestaltung und
als Bildung) geknechtet und abgewiesen, legte sich dann auf heimliche Meuterei,
bis in der Literatur des 18. Jahrhunderts die Abwendung der Geister offen hervorbricht,
gegen die katholische Kirche als reine Negation, gegen die protestantische als
Auflösung in allgemeine Vernunft, als Umschlag in Aufklärung und Humanität,
auch als individuelle Religiosität, je nach den Gemütern und Phantasien.
Zuletzt kann auch der offizielle Protestantismus, als durch einen Prozeß
der Geister entstanden, sich der Konzessionen nicht mehr erwehren.
Und nun das neuere Verhältnis des Christentums zur
Kultur. Zunächst weist die Kultur in
Gestalt von Forschung und Philosophie dem Christentum seine menschliche Entstehung
und Bedingtheit nach; sie behandelt die heiligen Schriften wie andere Schriften.
Das Christentum, wie alle Religionen, in völlig kritiklosen Momenten und
unter völlig hingerissenen und kritikunfähigen Menschen entstanden,
kann sich nicht mehr als sensu proprio und buchstäblich gültig gegenüber
einem allseitigen Geistesleben behaupten. Neben der rationellen Anschauung von
Natur und Geschichte ist die Behauptung eines eximierten Stückes eine Unmöglichkeit.
Je mehr dergleichen dennoch versucht wird, desto unerbittlicher steigt beim
Gegner die Neigung zur Kritik und zur Auflösung alles Mythischen. Dabei
möge man sich immerhin der Schwierigkeit bewußt sein, welche unsere
einseitige Kulturzeit hat, zu glauben und uns vorzustellen,
daß und wie andere geglaubt haben, und auch
unserer Unfähigkeit, uns bei fernen Völkern und Zeiten diejenige Einseitigkeit
und hartnäckige Marterbereitheit klarzumachen, welche für die religiösen
Bildungskrisen unumgänglich war.
Zweitens stellt sich die Moral, so gut sie kann,
von der Religion getrennt, auf ihre eigenen Füße. Die Religionen
stützen sich in ihren späteren Zeiten gern auf die Moralen als ihre
angeblichen Töchter; allein dagegen erhebt sich sowohl theoretisch die
Doktrin einer vom Christentum unabhängigen, rein auf die innere Stimme
gegründeten Sittlichkeit, als auch praktisch die Tatsache, daß im
großen und ganzen die heutige Pflichtübung enorm viel mehr vom Ehrgefühl
und vom eigentlichen Pflichtgefühl im engeren Sinne als von der Religion
bestimmt wird. Deutliche Anfänge hiervon treten seit der Renaissance zutage.
Das künstliche Neupflanzen von Christentum zum Zwecke der guten Aufführung
aber war immer völlig vergeblich. Wie lange freilich das Ehrgefühl
noch als »letzter mächtiger Damm gegen die
allgemeine Flut« vorhalten wird, ist fraglich.
Ein einzelner Beleg von der Abtrennung der Moral vom Christentum liegt z. B.
in der heutigen von optimistischer Grundvoraussetzung ausgehenden Philanthropie,
welche, insofern sie den Menschen vorwärts helfen, Tätigkeit befördern
will, viel mehr ein Korrelat des Erwerbsinnes und der Diesseitigkeit überhaupt
als eine Frucht des Christentums ist, das ja konsequenterweise nur Weggeben
aller Habe oder Almosen kennt. Indem ferner die liberalen Ansichten vom Jenseits
in starkem Fortschreiten begriffen sind, abstrahiert die Moral von einer zukünftigen
Vergeltung. Überhaupt dringt der moderne Geist auf
eine Deutung des ganzen hohen Lebensrätsels unabhängig vom Christentum.
Drittens sind das Weltleben und seine Interessen,
zu schweigen von derjenigen Sorte von Optimismus, die einen idealen Zustand
auf Erden herzustellen hofft, stärker als alles geworden. Die gewaltige
zeitlich-irdische Bewegung und Arbeit jedes Grades, mit Inbegriff der freien
geistigen Tätigkeit, wobei schon materiell die Muße zur Kontemplation
fehlt, steht in einem großen Mißverhältnis zum Dogma der Reformation,
welches — ob man nun an die Rechtfertigung oder an die Gnadenwahl denke
— an sich schwierig und ohnehin nie jedermanns Sache wäre. Vollends
aber steht das Urchristentum selbst zum geschärftesten Christentum unserer
Tage (etwa die Trappisten ausgenommen) im Kontrast. Man liebt das demütige
Sichwegwerfen und die Geschichte von der rechten und linken Backe nicht mehr;
man will die gesellschaftliche Sphäre behaupten, wo man geboren ist; man
muß arbeiten und viel Geld verdienen, überhaupt der Welt alle mögliche
Einmischung gestatten, selbst wenn man die Schönheit und den Genuß
haßt; in Summa: man will bei aller Religiosität doch nicht auf die
Vorteile und Wohltaten der neueren Kultur verzichten und gibt damit wiederum
einen Beweis von der Wandlung, in welcher sich die Ansichten vom Jenseits befinden.
Die kalvinistischen Länder, die schon von der Reformation an wesentlich
die erwerbenden sind, sind zu dem angloamerikanischen Kompromiß zwischen
kalvinistischem Pessimismus in der Theorie und rastlosem Erwerb in der Praxis
gekommen. Sie haben damit einen starken Einfluß ausgeübt, können
es aber, sollte man denken, mit dem petit nombre des élus
nie so recht ernst genommen haben.
Bedenkliche Mittel der jetzigen Orthodoxien sind das Eingehen auf die
»Solidarität der konservativen Interessen«, das Anschließen
an den Staat, der doch nicht mehr gerne mithalten mag, das Aufrechterhalten
des Mythus um jeden Preis u. a. Irgendwie aber wird sich das Christentum zurückziehen
auf seine Grundidee vom Leiden dieser Welt; wie sich damit das Leben- und Schaffenwollen
in derselben auf die Länge ausgleichen wird, ahnen wir noch nicht.
Zusatz 1871. Ob wir jetzt am Eingang einer großen
religiösen Krisis stehen, wer vermag es zu ahnen? Ein Kräuseln auf
der Oberfläche wird man bald inne werden — aber erst in Jahrzehnten,
ob eine Grundveränderung vorgegangen.
Bedingtheit der Religion durch
Kunst und Poesie
Zum Schluß möge hier noch als Ergänzung und Gegenstück
zu früher Gesagtem von der besonderen Bedingtheit der Religion durch Kunst
und Poesie die Rede sein.
Beide haben von jeher in hohem Grade zum Ausdruck des Religiösen beigetragen.
Allein jede Sache wird durch ihren Ausdruck irgendwie veräußerlicht
und entweiht.
Schon die Sprachen üben Verrat an den Sachen: »ut
ubi sensus vocabulum regere debeat, vocabulum imperet sensui«,
wozu dann kommt, daß die Unzähligen, welche sich, obwohl unberufen,
mit den Sachen abgeben müssen, froh sind, sich mit dem Wort abfinden zu
können.
Vollends aber ist die Kunst eine Verräterin, erstens indem sie den Inhalt
der Religion ausschwatzt, d. h. das Vermögen der tieferen Andacht wegnimmt
und ihm Augen und Ohren substituiert, Gestalten und Hergänge an die Stelle
der Gefühle setzt und diese damit nur momentan steigert, zweitens aber,
indem ihr eine hohe und unabhängige Eigentümlichkeit innewohnt, vermöge
deren sie eigentlich mit allem auf Erden nur temporäre Bündnisse schließt
und auf Kündung. Und diese Bündnisse sind sehr frei; denn sie läßt
sich von der religiösen oder anderen Aufgabe nur anregen, bringt aber das
Wesentliche aus geheimnisvollem eigenem Lebensgrunde hervor.
Freilich kommt dann eine Zeit, da die Religion inne wird, wie frei die freie
Kunst verfährt, ihre Stoffe ballt usw. Sie versucht dann die stets gefährliche
Restauration eines vergangenen und befangenen Stiles als eines hieratischen,
der nur das Heilige an den Dingen darstellen soll, d. h. von der Totalität
der lebenden Erscheinung abstrahiert und natürlich neben dem gleichzeitigen
Vollbelebten (wobei die Kunst von dem Baum der Erkenntnis gegessen) um ein Großes
zurücksteht.
Hierher gehört die mürrische Dezenz und Behutsamkeit z. B. der neueren
katholischen Kunst und Musik. Und vollends wissen Kalvinismus und Methodismus
recht gut, warum sie die Kunst mit Gewalt abweisen, so gut es der Islam wußte.
Hierbei hat man es freilich vielleicht auch mit einer unbewußten Nachwirkung
des Pessimismus des älteren Christentums zu tun, welcher keine Stimmung
zur Darstellung von irgend etwas übrig hatte, auch wenn ihm die Sündlichkeit
der Kreatur deren Nachbildung nicht schon verleidet hätte.
Es kommt eben auf das Naturell der Völker und der Religionen an. Das Gegenbild
von diesem allem sind Zeiten, in welchen die Kunst den Inhalt der Religionen
bestimmen hilft. So, wenn Homer und Phidias den Griechen ihre Götter schaffen,
wenn im Mittelalter die Bilderkreise, zumal die der Passion, die ganze Andacht
und die Gebete stückweise vorschreiben, oder wenn das religiös-festliche
griechische Drama die höchsten Fragen coram populo
von sich aus darstellt, und wenn die katholischen Dramen des Mittelalters und
die autos sagramentales die heiligsten Ereignisse
und Begehungen derb der Volksphantasie zur Beute hinlegen, ohne alle Sorge vor
Profanation.
Ja die Kunst ist eine wundersam zudringliche Verbündete der Religion und
läßt sich unter den befremdlichsten Umständen nicht aus dem
Tempel weisen; sie stellt die Religion dar, selbst nachdem diese, wenigstens
bei den Gebildeten (und selbst bei einigen Malern, wie bei Pietro Perugino),
erloschen ist; im späteren Griechenland, in Italien zur Zeit der Renaissance
lebt die Religion (außer etwa noch als Superstition) wesentlich nur noch
als Kunst fort.
Aber die Religionen irren sich sehr, wenn sie glauben, daß die Kunst bei
ihnen einfach nach Brot gehe.
Sie geht in ihren hohen und primären Repräsentanten auch nicht bei
der jeweiligen Profankultur nach Brot, so sehr es oft diesen Anschein hat, wenn
geschickte und berühmte Leute sich dazu hergeben, die Lektüre der
Philister zu illustrieren.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 55, Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Herausgegeben von
Rudolf Marx S.144ff.
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlichem Einverständnis
des Alfred Kröner Verlags, Stuttgart
Das
Unglück und das Kompensationsgesetz in der Weltgeschichte
Und nun ist das Böse auf Erden allerdings ein Teil der großen weltgeschichtlichen
Ökonomie: es ist die Gewalt, das Recht des Stärkeren
über den Schwächeren, vorgebildet schon in demjenigen Kampf ums Dasein,
welcher die ganze Natur, Tierwelt wie Pflanzenwelt, erfüllt, weitergeführt
in der Menschheit durch Mord und Raub in den früheren Zeiten, durch Verdrängung
resp. Vertilgung oder Knechtung schwächerer Rassen, schwächerer Völker
innerhalb derselben Rasse, schwächerer Staatenbildungen, schwächerer
gesellschaftlicher Schichten innerhalb desselben Staates und Volkes.
Der Stärkere ist als solcher noch lange nicht der
Bessere. Auch in der Pflanzenwelt ist ein Vordringen des Gemeineren und
Frecheren hie und da erweisbar. In der Geschichte aber bildet das Unterliegen
des Edlen, weil es in der Minorität ist, besonders für solche Zeiten
eine große Gefahr, da eine sehr allgemeine Kultur herrscht, welche sich
alle Rechte der Majorität beilegt. Und nun waren alle diese unterlegenen
Kräfte vielleicht edler und besser; allein die Sieger, obwohl nur von Herrschsucht
vorwärts getrieben, führen eine Zukunft herbei, von welcher sie selbst
noch keine Ahnung haben. Nur in der Dispensation der Staaten vom allgemeinen
Moralgesetz, bei fortwährender Geltung desselben für den einzelnen,
blickt etwas wie eine Ahnung durch.
Das größte Beispiel bietet das römische Weltreich, begonnen
mit den entsetzlichsten Mitteln bald nach Erlöschen des Kampfes zwischen
Patriziern und Plebejern in Gestalt der Samniterkriege, vollendet durch Unterwerfung
von Orient und Okzident mit unermeßlichen Strömen von Blut.
Hier erkennen wir im großen einen wenigstens für uns recht scheinbaren
weltgeschichtlichen Zweck: die Schöpfung einer gemeinsamen Weltkultur,
wodurch auch die Verbreitung einer neuen Weltreligion möglich wurde,
beides überlieferbar auf die barbarischen Germanen der Völkerwanderung
als künftiger Zusammenhalt eines neuen Europas.
Allein daraus, daß aus Bösem Gutes, aus Unglück
relatives Glück geworden ist, folgt noch gar nicht, daß Böses
und Unglück nicht anfänglich waren, was sie waren. Jede gelungene
Gewalttat war böse und ein Unglück und allermindestens ein gefährliches
Beispiel. Wenn sie aber Macht begründete, so kam in der Folge die Menschheit
heran mit ihrem unermüdlichen Streben, bloße
Macht in Ordnung und Gesetzlichkeit umzuwandeln; sie brachte ihre heilen
Kräfte herbei und nahm den Gewaltzustand in die Kur.
Und das Böse herrscht bisweilen lange als
Böses auf Erden, nicht bloß bei Fatimiden und Assassinen.
Der Fürst dieser Welt ist laut der christlichen Lehre Satan.
Nichts Unchristlicheres, als der Tugend eine dauernde Herrschaft, einen materiellen
Gotteslohn auf Erden zu verheißen, wie die Kirchenschriftsteller den christlichen
Kaisern versprachen. Aber das herrschende Böse hat eine hohe Bedeutung:
nur neben ihm gibt es ein uneigennütziges Gutes. Es wäre ein unerträglicher
Anblick, wenn infolge konsequenter Belohnung des Guten und Bestrafung des Bösen
hienieden die Bösen sich alle aus Zweckmäßigkeit anfingen gut
aufzuführen; denn unvermeidlich vorhanden und innerlich böse wären
sie ja doch. Man könnte in die Stimmung kommen, den Himmel wieder um eine
Straflosigkeit der Bösen auf Erden zu bitten, nur damit dieselben wenigstens
ihre wahren Züge wieder an den Tag legten.
Es ist schon so Verstellung genug in der Welt.
Suchen wir nun auch einigen der erlaubtesten Klagen der Weltgeschichte
den unserer Ahnung zugänglichen Trost gegenüberzustellen.
Zunächst hat zwar gar nicht jede Zerstörung
auch Verjüngung zur Folge. So wie das Zerstören des edleren
Pflanzenwuchses ein Land auf ewig zur verbrannten Wüste machen kann, so
wird sich auch ein zu übel mißhandeltes Volk nie mehr erholen. Es
gibt (wenigstens scheinbar) absolut
zerstörende Mächte, unter deren Hufschlag kein Gras mehr wächst.
Asien scheint dauernd und auf alle Zeiten durch die zweimalige Herrschaft der
Mongolen in seiner wesentlichen Kraft geknickt worden zu sein; besonders Timur
wütete entsetzlich mit seinen Schädelpyramiden und seinen Mauern aus
Stein, Kalk und lebenden Menschen. Es ist gut, daß man sich beim Bilde
eines solchen Zerstörers, wie er seinen und seines Volkes Egoismus im Triumph
durch die rauchenden Ruinen der Welt spazieren führt, davon Rechenschaft
gebe, mit welcher Wucht das Böse sich zuzeiten
vordrängen darf. In solchen Ländern wird man auf ewig nie mehr an
Recht und an menschliche Güte glauben. Und doch hat er vielleicht Europa
vor den Osmanen gerettet; man denke sich ihn hinweg und Bajazeth und die Hussiten
zugleich sich über Deutschland und Italien werfend! Die späteren Osmanen,
Volk und Sultane, so schrecklich sie für Europa waren, haben doch nicht
mehr jenen Höhepunkt der Kraft erreicht, welchen Bajazeth 1. vor der Schlacht
bei Angora darstellte.
Es gibt schon in den alten Zeiten ein entsetzliches Bild, wenn man sich die
Summe von Verzweiflung und Jammer vorstellt, welche das Zustandekommen z. B.
der alten Weltmonarchien voraussetzte. Unser besonderes Mitleid würden
vielleicht jene Einzelvölker verdienen, welche in verzweifeltem Kampfe
um ihre Nationalität den Königen von Persien, vielleicht schon denjenigen
von Assyrien und Medien unterlegen sein müssen. All die einsamen Königsburgen
der Einzelvölker (Hyrkanier, Baktrier, Sogdianer,
Gedrosier u. a.), welche Alexander antraf, bezeichnen lauter entsetzliche
letzte Kämpfe, von welchen wir nichts mehr wissen. Haben sie umsonst gekämpft?
Ganz anders stellen sich zu unserem Gefühl diejenigen Bevölkerungen,
von deren letzten Kämpfen und Untergang Kunde erhalten ist: die lydischen
Städte gegen Harpagus, Karthago, Numantia, Jerusalem gegen Titus. Solche
scheinen uns aufgenommen in die Reihe von Lehrern und Vorbildern der Menschheit
in der einen großen Sache: daß
man an das Gemeinsame alles setze, und daß
das Einzelleben der Güter höchstes nicht sei. So daß aus ihrem
Unglück ein herbes, aber erhabenes Glück für das Ganze entsteht.
Und wenn persische Keilschriften gefunden werden sollten, die auch vom Untergang
jener Völker in den Ostprovinzen des Reiches nähere Meldung täten,
sei es auch nur in dem bombastischen Ormuzdstil des geistlosen Siegervolkes,
so würden auch sie sich jenen großen Erinnerungen beigesellen.
Beiseite mag hier der Trost bleiben, daß ohne solche vorläufige Zermalmer,
wie Assur und Persien, Alexander die Elemente der griechischen Kultur nicht
so weit nach Asien hinein hätte tragen können; über Mesopotamien
hinaus hat dieselbe keine große Wirkung mehr gehabt. Überhaupt müssen
wir uns hüten, unsere geschichtlichen Perspektiven
ohne weiteres für den Ratschluß der Weltgeschichte zu halten.
Bei allen Zerstörungen läßt sich aber immer eins behaupten:
weil uns die Ökonomie der Weltgeschichte im großen dunkel bleibt,
wissen wir nie, was
geschehen sein würde, wenn etwas, und
sei es das Schrecklichste, unterblieben wäre. Statt
einer weltgeschichtlichen Woge, die wir kennen, wäre wohl eine andere gekommen,
die wir nicht kennen, statt eines schlimmen Unterdrückers
vielleicht ein noch böserer.
Nur soll deshalb kein Mächtiger sich zu entschuldigen glauben mit dem Wort:
»Tun wir‘s nicht, so tut's ein anderer«,
womit jede Art von Verbrechen gerechtfertigt werden könnte.
(Solche halten eine Entschuldigung übrigens auch meist nicht für nötig,
sondern finden: »Was wir tun, schlägt ja eo ipso zum Glück aus.«)
Vielleicht würde auch der unterlegene Teil selbst bei längerem Dasein
unserer Teilnahme nicht mehr würdig scheinen. Ein Volk z. B., das früh
in glorreichem Kampf untergegangen, wäre vielleicht später nicht sehr
glücklich, nicht sehr kulturfähig, ja durch eigenes Böses in
seinem Innern frühe verrucht und für die Nachbarn verderblich geworden.
Dagegen, in seiner Vollkraft dahingenommen, macht es eine ähnliche Wirkung,
wie früh gestorbene ausgezeichnete Menschen, welchen die Phantasie bei
vorausgesetztem längerem Dasein nur Fortschritt in Glück und Größe
andichtet, während sie vielleicht ihre Sonnenhöhe schon erreicht und
überschritten hatten.
Von der anderen Seite
meldet sich als Trost das geheimnisvolle Gesetz
der Kompensation, nachweisbar wenigstens an einer
Stelle: an der Zunahme der Bevölkerung nach großen Seuchen und Kriegen.
Es scheint ein Gesamtleben der Menschheit zu existieren, welches die Verluste
ersetzt.
So ist es z. B. nicht gewiß, wohl aber für unser Auge wahrscheinlich,
daß das Zurückweichen der Weltkultur aus dem östlichen Becken
des Mittelmeeres im 15. Jahrhundert äußerlich und innerlich kompensiert
wurde durch die ozeanische Ausbreitung der westeuropäischen Völker;
der Weltakzent rückte nur auf eine andere Stelle.
So wie dort statt eines Todes ein anderer Tod gekommen
wäre, so substituiert hier statt eines untergegangenen Lebens die allgemeine
Lebenskraft der Welt ein neues.
Nur ist die Kompensation nicht etwa ein Ersatz der Leiden,
auf welchen der Täter hinweisen könnte, sondern nur ein Weiterleben
der verletzten Menschheit mit Verlegung des Schwerpunktes. Auch darf
man nicht etwa den Leidenden und ihren Deszendenten und sonstigen Verwandten
damit kommen. Die Völkerwanderung war eine große Erfrischung der
Welt für das absterbende Römerreich, aber wenn man in dem östlichen,
übriggebliebenen Rest desselben etwa im 12. Jahrhundert unter den Komnenen
einen Byzantiner fragte, so redete er so stolz als möglich vom Fortleben
Roms am Bosporus und so verachtungsvoll als möglich gegen das »erneute
und erfrischte« Abendland; und noch der jetzige Gräkoslawe
unter den Türken hält sich nicht für geringer und wohl auch nicht
für unglücklicher als den Abendländer. Überhaupt, sobald
man die Leute fragt, bedanken sie sich für alle Erneuerung der Welt, welche
durch ihren Untergang und durch Einwanderung wilder Horden bewirkt werden soll.
Die Lehre von der Kompensation ist meist
doch nur eine verkappte Lehre von der Wünschbarkeit, und es ist und bleibt
ratsam, mit diesem aus ihr zu gewinnenden Troste sparsam umzugehen,
da wir doch kein bündiges Urteil über diese Verluste und Gewinste
haben. Entstehen und Vergehen sind zwar das allgemeine Erdenschicksal;
aber jedes wahre Einzelleben, das durch Gewalt und (nach unserem Dafürhalten)
vorzeitig dahingerafft wird, darf als schlechthin unersetzlich gelten, sogar
als nicht ersetzlich durch ein anderes ebenso treffliches.
Eine andere Schattierung der Kompensation ist die Verschiebung eines versprochen scheinenden Ereignisses. Es unterbleibt einstweilen etwas Großes, sehnsüchtig Gewünschtes, weil eine künftige Zeit es vollkommener vollziehen wird. Deutschland war im Dreißigjährigen Kriege vielleicht zweimal der Einheit ganz nahe: 1629 durch Wallenstein, 1631 durch Gustav Adolf; in beiden Fällen würde ein furchtbarer, kaum zu bändigender Gegensatz im Volke geblieben sein; der Welttag der Nation wurde um 240 Jahre verschoben und trat dann ein in einem Moment, da jener Gegensatz seine Gefährlichkeit völlig verloren hatte. Im Gebiete der Kunst kann man sich in ähnlicher Weise sagen, daß die neue St. Peterskirche des Papstes Nikolaus V. unendlich geringer geworden wäre als die des Bramante und Michelangelo.
Eine Schattierung ist auch der Ersatz von einzelnen Kulturzweigen durch andere: in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei fast völliger Nullität der Poesie und geringer Richtung in der Malerei erreicht die Musik ihre größte Erhabenheit. Allein auch dies sind Imponderabilien, die man nicht so keck gegeneinander abwägen darf. Sicher ist nur, daß eine Zeit, ein Volk nicht alles zugleich besitzen kann, und daß viele an sich unentschiedene Kräfte von derjenigen Gattung angezogen werden, welche sich bereits im größten Schwung befindet.
Die allergerechtesten Klagen jedoch, welche man, wie es scheint,
gegen das Schicksal sollte erheben dürfen, beziehen sich auf den Untergang
hoher Werke der Kunst und Dichtung. Auf das Wissen des Altertums, auf die Bibliotheken
von Pergamus und Alexandrien würden wir am Ende noch verzichten: das neuere
Wissen ist erdrückend genug; allein die untergegangenen Dichter höchsten
Ranges erfüllen uns mit Jammer, und auch an den Historikern haben wir unersetzliche
Verluste erlitten, weil die Kontinuität der geistigen Erinnerungen auf
große, wichtige Strecken fragmentarisch geworden ist. Diese Kontinuität
ist aber ein wesentliches Interesse unseres Menschendaseins und ein metaphysischer
Beweis für die Bedeutung seiner Dauer; denn ob Zusammenhang des Geistigen
auch ohne unser Wissen davon vorhanden wäre, in einem Organ, das wir nicht
kennen, das wissen wir nicht und können uns jedenfalls keine Vorstellung
davon machen, müssen also dringend wünschen, daß das
Bewußtsein jenes Zusammenhanges in uns lebe.
Allein unsere unerfüllte Sehnsucht nach dem Untergegangenen
ist auch etwas wert; ihr allein verdankt man es, daß noch
so viele Bruchstücke gerettet und durch eine rastlose Wissenschaft in Zusammenhang
gesetzt worden sind; ja Verehrung der Reste der Kunst und unermüdliche
Kombination der Reste der Überlieferung machen einen Teil der heutigen
Religion aus.
Die verehrende Kraft in uns ist so wesentlich, als das zu verehrende Objekt.
Vielleicht auch mußten jene hohen Kunstwerke untergehen, damit eine neuere
Kunst unbefangen schaffen könne. Wenn z. B. im 15. Jahrhundert plötzlich
große Massen wohlerhaltener griechischer Skulpturen und Malereien wären
gefunden worden, so hätten Lionardo, Michelangelo, Raffael, Tizian und
Gorreggio nicht schaffen können, was sie geschaffen haben, während
sie mit dem von den Römern Ererbten wohl in ihrer Weise wetteifern konnten.
Und wenn nach der Mitte des 18. Jahrhunderts bei der begeisterten Erneuerung
des philologischen und antiquarischen Studiums die verlorenen griechischen Lyriker
aufgetaucht wären, so hätten sie möglicherweise den ganzen hohen
Flor der deutschen Poesie stören können. Freilich würde wohl
nach einigen Jahrzehnten der Störung, nach dem ersten Erstaunen das massenhaft
vorhandene Alte mit dem Neuen sich auseinandergesetzt und das Neue seine eigenen
Wege gefunden haben, — allein der entscheidende Augenblick des Vermögens
der Blüte, welcher nicht mehr in seiner vollen Höhe wiederkehrt, wäre
vorüber gewesen. Nun aber war im 15. Jahrhundert für die Kunst, im
18. für die Poesie genug vom Alten da, um anzuregen, und nicht so viel,
um zu erdrücken.
Auf diesem Punkt angelangt, ist innezuhalten. Wir sind unmerklich
von der Frage des Glückes und Unglückes auf das Fortleben des Menschengeistes
geraten, das uns am Ende wie das Leben eines
Menschen erscheint. Dieses, wie es in der Geschichte und
durch sie bewußt wird, muß allmählich die Blicke
des Denkenden dergestalt fesseln, und die allseitige Ergründung und Verfolgung
desselben muß seine Anstrengung derart in Anspruch nehmen, daß die
Begriffe Glück und Unglück daneben mehr und mehr ihre Bedeutung verlieren.
»Reif sein ist alles«. Statt des Glücks
wird das Ziel der Fähigen nolentium volentium die
Erkenntnis. Und dies nicht etwa aus Gleichgültigkeit gegen einen Jammer,
der uns ja mitbetreffen kann, — wodurch wir vor allem
kalten Objektiv-tun geschützt sind, — sondern weil wir die
Blindheit unseres Wünschens einsehen, indem die Wünsche der Völker
und einzelnen wechseln und sich widersprechen und aufheben.
Könnten wir völlig auf unsere Individualität verzichten und die
Geschichte der kommenden Zeit etwa mit ebensoviel Ruhe und Unruhe betrachten,
wie wir das Schauspiel der Natur, z. B. eines Seesturms vom festen Lande aus
mitansehen, so würden wir vielleicht eins der größten Kapitel
aus der Geschichte des Geistes bewußt miterleben. In einer Zeit:
Da der täuschende Friede jener dreißig Jahre, in welchen wir aufwuchsen,
längst gründlich dahin ist und eine Reihe neuer Kriege im Anzug zu
sein scheinen,
Da die größten Kulturvölker in ihren politischen Formen schwanken
oder in Übergängen begriffen sind,
Da mit der Verbreitung der Bildung und des Verkehrs auch die des Leidensbewußtseins
und der Ungeduld sichtlich und rasch zunimmt,
Da die sozialen Einrichtungen durchgängig durch Bewegungen der Erde beunruhigt
werden, — so vieler anderer an gehäufter und unerledigter Krisen
nicht zu gedenken, —
Würde es ein wunderbares Schauspiel, freilich aber
nicht für zeitgenössische, irdische Wesen sein, dem Geist der Menschheit
erkennend nachzugehen, der über all diesen Erscheinungen schwebend und
doch mit allen verflochten, sich eine neue Wohnung baut. Wer hievon eine Ahnung
hätte, würde des Glückes und Unglückes völlig vergessen
und in lauter Sehnsucht nach dieser Erkenntnis dahinleben. S.262ff.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 55, Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Herausgegeben von
Rudolf Marx
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlichem Einverständnis
des Alfred Kröner Verlags, Stuttgart