Dietrich Bonhoeffer (1906 –1945 hingerichtet)
Deutscher (evangelischer) Theologe und Religionsphilosoph; 1923 Theologiestudium in Tübingen, Rom und Berlin. 1928 Vikariatszeit in Barcelona, 1929 Assistent an der Theologischen Fakultät in Berlin; 1930 2. theologisches Examen (Habilation mit »Akt und Sein«) 1931 Studentenpfarramt und Dozentur, 1933 Pfarramt in London. Vor seiner Abreise nach England beteiligte er sich an der Gründung von Niemöllers Pfarrernotbund zum Schutz der bedrohten Amtsbrüder jüdischer Herkunft. 1935 wurde er Direktor des Prediger-Seminars der Bekennenden Kirche in Finkenwalde. Seit 1940 konspirative Informationsübermittlung für den deutschen Widerstand um Canaris. Im Mittelpunkt von Bonhoeffers Theologie stehen die Kirche, die »nichtreligiöse« Auslegung der Bibel und die Diesseitigkeit des Christentums. Dietrich Bonhoeffer wurde am 5. April 1943 wegen »Zersetzung der Wehrkraft« verhaftet und als »Widerstandskämpfer« am 9. 4. 1945 – nur drei Wochen vor Hitlers Selbstmord - im KZ Flossenbürgg von Hitlers fanatischen Schergen gehängt. In der Zelle entfaltete er seine fruchtbarste Arbeitsphase: die in der Haft entstandenen Briefe und Aufzeichnungen sind unter dem sehr lesenswerten Titel »Widerstand und Ergebung« zusammengefasst und im Gütersloher Verlagshaus als Kaiser Taschenbuch erschienen. Einige Theologen halten den (auszugsweise auf Philos-Website unter dem Stichwort »Christus« enthaltenen) ersten großen theologischen Brief vom 30. 4. 1944 für den Anfang einer »neuen theologischen Epoche«. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Menschenverachtung
Weltbild der Physik
Gott ist schwach und ohnmächtig in der Welt . . .
Dieses Leben an der Teilnahme an der Ohnmacht Gottes in der Welt?
Christus
Der Ganzheits- und Ausschließlichkeitsanspruch Christi
Nachfolge
Menschenverachtung?
Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen
lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum
Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel
Widerstandskraft [ein ausreichendes Maß an Stärke/ Kraft, um das zu bewältigen können, was auf uns unausweichlich zu kömmt] geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus,
damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich
glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind,
und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit
unseren vermeintlichen Guttaten. Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet
und antwortet.
Aus: Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung:
Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft / Dietrich Bonhoeffer. Hrsg. von Eberhard
Bethge – 16. Aufl. – (Kaiser-Taschenbücher; 100, S. 19)
© Chr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1951
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher
Genehnigung des Gütersloher Verlagshauses
Weltbild
der Physik
Aus dem Brief vom 29.5.1944
Das Weizsäcker‘sche Buch über das »Weltbild der Physik»
beschäftigt mich noch sehr. Es ist mir wieder ganz deutlich geworden, daß
man Gott nicht als Lückenbüßer unserer unvollkommenen Erkenntnis
figurieren lassen darf; wenn nämlich dann — was sachlich zwangsläufig
ist — sich die Grenzen der Erkenntnis immer weiter herausschieben, wird
mit ihnen auch Gott immer weiter weggeschoben und befindet sich demgemäß
auf einem fortgesetzten Rückzug. In dem, was wir erkennen, sollen wir Gott
finden, nicht aber in dem, was wir nicht erkennen; nicht in den ungelösten,
sondern in den gelösten Fragen will Gott von uns begriffen sein. Das gilt
für das Verhältnis von Gott und wissenschaftlicher Erkenntnis. Aber
es gilt auch für die allgemein menschlichen Fragen von Tod, Leiden und
Schuld. Es ist heute so, daß es auch für diese Fragen menschliche
Antworten gibt, die von Gott ganz absehen können. Menschen werden faktisch
— und so war es zu allen Zeiten — auch ohne Gott mit diesen Fragen
fertig und es ist einfach nicht wahr, daß nur das Christentum eine Lösung
für sie hätte. Was den Begriff der „Lösung“ angeht,
so sind vielmehr die christlichen Antworten ebenso wenig — (oder ebenso
gut) - zwingend wie andere mögliche Lösungen. Gott ist auch hier kein
Lückenbüßer; nicht erst an den Grenzen unserer Möglichkeiten,
sondern mitten im Leben muß Gott erkannt werden; im Leben und nicht erst
im Sterben, in Gesundheit und Kraft und nicht erst im Leiden, im Handeln und
nicht erst in der Sünde will Gott erkannt werden. Der Grund dafür
liegt in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Er ist die Mitte des Lebens
und ist keineswegs „dazu gekommen“, uns ungelöste Fragen zu
beantworten. Von der Mitte des Lebens aus fallen gewisse Fragen überhaupt
aus und ebenso die Antworten auf solche Fragen (ich denke an das Urteil über
Hiobs Freunde!). In Christus gibt es keine „christlichen Probleme“.
Aus: Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung:
Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft / Dietrich Bonhoeffer. Hrsg. von Eberhard
Bethge – 16. Aufl. – (Kaiser-Taschenbücher; 100, S. 162-163)
© Chr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1951
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehnigung des Gütersloher
Verlagshauses
Gott
ist schwach und ohnmächtig in der Welt . . .
Aus dem Brief vom 16. 7. 1944
Nun wieder ein paar Gedanken zu unserem Thema. Ich arbeite mich erst allmählich
an die nicht-religiöse Interpretation der biblischen Begriffe heran. Ich
sehe mehr die Aufgabe, als daß ich sie schon zu lösen vermöchte.
Zum Historischen: es ist eine große Entwicklung, die zur Autonomie der
Welt führt. In der Theologie zuerst Herbert v. Cherbury, der die Suffizienz
der Vernunft für die religiöse Erkenntnis behauptet. In der Moral:
Montaigne, Bodin, die anstelle der Gebote Lebensregeln aufstellen. In der Politik:
Macchiavelli, der die Politik von der allgemeinen Moral löst und die Lehre
von der Staatsraison begründet. Später, inhaltlich sehr von ihm verschieden,
aber in der Richtung auf die Autonomie der menschlichen Gesellschaft doch mit
ihm konform, H. Grotius, der sein Naturrecht als Völkerrecht aufstellt,
das Gültigkeit hat ,,etsi deus non daretur“, ,,auch wenn es keinen
Gott gäbe“. Schließlich der philosophische Schlußstrich:
einerseits der Deismus des Descartes: die Welt ist ein Mechanismus, der ohne
Eingreifen Gottes von selbst abläuft; andrerseits der Pantheismus Spinoza‘s:
Gott ist die Natur. Kant ist im Grunde Deist, Fichte und Hegel Pantheisten.
Überall ist die Autonomie des Menschen und der Welt das Ziel der Gedanken.
(In der Naturwissenschaft beginnt die Sache offenbar mit Nikolaus v. Cues und
Giordano Bruno und ihrer – „häretischen“ - Lehre von
der Unendlichkeit der Welt. Der antike Kosmos ist ebenso wie die mittelalterliche
geschaffene Welt endlich. Eine unendliche Welt — wie immer sie auch gedacht
sein mag — ruht in sich selbst „etsi deus non daretur“. Die
moderne Physik bezweifelt allerdings wieder die Unendlichkeit der Welt, ohne
jedoch in die früheren Vorstellungen ihrer Endlichkeit zurückzufallen.
Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist
abgeschafft, überwunden; ebenso aber als philosophische und religiöse
Arbeitshypothese (Feuerbach!). Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit,
diese Arbeitshypothese fallen zu lassen bzw. sie so weitgehend wie irgend möglich
auszuschalten. Ein erbaulicher Naturwissenschaftler, Mediziner etc. ist ein
Zwitter
Wo behält nun Gott noch Raum? fragen ängstliche Gemüter, und
weil sie darauf keine Antwort wissen, verdammen sie die ganze Entwicklung, die
sie in solche Notlage gebracht hat. Über die verschiedenen Notausgänge
aus dem zu eng gewordenen Raum habe ich Dir schon geschrieben. Hinzuzufügen
wäre noch der salto mortale zurück ins Mittelalter. Das Prinzip des
Mittelalters aber ist die Heteronomie in der Form des Klerikalismus. Die Rückkehr
dazu aber kann nur ein Verzweiflungsschritt sein, der nur mit dem Opfer der
intellektuellen Redlichkeit erkauft werden kann. Er ist ein Traum nach der Melodie:
,,O wüßt‘ ich doch den Weg zurück, den weiten Weg ins
Kinderland.“ Diesen Weg gibt es nicht, — jedenfalls nicht durch
den willkürlichen Verzicht auf innere Redlichkeit, sondern nur im Sinne
von Matth. 18, 3!, d.h. durch Buße, d.h. durch letzte Redlichkeit! Und
wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, daß wir in der Welt
leben müssen — ,,etsi deus non daretur“. Und eben dies erkennen
wir - vor Gott! Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis. So führt uns
unser Mündigwerden zu einer wahrhaftigeren Erkenntnis unsrer Lage vor Gott.
Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben müssen als solche, die mit
dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott,
der uns verläßt (Markus 15, 34)! Der Gott, der uns in der Welt leben
läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd
stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott läßt sich aus
der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach
in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns. Es ist Matthäus
8,17 ganz deutlich, daß Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern
kraft seiner Schwachheit, seines Leidens!
Hier liegt der entscheidende Unterschied zu allen Religionen. Die Religiosität
des Menschen weist ihn in seiner Not an die Macht Gottes in der Welt, Gott ist
der deus ex machina. Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden
Gottes; nur der leidende Gott kann helfen. Insofern kann man sagen, daß
die beschriebene Entwicklung zur Mündigkeit der Welt, durch die mit einer
falschen Gottesvorstellung aufgeräumt wird, den Blick frei macht für
den Gott der Bibel, der durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum gewinnt.
Hier wird wohl die ,,weltliche Interpretation“ einzusetzen haben.
Dieses
Leben an der Teilnahme an der Ohnmacht Gottes in der Welt?
Aus dem Brief vom 18. 7. 1944:
»Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?» fragt Jesus in
Gethsemane. Das ist die Umkehrung von allem, was der religiöse Mensch von
Gott erwartet. Der Mensch wird aufgerufen, das Leiden Gottes an der gottlosen
Welt mitzuleiden. Er muß also wirklich in der gottlosen Welt leben und
darf nicht den Versuch machen, ihre Gottlosigkeit irgendwie religiös zu
verdekken, zu verklären; er muß »weltlich» leben und
nimmt eben darin an den Leiden Gottes teil; er darf »weltlich« leben,
d. h. er ist befreit von allen falschen religiösen Bindungen und Hemmungen.
Christsein heißt nicht in einer bestimmten Weise religiös sein, auf
Grund irgendeiner Methodik etwas aus sich machen (einen Sünder, Büßer
oder einen Heiligen), sondern es heißt Menschsein, nicht einen Menschentypus,
sondern den Menschen schafft Christus in uns. Nicht der religiöse Akt macht
den Christen, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben. Das
ist [...] nicht zuerst an die eigenen Nöte, Fragen, Sünden, Angste
denken, sondern sich in den Weg Jesu Christi mithineinreißen lassen, in
das messianische Ereignis, daß Jes. 53 nun erfüllt wird! Daher: »glaubet
an das Evangelium“ bzw. bei Joh. der Hinweis auf das »Lamm Gottes,
das der Welt Sünden trägt“ (nebenbei: A. Jeremias hat kürzlich
behauptet, »Lamm“ sei im Aramäischen auch durch »Knecht“
zu übersetzen. Ganz schön, im Hinblick auf Jes. 53!)
Dieses Hineingerissenwerden in das — messianische — Leiden Gottes
in Jesus Christus geschieht im Neuen Testament in verschiedenster Weise: durch
den Ruf der Jünger in die Nachfolge, durch die Tischgemeinschaft mit den
Sündern, durch ,,Bekehrungen» im engeren Sinne des Wortes (Zachäus),
durch das (ohne jedes Sündenbekenntnis sich vollziehende) Tun der großen
Sünderin (Luk. 7), durch die Heilung der Kranken (s. o. Matth. 8,17), durch
die Annahme der Kinder. Die Hirten wie die Weisen aus dem Osten stehen [an]
der Krippe, nicht als »bekehrte Sünder», sondern einfach, weil
sie, so wie sie sind, von der Krippe her angezogen werden (Stern). Der Hauptmann
von Kapernaum, der gar kein Sündenbekenntnis ablegt, wird als Beispiel
des Glaubens hingestellt (vgl. Jairus). Den reichen Jüngling »liebt“
Jesus. Der Kämmerer (Apg. 8), Cornelius (c. 10) sind alles andere als Existenzen
am Abgrund. Nathanael ist ein »Israelit ohne Falsch« (Joh. 1, 47);
schließlich Joseph v. Arimathia, die Frauen am Grabe. Das einzige, ihnen
allen Gemeinsame, ist das Teilhaben am Leiden Gottes in Christus. Das ist ihr
»Glaube«. Nichts von religiöser Methodik, der »religiöse
Akt« ist immer etwas Partielles, der »Glaube« ist etwas Ganzes,
ein Lebensakt. Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion, sondern zum Leben.
Wie sieht nun aber dises Leben aus? Dieses Leben der Teilhabe an der Ohnmacht
Gottes in der Welt? [...] Wenn man von Gott ,,nicht-religiös“ sprechen
will, dann muß man so von ihm sprechen, daß die Gottlosigkeit der
Welt dadurch nicht irgendwie verdeckt, sondern vielmehr gerade aufgedeckt wird
und gerade so ein überraschendes Licht auf die Welt fällt. Die mündige
Welt ist Gott-loser und darum vielleicht gerade Gott-näher als die unmündige
Welt.
Aus: Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung:
Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft / Dietrich Bonhoeffer. Hrsg. von Eberhard
Bethge – 16. Aufl. – (Kaiser-Taschenbücher; 100, S. 190-194)
© Chr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1951
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher
Genehnigung des Gütersloher Verlagshauses