Wilhelm Bousset (1865 – 1920)
Deutscher
evangelischer Theologe, der einer der führenden Köpfe der »Religionsgeschichtlichen Schule«
war, die aus einer Gruppe von deutschen evangelischen Theologen bestand,
die sich um 1890 vorwiegend in Göttingen habilitierten und zu der u. a. auch Ernst Troeltsch,
William Wrede und
Rudolf Otto gehörten. ..Der nachstehende Text - in dem er sich
abschließend Gedanken um »Die Zukunft
des Christentums« macht - ist in ungekürzter Form seinem
wohl populärsten Werk »Das Wesen der Religion
dargestellt an ihrer Geschichte« entnommen. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Die Zukunft
des Christentums.
Achter Vortrag
In der Beantwortung der Frage nach der Zukunft des Christentums beginnen wir
am besten damit, dass wir die letzte abgeschlossene Ausgestaltung und Entwickelung,
die das Christentum vorläufig erfahren hat, ins Auge fassen.
Die Reformation ist eine große, vom germanischen Geist
am Christentum vollzogene Befreiungstat, eine Rückkehr zur Einfachheit
und Wahrheit.
Die Reformation bedeutete zunächst eine Zertrümmerung
des ganzen äußeren Gefüges der römischen Kirche,
an dem mehr als ein Jahrtausend gearbeitet hatte, eine Aufhebung des
politisch-staatlichen Charakters der Kirche, ein Zerschlagen aller äußeren
Autoritäten, auf die man sich bisher gestützt. Vor dem Wahrheitssinn
des Wittenberger Mönches weichen Bergeslasten. Die Kirche kann die letzte
Autorität in Sachen der Lehre nicht sein, der Papst selbst, die Konzilien,
die Vertretung der Gesamtkirche - sie können irren!
Über das alles hinüber, über eine Tradition von anderthalbtausend
Jahren greift Luther, hier im
Bunde mit der neu erwachten Universitätswissenschaft und dem wissenschaftlichen
Gewissen, zur heiligen Schrift. Aber selbst hier bleibt
er nicht stehen. Die Schrift als ganze bleibt
ihm nicht in jedem Buchstaben äußere Autorität.
Er macht Wertunterschiede, er macht das von ihm selbst nicht weiter ausgebildete
große Prinzip geltend, dass die Schrift Autorität sei, soweit sie
Christum treibe. Ist er auch selbst von diesem kühnen Standpunkt mannigfach
abgewichen, so hat er doch mit alledem der modernen Bibelbetrachtung, welche
die Schrift als die historische Urkunde von der in Christus
gipfelnden Offenbarung ansieht, Heimatrecht in der evangelischen Kirche gegeben.
Die Reformation bedeutet weiter eine Befreiung
der evangelischen Frömmigkeit und Sittlichkeit von einer Unmasse von Außendingen,
die sich ihr im Laufe der Geschichte beigesellt haben. Mit der Beseitigung des
Ablasses begann der Prozess, um dann nicht wieder aufzuhören. Die Substanz
und das Zentrum des katholischen Gottesdienstes: das Messopfer, die Vorrechte
des Priestertums, das ganze Buß- und Beichtinstitut, das Abgabenwesen,
das Wallfahren, der Heiligen- und Marien-Kult und so vieles andre noch kommt
zu Fall. Es war eine ungeheure Befreiung. In Anlehnung an Paulus
und unter Erneuerung von dessen Polemik gegen jüdische Gesetzesgerechtigkeit,
setzte Luther gegen die Werke
der katholischen Kirche die Predigt vom Glauben allein.
So fasst man gern das Wesen der lutherischen Reformation darin zusammen, dass
Luther die Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben allein wieder in
den Mittelpunkt gestellt habe. Tatsächlich hat er noch viel mehr getan.
Er hat die Religion als Religion wieder entdeckt,
er hat sie aus ihrer römischen Missbildung befreit. Er hat mit einer Wucht
sondergleichen die uralte Wahrheit verkündet, dass Frömmigkeit Hingabe
des Herzens an den gnädigen, mit seiner Gnade immer uns und unserm Tun
zuvorkommenden Gott und die Richtung des Gewissens auf ihn sei - ein Handeln
der ganzen lebendigen Persönlichkeit und kein Machen in guten Werken.
Mit allen jenen Außendingen hat Luther
auch das Sakrament in seinem eigentlichen Sinne
und die auf dieses Sakrament gerichtete Frömmigkeit im Prinzip aufgehoben.
Er hat alle über die Schrift hinausgehenden Weiterwucherungen katholischer
Sakramentsfrömmigkeit beseitigt. Aber er hat mehr als das getan: Indem
er ständig und bis zuletzt betonte, dass es nur auf das Wort ankomme, dass
das Wort auch im Sakrament allein das eigentlich Wirksame sei, dass das Sakrament
nur eine besondre Form des Wortes sei, hat er die geistige Frömmigkeit
des Evangeliums gegenüber aller naturhaften Verbildung in entscheidender
Weise gewahrt und hier Entwickelungen rückgängig gemacht, die mit
den Anfängen des Evangeliums begonnen haben. An dieser Wertung der Reformation
kann uns auch nicht irre machen, dass Luther selbst
im Kampf mit den Schwärmern, Wiedertäufern, Zwinglianern der katholischen
Sakramentsauffassung wieder Eingang bei sich und in seiner Kirche verschafft
hat. Durch seine prinzipielle Stellung zum Sakrament hat er doch der rein geistigen
(symbolischen) Auffassung der heiligen Handlungen des Christentums
(Taufe und Abendmahl) für immer Heimatrecht in der evangelischen
Kirche gesichert.
Das Letzte und Wichtigste fast, das in Luthers Reformation
uns geschenkt ist, besteht in einer prinzipiell
anderen Auffassung der Stellung des Christentums zur profanen Welt,
mit ihrer sittlichen Aufgabe und Arbeit. Luther
hat das Mönchtum aufgehoben. Er hat damit den Doppelcharakter der katholischen
Kirche, jene eigentümlich gebrochene Stellung zur Welt, gänzlich zerschlagen:
jene geschickte Kombination, derzufolge die katholische Kirche zugleich weltbeherrschend
und weltflüchtig sein konnte; er hat den letzten Rest des weltverneinenden
Charakters des Christentums - wenigstens im Prinzip - beseitigt. Es gibt nur
eine Art, Gott zu dienen: Leben im Sittlich-Guten. Der Knecht und die Magd,
die ihrer Herrschaft dienen, die Mutter, die ihr Kind aufzieht, der Hausvater,
der sein Hauswesen verwaltet, der Fürst, der sein Land regiert, treiben
Gottesdienst so gut und besser als der Priester und der Mönch. Das
Evangelium bekommt eine weltoffene Moral, das alltägliche Leben wird entprofanisiert.
Das ist eine große, mächtige Weiterentwickelung, ja man darf sagen,
dass die Reformation hier Keime und Ansätze entwickelt, die selbst im ursprünglichen
Evangelium kaum erkennbar angedeutet, bisher gänzlich unentwickelt und
verborgen waren.
Das ist die letzte abgeschlossene Weiterbildung, die das Evan¬gelium erfahren
hat. Aber auch die Reformation hat ihre Grenzen
und Schranken gehabt. Viele Elemente, von deren dauernder Haltbarkeit
wir schon nicht mehr überzeugt sind, haben Luther und besonders die ihm
folgende Kirche, resp. die evangelischen Kirchen, unbesehen von der Kirche des
Mittelalters, herübergenommen; ich nenne nur kurz die Lehre von der buchstäblichen
Inspiration der heiligen Schrift, die gerade in den auf die Schrift allein sich
gründenden evangelischen Kirchen eine ganz besondere, alles beherrschende
Bedeutung gewonnen hat, das gesamte christologische Dogma mit allen seinen metaphysischen
Spekulationen wie die Lehre von der Dreieinigkeit, die
Lehre von der Stellvertretung in ihrer erst im Mittelalter ausgebildeten
Form, die augustinische,sich ausschließlich in den Gegensätzen von
Sünde und Gnade bewegende Grundstimmung.
Doch mit dieser Frage, was uns die Reformation an Fragen und Problemen, an Arbeit
zur reineren Herausgestaltung des Evangeliums noch zurückgelassen hat,
stehen wir zugleich vor unsrer Frage nach der
Zukunft des Christentums. Da müssen wir zunächst etwas
weiter ausholen.
Wir sagen uns zunächst, dass die Frage nach
der Zukunft des Christentums die Frage nach der Zukunft der Religion sei. Denn
was sich uns bisher im Laufe unserer Wanderung durch die Religionsgeschichte
ergeben hat, war doch eben dies: die absolute Überlegenheit
der christlichen Religion über die übrigen Religionen, die Überzeugung,
dass das Christentum den Kulminationspunkt bisheriger religiöser Entwickelung
darstelle.
Ja im Christentum ist nicht nur ein höchster Punkt der Entwickelung gegeben,
in ihm scheinen auch alle bisherigen Linien zusammenzulaufen.
Achten wir zunächst auf die äußere Stellung, die das Christentum
in der Geschichte einnimmt. Es steht allein an seinem Orte: es entsteht ein
gutes halbes Jahrtausend nach dem großen Zeitalter der prophetischen Neubildung
der Religionen. Von allen jenen prophetischen Religionen ersteigt eben nur die
israelitische im Christentum eine noch höhere Stufe. Der wieder ein gutes
Halbjahrtausend später kommende Islam ist eine erkennbare Rückbildung.
Vergegenwärtigen wir uns die innere
Überlegenheit des Christentums.
1. Im Christentum
ist jedes spezifisch nationale Element der Religion
endgültig überwunden, und doch wieder hat das Christentum
in weit höherem Maße als Islam und Buddhismus es im langen Lauf seiner
Geschichte verstanden, das Leben der verschiedensten Völker innerlich,
geistig zu durchdringen, so dass man von einem romanischen und germanischen,
slawischen und armenischen, einem englischen und nordamerikanischen Christentum
(usw.) sprechen kann.
2. In
der christlichen Religion kommt die Religion als solche, der
einfache geistige Glaube an den lebendigen Gott
am reinsten und freiesten von allen Außendingen
(Kultus, Zeremonien) zur Entfaltung.
Das Wesen des Evangeliums ist reine Innerlichkeit. Und im Laufe seiner
Geschichte hat das Christentum es noch immer vermocht, zu dieser Innerlichkeit
und Geistigkeit aus aller Verirrung zurückzukehren. Und weil das Evangelium
reine Innerlichkeit ist, hat es sich in den verschiedensten äußeren
Gestaltungen und Hüllen offenbaren können. Wie stark z. B. sind demgegenüber
selbst der Islam - man denke an dessen fünf Grundpfeiler - oder die indische
Religion - man denke an das zentrale Verbot der absoluten Schonung jedes, auch
des geringsten Lebewesens - im Zentrum mit Außendingen belastet!
3. Das Christentum
hat durch seine Befreiung der Religion vom nationalen und zeremoniellen (Kultischen)
zugleich die große Befreiung des einzelnen in der Religion
vollzogen und den Individualismus auf den stärksten und klarsten Ausbruch
gebracht. Aber es vereinzelt wiederum den einzelnen nicht, sondern weist
denselben mit der stärksten Energie in das menschliche
Gemeinschaftsleben hinein.
4. Das Christentum
ist daher in eminentem Sinn moralische Religion. Es
teilt mit den Gesetzesreligionen den willensmäßigen Charakter. Es
hat mit jenen den die Energie des Willens spannenden Gerichtsgedanken im Zentrum.
Aber es lässt jene in der Reinheit und Energie feiner Moral weit hinter
sich zurück. Die gereinigte Religion schließt hier einen Bund mit
der gereinigten Moral.
5. Das Christentum
ist in eminentem Sinn Erlösungsreligion.
Es weist auf ein höheres Leben
hin und sagt, dass dieses Leben der Güter höchstes nicht sei. Aber
wiederum - es verneint dieses Leben doch auch nicht schlechthin.
Es entfaltet das schon in ihm vorhandene höhere Element und findet dieses
nicht vorwiegend im Intellektuellen, sondern im Ethischen. So ist das Christentum
ethische Erlösungsreligion und sein höchstes Gut: Vergebung
von Sünde und Schuld und Entfesselung des guten Willens.
6. Weil
das Christentum moralische Erlösungsreligion ist, hat es keine feindliche,
sondern eine fördernde Stellung zum Leben der Menschheit und
ihrer Kulturarbeit. Selbst in der Zeit, als das Christentum im Mönchtum
wenigstens den einen Mittelpunkt seines Wesens fand, ist ein Zweig dieses Mönchtums
wieder zu einer zivilisatorischen Macht ersten Ranges geworden. (Man
vergleiche das buddhistische Mönchtum.) Es ist kein Zufall, dass
die Völker des Christentums die kulturführenden Völker geworden
sind. Aber wiederum - niemals geht die christliche
Religion in der weltlichen Arbeit und ihrer Förderung auf
(wie z. B. die persische Religion). Sie betrachtet
diese ganze Arbeit immer nur als Mittel zum Zweck. Sie verkündet, dass
der einzelne an ihr und in ihr sich erheben soll zum bewussten Handeln nach
Gottes Geboten unter seinen großen Augen, zum Frieden
mit Gott, zu einem Leben im Schatten der Ewigkeit.
So wiederholen wir es noch einmal: die Frage nach
der Zukunft des Christentums ist die Frage nach der Zukunft der Religion. Wir
wollen die Frage hier nicht anrühren, ob in absehbarer Zeit das Christentum,
das jetzt etwa ein Drittel der Menschheit umfasst, die einzige noch in Betracht
kommende Religion sein kann und wird. Aber die Religion der auf der Erde führenden
Völker kann - wenn überhaupt eine - nur das Christentum sein. Keine
andre kommt neben ihm in Betracht. Die Geschichte hat hierzu deutlich gesprochen.
Jeder Versuch der Aufpfropfung buddhistischer
Religion auf europäische Kultur ist ein haltloses Unterfangen.
Wenn vor einem halben Jahrhundert Schopenhauer
in dieser orientalischen Religion der Weisheit letztes Wort fand und Buddha
als seinen Spezialheiligen verehrte, so ist diese Stimmung erklärlich aus
dem Elend und der Stagnation deutscher Kleinstaaterei, in der Schopenhauer
aufwuchs. In einem Zeitalter, das noch im Schatten der Riesengestalt Bismarcks
lebt, einer Zeit der nationalen Erneuerung, der sozialen Frage, des großen
Erfolges von Nietzsche =
Zarathustra sind die Nachbeter des großen Philosophen nur als sonderbare
Heilige zu betrachten. Die europäischen Buddhisten mögen in der für
alles Fremdartige, Krankhafte empfänglichen Metropole Frankreichs ihr Hauptquartier
aufschlagen, hier und da auch bei uns einige Erfolge erringen, aber kraftlos
werden alle diese Bestrebungen in sich zusammenfinden.
Die Frage nach der Zukunft des Christentums ist auch noch
in einem andern Sinne die Frage nach der Zukunft der Religion. Der Satz
gilt auch denen, die meinen, sie können Religion haben und bewahren unter
Verzicht auf jede historisch gewordene Religion, auch die des Christentums.
Demgegenüber bleibt es in Geltung: das Christentum
ist die einzige lebendige Religion, die für uns in Betracht kommt. Das
ist eine ungeheuer wichtige Tatsache. Wenn wir dem Lauf der Geschichte wirklich
gefolgt sind, so zeigt sie uns, dass die Entwickelung der Religion in langen
und immer längeren Zwischenräumen, in Jahrhunderten und Jahrtausenden
vor sich geht. Und je höher das religiöse Leben der Menschen steigt,
desto mehr verfestigen sich seine Bildungen. Neubildungen werden selten und
seltener. Sie sind jedesmal ein schöpferisches Wunder, sie gehen vor sich
unter einer ungeheuren Erschütterung menschlichen Lebens. Es ist ein Bersten
der Fundamente, ein Kreisen von Bergen. Und doch gibt es heutzutage moderne
Menschen, die glauben, so eine neue Religion in kurzem machen zu können.
Man erklärt flugs das Christentum für veraltet, setzt sich hin und
flickt ein paar bunte Gedankenlappen zusammen und nennt das moderne Religion!
- So einfach liegen die Dinge nicht. Wer das Christentum
schlankweg für überwunden erklärt, proklamiert damit vorläufig
Religionslosigkeit.
Und deshalb ist die Frage nach der Zukunft des Christentums
so wichtig. Die Frage nach seiner Zukunft aber ist die Frage nach seiner
Fortentwickelungsfähigkeit. Man wird einwenden: muss es
denn überhaupt hier notwendig eine Fortentwickelung geben? Genügt
nicht der alte Glaube? Wir antworten: diese Fortentwickelung ist deshalb notwendig,
weil sich seit der Reformationszeit die Gesamtstruktur des menschlichen Lebens
in entscheidender Weise geändert hat, und weil Geschichte und Erfahrung
lehren, dass bei einer Gesamtveränderung des menschlichen Lebens auch die
Frömmigkeit jedesmal eine andre Nuance annimmt.
Wir richten demgemäß bei der Beantwortung der
Frage, ob und in welcher Richtung die Fortentwickelung des Christentums notwendig
sei, unser Augenmerk auf die Veränderung des Gesamtlebens der Menschheit
seit der Reformation. Was hier als die entscheidende
und gewaltige Tatsache uns entgegentritt, das ist mit einem Wort die Entstehung
und Entfaltung einer aller kirchlichen und religiösen Bevormundung gegenüber
selbständigen Kultur. Die alte Kirche war kulturfeindlich. Die mittelalterliche
Kultur war in allem abhängig von der Kirche. In der Renaissance sehen wir
das erste vorübergehende Auftauchen einer glänzenden kirchenfreien
Kultur. Aber diese Kultur - von ewiger Bedeutung für alle Zeit - war ihrem
äußeren Bestande nach eine ephemere. Der Einfluss und die Bevormundung
vonseiten der Kirche waren an dieser Stelle nicht prinzipiell in heißem
Kampf überwunden, sondern nur praktisch außer Kurs gesetzt, ein Versäumnis,
das sich bitter rächte.
Erst in protestantischen Ländern -
die Führung übernahmen Holland und England - entwickelte sich
die moderne Kultur. Zunächst nach ihrer äußeren
Seite. Es entstand die moderne Astronomie und Naturwissenschaft (Newton),
die moderne Technik (die Maschine, der Welthandel).
Dem Streben nach Naturbeherrschung entsprach das Streben auf Erforschung und
Beherrschung der Gesetze des menschlichen Gemeinschaftslebens. Es entstehen
die moderne Staatswissenschaft, die Nationalökonomie und Statistik. Auf
diesem Grunde erheben sich die Systeme einer religionsfreien, an dem Gedanken
der menschlichen Gemeinschaft orientierten, durchaus diesseitigen Moral, eine
Gesamtanschauung, die wir etwa mit dem Namen
Deismus zusammenfassen. Diese Kultur ist nicht revolutionär, nicht
direkt kirchenfeindlich. Sie ist eben einfach weltlich. Mit einem ungeheuren
Selbstbewusstsein, in starker, ungebrochener Freude am Leben auch an seiner
sinnlichen Seite, breitspurig, mit beiden Beinen sich auf die Erde stellend,
tritt sie uns entgegen: Ich bin da! - Die holländische und flämische
Malerei, Shakespeare vor allem mögen uns als
ihre Symbole von ewiger Bedeutung gelten.
Die Konsequenz war: eine ungeheuere Zurückdrängung
des religiösen Lebens. Es soll der deutschen
Aufklärung, dem Rationalismus, für immer zur Ehre angerechnet werden,
dass er vor allem die Verbindung zwischen der christlichen Religion und der
modernen Kultur aufrecht erhalten hat. Der deutsche
Idealismus in Dichtkunst und Philosophie
hat dann die Kultur der Aufklärung wesentlich vertieft und bereichert,
vor allem auch nach der religiösen Seite. Aber bei allem Gegensatz,
namentlich in der Gesamtstimmung, hat auch er durchaus auf der Grundlage der
»Aufklärung« weitergearbeitet: Auf dem Grunde der auch für
ihn selbstverständlichen Voraussetzung einer in sich selbständigen,
auf sich ruhenden menschlichen Kultur, die in sich selbst wertvoll und sich
ihrer selbst gewiss der Bestätigung durch die Kirche nicht bedarf.
Auch das neunzehnte Jahrhundert hat hierin keine Veränderung
gebracht. Zwar sind, wenn wir vorwiegend einmal auf das deutsche Geistesleben
unsern Blick richten, die im achtzehnten Jahrhundert an einem Punkte gesammelten
Kräfte in ihm wieder weithin auseinandergestiebt. Einerseits ist auf dem
Gebiet des religiösen Lebens eine durch das ganze Jahrhundert hindurchgehende
Verengung und kirchliche Konsolidierung eingetreten und in demselben Maß
ein weiteres starkes Zurücktreten des Einflusses der Religion auf das Gesamtleben.
Anderseits ist mit den für Deutschland erst in diesem Jahrhundert aufkommenden
Mächten der Technik, der Großindustrie und des Weltverkehrs und einer
äußerlich glänzenden Kultur die Weltanschauung des englisch-französischen
Positivismus und Materialismus zur Herrschaft gekommen, sodass wir weit hinter
die Einheit und Geschlossenheit der Kultur des Idealismus zurückgeworfen
sind. - Aber trotz aller dieser Strömungen und Gegenströmungen ist
die eine gewaltige neue Tatsache immer dieselbe geblieben: Die
Existenz eines in sich gefesteten, auf sich ruhenden modernen europäisch-nordamerikanischen
Kulturlebens.
Als ein Symbol dieses modernen Lebensideals trete uns
das Bild Goethes vor
Augen. Wir empfangen an seiner Persönlichkeit den
Eindruck eines Lebens von innen heraus, nach immanenten selbstgegebenen Gesetzen
der Entwickelung. Alle Strömungen und Bewegungen seiner Zeit in sich aufnehmend,
mit Riesenfleiß und Riesenkönnen in sich verarbeitend, mit allen
Dämonen siegreich ringend und sie tapfer niederzwingend, hat Goethe
sich triumphierend zu einer einheitlichen Weltanschauung und Lebenshaltung erhoben
und thront auf seiner Höhe wie Zeus Olympios,
seine reichen Gaben neidlos spendend. Was wir hier vor uns haben, ist
nicht nur eine äußerlich glänzende Kultur, wie die der französisch-englischen
Aufklärung, nein, eine Kultur der tiefsten Innerlichkeit, in der alle höheren
geistigen Kräfte des menschlichen Lebens, auch die Religion, wieder ihren
Platz erhalten: eine in sich ungebrochene, auf sich selbst fußende reiche
Welt.
Und neben Goethe trete uns Bismarck:
so haben wir wieder das Bild eines Lebens nach immanenten Gesetzen, das Bild
einer heroischen, straffen, ungeheuer tüchtigen Männlichkeit. Sich
fest auf den Erdboden stemmend, in dem er wurzelt, nur mit dem Gegebenen rechnend,
hat Bismarck in hartem Daseinskampf sein am Boden liegendes Volk emporgehoben
zu ungeahnter Macht und Herrlichkeit. Wie mit einer Zauberrute hat er den deutschen
idealistischen Träumer aufgeweckt. Und überall hallte es wider - auch
in unserm Vaterland - von Worten wie Pflicht der Selbsterhaltung,
Selbstbehauptung, Kampf um die Weltherrschaft. Überall ein Lebenwollen,
Emporstreben, Organisation, Ringen ums Dasein, Klassenkampf.
Kann in dieser Welt der modernen Kultur das Christentum
seine Stellung behaupten und gar den Einfluss, den es offenkundig in
der Entwickelung der letzten Jahrhunderte verloren hat, wiedergewinnen?
Das Christentum in seiner bisher im wesentlichen herrschenden Auffassung schließt
eine dem eben geschilderten Lebensganzen schroff entgegengesetzte Grundanschauung
in sich ein. In ihm herrscht der paulinische, von
Augustin weitergegebene, durch Luther
von neuem gefestigte Erlösungsgedanke
einseitiger Art. Man missverstehe mich hier nicht. Ich weiß
sehr wohl, dass die genannten Großen in der Geschichte des Christentums
bei dem unendlichen Reichtum ihrer Persönlichkeit noch manche andre wertvollen
Elemente der Frömmigkeit neben jener Grundstimmung besaßen. Aber
nicht darauf kommt es hier an, sondern auf das, was von ihrer Frömmigkeit
in der Geschichte wesentlich weitergelebt tat und massenwirkend geworden ist.
Und das ist eine Grundstimmung, die sich in die Sätze zusammenfassen lässt:
Das Menschengeschlecht ist von Adam her von Grund auf verderbt; unfähig,
irgend etwas Wertvolles aus sich heraus zu schaffen, versinkt es vielmehr weiter
und weiter in die Nacht der Sünde und des Verderbens. Es mag höchstens
eine gewisse äußerliche, »bürgerliche« Gerechtigkeit
von geringem Werte erreichen, eine rein äußerliche Kultur. Und in
diese verlorene Welt stieg ein Erlöser herab, uns zu erlösen, der
anders war als wir, er von oben, wir von unten, er voller göttlicher Natur,
wir nur Menschen. - Alles ist auf die Gegensätze
Sünde und Gnade gestellt, das einzige Zentrum der Frömmigkeit ist
das Bewusstsein der Sünde und der Trost der Befreiung von Sünde und
Schuld geworden.
Sollen wir die Gültigkeit dieser Anschauung noch mitten in unsrer modernen
Kultur behaupten? Wir wollen unbedingte Achtung haben vor den Altgläubigen,
die das mit ungebrochenem Mut vermögen. Aber wir wollen uns auch die Konsequenzen
vergegenwärtigen. Jene Anschauung aufrecht erhalten, das heißt, dem
modernen Leben seine Existenz nehmen, es zum Selbstverzicht zwingen wollen,
das heißt, ganze, ungebrochene Gestalten wie Goethe,
wie Bismarck schlechthin verwerfen.
Jene christliche Grundstimmung war verständlich, als das Christentum sich
einer heidnischen Kultur gegenüber fand, die es bekämpfte; sie blieb
verständlich, als die mittelalterliche Kirche in dieser Weise eine Kultur
beurteilte, die sie selbst geschaffen. Sie lässt
sich dem selbständig gewordenen modernen Leben nicht mehr aufdrängen.
Sollen wir daher nicht versuchen, die Frage etwas anders zu stellen? Wir fragen:
Ist jene »paulinisch-lutherische« Auffassung
vom Christentum die einzig mögliche? Kann sich das Evangelium nicht auch
noch in andern Gestalten offenbaren? Wir vergegenwärtigen
uns Jesu eigne Gestalt. In ihr,
in seiner Predigt ist so wenig von jenem schroffen Gegensatz, von jener überreizten
Stimmung. Er hat die Aufgabe seiner Predigt niemals darin erblickt, in seinen
Hörern zunächst und um jeden Preis die Erkenntnis ihrer bösen
Grundbeschaffenheit hervorzurufen. Er spannte die moralische Kraft:
»Tue das, so wirst du leben«. - »Ihr sollt vollkommen sein,
wie euer himmlischer Vater vollkommen ist«. Wenn er seinen Zeitgenossen
Ruhe verkündete, so meint er damit in erster Linie Erneuerung des Willens.
Freilich, er steckte das Ziel unendlich hoch, er sagte, dass
niemand gut sei als Gott allein. Sein Evangelium war ein Evangelium der
Erlösung, der Sündenvergebung. Aber Erlösungs- und Sündenvergebung
waren nur das eine Zentrum seiner Predigt, die Forderung der sittlichen Vollkommenheit
das andre. Er ging gerne zu den Sündern und Zöllnern, aber er sagte
nicht, dass alle Menschen Sünder und Zöllner wären, er sprach
das Gleichnis vom verlorenen Sohn, aber seine Meinung war nicht, dass alle Menschen
verlorene Söhne seien oder solche werden sollten.
Er kannte solche, die er selig pries, die nicht fern waren vom Reiche Gottes.
Sündenvergebung war ihm nichts ohne Erneuerung des guten Willens, ein Trost
nur für die, welche ihren Sinn, wenn auch in aller Schwäche, darauf
richteten, den Willen des himmlischen Vaters zu erfüllen.
So gewinnen wir die Überzeugung, dass wir in seinem Geiste handeln, wenn
wir bei der Verkündigung des Evangeliums nicht mit dem Gedanken der absoluten
Verderbtheit der menschlichen Art und alles menschlichen Tuns einsetzen. Aber
es gilt, auch der modernen Menschheit zu verkünden, dass ihr das Höchste
und Letzte, die Vollendung des Lebens im Evangelium, geboten wird, und dass
all ihr Streben und ihre Arbeit sich zweck- und ziellos verpulvern, wenn sie
nicht einmünden in ein Leben mit Gott und ein Handeln nach seinem Willen,
wie es vom Evangelium gefordert wird. Und an der Höhe jenes Ideals gilt
es dann, das Bewusstsein unserer Unvollkommenheit, unseres ständigen Zurückbleibens
zu erregen, die Sehnsucht nach Erlösung zu erwecken: Wo
Vergebung der Sünden ist, da ist Leben und Seligkeit.
Und wie für uns der Erlösungsgedanke des Evangeliums
eine andere Nuance bekommt, sowerden sich auch unsere Gedanken vom Erlöser
in einer bestimmten Richtung ändern. Wir setzen nicht mehr
mit dem Gedanken ein, dass Jesus absolut anders
sei als wir, er von oben, wir von unten. Wir sagen vielmehr, dass seine Gestalt
das höchste und das Vollendetste ist, was der Menschheit auf ihrem langen
Wege von unten nach oben geschenkt ward, die Krone unsres Daseins, der Führer
unsres Lebens, dem kein andrer Führer zur Seite steht.
Und deshalb reden wir auch nicht mehr von der
»Gottheit« Christi. Diese Formel der Gottheit
Christi ist ja freilich für viele fromme Christen das Erkenntnismerkmal
des christlichen Glaubens geworden, ein Rütteln daran heißt für
sie ein Rütteln an den Fundamenten des Glaubens. Das Bekenntnis des deutschen
Kaisers zu dem alten Glauben hat in diesen Tagen weithin tönenden Widerhall
gefunden. Und doch, wenn wir auch auf jener Seite des alten Glaubens Schmerz
und Unwillen erregen müssen, wir können nicht anders als widersprechen.
Man wird auch dort unsere Gegengründe hören müssen.
Mit Recht hat Adolph Harnack gegenüber dem
offenen Schreiben des Kaisers eingewandt, dass nicht der
Glaube an die Gottheit Christi, sondern
der an seine Gottmenschheit der korrekte dogmatische
Ausdruck der alten christologischen Auffassung sei, dass aber wiederum
der Terminus Gottmenschheit kein biblischer Ausdruck sei, wie denn auch die
biblischen Schriftsteller fast nie Christus Gott nennen
oder von Gottheit Christi reden.
Noch viel gewaltiger aber zwingt uns das
Selbstzeugnis Jesu. Er
hat sich in seinem ganzen Leben aufseiten der Menschen und nicht aufseiten Gottes
gestellt. Er hat zu dem Jüngling, der ihn gut nennt, das entscheidende,
jedes Dogma von der Gottheit Christi fast unmöglich machende Wort gesprochen:
Niemand ist gut, als Gott allein. Er wollte selbst so wenig
anders als wir sein, dass er auch den Anspruch der absoluten Güte von sich
ablehnte. In allen seinen Parabeln, dem Echtesten, das uns von ihm bewahrt ist,
stellt er die Seele des Menschen direkt vor den himmlischen Vater. Wir nehmen
Jesus keine Ehre, auf die er selbst Anspruch erhoben hätte, wenn wir uns
nicht zur Gottheit Christi bekennen können. Unser
Glaube hängt nicht an der Überzeugung von der übermenschlichen
andersartigen Wesenheit des Erlösergottes, sondern an dem irdischen Personenleben
unseres Herrn, seinem Glauben, den er mit dem Tode besiegelt, seiner Art zu
leben, seiner Liebe, mit der er die Sünder umfasst. Wir verehren
in diesem irdischen Menschen den Führer zu Gott für jedermann, für
den Einfachen wie für den Hochgebildeten, ja wir spüren im Glauben
in seiner Person die Gegenwart Gottes. So bekennen wir gerne:
Gott war in Christus!
Damit entgehen wir dann allen weiteren Spekulationen
über das göttliche Wesen in Christus,
über das Verhältnis von Gott Vater und Sohn,
über das Verhältnis der beiden Naturen,
über die Einheit der drei Personen. Wir
haben im Zentrum unseres Glaubens nicht mehr den vollen kontradiktorischen Widerspruch.
Wir sagen getrost, dass man an alledem getrost vorbeigehen darf, wenn man zum
Kern und Wesen des Christentums gelangen will.
Der Erlösungsgedanke konzentrierte sich im Lauf der
Geschichte des Christentums in dem Glauben an eine besondere Bedeutung des Opfertodes
Christi. Christi Tod wurde das große, für unsre
Sünden dargebrachte Opfer, er bekam stellvertretenden
Wert und Bedeutung. Auch hier erheben sich für
uns gewichtige Bedenken. Und zwar stehen wieder an diesem Punkte
nicht in erster Linie theoretische Bedenken dagegen, sondern die Macht unseres
selbständig gewordenen moralischen Empfindens. Denn das gehört auch
wieder zur Signatur unseres modernen Lebens: unser moralisches Gefühl hat
sich derart verselbständigt, dass es sich fremdartiges moralisches Empfinden
auch durch die Autorität der Religion nicht aufdrängen lässt.
Unser an Kants Ethik gebildetes moralisches
Empfinden aber sagt uns mit aller wünschenswerten Deutlichkeit:
Die Schuld, die du begangen, die kann kein andrer dir abnehmen und für
dich büßen, kein Mensch und kein Gott. Sie lässt sich nicht
wie ein Ding, eine Sache übertragen. Auch wird niemals die Schuld
durch die Strafe, die du oder ein anderer für dich trägt, abgebüßt,
noch weniger kann das Schuldgefühl dir durch einen andern abgenommen werden.
Weggeschafft wird Sünde und Schuld nur durch die
freie sittlich-persönliche Tat unseres Gottes, der Sünde vergibt
und Schuld erlässt. - Unser religiöses
Empfinden aber sagt uns hier, dass es eine unwürdige Vorstellung von
Gott sei, dass er nicht aus freien Stücken
verzeihen könne.
Und wieder dürfen wir uns mit diesem unserm Empfinden
auf die Person Jesu berufen. In seiner Predigt finden
wir keine Spur von jenem Satisfaktionsdogma. Auch das Wort Jesu vom Lösegeld
für viele, auch die Einsetzung des Abendmahls sind weit entfernt von der
prinzipiellen, dogmatischen Betrachtung seines Todes und enthalten nicht mehr
als den Gedanken des Martyriums. Jesus redet in seiner Predigt ohne alle Bedingung
und ohne etwaigen Hinweis auf seinen Tod von der verzeihenden, väterlichen,
göttlichen Liebe. Der Vater verzeiht im Gleichnis ohne irgend welche Bedingung,
ohne ein weiteres Wenn und Aber dem verlorenen Sohn. Man
versuche in dieses Gleichnis die Lehre von der Stellvertretung einzutragen,
man wird das nicht können, ohne es zu zerstören.
Wir haben bisher uns klar zu machen versucht, wie der Zentralgedanke der christlichen
Religion, der Erlösungsgedanke, im Zusammenhang mit der starken Veränderung
der Struktur des menschlichen Gesamtlebens gleicherweise eine andre Nuance annehmen
muss. Aber auch in noch manch andrer Hinsicht wird eine solche Änderung
an dem, was bisher für fundamental galt, nötig sein. Der
modernen Kultur entspricht auch eine bestimmte Art zu denken, die ihr wesentlich
eigentümlich ist. Der Grundcharakter dieses modernen Denkens
aber beruht auf dem entschlossenen Ernst, mit dem es den Versuch
einer Erklärung alles Weltgeschehens von innen heraus
unternimmt, oder - anders ausgedrückt - auf der entschlossenen Behauptung
allgemeiner Gesetze und Regeln, denen alles natürliche und geistige Geschehen
unterworfen ist.
Als ein Grunddatum des modernen Denkens steht auf der
einen Seite das Naturgesetz. Auf der Erkenntnis, resp.
der Annahme eines unverbrüchlichen gesetzmäßigen Naturgeschehens
beruht unsre äußere Kultur mit ihrer Naturwissenschaft und ihrer
Technik. Und bis tief in das menschliche Geistesleben hinein erkennt und behauptet
die Wissenschaft - man denke an die Psychophysik, die Nationalökonomie
und Statistik, die Betonung des »Milieu« und der gesetzmäßigen
Zusammenhänge selbst in der Geschichtswissenschaft - ein naturgesetzliches,
geregeltes, berechenbares Geschehen. Ja noch mehr: Das
Gefühl für die Gesetzmäßigkeit ist ein Grundgefühl
unsres Lebens geworden. Wir mögen uns in der Theorie vorreden,
die Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens sei nur Schein und eine Durchbrechung
jener Gesetzmäßigkeit alle Augenblicke möglich. Aber wir handeln
nicht danach. Wir haben unser Leben auf jene Gesetzmäßigkeit eingerichtet.
Wir berechnen auf Generationen voraus. Mehrere Generationen von Astronomen arbeiten
im Zusammenhang an einem astronomischen Problem. Wir geben Gesetze, die ihre
ganze Bedeutung erst in einem folgenden Geschlecht entfalten können. Wir
leben mit unserm ganzen Sein in dem Grundgefühl, auf dem Boden einer sicheren,
berechenbaren Wirklichkeit zu stehen.
In diese Welt scheint nun eines nicht mehr hineinzupassen: das
Wunder im strengen Sinn des Wortes, im
Sinne des Eingreifens Gottes in dies natürliche Weltgeschehen unter Aufhebung
seiner Gesetze. Das Wunder scheint nun aber anderseits tief verflochten
mit der christlichen Religion. Alle Zeiten des Christentums waren tief wundergläubig:
das neutestamentliche Zeitalter, die alte Kirche, das Mittelalter, Luther.
Ergreifend tritt uns noch aus Björnsons
»Über die Kraft« die
Sehnsucht nach dem Wunder entgegen.
Und doch können wir nicht mehr festhalten an dem Wunderglauben.
Es ist wiederum nicht nur der Widerspruch unsres Denkens, der sich
hier erhebt, sondern ein Widerspruch unsres veränderten Gottesglaubens.
Wir haben gelernt, an einen Gott zu glauben,
der ein Gott der Ordnung und nicht der Unordnung ist, an einen Gott, dessen
Weltgewebe so fein und sicher ist, dass es niemals der eignen Korrektur bedarf,
an einen Gott, der im großen gesetzmäßigen Aufstieg in scheinbar
erbarmungslosem Kampf ums Dasein die Generationen lebendiger Wesen in die Höhe
führt. Ein Gott, öder ständig seinem Werke durch Wunder aufhülfe,
die fallen gelassenen Maschen wieder aufnehmen müsste, erscheint uns klein
und unzweckmäßig.
Und wenn wir von dieser Erkenntnis aus noch einmal fragend in die Geschichte
unsres Glaubens hineinschauen, so sehen wir die Dinge doch etwas
anders, als wie sie uns auf den ersten Blick erschienen. Wir sehen, dass wir
mit dieser Stellung zu dem Wunder nur dem Lauf der in der Geschichte gegebenen
Entwickelung folgen. Denn schon in den evangelischen
Kirchen ist der Wunderglaube zur Hälfte aufgehoben. Nur
die alte Kirche, das Mittelalter waren tief wundergläubig. Damals lebte
man im Wunder, war das Wunder eine das alltägliche Leben begleitende Erscheinung.
In den evangelischen Kirchen ist - namentlich im Kampf
mit der katholischen Heiligenverehrung - die Überzeugung lebendig
geworden, dass Wunder im großen und ganzen nicht mehr Geschehen, dass
die großen Wunder der Vergangenheit angehören. Man fordert nur den
Glauben an die Wunder des Evangeliums und des neuen Testaments. Aber dieser
Stellung dem Wunder gegenüber gilt der Satz, dass erzählte Wunder
eigentlich keine Wunder mehr sind, dass das persönliche Erlebnis des Glaubens
nicht auf ihnen ruhen kann.
Nicht mehr stützen die Wunder den Glauben, sondern
dieser muss jene stützen. Was die evangelische Kirche der Vergangenheit
bereits halb getan, vollenden wir nur mit unserm Verzicht auf die Wunder. -
Und gehen wir noch einen Schritt weiter zurück
zum Leben Jesu. Es ist wahr, Jesus und seine Jünger dachten
anders als wir über das Wunder. Die Grenzen des Möglichen waren für
ihr Erkennen noch nicht abgesteckt. Und doch, auch Jesus sah niemals im Wunder
das Zentrale und Entscheidende für den Glauben. Er
tat Wunder, aber andre taten es auch. Und als das Volk ein entscheidendes
Zeichen von ihm verlangte, um an ihn glauben zu können, hat er die Forderung
mit Entschiedenheit abgelehnt. »Hören sie Moses
und die Propheten nicht, so werden sie auch nicht glauben, wenn einer von den
Toten aufersteht«! Leicht auch lösen sich die eigentlichen,
außerordentlichen Wunder seines Lebens von diesem - sein tägliches
Heilen und Helfen gehört nicht hierher, da dies kein Wundertun im strengen
Sinn ist - auch wenn wir jene uns wegdenken, bleibt dasselbe einheitliche und
reiche Personenbild.
So wagen wir es an der Hand Jesu und von seinem Geist geleitet, auch in Hinblick
auf die Geschichte des Evangeliums, das Christentum loszulösen vom Wunderglauben
im eigentlichen Sinne, d. h. vom Wunderglauben, soweit dieser von uns den Verzicht
auf die Annahme der unverbrüchlichen Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens
fordert. Wunderbares im weiteren Sinne des Wortes, Wunder des persönlichen
Geisteslebens bleiben dabei auch für uns bestehen. Was fällt, ist
nur jener eigentliche, naturhafte Wunderglaube.
Aber die moderne Weltanschauung postuliert nicht nur die allgemeine Gesetzmäßigkeit
des natürlichen Geschehens, sondern auch gewisse unverbrüchliche Normen
und Regeln der Entwickelung des geistigen Lebens. Neben
die Naturwissenschaft tritt als Charakteristikum der modernen Zeit
die namentlich im neunzehnten Jahrhundert aufblühende historische
Wissenschaft, neben das Naturgesetz der geschichtliche Entwickelungsgedanke.
Mit Hilfe des Entwickelungsgedankens steckt auch jene Wissenschaft sich
das Ziel der immanenten Erklärung alles geistigen Geschehens. Und wenn
sie dabei darauf verzichtet, das fundamentale Rätsel der die Geschichte
tragenden Einzelpersönlichkeiten und Individualitäten aufzulösen,
so ist sie doch weit entfernt von der Annahme eines in den sonst natürlichen
Gang der Geschichte an bestimmten Stellen eingreifenden supranaturalen Geschehens,
einer Entgegensetzung jenes natürlichen Geschehens und eines andern von
göttlicher Offenbarung getragenen.
Die moderne Geschichtswissenschaft hat nun aber, wie alles
Geschehen menschlichen Geisteslebens, auch die Geschichte des religiösen
Lebens ihrer Bearbeitung unterworfen. Sie kennt hier keine Grenzen.
Nachdem Sie ihre Methode bis ins einzelne ausgebildet, hat sie mit ihrer Arbeit
auch auf die Geschichte des Alten und Neuen Testaments übergegriffen. Unaufhaltsam
bringt hier die geschichtliche Betrachtung vor bis in das innerste Gebiet. Wir
mögen uns sträuben dagegen oder mitmachen, der Prozess geht weiter.
und selbst die Verteidiger der alten Auffassung müssen arbeiten mit den
Mitteln der Historie. Der Nimbus supranaturalen Geschehens,
der sich um die »Heilsgeschichte« wob, wird überall zerstört,
und überall zeigt sich dahinter ein in seinen großen Zügen
begreifbares Geschehen, soweit überhaupt solches Geschehen, in
dem ja immer das Rätsel des Persönlichen, Individuellen steckt, begriffen
werden kann. Überall ist Entwickelung in aufsteigender Linie, überall
auch hier teilweise Abhängigkeit des Geistigen vom Natürlichen, Bedingtheit
der religiösen durch die allgemein kulturelle Entwickelung, überall
Zusammenhänge mit den Religionen der umgebenden Welt. Alles ist im Fluss,
alles in gegenseitiger Bedingtheit. Es ist unmöglich, nach dieser Nivellierungsarbeit
der Geschichte ein ganz spezielles Gebiet göttlicher Offenbarung im menschlichen
Geben im alten Sinn noch festzuhalten.
Und doch ruht die christliche Religion auf dem Gedanken
der Offenbarung.
Hier scheint sich alles aufzulösen: Luther
zertrümmerte alle kirchlichen Autoritäten, aber er zog sich auf die
Schrift zurück, und seine Kirche fand ihr Fundament in dem Dogma der buchstäblichen
Inspiration. Dieses Dogma hat man fallen gelassen, aber man glaubte doch die
Sache halten zu können: die Geltung der Schrift als
der Inhaberin speziell göttlicher Offenbarung. Doch ist man sich
noch kaum bewusst, wie weit hier die alten Dämme eingerissen werden. Man
errichtet Notdämme und Schutzwehren, die auf die Dauer nicht halten. Die
Historie scheint überhaupt mit dem Gedanken der Inspiration, d. h. einer
speziellen supranaturalen Offenbarung, im Alten und Neuen Testament aufzuräumen.
Auch der durch des Kaisers offenen Brief in weiteren Kreisen bekannt gewordene
theologische Versuch der Annahme einer doppelten Offenbarung
ist so wenigstens, wie er vorgetragen wird, nicht
haltbar; die Geschichte erkennt ihn nicht an.
Und wenn die Historie nun recht hätte? Wenn es so wäre? Dann
rettet uns nur ein kühner Schritt nach vorwärts.
Müssen wir vor der Geschichtswissenschaft die Segel streichen und ein besonderes
Offenbarungsgeschehen aufgeben, so gilt es nunmehr
Ernst zu machen mit dem Gedanken der allgemeinen Offenbarung.
Wir fügen also getrost auf der einen Seite:
Nirgends in der Geschichte zeigt sich uns ein Ort besonderen
göttlichen Geschehens, ein göttliches Wirken, das neben dem menschlichen
liefe und von diesem zu unterscheiden wäre, alles in ihr ist menschlich.
Und wir sagen anderseits: Alles ist göttliches
Wirken, die ganze große Geschichte der Menschheit mit
ihrem allmählichen Schaffen und Erarbeiten in sich selbst ruhender sittlicher
Werte ist zugleich ein Werk Gottes, der stetig die Menschen zu sich emporlockt;
und das Zentrale in diesem großen, geistigen Geschehen ist die Entwickelung
des religiösen Lebens, hier wiederum das Zentrum die Geschichte des Alten
und Neuen Testaments, Ziel und Krone der ganzen Entwickelung aber das Evangelium
und die Person Jesu. Das ist dann eine freie und fromme Auffassung der Geschichte,
die den Tatsachen gerecht wird und mit der alten Auffassung (Abscheidung
einer speziell durch übernatürliche Machtwirkung Gottes gewirkten
Heilsgeschichte) sich wohl messen kann.
Eine neue Frage würde sich, wenn wir diesem Gedanken weiter nachgingen,
allerdings aufdrängen. Zwingt uns die alles in Fluss setzende Geschichtsforschung
nicht zur Anerkennung, dass auch die christliche
Religion nur eine vorübergehende überbietbare Form der Religion sei,
auf die notwendig eine höhere Stufe folgen muss? Ich glaube nicht.
Die Geschichte kennt freilich überhaupt keine absolute Beurteilung der
Dinge. Sie kann niemals behaupten oder beweisen, dass im Christentum die letzte
erreichte Höhe der religiösen Entwickelung gegeben sei. Sie würde
ihre Grenzen überschreiten, wenn sie das täte. Sie kann aber auch
die Unmöglichkeit jener Annahme nicht behaupten, auch dann würde sie
ihre Kompetenz überschreiten. Sie zeigt uns zwar auf allen Gebieten menschlichen
Lebens einen allmählichen Aufstieg der Werte des menschlichen Lebens, aber
sie beweist uns nicht, dass dieser Prozess ein unabsehbarer sei; sie zeigt uns
im Gegenteil auch auf manchen Gebieten Höhepunkte menschlichens Lebens,
die nicht überboten sind. Dem Glauben bleibt hier ein freies Feld, und
er wieder bedarf wissenschaftlicher Gewissheit nicht. Wenn wir uns aber zu dem
Glauben der Unüberbietbarkeit der Religion in der Gestalt des schlichten,
einfachen Evangeliums erheben wollen, dann ist es vor allem nötig, dass
wir die feste Überzeugung gewinnen, dass das Evangelium für uns und
unsre Zeit die einzige und ausreichende Gestalt der Frömmigkeit ist, deren
wir bedürfen. Somit kehren wir zu unserer Frage zurück.
Wir sahen, überall erschien uns eine starke
Fortentwickelung der christlichen Religion notwendig: die
Erlösungsauffassung, das Dogma von der Gottheit Christi, die Trinitätslehre,
die Satisfaktions- und Opferidee, das Wunder, den alten Offenbarungsbegriff
- das alles sehen wir in diesen Strom der Fortentwickelung hineingerissen. Was
bleibt uns noch? Ängstliche könnten meinen: ein Trümmerhaufen.
Aber wir haben schon bei der Kritik an vielen Punkten zu unserem freudigen Erstaunen
gesehen: Was uns bleibt, ist das einfache
Evangelium Jesu. Selbst da, wo wir uns von Luther
und von Paulus hier und da lösen, ketten
wir uns um so fester an die Person und das Evangelium
Jesu.
Freilich können wir auch das Evangelium Jesu
nicht einfach abschreiben
mit allem und jedem, das an seiner Peripherie liegt. Auch in ihm ist
Inneres und Äußeres. Zu diesem Äußeren gehört ein
gutes Stück der Eschatologie des Evangeliums: Die Erwartung des unmittelbaren
Endes dieser Welt, ja das ganze Weltbild, auf dem diese Anschauungen ruhen,
die Vorstellungen von einer in der Mitte der Welt ruhenden Erbe, von einem darüber
sich wölbenden Himmel, von einem Gott, der auf den Wolken dieses Himmels,
von seinen Engeln umgeben, zum Weltgericht kommt, der Glaube an Engel, die zwischen
Himmel und Erde auf- und niedersteigen, an Teufel und Dämonen, an Wunder
und Inspiration und manches andere. Doch das sind äußere Hüllen,
durch die die reine Innerlichkeit des Evangeliums, nur eben verdeckt, überall
mit ihrem Glanze hindurchstrahlt.
Aber selbst das Innerste des Evangeliums ist für
uns nicht einfach abschreibbar. Es muss übersetzt, nicht
nur in unsre Sprache, sondern auch in unsre gesamten geistigen Verhältnisse
hinein übertragen werden. Und dabei wollen wir auch den Faden der geschichtlichen
Entwickelung nicht willkürlich abreißen und in allem wieder in übertriebenem
Purismus auf die Anfänge des Evangeliums zurückgehen. Nein, wo immer
die geschichtliche Entwickelung Wertvolles an das Evangelium herangebracht -
ich denke an die Stellung der Reformation zur Weltarbeit und manches andere
- gilt es, auch das herüberzunehmen und weiterzubilden. Niemals hat die
reine Innerlichkeit ohne eine äußere, aus dem Zeitlichen gewobene
Hülle existiert.
Der weltüberwindende, über diese Welt hinaushebende,
aber auch in diese Welt und ihre Arbeit hereinführende
Glaube des Evangeliums an den persönlichen himmlischen Vater
- wir halten an ihm fest mit allen Kräften. Aber wir tragen diesen
Gottesglauben hinein in unsre moderne Erkenntnis, in unsre
Vorstellungen von Gott.
Ja, Gott
ist für uns nicht mehr der freundliche
Vater über dem Sternenzelt, dessen Kleid, das Firmament, mit dem lieblichen
Schmuck der Sterne durchwirkt ist, der seine Engel sendet zum Schutz der Frommen,
der mit seinen Wunderkräften dem leiblichen Auge sichtbar, in unsre Welt,
deren Gesetze aufhebend, hineinwirkt. Gott ist
der Unendlich-Allmächtige, der in der ungeheuren
Sternenwelt, in Unendlichkeiten
von Zeit und Raum, vor denen der Gedanke schwindelt, im unendlich Kleinen
und unendlich Großen wirksam ist. Er ist der Gott, dessen Kleid
das eherne Naturgesetz ist, das ihn fürs menschliche Auge mit einer dichten,
unzerreißbaren Hülle deckt, der nach dem furchtbaren Gesetze des
Kampfes ums Dasein seine Geschöpfe aufwärts führt bis in die
Welt moralisch-persönlicher Freiheit, der uns mit seinem Sein wie ein schwindelnder
Abgrund umgibt. Und diesem Gott gegenüber wagen wir an der Hand Jesu das
große »und dennoch«, den Sturz
in den Abgrund. Wir heben betend unsre Hände: »Unser
Vater im Himmel«. Das ist fürwahr keine kleine Aufgabe, die
von uns geleistet werden muss. Glaube ist immer Kampf,
Arbeit, Neuerwerben, Weiterbilden.
Und wir stellen uns mit Jesus auf den Grund der
allereinfachsten Überzeugung, dass
Gott im Guten zu finden sei, und dass der Glaube an den himmlischen
Vater unmittelbar das sittliche Tun, die sittliche Arbeit im menschlichen Gemeinschaftsleben
in sich einschließt. Den kategorischen Imperativ zu diesem Leben im Guten
entnehmen wir dem Evangelium, dem Glauben an einen väterlichen
Gott, der seine Söhne vollkommen haben will wie er, dessen große
Augen wir auf unserm Leben ruhen fühlen, in dessen Gericht wir Rechenschaft
abzulegen haben für unser Leben.
Auch hier können wir nicht einfach abschreiben.
Die weltferne, weltfremde Art des sittlichen Handelns der ersten Christen
können wir nicht an unser modernes Leben heranbringen. Wir stellen uns
getrost in den Strom der Entwickelung des Evangeliums, mitten hinein in die
weltoffene Auffassung der reformatorischen Ethik. Wir wissen, dass wir das Guthandeln
in Gottes Sinn nicht in äußerlichen Werken zu betätigen haben,
sondern in der einfachen Erfüllung unserer irdischen Pflichten. Und mitten
hinein in eine groß und weit gewordene Welt, die nicht am Ende und Abschluss
zu stehen glaubt, sondern am Anfang einer neuen Periode, mitten hinein in eine
Welt, voll von starrenden Fragen und Problemen, mitten hinein in eine Zeit der
modernen Technik, des Welthandels und der Weltindustrie, der sozialen Frage,
des Völkerringens und der Klassenkämpfe tragen wir die Forderungen
des Evangeliums, das Leben um der andern willen, den Adel der dienenden Liebe,
das große, heilige Verstehen alles Menschenlebens, die sichere, gottgegebene
sittliche Ruhe allen Anfeindungen gegenüber.
Tief empfinden wir dabei den Mangel all unsres
Tuns, den ewigen Widerspruch zwischen Können und Sollen,
das ewige Zurückbleiben hinter den Forderungen des Willens unsres Gottes.
Und je reiner uns seine Forderungen entgegentreten, je ernster wir es damit
nehmen, desto stärker steigt auch jenes Gefühl der Unvollkommenheit
in die Höhe. Gerade dem modernen Menschen, der erst recht in die
Größe und Allmacht seines Gottes hat hineinschauen lernen,
wird die Seite des Evangeliums, welche das Wort Erlösung umfasst, besonders
zugänglich sein. Er wird von vornherein geneigt sein, sich seinem Gott
gegenüber in zwerghafter Kleinheit und Nichtigkeit, besonders auch in seiner
ethischen Nichtigkeit zu empfinden. Wir klammern
uns an das Evangelium Jesu von dem sündenvergebenden Gott. Wir
wissen, dass es in dem Leben eines jeden von uns Stunden gibt, wo uns nichts
aufrecht erhält, als der Glaube an einen sündenvergebenden Vater,
wie Jesus uns ihn im Gleichnis vom verlorenen Sohn offenbart hat. Wir glauben
aber auch im Sinne Jesu zu handeln, wenn wir hier nichts erzwingen und nichts
schablonisieren. Wir wollen den Gedanken an Sünde und Schuld nicht zu einer
alles andere aufzehrenden Grundstimmung unsres Lebens machen; wir kennen auch
Zeiten in unserm Leben, in denen wir durch Gottes Güte vorwärts kommen,
seinen Willen gerne tun, uns froh, frei und dankbar fühlen. Immer aber
werden wir Jesu Wort für uns gelten lassen: Wenn
ihr alles . . . . . getan habt, so sprecht: wir sind Knechte.
So bleibt uns mit alledem ein kühnes, frohes
Hoffen. Diese ewige Hoffnung ist nicht
das Fundament unsres Christentums, aber dessen höchster Ausdruck und Endziel.
Was wir erhoffen, ist ein höheres Leben näher bei Gott, ein
Herauskommen aus allen bangen Fragen und Zweifeln, aus dem Meer von Furcht und
Sorgen, aus den Fesseln der Alltäglichkeit und Sünde. - Dieses Hoffen
sei frei von allem persönlichen Egoismus. Es handelt sich nicht nur um
unser kleines Leben: Wir fühlen dies unser Leben verkettet in eine große
Gemeinschaft, ein Reich der Geister, dessen Haupt Christus ist, wir fühlen
uns im Bunde mit den großen Geistern der Vergangenheit, die an diesem
Bau mitgearbeitet, und in inniger persönlicher Gemeinschaft mit denen,
die gegenwärtig mit uns arbeiten. Wir können
es nicht ausdenken, dass das alles nur ein vergängliches Spiel, ein Traum,
den die Meereswoge rollt, sein sollte. Wir haben und halten eine lebendige
persönliche Hoffnung:
Doch rufen von drüben
Die Stimmen der Geister,
Die Stimmen der Meister:
Versäumt nicht zu üben
Die Kräfte des Guten.
Hier winden sich Kronen
In ewiger Stille,
Die Sollen mit Fülle
Die Tätigen lohnen.
Wir heißen euch hoffen. -
Und das alles: Gott der Vater, das Leben nach seinem guten
Willen in froher Arbeit an den Aufgaben der Welt, Sündenvergebung und ewige
Hoffnung – das alles schießt zusammen und kristallisiert sich in
vollendeter Klarheit in der Person unsres Herrn Jesu.
Und wir sprechen zu ihm: Du bist unser Führer! Es hat unendlich
viele Führer des menschlichen Lebens gegeben auf diesen und jenen Gebieten.
Sei Du unser Führer, dem kein andrer gleicht, der Führer im Höchsten,
der Leiter unsrer Seele zu Gott, »der Weg,
die Wahrheit und das Leben«.
Deshalb auch wollen wir modernen, wir individualistisch gestimmten und nach
unsrer Meinung so selbständigen Menschen uns die Mahnung gesagt sein lassen,
dass wir uns nicht vereinzeln. Es gilt, mit beiden Füßen
sich in die Gemeinschaft, die von Jesus ausgegangen
ist, hineinzustellen. Es ist eine Täuschung, wenn wir meinen,
das alles, von dem wir sprachen, haben und bewahren zu können in der Vereinzelung
und Vereinsamung. Eine Weile wohl kann der Einzelne es bewahren. Aber dann löst
sich die Seele von den ererbten Vorstellungen. nur in der Gemeinschaft - deutlich
hat die Geschichte hier zu uns gesprochen - wachsen dem Menschen die Flügel
und die Fähigkeit, sich aufzuschwingen in eine unsichtbare Welt. Nur in
der Gemeinschaft wächst die Kraft, die sittlichen Forderungen des Evangeliums
hineinzutragen in eine fremde Welt. Diese Gemeinschaft aber finden wir nur,
indem wir uns in den gegebenen geschichtlichen Zusammenhang kirchlicher Organisation
hineinstellen und, nicht abgeschreckt durch den Schutt alter, schwer zu beseitigender
Überlieferung, durch so manche fremde altertümliche
Formen, durch die Zäune, Hecken und Mauern kirchlicher Tradition, uns
unser Heimatrecht in dieser Gemeinschaft wahren, indem wir die Heimatpflichten
gern und mit Eifer auf uns nehmen. Die Frage nach der
Zukunft des Christentums ist zugleich eine Frage an Herz und Gewissen unsrer
modernen Gebildeten, an uns. Mögen wir sie beherzigen und verstehen!
S.197-225
Aus: Das Wesen der Religion dargestellt an ihrer Geschichte von Prof. Wilhelm
Bousset - Göttingen, 3. Auflage, der Volksausgabe, Halle a. S. Gebauer-Schwetschke
Druckerei u. Verlag 1906