Günther
Bornkamm (1905 – 1990)
>>>Gott
Die soziale Botschaft Jesu
Die soziale Botschaft Jesu — gibt es das
überhaupt? Die Frage ist nicht ganz so leicht zu beantworten, wie wir vielleicht
meinen, und wir tun gut daran, ein Wort aus dem Evangelium hier an den Anfang
zu stellen, das uns nicht gerade ermutigen wird, sie schnell zu bejahen.
»Es sprach aber einer aus dem Volke zu ihm: Meister,
sage meinem Bruder, daß er mit mir das Erbe teile. Er aber sprach zu ihm:
Mensch, wer hat mich zum Richter oder Erbschlichter über euch gesetzt?«
(Lukas 12, 13 und 14).
Die Szene wird sofort verständlich, wenn man sich klar macht, daß
es für die zeitgenössische jüdische Anschauung die uns so geläufig
gewordene Unterscheidung von religiöser und weltlicher Sphäre noch
nicht gab; Gottes Wille und Gesetz galten noch
als verbindlich auch für die Bereiche des rechtlichen, sozialen und politischen
Lebens. Ein Rabbi, ein jüdischer Schriftgelehrter, war darum, wie wir heute
sagen würden, Theologe und Jurist zugleich und pflegte, wie hier in der
erwähnten Begegnung jenes Menschen mit Jesus, auch in einer solchen Rechtsfrage
um seine Entscheidung angegangen zu werden. Aber Jesus wehrt dieses Ansinnen
ab, und zwar so grundsätzlich und scharf, ohne sich auch nur im geringsten
auf eine Diskussion dieses Falles einzulassen, daß wir in keiner Weise
das Recht haben, Jesu Entgegnung nur als eine zufällige, das heißt
nur diesem Menschen gegenüber — vielleicht aus pädagogisch-seelsorgerlichen
Erwägungen heraus — praktizierte Haltung zu verstehen. Jesus
lehnt die Autorität des Rechtslehrers, die ihm hier zugesprochen
wird, also schlechterdings ab. Er enttäuscht die Erwartung, die man ihm
entgegenbringt.
Diese eine Szene steht in den Evangelien nicht allein. Auch sonst bestätigen
sie, daß Jesu Worte nicht ein Programm der
Weltgestaltung sind, sei es in bezug auf das Recht, auf die gerechte Verteilung
von Boden und Besitz, auf die sozialen und politischen Verhältnisse. Weder
vertritt er das Ideal der Gütergemeinschaft, dem man, wie gerade die neuesten,
berühmt gewordenen Textfunde aus den Höhlen am Toten Meer beweisen,
in gewissen jüdischen Kreisen seiner Zeit huldigte, noch beteiligt er sieh
an der damaligen politischen Widerstandsbewegung gegen die römische Fremdherrschaft,
am Kampf der sogenannten »Eiferer«,
der Zeloten. Jeder kennt die Antwort Jesu auf die
Frage, ob es recht sei, dem Kaiser den Census, das heißt die kaiserliche
Steuer zu entrichten. »Gebt dem Kaiser, was des
Kaisers, und Gott, was Gottes ist.« Alles das klingt danach, als
ob Jesus die bestehenden Besitz- und Machtverhältnisse völlig unangetastet
und ihr Recht unbestritten ließe.
Der Mensch unserer eingangs erwähnten Geschichte, der doch offenbar um
sein gutes Recht betrogen zu werden fürchtete, ist mit seiner Erwartung
und seiner Enttäuschung in einer jahrhundertelangen Geschichte nicht vereinzelt
geblieben. Immer wieder hat man die Autorität Jesu
im Kampf gegen das offenkundige Unrecht in der
Welt, gegen die Entrechtung der Armen, die Unterdrückung der Besitzlosen
in Anspruch genommen und seinem Wort das Programm einer revolutionären
Neuordnung der Welt abtrotzen wollen. Man hat sich dabei vor allem auf
die BERGPREDIGT berufen, wo Jesus sich doch so
unmißverständlich auf die Seite der Unterdrückten stellt, den
Weheruf gegen die Reichen erklingen läßt und die in der Welt so selbstverständliche
Anwendung der brutalen Gewalt aufs schärfste verwirft. Und doch sind diese
Erwartungen, die man auf ihn setzte, immer wieder enttäuscht worden. Immer
wieder mußten die Revolutionäre der verschiedensten Zeiten und Arten
erfahren, daß auf Jesus als Bundesgenossen
in ihrem leidenschaftlichen Kampf gegen das Unrecht kein Verlaß war. Längst
hat man darum in der neuesten Geschichte der revolutionären Bewegungen
darauf verzichtet, Jesus noch als einen zuverlässigen
Kampfgefährten anzusehen, wie denn etwa im neueren Marxismus die Berufung
auf Jesus und seine Botschaft fast ganz verstummt
ist. Man vermeidet es heute geflissentlich, ihn unter die wirklichen Vorkämpfer
für eine neue Welt- und Gesellschaftsordnung zu zählen und schüttelt
die Erinnerung an ihn lieber ab, um klare Fronten zu schaffen.
Dies mußte schon Tolstoj sich von Lenin
mit grimmiger Schärfe sagen lassen. Dieser schrieb 1908, als man Toltojs
80. Geburtstag feierte, in einem Aufsatz über die Widersprüche
seines Denkens folgendes:
»Einerseits schonungslose Kritik der kapitalistischen
Ausbeutung, Entlarvung der Gewalttaten der Regierung, der Komödie der Justiz
und der staatlichen Verwaltung, Enthüllung der ganzen Tiefe der Widersprüche
zwischen dem Wachstum des Reichtums und der Errungenschaften der Zivilisation
und dem Wachstum der Armut, der Verwilderung und der Qualen der Arbeitermassen;
andererseits ein blödsinniges Predigen des »Widersetze
dich dem Bösen nicht durch Gewalt«. Einerseits nüchternster
Realismus, Herunterreißen aller und jeglicher Masken, andererseits das
Predigen eines der niederträchtigsten Dinge, die es überhaupt auf
der Welt gibt, nämlich der Religion, — das Streben, an Stelle beamteter
Popen, Popen aus sittlicher Überzeugung zu setzen, das heißt das
Kultivieren des raffiniertesten und deshalb besonders widerwärtigen Pfaffentums.«
Ja, Lenin nennt das tolstojanische
»Sich dem Bösen nicht widersetzen« eine ganz ernste
Ursache für das Scheitern der ersten russischen Revolution von 1905.
Man braucht Jesus also nicht mehr und weiß
den eigenen Kampf besser zu begründen als mit der
BERGPREDIGT, auch wenn man sie hier und da noch einmal dazu benützt,
der bürgerlich-kapitalistischen, sich christlich
nennenden Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, so wie es etwa schon
Karl Marx getan hatte.
Er schreibt:
»Straft nicht jeder Augenblick eures praktischen
Lebens eure Theorie Lügen? Haltet ihr es für Unrecht, die Gerichte
in Anspruch zu nehmen, wenn ihr übervorteilt werdet? Aber der Apostel schreibt,
daß es Unrecht sei. Haltet ihr euren rechten Backen dar, wenn man euch
auf den linken schlägt, oder macht ihr nicht einen Prozeß wegen Realiniurien
anhängig? Aber das Evangelium verbietet es . . . Handelt der größte
Teil eurer Prozesse und der größte Teil eurer Zivilgesetze nicht
vom Besitz? Aber es ist euch gesagt, daß eure Schätze nicht von dieser
Welt sind.«
Und was sagt die Christenheit dazu? Ist sie überhaupt noch bereit, sich
von solchen Fragen auf regen zu lassen, oder hat sie nicht längst gelernt,
zu resignieren und diese Resignation sogar unter Berufung auf Jesu Wort und
mit Hilfe kluger theologischer Erwägungen zu rechtfertigen? Um Antworten
der verschiedensten Art sind wir ja, wie es scheint, nicht verlegen. Sie lauten
etwa so: Man darf die Welt und das Reich Gottes, Diesseits und Jenseits, nicht
einfach vermengen. Die Welt hat ihre eigenen Gesetze, gegen die nur Stürmer
und Utopisten anrennen. Gottes Reich ist eine Sache der Innerlichkeit, der privaten
Sphäre des Herzens, der Gesinnung, des Glaubens und der Hoffnung auf eine
Erfüllung in einer besseren, jenseitigen Welt. Hier die rauhe Wirklichkeit
und dort das Ideal.
Mit diesen allgemeinen Erwägungen verbinden sich aber auch einleuchtende
Gründe der historischen Reflexion. Theodor Heuss
schildert in seiner Biographie Friedrichs Naumanns,
wie dieser so leidenschaftlich christliche Politiker auf einer Palästinafahrt
um die Jahrhundertwende dort im Lande Jesu einen überaus schmerzhaften
Anschauungsunterricht darüber erhielt, daß die Umwelt Jesu eine völlig
andere war als die unseres technisierten und industrialisierten Zeitalters und
darum von Jesu Worten keine unmittelbare Lösung für die uns gestellten
Fragen zu erwarten sei. Etwa zur selben Zeit entdeckten Historiker des Urchristentums
wie Johannes Weiss und der bekannte Theologe und
Arzt Albert Schweitzer, daß nicht nur die
historische Umwelt, nein auch das Geschichtsbild Jesu ganz und gar die Züge
seiner Zeit trägt. Sie zeigten, daß Jesu
Botschaft vom Reiche Gottes
nichts mit unseren von Kant und dem deutschen Idealismus
geprägten Vorstellungen vom Reiche Gottes zu tun habe, sondern aufs stärkste
von den apokalyptischen Erwartungen des späten Judentums geprägt sei:
vom nahen Weltende, von den Nöten und Wehen der Endzeit und dem baldigen
Hereinbrechen eines neuen Äons. Die Welt stehe nach Jesu Lehre in einer
äußersten Krisis, und nur im Horizont dieser Welt- und Geschichtsauffassung,
die für uns nicht einfach wiederholbar sei, gälten auch die Forderungen
Jesu, vor allem in der BERGEREDIGT. So wie im Kriegsfall
für ein Land oder im Falle der Belagerung für eine Stadt Ausnahmegesetze
proklamiert werden, so sei auch Jesu BERGPREDIGT
ein Interimsgesetz, das
heißt nur unter den einmaligen Bedingungen und für diese bestimmte
Zeit der Krisis gültig, aber niemals als ein allgemeines Gesetz für
alle Zeiten gemeint.
Man kann sich vorstellen, wie sehr diese Entdeckung, Jesus müsse als ein
eschatologischer Prophet einer unwiderruflich vergangenen Geschichtsepoche verstanden
werden. sozusagen Wasser auf die Mühle derer werden mußte, die es
ohnehin längst abgelehnt haben, noch nach Jesu Wort fragen; aber zugleich,
wie anstößig und beunruhigend sie für weite Kreise der Christenheit
war, denen Jesu Botschaft für die Lösung unserer Lebensfragen heute
doch noch irgendwie als maßgeblich und verbindlich gegolten hat.
Eine Entscheidung in der zumal von Albert Schweitzer
und anderen Historikern aufgeworfenen Frage ist in der Tat nicht leicht. Sie
haben nämlich unbestritten darin recht: die Botschaft vom Kommen des Gottesreiches
ist allerdings die Mitte seiner ganzen Verkündigung, und das, was hier
mit dem Reich Gottes gemeint ist, fügt sich nicht ohne weiteres in unsere
traditionellen Vorstellungen von Welt und Geschichte. Und doch haben jene Historiker
nicht verstanden, daß Jesu Botschaft auch in das Konzept der spätjüdischen
Weltuntergangs- und Zukunftserwartungen nicht wirklich hineinpaßt, vielmehr
es von innen her sprengt. Dort wird ein kommendes Reich der Gerechtigkeit erträumt,
errechnet und mit glühenden Farben ausgemalt. Hier aber, in Jesu Wort,
wird dem Errechnenwollen des Weltendes und des Anbruchs der Gottesherrschaft
gerade ein Ende gemacht. »Darum wachet, denn ihr
wisset nicht, welche Stunde euer Herr kommen wird.«
Also nicht Weltende und Gottesreich zu errechnen, aber mit der
Zukunft Gottes zu rechnen, sich in Treue und Gehorsam bereitzuhalten
für den Tag, wo die Knechte vor ihrem Herrn stehen werden, dazu ruft Jesus
seine Jünger. Nimmt er sie damit aus der Welt und der Gegenwart heraus,
in der sie stehen? In der Tat, er macht sie frei von der Welt und dem Bann der
Zeit, der uns natürlicherweise alle gefangen hält: dem Sorgen um die
irdischen Güter, dem Sich-Preisgeben und Aufgehen in den Dingen der Welt
mit ihrer verführerischen Gewalt und ihrer qualvollen Unruhe. Und doch
bedeutet das in der Verkündigung Jesu nicht
ein Ausschwärmen aus Welt und Gegenwart in eine phantastische Zukunft hinein,
sondern gerade ein um so entschlosseneres Fragen nach dem Willen
Gottes heute,
einen neuen Gehorsam hier inmitten der Welt,
eine neue Gerechtigkeit hier auf Erden, die weit besser ist als die der Schriftgelehrten
und Pharisäer. Diese neue Gerechtigkeit ist das Leben
im Lichte der Herrschaft Gottes, die nicht erst in einer fernen, nebelhaften
Zukunft unser wartet und sich auch nicht nur in die Innerlichkeit des eige¬nen
Herzens verbannen läßt, sondern mit ihrem Anspruch uns heute schon
fordert mit allem, was wir haben und sind.
Es kann also keine Rede davon sein, daß Jesus unbekümmert
sei um die Welt und sie ihrer eigenen Unordnung und ihrem Unrecht ungestört
überließe. Im Gegenteil: er führt einen leidenschaftlichen Kampf
gegen sie und gibt auch seinen Jüngern nicht das Recht, der Welt ihren
Lauf zu lassen und zu resignieren.
Wer mit Gott wirklich rechnen
gelernt hat, der kann die Rechnung, die ihm die Welt täglich präsentiert,
nicht mehr, als stimmte sie, unwidersprochen hinnehmen. Wer vor Gott
kapituliert hat, darf schlechterdings im
Leben nicht mehr kapitulieren und den Gewalten und Götzen, die hier regieren,
sich gefügig unterwerfen.
Man darf darum wohl sagen: Das
haben die Stürmer und Unruhegeister in der
Christenheit von jeher, auch wenn sie der Schwärmerei verfielen, noch immer
besser verstanden als die Vertreter eines vermeintlichen Christentums, das sich
nicht genug darin tun konnte, immer nur die bestehenden Verhältnisse zu
rechtfertigen und mit den jeweils herrschenden Mächten einen Bund zu schließen.
Wie aber soll dieser Kampf recht geführt werden? Darauf kann die erste
Antwort, die Jesu Botschaft gibt, nur in aller
Einfachheit und Klarheit lauten: in der Gewißheit, daß der Sieg
über die dämonischen Gewalten und das Unrecht
in der Welt schon erkämpft ist,
verborgen für unsere Augen und doch wirklich erkämpft, denn Gott
ist da und überläßt Welt und Menschen nicht mehr sich selbst.
Gott ist mit seiner Herrschaft schon jetzt da und gibt den Armen,
den hier in der Welt Erniedrigten und Beleidigten Anteil an seinem Sieg. »Heil
euch Armen, denn Gottes Herrschaft ist euer.« So beginnt nach Lukas
die Reihe der Seligpreisungen. Matthäus hat
das Wort in der BERGPREDIGT in der uns bekannteren
Form mit dem Zusatz überliefert: »Heil den
Armen im Geist«, und es ist eine alte Frage, ob er damit Jesu Wort
nicht in unerlaubter Weise vergeistigt, verinnerlicht und ihm damit seine Spitze
abgebrochen hat. Oder hat etwa umgekehrt Lukas das Wort vergröbert, sozialisiert
und proletarisiert? Wir wissen heute, daß weder das eine noch das andere
Urteil richtig ist. Beide Evangelisten bringen vielmehr ein unveräußerliches
Anliegen von Jesu Botschaft zum Ausdruck. Es steht außer Frage, daß
Jesus sich wirklich auf die Seite der leibhaftig Armen stellt und sein
Wehe den Reichen und Satten gilt. Und doch sind die Armen nicht nur die ökonomisch
Unbemittelten, sondern die, die mit ihrer ganzen Existenz — im Geist,
wie es bei Matthäus heißt — auf
Gott hoffen, auf Gott warten,
also die auf Gott Gewiesenen, aber nun auch wirklich auf Gott sich Werfenden,
nicht nur die verhinderten Reichen. Denen gibt Jesus die
Verheißung: Gott ist für euch
da. Ihr sollt Anteil haben an seinem Sieg.
Aber was bedeutet das, daß Gott den Sieg schon erkämpft hat? Wird
damit der Kampf hier auf Erden gegen die leibhaftigen Nöte, Unrecht und
Gewalt nicht zu einem unsinnigen Unterfangen? Heißt das nicht, den leibhaftig
Armen und Hungernden Steine statt Brot anbieten? Was haben die Jünger dann
noch zu tun? Die Antwort kann nur lauten:
Sie sind nun erst recht mit höchster Dringlichkeit aufgerufen, den Willen
Gottes zu tun. Was dieser Wille Gottes ist, das sagt mit bündiger
Klarheit gerade etwa die BERGPREDIGT und mit ihr
das eine Gebot, in dem sich nach Jesu Wort das
ganze Gesetz Gottes zusammenfaßt: »Gott zu
lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und ganzem Gemüt. Und den Nächsten
lieben wie sich selbst.« Mehr als dieses eine uralte Gebot wird
uns auch heute nicht gegeben in den tausendfachen Fragen, die uns das Leben
im engsten Miteinander von Mensch zu Mensch und im weiteren Kreise des rechtlichen,
politischen und sozialen Lebens stellt. Aber es verlohnt doch, über die
Bedeutung und das Ausmaß dieser Forderung Jesu
noch genauer nachzudenken und aus seinem Wort nicht einen leeren Spruch werden
zu lassen.
Die revolutionierende Kraft dieses Wortes wird nirgends so deutlich wie eben
in der BERGPREDIGT. Sie steht, so ließe sich
sagen, in einer doppelten Front. Jeder von uns weiß, daß Jesu vollmächtiges
»Ich aber sage euch« im schärfsten
Widerspruch steht zu dem, was »zu den Alten«
gesagt ist; ein Angriff also gegen die, die von bloßer Tradition leben
und den Willen Gottes aufgehen lassen in einem Gefüge von Rechtssätzen,
mit denen man nicht in Konflikt geraten soll, weil Religion und Moral es so
erfordern. Aber das Leben ist in Ordnung, wenn man nicht gerade eklatant einen
Mord oder einen Ehebruch begeht, einen Meineid leistet und die Durchsetzung
des eigenen Rechtes in den Grenzen des gesetzlich Erlaubten hält. Das ist
die Verkehrung des göttlichen Willens, der Jesus mit äußerster
Schärfe begegnet. Darum sein Wort: Schon der auflodernde
Haß, schon die Beschränkung der Wahrhaftigkeit auf das eidlich bekräftigte
Wort, schon das Rechthaben und Durchsetzenwollen überhaupt, schon die Begrenzung
der Liebe auf den Nächsten, die doch
noch Raum läßt für den Haß des Feindes, ist wider Gottes
Gebot. Euer vermeintlich geordnetes Leben also ist vor Gott zutiefst in Unordnung.
So zwingt er den Menschen in das durchdringende Licht
der Wirklichkeit und des Willens Gottes und macht der Sekurität,
der Selbstsicherheit derer, die einst sich mit der jüdischen Tradition
und heute mit der Bewahrung einer steril gewordenen christlichen Weltanschauung
begnügen wollen, ein Ende.
Aber Jesu Wort steht zugleich noch in einer anderen Front, gegen die nämlich,
die, wie es in der BERGPREDIGT heißt, wähnen,
er sei gekommen, Gesetz und Propheten aufzulösen. Die hier Gemeinten, das
sind die Schwärmer, die ihrem Ideal des Gottesreiches, wir können
heute auch getrost dafür sagen dem Ideal einer kommenden Weltordnung nachjagen
und diesem Ideal alles opfern, was ihm nicht entspricht: das Gesetz Gottes,
aufgehängt wie eine Tür in der festen Angel des Liebesgebotes, und
die darum auch den Menschen hier und jetzt, wenn es sein muß, für
dieses Zukunftsbild preisgeben. Wir alle wissen, daß diese Schwärmerei
heute, wenn auch durch und durch säkularisiert, furchtbar geschichtliche
Gestalt gewonnen hat im Bolschewismus. Was es heißt, für die Utopie
einer neuen Weltordnung Menschen zu opfern, hat er gerade jetzt in Ungarn vor
unseren Augen ja grauenvoll demonstriert. Auf diesem Hintergrund werden wir
heute Jesu Wort in seinem Gewicht neu verstehen: »Ich bin nicht gekommen,
aufzulösen, sondern zu erfüllen.«
So stellt Jesus den Menschen, in der Front nach
der einen und nach der anderen Seite, wir könnten auf unsere heutige Situation
angewandt sagen, gegen Osten und gegen Westen gerichtet, in das
unverhüllte Licht der Wirklichkeit Gottes und seines klaren, ungebrochenen
Willens. Dieser Realität erst einmal standzuhalten und den Fluchtversuch,
sei es in die traditionelle Moral, sei es in jene revolutionäre Ideologie,
preiszugeben und damit auch die Wirklichkeit unseres Menschseins vor Gott
anzunehmen, darauf zielt Jesu Lehre. Dies
vor allem ist von uns gefordert und nicht, sofort mit all den tausend Einwänden,
daß dieser Wille Gottes sich in unserer Welt mit ihren harten Realitäten
ja doch nicht verwirklichen ließe, dazwischenzufahren.
Aber läßt diese Frage sich unterdrücken? Fängt nicht gerade
dann die ganze Problematik des Lebens erst an, und werden wir hier nun doch
wieder allein gelassen? In der Tat, so werden wir antworten müssen, wird
uns ein Programm für eine neue Weltordnung von Jesus
nicht gegeben. Und alle Versuche, seine Forderungen gesetzlich
zu verwirklichen, sind noch immer gescheitert. Wie aber
kann der, der wirklich mit Gott und unserer Verantwortung vor Ihm zu rechnen
gelernt hat, noch im Ernste behaupten, er sei allein gelassen? Und wie sollte
er den Mitmenschen jetzt noch ansehen können, ohne zu wissen, daß
Gott auch ihn nicht allein läßt und ihn zu meinem Bruder gemacht
hat? Läßt sich dieses Wissen wirklich zu einer
Privatsache des Menschenherzens machen, ohne daß sich daraus Konsequenzen
auch in den Bereichen des rechtlichen, sozialen und politischen Lebens ergeben?
Diese Konsequenzen lassen sich nicht in ein Programm und ein Gesetz hineinpressen.
Aber wir sollten doch wohl verstehen, daß Gottes
Gebot und Wille nicht weniger, sondern mehr ist
als ein Gesetz und ein Programm. Unsere Verantwortung und die Pflicht
zu einem Tun, das sich nicht in bloßen Worten erschöpft, bekommen
nun gerade erst ihre Dringlichkeit. Und das heißt doch wohl sehr konkret,
daß wir kein Recht mehr haben, uns mit den bestehenden Verhältnissen
in der Ordnung der Gesellschaft, des Staates, des Eigentums, des Rechtes und
so weiter als unabänderlichen Gegebenheiten abzufinden und damit Gott in
die imaginäre Sphäre eines Jenseits zu
verbannen. Um Gottes und um des Menschen willen, den Gott nicht preisgibt, darf
es diese faule und oft genug so fromm bemäntelte Resignation nicht mehr
geben. Es ist billig, sich über die kommunistische Parole, Religion sei
Opium für das Volk, zu entrüsten. Heilsamer sollte es für die
Christenheit sein, sich selbst zu prüfen, in welchem Maße sie selbst
diesem furchtbaren Irrglauben Nahrung gegeben hat.
Jesus selbst hat die Forderung, die er an uns richtet,
mehr als einmal darin zusammengefaßt, daß wir klug
werden sollen. Was bedeutet diese Klugheit? Erstlich ganz gewiß dieses:
wieder anzufangen, illusionslos mit Gott zu rechnen und damit auch die Wirklichkeit
unseres eigenen Daseins recht zu begreifen. Denn über Schein und Wahrheit
unseres Daseins wird nicht im Horizonte der Welt entschieden, die wir vor Augen
haben, sondern die Entscheidung fällt vor Gott. Aber diese Klugheit heißt
zugleich, nun auch entschlossen die Möglichkeiten zu nutzen, die sich hier
in der Welt uns bieten. Dazu gehört ein sehr nüchterner Blick für
die Realitäten des Lebens.
Nicht zufällig bedient sich Jesus in seinen Gleichnissen, wenn er von dieser
Klugheit redet, sehr handfester Beispiele, um zu zeigen, was Klugheit und Torheit
seien: wer sich ein Haus baut, wird zuerst das Fundament auf seine Tragfähigkeit
prüfen, wer in den Krieg zieht, wird zuerst das gegnerische
und das eigene Kräftepotential abschätzen. Das sind Lebensregeln,
die jeder versteht und die oft gerade von den Weltkindern, die sich um Gott
nicht kümmern, am kundigsten praktiziert werden. Jesus
scheut sich darum nicht, im Gleichnis vom ungerechten Haushalter seinen
Hörern sogar einen höchst bedenklichen Schlauberger zum Vorbild zu
setzen, der nach begangenem Betrug in letzter Minute, als seine Untreue bekannt
geworden und seine Zukunft bedroht ist, noch das Letzte aus seiner heillosen
Lage herausholt. Ein Vorbild sicher nicht in seiner Betrügerei, aber ein
Vorbild im Verzicht auf alle Illusionen, erst recht alle religiös bemäntelten,
und im Nutzen auch der letzten, uns gegebenen Möglichkeiten. Ein aufreizendes
Beispiel, das aber um so nachdrücklicher sagt: Warum
laßt ihr in eurem Glauben euch von diesem Halunken beschämen?
Angewandt auf die uns
gestellten Fragen einer gerechten Ordnung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft
heißt das doch: Resigniert nicht, prüft die Möglichkeiten mit
keiner geringeren Sachkunde und Klugheit als der, die der ungerechte Haushalter
auf seine Weise bewies. Gebt darum auch den Kampf gegen die dämonische
Gewalt des Mammon nicht auf, sondern packt ihn auf seinem eigenen Feld.
Wer vor Gott bestehen will, muß wissen, daß er nach seinem Bruder
gefragt wird, und das heißt zu allererst nach den
Entrechteten und Unterdrückten, die Jesus
selbst seine geringsten Brüder genannt hat. »Was
ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan.«
Wer sagt, daß dieses Verhalten von uns nur in der privaten Sphäre
der Nächstenliebe gefordert sei und nicht auch auf dem Felde der politischen
und sozialen Ordnung? Ist dar¬um das Liebesgebot Gottes erfüllt, wenn
die Christen sich auf eine bloße caritas
zurückziehen und das Gebiet der Rechts- und Sozialordnung sich selbst überlassen?
Gewiß ist es wahr, daß sich mit der BERGPREDIGT
nicht die Welt regieren läßt und kein politisches und soziales Programm
sich mit Jesu Botschaft identifizieren darf. In diesem
Sinne gilt allerdings: es gibt keine soziale Botschaft
Jesu. Wozu aber diesen fraglos richtigen Satz zum hundertsten Male wiederholen?
Wichtiger und heilsamer ist es, Jesu Aufruf zu
hören, daß wir auch in allem, was an politischen und sozialen Entscheidungen
in unser Urteil und unser Ermessen gestellt ist, nicht
frei, sondern vor Gott verantwortlich sind. Die
uralte Frage: »Wo ist dein Bruder?« ist
und bleibt die Frage
Gottes an uns. Jesus hat sie unüberhörbar
neu an uns gestellt und mit dieser Schärfung der Gewissen sein Wort auch
zu der uns gestellten sozialen Frage gesprochen. Wer könnte auch im Ernst
die Kräfte leugnen, die er mit diesem Wort in einer langen Geschichte entbunden
hat? Wer wollte freilich ebenso leugnen, daß die Christenheit von diesem
Worte beschämt wird? Und doch ist diese Beschämung nicht das letzte,
sondern der Aufruf, inmitten einer Welt, die an ihren steinharten Traditionen
und ihren schwärmerischen Ideologien nur sterben kann, die Zeichen der
Herrschaft Gottes aufzurichten und da, wo wir mit unserer Kraft an unüberwindliche
Grenzen stoßen, der Verheißung zu vertrauen, die Jesus
in den Seligpreisungen gibt: Heil denen, die hungern
und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.
S.129ff.
Kröner, Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 251, Christen oder
Bolschewisten, Eine Vortragsreihe, Das Heidelberger Studio, eine Sendereihe
des Süddeutschen Rundfunks
Copyright 1957 by Alfred Kröner Verlag Stuttgart, Veröffentlichung
auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages,
Stuttgart