Martin Buber (1898 – 1965)

In Wien geborener jüdischer Religionsphilosoph; 1924 - 1933 Lehrstuhl für jüdische Religionswissenschaft und Ethik in Frankfurt am Main; 1938 –1951 Professor für Sozialphilosophie in Jerusalem; erhielt 1953 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 1963 den holländischen Erasmuspreis. Seine deutsche Bibel-Übersetzung verbindet deutsche Sprachformung mit jüdischer Bibel-Exegese. Sein Hauptziel war die menschliche und politische Erneuerung des abendländischen Judentums (Zionismus) aus dem Geist der Bibel und der chassidischen Bücher. Der Angelpunkt seiner pädagogischen, religiösen und politischen Anschauungen war das unmittelbare Verhältnis zum Gegenüber (Du). Diese Erkenntnis beeinflusste die dialogische Philosophie, die moderne Pädagogik und Psychiatrie, ebenso die neuere katholische und evangelische Theologie

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon
 


Religion als Wirklichkeit

Das Gespräch mit einem Arbeiter, das nun folgt, habe ich 1932 niedergeschrieben. Es ist in mein Buch »Gottesfinsternis« aufgenommen.
»An drei aufeinanderfolgenden Abenden sprach ich in der Volkshochschule einer mitteldeutschen Industriestadt über den Gegenstand >Religion als Wirklichkeit<. Was ich damit meinte, war eine einfache Feststellung: daß Glaube nicht ein Gefühl in der Seele des Menschen ist, sondern sein Eintritt in die Wirklichkeit, in die ganze Wirklichkeit, ohne Abstrich und Verkürzung. Diese Feststellung ist einfach, aber sie widerspricht der Denkgewohnheit. Und so bedurfte es, um sie deutlich zu machen, dreier Abende, und zwar nicht nur dreier Vorträge, sondern auch noch dreier Aussprachen, die auf sie folgten. Bei diesen Aussprachen fiel mir etwas auf und war mir beschwerlich. Einen großen Teil der Hörerschaft machten ersichtlich Arbeiter aus, aber keiner von ihnen ergriff das Wort. Die Redenden, die Fragen, Zweifel, Bedenken vorbrachten, waren zumeist Studenten, denn die Stadt hat eine berühmte alte Universität; doch auch allerlei andere Kreise waren vertreten; nur die Arbeiter schwiegen. Erst am Schluß des dritten Abends klärte sich der mir schon schmerzlich gewordene Umstand auf. Ein junger Arbeiter trat auf mich zu und sagte: >Wissen Sie, wir mögen da so mittendrin nicht reden, aber wenn Sie sich morgen mit uns zusammensetzen wollen, könnten wir das Ganze mal miteinander besprechen.< Selbstverständlich stimmte ich zu.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Nach dem Mittagessen kam ich an den vereinbarten Ort, und nun redeten wir miteinander wohl bis an den Abend. Unter den Arbeitern war einer, ein nicht mehr junger Mann, den ich immer wieder ansehen mußte, weil er zuhörte wie einer, der wirklich hören will. Das ist nämlich selten geworden, und am ehesten noch unter Arbeitern zu finden, denen es ja nicht um die redende Person zu tun ist, wie dem bürgerlichen Publikum so oft, sondern um das, was sie zu sagen hat. Zu dem Mann gehörte ein kurioses Gesicht. Auf einem altflämischen Altarbild, das die Anbetung der Hirten darstellt, hat einer von ihnen solch ein Gesicht. Er streckt die Arme der Krippe entgegen. Der Mann mir gegenüber sah nicht so aus, als ob er zu dergleichen Lust hätte, auch sein Gesicht war nicht aufgeschlossen wie das auf dem Bild; aber anzumerken war ihm, daß er hörte und bedachte, beides auf eine ebenso langsame wie nachdrückliche Weise. Schließlich tat auch er die Lippen auf. >Ich habe<, erklärte er langsam und nachdrücklich, eine Wendung wiederholend, die der Astronom Laplace, der Miturheber der Kant-Laplaceschen Weltentstehungstheorie, im Gespräch mit Napoleon gebraucht haben soll, >die Erfahrung gemacht, daß ich diese Hypothese >Gott< nicht brauche, um mich in der Welt auszukennen.< Er sprach das Wort Hypothese so aus, als hätte er die Vorlesungen des bedeutenden Naturforschers besucht, der in dieser Industrie- und Universitätsstadt gelehrt hatte und kurz vorher, fünfundachtzigjährig, gestorben war. Der mochte, wenn er nicht Zoologie, sondern Weltanschauung trieb, in ähnlichem Tonfall reden, wiewohl er die Bezeichnung >Gott< für seine Idee von der Natur nicht verschmähte.

Der knappe Spruch des Mannes traf mich. Ich fühlte mich tiefer als von den anderen angefordert, herausgefordert. Bisher hatten wir zwar sehr ernst, aber auf eine etwas lockere Weise verhandelt. Nun war alles auf einmal streng und hart geworden. Von woher sollte ich dem Mann antworten, damit ihm geantwortet war? Ich überlegte eine Weile in dieser streng gewordenen Luft. Es ergab sich mir, daß ich von seiner naturwissenschaftlichen Weltanschauung aus die Sicherheit erschüttern mußte, mit der er an eine >Welt< dachte, in der man sich auskennt. Was war das für eine Welt? Was wir Welt zu nennen pflegen, die Welt, in der es Zinnoberrot und Grasgrün, C-Dur und h-moll, Apfel-und Wermutgeschmack gibt, die >Sinnenwelt<, — war sie etwas anderes als das Ergebnis des Zusammentreffens unserer eigentümlich beschaffenen Sinne mit jenen unvorstellbaren Vorgängen, um deren Wesensbestimmung die Physik sich je und je vergeblich bemüht? Das Rot, das wir sahen, war weder dort in den >Dingen<, noch hier in den >Seelen< —aus dem Aneinandergeraten beider schlug es jeweils auf und leuchtete so lange, als eben ein Rot empfindendes Auge und eine Rot erzeugende >Schwingung< sich einander gegenüber befanden. Wo blieb die Welt und ihre Sicherheit? Die unbekannten >Objekte< dort, die scheinbar so bekannten und doch unerfaßlichen >Subjekte< hier, und beider so wirkliche und doch so hinschwindende Begegnung, die >Erscheinungen< — waren das nicht schon drei Welten, die gar nicht mehr von einer einzigen zu umgreifen waren? Was war der >Ort<, in dem wir uns diese voneinander so abgehobenen Welten miteinander zu denken vermochten? Was war das Sein, das dieser so fragwürdig gewordenen >Welt< ihren Halt gab?

Als ich zu Ende war, waltete in dem nun dämmernden Raum ein hartes Schweigen. Dann hob der Mann mit dem Hirtengesicht die schweren Lider, die die Zeit über gesenkt geblieben waren, zu mir und sagte langsam und nachdrücklich: >Sie haben recht.<

Bestürzt saß ich ihm gegenüber. Was hatte ich getan? Ich hatte den Mann an die Schwelle des Gemachs geführt, in dem das majestätische Gebild thront, das der große Physiker, der große Gläubige Pascal den Gott der Philosophen nennt. Hatte ich das gewollt? War der, zu dem ich ihn hinführen wollte, nicht der Andere? Der, den Pascal den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nennt? Der, zu dem man du sagen kann?
Es dämmerte, es war spät. Am nächsten Morgen mußte ich abreisen. Ich konnte nicht, wie ich nun hätte eigentlich tun müssen, dableiben, in die Fabrik eintreten, wo der Mann arbeitete, sein Kamerad werden, mit ihm leben, sein lebensmäßiges Vertrauen gewinnen, ihm helfen, gemeinsam mit mir den Weg der Kreatur zu gehen, die die Schöpfung annimmt. Ich konnte nur noch seinen Blick erwidern.«
Kröner, Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 243, Mensch und Menschlichkeit, Das Heidelberger Studio, eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks S. 55-61
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