Jeanne Marie Bouvieres de la Mothe Guyon, genannt Madame Guyon (1648—1717)
Französische,
katholische Mystikerin aus adligem Geschlecht, die als Hauptvertreterin der quietistischen Mystik gilt. Jeanne
Marie ist in Klöstern aufgewachsen und
hatte schon als Kind einen Drang zu asketischer Frömmigkeit, die durch
das Lesen der Schriften des Franz von Sales und der Jeanne-Françoise Frémyot de
Chantal gefördert wurde. Sie soll sich ihrem Erlöser Jesus
Christus als Braut verlobt und das in einem Vertragsformular mit
Unterschrift und Siegel festgehalten haben. Ihre ekstatischen Visionen beschrieb sie in ihrem reichen schriftstellerischen
Werk. 1688 nahm Fénelon brieflichen und persönlichen Kontakt mit ihr auf, der ihr Seelenfreund und später auch der Verteidiger ihrer mystischen Anschauungen wurde.
Wegen ihrer quietistischen Mystik wurde Madame Guyon kirchlicherseits verfolgt und mehrfach inhaftiert. Sie wurde in den Quietismusstreit zwischen Bossuet und Fénelon
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Inhaltsverzeichnis
Die Erleuchtung der Seele | Die Innerlichkeit |
Die Erleuchtung der Seele
Eine solche Seele empfängt alles aus dem Grunde unmittelbar,
und von da ergießt es sich sodann auf die Kräfte und auf die Sinne,
wie es Gott wohlgefällt. Nicht also ist es mit den andern Seelen, die unmittelbar
empfangen: da fällt das Empfangene in die Kräfte, und von da vereinigt
es sich mit dem Mittelpunkt. In jenen Seelen aber entlädt es sich aus dem
Mittelpunkt auf die Kräfte und auf die Sinne. Sie lassen alles vorübergehen,
ohne dass etwas auf ihren Geist oder auf ihr Herz einen Eindruck machte.
Überdies erscheinen ihnen die Dinge, die sie kennen oder erfahren, nicht
als außergewöhnliche Dinge, als Weissagung und dergleichen, wie sie
den anderen erscheinen; man sagt sie ganz natürlich, ohne zu wissen, was
man sagt, und warum man es sagt; ohne irgend etwas Außerordentliches.
Man sagt und schreibt, was man nicht weiß; und es sagend und schreibend,
sieht man, dass es Dinge sind, an die man nie gedacht hat. Es ist wie eine
Person, die in ihrem Grunde einen unerschöpflichen
Schatz besitzt, ohne je an ihren Besitz zu denken; sie weiß ihre
Reichtümer nicht, sie schaut sie nicht; aber sie findet, wenn es ihr not
tut, in diesem Grunde alles, wessen sie bedarf. Die Vergangenheit,
die Gegenwart und die Zukunft sind da in der Art eines gegenwärtigen und
ewigen Augenblicks, nicht als Weissagung, die die Zukunft als ein Ding betrachtet,
das kommen soll, sondern alles in der Gegenwart in ewigem Augenblick, in Gott
selber geschaut; ohne zu wissen, wie sie es sieht und kennt; mit einer sicheren Treue im Sagen der
Dinge, wie sie gegeben sind, ohne Absicht und Rückschau, ohne zu sinnen,
ob man von der Zukunft oder der Gegenwart rede; ohne sich darüber zu mühen,
ob die Dinge sich erfüllen oder nicht, in der einen Weise oder einer anderen,
ob sie die eine Deutung verloren haben oder eine andere. Aus diesem also verlorenen
Grunde gehen die Wunder hervor.
Als mein Geist erleuchtet worden war, wurde meine Seele
in eine unendliche Weite gesetzt. Ich erkannte den Unterschied der Gnaden, die
diesem Zustande vorausgegangen waren, und deren, die ihm gefolgt sind. Vor
dem sammelte und verband sich alles innen, und ich besaß Gott in meinem
Grunde und in der Heimlichkeit meiner Seele; dann aber war ich von ihm besessen,
in einer so weiten, so reinen und so unendlichen Weise, dass es nichts
Ähnliches gibt. Einst war Gott wie in mir eingeschlossen, und ich war mit
ihm in meinem Grunde vereinigt; dann aber war ich untergegangen in dem Meere.
Ehemals verloren sich wohl die Gedanken und die Absichten, aber in einer, wiewohl
wenig, bemerkbaren Weise, die Seele ließ sie fallen, und das ist noch
ein Tun; dann aber waren sie mir verschwunden, und in einer so nackten, so reinen,
so verlorenen Art, dass die Seele keinerlei eignes Tun hat, so einfach
und zart es auch sei; zumindest keines, das zu ihrer Kenntnis geraten könnte...
Diese Weite, die von keinem noch so einfachen Ding begrenzt ist, wächst
mit jedem Tage; so dass es scheint, die Seele, die an den Eigenschaften
ihres Bräutigams teilhat, habe vor allem teil an seiner Unendlichkeit. Einst war man wie nach innen gezogen und eingeschlossen; dann verspürte
ich, daß eine Hand, weit stärker als die erste, mich aus mir selber
zog und mich ohne Blick, ohne Licht, ohne Erkennen in Gott versenkte.
Im Anfang des neuen Lebens sah ich klar, dass die Seele mit ihrem Gott ohne Mittel und Mittleres vereinigt war; aber sie war
noch nicht vollkommen verloren. Sie verlor sich mit jedem Tag in ihm, wie man
einen Fluss, der sich im Ozean verliert, zuerst sich in ihn ergießen,
dann in ihm aufgehen sieht, so aber, dass der Fluss sich noch eine
Zeitlang vor dem Meere unterscheidet, bis er sich endlich allgemach in das Meer
selber verwandelt, das, ihm allgemach seine Eigenschaften mitteilend, ihn so
sehr in es umtauscht, dass er mit ihm nur noch ein einziges Meer ist. Ich
habe dieselben Dinge an meiner Seele erfahren, wie Gott sie allgemach in ihm
selber verliert, sie aus ihrer Eigenheit zieht und ihr das Seine mitteilt.
Die Sinne sind zuweilen wie schweifende Kinder, die umherlaufen; aber sie verwirren
nicht diesen Grund ohne Grund, der ganz verloren, ganz bloß ist und der
durch nichts mehr gehindert wird, wie er durch nichts mehr gestützt wird.
Mein Gebet war immer das gleiche; nicht ein Gebet, das in mir wäre, sondern
in Gott, sehr einfach, sehr rein und sehr klar. Es ist kein Gebet mehr, sondern
ein Zustand, von dem ich wegen seiner großen Reinheit nichts sagen kann.
Ich glaube nicht, dass es auf der Welt etwas Einfacheres und Einigeres
geben kann. Es ist ein Zustand, von dem man nichts sagen kann, weil er allen
Ausdruck übertrifft; ein Zustand, in dem die Kreatur so ganz verloren und
versunken ist, dass sie, mag sie auch außen frei sein, innen nichts
mehr besitzt. So ist denn auch ihr Glück unwandelbar. Alles ist
Gott und die Seele wird nur noch Gottes gewahr. Sie hat keine Vollkommenheit
mehr zu verlangen, hat kein Streben mehr, keinen Zwischenraum, keine Vereinigung:
alles ist in der Einheit vollzogen, aber in einer so freien, so leichten, so
natürlichen Weise, dass die Seele in Gott und von Gott lebt, so unbefangen,
wie der Körper von der Luft lebt, die er einatmet. S.232ff.
Aus: Sloterdijk (Hrsg.): Mystische Zeugnisse aller Zeiten und Völker gesammelt
von Martin Buber, Diederichs DG 100
Die
Innerlichkeit
Das Mittel also, um vereinigt zu sein und zu sehen, wie »verneuert
wird die Gestalt der Erde«, ist, fest an der Umgestaltung unseres
Innern zu arbeiten, indem wir den alten Menschen ausziehen und uns völlig
enteignen, was durch eifriges Gebet und die Übung geschieht, uns in Gottes
Gegenwart zu fühlen. Dieses aber ist den Beschäftigungen nicht entgegen,
die ja auf Gottes Befehl geschehen und an sich nicht sündhaft sind. Dass
so wenige sich dem innern Leben hingegeben haben, liegt darin, dass sie irrigerweise
überzeugt waren, man müsse jede andere Beschäftigung aufgeben,
um sich dem Innern hinzugeben. Es gibt aber keine Beschäftigung, die ihm
entgangen sei.
Johannes der Täufer riet einem jeden, sich in seinem Stande zu vervollkommnen.
Es hat niemals einen mehr innerlichen Menschen gegeben als David; dennoch hat es keinen gegeben, der mehr beschäftigt gewesen wäre.
Als er sündigte, war er nicht, wie gewöhnlich, an der Spitze seiner
Truppen ins Feld gezogen, was die heilige Schrift sehr richtig anmerkt; er war
in seinem Hause geblieben, wo er, auf der Terrasse auf und ab gehend, die Sünde
in sich empfing und sie zeugte. Man sagt, dass alle großen Ämter
des Marschalls Boucicaut ihn nicht hinderten, mehrere
Stunden dem Gebet zu widmen. Der heilige Ludwig, der heilige Eleasar, so viele große Herren unserer Zeit, haben das innere Leben mit den allergrößten
Geschäften zu vereinen gewusst.
Es ist also nicht nötig, weder seine Geschäfte noch die Welt zu verlassen,
um innerlich zu sein. Allein man muss trachten, das Innere in die Welt auszugießen,
man muss durch ein allgemeines Losgelöstsein von der verderbten Welt geschieden
sein, und das ist es, was uns das innere Leben gibt. Wie viele gibt es doch
in den Klöstern, die von Weltliebe ergriffen sind, und die sogar mehr an
ihr hängen, als die mittun in der Welt leben? Sie kennen die ganze Hässlichkeit
dieses Lebens nicht, sie machen sich ein unwahres, aber schönes Bild davon,
von dem sie immer mehr erfüllt sind, weil sie alle seine Unannehmlichkeiten
nicht sehen.
Wer innerlich ist und trachtet, Gott gegenwärtig in sich zu tragen, nimmt diese Gottesgegenwart überall mit sich und, einzig an diese Sache geknüpft, erscheint
ihm alles übrige so klein, so fade dass er nur Widerwillen
dagegen empfindet. Diese Gottesgegenwart macht,
dass ein jeder die Pflichten seines Amtes in Vollkommenheit erfüllt, da Gott die in sich geordnete und ihm immer angehörende Seele
alles auf das beste vollenden macht. Die Biegsamkeit des Geistes
und Willens macht,
dass Gott sie beugt und bewegt, wie es ihm gefällt. S. 278ff.
Aus: Jakob Studer, Für alle Tage, Ein christliches Lesebuch, Fretz &
Wasmuth Verlag AG. Zürich