Emil Brunner (1889 - 1966)

Schweizer evangelischer Theologe, der in Berlin und Zürich Theologie studierte, wobei er vor allem durch Leonard Ragaz (1868 – 1945), Julius Kaftan (1848 - 1926) und Adolf von Harnack (1851 – 1930) geprägt wurde. Neben Karl Barth (1886 – 1968), Friedrich Gogarten (1887 – 1967), ist Emil Brunner einer der Mitbegründer der so genannten »Dialektischen Theologie«, die sich gegen die »Liberale Theologie« wandte, die den Offenbarungsglauben zugunsten einer Religion der natürlichen Vernunft aufgibt. Im Gegensatz zu Karl Barth vertritt Emil Brunner allerdings die Auffassung, dass sich der dialektische Charakter der Theorie nicht im göttlichen Nein der Offenbarung erschöpft (im Tod und in der Auferstehung Jesu wird der Mensch durch Gott verneint!), sondern sich vor allem in der dialogischen Begegnung zwischen Gott und Mensch auf der Grundlage seines gottesebenbildlichen Personseins gründet: »Weil Gott im Menschen sich ein Gegenüber schafft, dem er sich selbst mitteilen will, darum schafft er den Menschen als ein vernünftiges, als ein Wort-empfangen-könnendes Wesen.«

Inhaltsverzeichnis

Die Gottebenbildlichkeit und das Menschsein   Der Gottesbegriff der Vernunft  

Die Gottebenbildlichkeit und das Menschsein
Der Mensch ist sozusagen ein hierarchisch gebautes System. Es gibt in ihm ein Oben und ein Unten, und darum ist er als ganzer von oben nach unten, nicht von unten nach oben zu verstehen. Darüber sind der common sense, der idealistische Humanismus und der christliche Glaube einer Meinung. Der Gegensatz beginnt erst da, wo es sich darum handelt, das »Oben« zu bestimmen. Der Idealismus setzt als dieses »Oben« die göttliche Vernunft, an der der Mensch Anteil hat; der christliche Glaube setzt als das »Oben«, von dem her der Mensch zu verstehen ist, das schenkend-anrufende Wort Gottes, in dem der Mensch als Mensch seinen Grund hat. Das erste, was über den Menschen in der Bibel gesagt wird, ist dies, daß er zu Gott in einer Beziehung steht, in der Beziehung, in der ein Bild zu seinem Urbild steht. Der Mensch muß zuerst theologisch definiert werden, erst nachher mögen der Philosoph, der Psychologe und der Biologe ihren Spruch tun. Das Menschsein des Menschen ist keine bloß humane, sondern eine »theologische« Angelegenheit; der Mensch ist nicht in sich selbst, nicht aus der Vernunft, die in ihm ist, verständlich. Er ist verständlich einzig und allein aus seinem Gegenüber, aus dem Wort seines Schöpfers. Die Gottesbeziehung, nicht die Vernunft ist die Spitze der Pyramide, der oberste Punkt in der Hierarchie, als welche der Mensch gebaut und als welche der Mensch verständlich ist. Die Vernunft ist sozusagen nur das Organ der Gottesbeziehung, wie die Seele das Organ der Vernunft und der materielle Leib das Organ der Seele ist. Die Spitze des Menschen, rein vom Menschen aus betrachtet, ist das Ich-Selbst. Das Ich-Selbst aber ist, was es ist und was es sein soll, durch das göttliche Du.

Nicht von der Vernunft aus ist die Gottesbeziehung, sondern von der Gottesbeziehung aus ist die Vernunft zu verstehen. Die Verantwortlichkeit kommt nicht als Attribut, als eine Bereicherung zum vernünftigen Menschen hinzu, sondern die Vernunft ist von vornherein auf das Vernehmen des Gotteswortes hin angelegt. Sie ist sozusagen das Material, das Substrat der Gottesbeziehung. Weil Gott den Menschen als einen, der seinen Ruf hören und beantworten kann, schafft, darum schafft er ihn auch als einen vernünftigen. Die Vernunft ist das Organ des Vernehmens, aber der Sinn dieses Organes, sein letztes Woher und Wohin, das, was seine Struktur bestimmt, ist Gottes Wort. Weil Gott im Menschen sich ein Gegenüber schafft, dem er sich selbst mitteilen will, darum schafft er den Menschen als ein vernünftiges, als ein Wort-empfangen-könnendes Wesen. Darum ist der Logosbegriff das Letzte und Höchste, was auch die von Gottes Wort entfremdete Vernunft noch eben denken kann. So sehr ist die Vernunft auf das Vernehmen des Gotteswortes hin eingerichtet, so sehr ist ihr die Gottesbeziehung eingesenkt, dass sie auch in ihrer Gottlosigkeit noch Gott denken muß — freilich einen Vernunftgott, der nicht der lebendige ist; denn den lebendigen Gott kann man nicht denken, sondern nur in seinem Wort vernehmen. Der metaphysische Logosbegriff ist sozusagen der ohnmächtig-krampfhafte Versuch des verstümmelten Organs, seine Funktion zu erfüllen, die es doch infolge der Verstümmelung nicht mehr erfüllen kann.
*Die ultrareformatorische Theologie, die von einer Beziehung zwischen humanum und Gottesverhältnis nichts wissen will, kann dem Irrtum des spekulativen Gottesgedankens nicht einmal ein fundamentum in re zubilligen. Uns aber wird gerade von hier aus der Zusammenhang von deus nudus (absolutus), Zorn Gottes, Gesetz und spekulativer Gotteserkenntnis bei Luther deutlich (vgl. Th. Harnack a. a. O. S. 84ff.). Der Gott, zu dem man auf dem spekulativen immanenten Wege kommt, ist immer — ob man das weiß oder nicht — der deus nudus, der zornige Gott, dessen »Majestät der Kreatur unleidlich« ist. Er verschlingt mit dem göttlichen Du auch das menschliche Ich in einem abstrakten All-Einen.

Also nicht als eine — ähnlich wie Gott — vernünftige Natur, der dann als ein Zweites, Übernatürliches, die Beziehung zu Gott, die Gemeinschaft mit Gott beigegeben ist, dürfen wir den nach dem Bilde Gottes geschaffenen Menschen verstehen, sondern umgekehrt als den, den Gott sich als sein kreatürliches Gegenüber schafft, in dem er sich ihm mitteilt durch sein Wort und den er darum mit Vernunft als dem Organ des Empfangens von Wort ausstattet. Darum aber, weil dieser Ruf Gottes zuerst ein Sich-mitteilen, ein Akt der göttlichen Liebe und nicht zuerst eine Forderung, ein Gesetz ist, darum ist der »Urstand«, auch wenn er keine historische Größe ist, doch zuerst als ein Sein und nicht als ein Sollen zu verstehen. Das Sein nach der imago Dei ist göttliches Geschenk, mitgeteiltes Leben, nicht bloß Ziel. Vom Negativen aus gesehen: Das, wovon die Sünde eine Abkehr ist, ist nicht bloß eine Forderung, sondern ein gottgegebenes Sein. Das dem Menschen ursprungsmäßig gegebene Leben ist das Sein-in-Gottes-Liebe. Diese Gabe, nicht bloß eine göttliche Aufgabe, ist das Prius unserer empirischen, sündigen Existenz. Das Menschsein ist ursprünglich auf das Empfangen dieser Gabe, nicht auf die selbsttätige Verwirklichung einer Forderung hin angelegt. So verstehen wir uns — unser Nach-dem-Bilde-Gottes Sein — wieder aus dem Neuen Testament, indem wir zu diesem Bilde erneuert werden, durch das schenkende Wort, durch die sich hingebende Gottesliebe, durch den rein empfangenden Glauben.

Darum weil die Gabe und nicht die Aufgabe das erste ist —»Lasst uns ihn lieben, denn er hat uns zuerst geliebt !« —, darum ist der ursprüngliche, gottgeschaffene Lebensstand als ein Sein in der Liebe, als eine justitia originalis [ursprüngliche Gerechtigkeit] zu verstehen. Nicht als ob dieser gerechte Mensch irgendwo, irgendwann wirklich gelebt hätte — diese Vorstellung ist das historische Gewand, in das die biblische Botschaft gehüllt ist —, sondern diese ursprüngliche Gerechtigkeit — das Sein in der schenkenden, der zuerst liebenden Liebe Gottes — ist das, wozu Gott den Menschen schafft. Wenn der Mensch, an seinem Teil, sich von dieser göttlichen Gabe abwendet, so wendet er sich eben nicht von einer bloßen Aufgabe, einer Bestimmung, einem selbsttätig zu erreichenden Ziel, sondern von Gottes Gabe ab. Das Leben, wie Gott es gibt, ist das Sein in seiner Liebe; wenn das wirkliche, das empirische Leben so nicht ist, so ist das nicht Gottes, sondern des Menschen Schuld.

Des Menschen ursprüngliches Wesen ist also das Sein-in-Gottes-Liebe, das erfüllt-verantwortliche Sein, die Verantwortlichkeit, die nicht aus Forderung, sondern aus Gabe, nicht aus dem Gesetz, sondern aus der Gnade, aus der schenkenden Liebe kommt und selbst im Wiederlieben besteht. So ist, von Gott aus, das menschliche Leben gemeint und geschaffen. Darin hat es seine Menschlichkeit — gerade in seiner Gottbezogenheit, und zwar im Empfangen der göttlichen Liebe. Diese inhaltliche Erfülltheit und diesen responsorischen Charakter haben die Reformatoren verteidigt, wenn sie darauf beharrten, daß die imago Dei, die das Wesen des Menschen bestimmt, als justitia originalis und nicht als Vernunft, Freiheit oder schöpferische Fähigkeit zu verstehen sei. Der Mensch ist aus dem Sein-in-Gott, aus dem Sein-von-Gott-her, nicht aus dem eigenen Können zu verstehen.


Wie aber steht es denn mit dem Menschsein, das auch der gottlose, der von Gott abgewandte, der sündig gefallene Mensch, der wir erfahrungsmäßig sind, noch hat? Von dem bedenklichen Begriff des imago-Restes, den die Reformatoren eingeführt hatten, müssen wir, wie aus dem Vorherigen deutlich wurde, absehen. Denn er sagt zuviel und zuwenig. Zuviel, weil er den Schein erweckt, als gäbe es sozusagen einen von der Sünde ausgesparten Bezirk im Menschenwesen; zuwenig, weil er der Tatsache nicht Rechnung trägt, daß der Mensch gerade in seiner Sünde von seiner ursprünglichen Gottbezogenheit Zeugnis ablegt, daß er sich auch — und gerade — in der Sünde durchaus als das »theologische«, das »vor Gott stehende«, auf Gott bezogene Wesen manifestiert. Vielmehr müssen wir sagen, daß durch die Sünde der ursprüngliche Lebensstand, die justitia originalis, ein völlig verlorener sei — der Mensch lebt tatsächlich nicht gemäß der Liebe Gottes, so daß er den wiederliebt, der ihn zuerst geliebt -, daß aber die »theologische« Struktur des Menschseins, wie sie vom Schöpfer geschaffen ist, durch den Gegensatz des Menschen gegen den Schöpferwillen nicht vernichtet, obschon in ihrer Auswirkung verkehrt sei.

Auch als Sünder ist der Mensch nur aus dem ursprünglichen Gottesbilde verständlich — nämlich als der im Gegensatz zu ihm Lebende. Vergessen wir nicht, daß wir, wenn wir von einem »Ebenbild Gottes« und seiner »Zerstörung« sprechen, in Gleichnissen reden. Was wir in klaren Begriffen sagen können, ist dies: daß die Gottesbeziehung, die das ganze Wesen des Menschen bestimmt, durch die Sünde nicht aufgehoben, wohl aber verkehrt ist. Der Mensch hört nicht auf, das Gott verantwortliche Wesen zu sein, aber seine Verantwortlichkeit ist aus einem Sein-in-der-Liebe ein Sein-unter-dem-Gesetz, ein Leben unter dem Zorn Gottes geworden.
S. 92-96
Aus: Der Mensch im Widerspruch. Die christliche Lehre vom wahren und vom wirklichen Menschen von D. Emil Brunner. 1941 Zwingli-Verlag Zürich
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung der »TVZ Theologischer Verlag Zürich AG«


Der Gottesbegriff der Vernunft
Der menschliche Geist bildet von sich aus, ohne besondere Offenbarung, und zwar mit einer gewissen Notwendigkeit, die Gottesidee oder etwas ihr Entsprechendes: die Idee des Absoluten, der transzendentalen Einheit und dergleichen. Während nun der Rationalismus aller Schattierungen die Offenbarung im Wort Gottes von dieser »vernunftimmanenten« Gottesidee aus begreift und beurteilt, versteht umgekehrt der christliche Glaube diese vernunftimmanente Gottesidee als einen Hinweis auf den verlorenen Ursprung, auf die ursprüngliche Beziehung zwischen Gottes Wort und dem menschlichen Geist. Daß der Mensch, mag er wollen oder nicht, glauben oder nicht, mit Notwendigkeit diese Idee des Absoluten bildet, ist ein Zeichen davon, daß auch der gefallene Mensch, kraft dessen, daß Gottes Geist ihm nahe bleibt, auch wenn er, der Mensch, sich von Gott entfremdet, immer noch auf Gott bezogen ist. Gott hält ihn fest, darin, daß er das Unbedingte denken muß. Zugleich aber ist die Abstraktheit und Leere dieses »Gottes«-gedankens eine Manifestation der Entfremdung des Menschen von seinem persönlichen Schöpfer. Der menschliche Geist in dieser Entfremdung vom lebendigen persönlichen Gott ist das, was wir jetzt als »die menschliche Vernunft« kennen.

Das vernunftmäßige Denken erzeugt mit Notwendigkeit einen abstrakten Gottesbegriff, erreicht aber eben darum niemals den persönlichen lebendigen Gott*. Denn dieses Denken bleibt in sich selbst gefangen; es ist monologisch [in der Form eines Selbstgespräches].

* Vgl. meine Schrift, »Gott und Mensch«, das erste Stück. Die heute auch in der Theologie übliche Verachtung der Idee dürfte mehr mit dem Irrationalismus der Zeitströmung als mit der christlichen Wahrheit etwas zu tun haben. Darum ist auch die Meinung, bei Augustin sei alles, was platonisch oder neuplatonisch ist, deswegen ohne weiteres unbiblisch, irrig. Augustin hat wohl gewusst, warum er in seiner letzten Periode zwar seinen Neuplatonismus, aber nicht seine platonisch-plotinischen Erkenntnisse preisgegeben hat. Daß er es wagt, auch als paulinischer Christ noch zu philosophieren, ist für viele schon ein hinlänglicher Grund, ihm Verrat des Glaubens vorzuwerfen. Diese falsche Diastase [Spaltung] von Theologie und Philosophie wird uns mit Recht von den Katholiken zum Vorwurf gemacht (vgl. Gilson, »L‘esprit de la philosophie médiévale«, chapitre 1).

Die zwei Merkmale des vernunftmäßigen Denkens, die Geschlossenheit des Begründungszusammenhangs und die als Autarkie verstandene Autonomie, sind die zwei Seiten dieses einen Sachverhaltes. Was wir »vernünftig« denken, das muß im Begründungszusammenhang stehen, das muß streng begründete Aussage sein. Die Vernunft selbst kann zwischen dem Unvernünftigen und dem Übervernünftigen keinen Unterschied machen. Und anderseits: die Vernunfterkenntnis anerkennt kein »von außen«; sie will und muß im Kreis der Immanenz bleiben. Sie anerkennt darum nur eine »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«. Darum will die Vernunfttheologie Gott in die Vernunft hineinnehmen, statt die Vernunft in Gott hinein und unter Gott zu stellen. Sie identifiziert Gott und die widerspruchslose Wahrheit. Gerade das, was für den Glauben das A und O ist, das Gegenüber von Gott und Mensch, das persönliche und personschaffende Wort des personhaften Gottes: das ist der Vernunft das eine große Ärgernis.

Wie ein Denker, der sich dieser Vernunftforderung verpflichtet weiß und doch aus seinem geschichtlichen Hintergrund den christlichen Gottesgedanken kennt und ihn nicht ganz loslassen will, gegen das Dilemma: Glaube oder Vernunft-als-Letztes anrennt, ist wohl nirgends so eindrücklich wie in Kants nachgelassenen metaphysischen Werken. Er denkt den Gott des christlichen Glaubens, aber er will ihn vernunftmäßig denken, nicht glauben. Weil sein Denkwille die Oberhand gewinnt, muß er schließlich den christlichen Gottesgedanken verwerfen. Immer macht die Vernunftforderung — das Prinzip des immanenten Begründungszusammenhangs, das Prinzip der Denkeinheit, die transzendentale Denkmethode — den Inhalt des christlichen Gottesbegriffs zunichte. Denn dieser Inhalt kann nicht als Vernunftinhalt gedacht, er kann nur als Offenbarung geglaubt werden. In der Vernunft bleibt der Mensch bei sich selbst, bei der einen in sich geschlossenen Vernunft; im Glauben aber tritt ihm das sich offenbarende, ihn »von außen« anredende Du gegenüber. Der Vernunftgott ist der Gott, den ich mir selbst sage; der Offenbarungsgott ist der Gott, der sich selbst mir sagt. Dieses »von außen«, dieses »Du-Gegenüber« ist ernst, letztlich ernst gemeint, so daß also nicht, zuguterletzt, doch noch das »es sich selbst sagende Ich« und das »es mir sagende göttliche Du« dasselbe sind. Darum sagten wir: die autonome Vernunft ist der gegen Gottes Offenbarung sich verschließende, der bei sich selbst bleibende Geist, und was sie »transzendent« nennt, ist nur die von ihr selbst gezogene Grenze, jenseits deren sie nichts anerkennt, weil es nicht ihre eigene, vernünftige Setzung wäre.
S. 242-244
Aus: Der Mensch im Widerspruch. Die christliche Lehre vom wahren und vom wirklichen Menschen von D. Emil Brunner. 1941 Zwingli-Verlag Zürich.
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung der »TVZ Theologischer Verlag Zürich AG«