Johann Caspar Bluntschli (1808 – 1881)
![]() |
Deutsch-Schweizer
Staats- und Völkerrechtslehrer, der einer der bedeutendsten
Köpfe der konstitutionellen Staatstheorie seiner Zeit war. Neben seinem 1852 erschienenen Hauptwerk »Allgemeines Staatsrecht« verfasste
er u. a. auch ein elfbändiges »Deutsches
Staats-Wörterbuch«, das er in den Jahren 1857
- 1870 zusammen mit Karl Brater herausgab.
Als Mitbegründer des deutschen Abgeordnetentages
1862, Mitglied der badischen Ersten Kammer sowie seit 1867
dem Deutschen Zollparlament vertrat er politisch eine Linie,
die dem gemäßigten Liberalismus nahe stand. Bluntschli, dessen Faible für altindische Gottes- und Weltansichten sich nicht
verhehlen lässt, war Freimaurer, der seine Logenbrüder in seinen
in mehreren Auflagen erschienenen »Freimaurergespräche« von seinem »makrokosmischen Gottesbegriff«
zu überzeugen versuchte. Siehe auch Wikipedia |
||
Inhaltsverzeichnis
Wissenschaft
und Glauben Die Existenz Gottes ist für mich gewisser als meine Existenz |
Freimaurergespräche Über Gott und Natur Über Unsterblichkeit |
Wissenschaft
und Glauben
Aus einer Rede, die Bluntschli vor
dem Züricherischen Großen Rate gegen die Berufung des Dr. Strauß
an die Hochschule Zürich hielt, enthalten in »Denkwürdiges aus
meinem Leben«, S. 207 ff.
Ich gehöre wahrlich nicht zu denen, welche der freien
wissenschaftlichen Forschung in irgend einem Gebiete in den Weg treten, welche
das Licht der Wissenschaft verdunkeln wollen! Ich habe mich (aber) überzeugt,
dass es neben dem Gebiet des Wissens noch ein anderes, höheres Gebiet gibt,
das des Glaubens. Ich habe Männer kennen gelernt, deren Verstand, deren
Wissenschaft größer ist als der Verstand und die Wissenschaft irgend
eines unter uns, Männer, die zugleich in sich einen Glauben
als das höchste geistige Gut pflegen, welcher nicht der meinige ist, welcher
weit stärker ist als der meinige, welchen viele, vielleicht die meisten
unter ihnen für Überglauben oder für Aberglauben halten würden.
Diese Beobachtung schon hat mir eine gewisse heilige Scheu eingeflößt
für das Gebiet des Glaubens. Zugleich habe ich schlichte Leute kennen gelernt,
ohne alle wissenschaftliche Bildung und Einsicht, aber die in ihrem Glauben
einen geistigen Halt finden, der ihnen mehr ist, als ihnen Wissen jemals zu
bieten vermöchte. Auch diesen bin ich die nämliche heilige Scheu schuldig.
Ich habe noch weitere Erfahrungen gemacht, freilich nicht durch Selbstanschauung,
aber durch die Beachtung der Geschichte. So habe ich insbesondere gefunden,
dass das wesentliche Element der ganzen europäischen Staatenentwicklung,
die Seele der ganzen modernen Kultur das Christentum ist. Sehen Sie auf die
Völker und ihr Leben. Sie werden sich überzeugen, dass je die kräftigsten,
innerlich gesundesten den christlichen Glauben in sich tragen. Sie werden zugeben
müssen, dass je mehr sich ein Volk von dem Christentum abwendet, in einen
desto tieferen Verfall, in desto größeres Unglück gerät.
Ein Volk hat schon einmal das Christentum abgeschafft; aber als dieses Volk
die Göttin der Vernunft verehrte, war es zugleich wie das unvernünftigste,
so auch das unglücklichste.
Ich halte auch zur Zeit das Christentum nicht für einen abgedorrten Baum,
welcher seinen Zweck erfüllt hat und nunmehr umgehauen werden muss. Vielmehr
traue ich demselben jetzt noch innere Lebenskraft zu. Ich traue ihm namentlich
auch die Kraft zu, die Krankheiten, welchen ein Volk erliegt, zu heilen, das
böse, Verwerfliche, was sich ins Völkerleben verwoben, zu überwinden.
Nun aber ist die Grundlage dieses Christentums nicht im Wissen, sondern es ist
im Glauben zu suchen. Das Höchste, was der menschliche Geist erstreben
kann ist gewiss, sein Verhältnis zu Gott inne zu werden. Jeder fühlt
dieses Bedürfnis tief in sich. Jeder dürstet nach einer Befriedigung
desselben. Und hier nun glaube ich, dass die Wissenschaft durch das bloße,
noch so folgerichtige Denken nimmermehr diese Befriedigung gewähren wird,
dass diese Aufgabe der Wissenschaft zu hoch liegt. Hier, wo das Wissen aufhört,
beginnt die Sphäre des Glaubens, der tief im innersten Kerne des Gefühles,
des Gemütes, wurzelt. Ich weiß gar wohl, die philosophischen Systeme
haben es sich zur Aufgabe gemacht, dieses Verhältnis des Menschen zu Gott
und Gottes zu den Menschen zu konstruieren; das eine in dieser, das andere in
jener Weise. Und jedes Mal, wenn ein bedeutender Kopf, ein großer Denker
erstanden ist, hat er um sich eine Anzahl Schüler für seine Theorie
eingenommen. Jedes Mal hat er bei vielen, zumal wenn die Neuheit der Erscheinung
blendend wirkte, Teilnahme und Bewunderung gefunden. Aber ein System verdrängte
das andere. Der Nachfolger wies dem Vorgänger Fehlschlüsse nach. Und
nicht eines hat auf die Dauer jenes Bedürfnis, nicht einmal der Denker,
geschweigedenn der Völker befriedigt. Hier also reicht das Wissen nicht
aus. Es muss der Glaube hinzutreten.
Und nun hat man Ihnen gesagt: »Wir verwerfen den
Glauben nicht, wir verwerfen nur den Autoritätsglauben. Allen Autoritätsglauben
zu brechen, ist vor allem die Aufgabe des Dr.
Strauß.« Hier kann ich nun nicht beistimmen. So lange
es sich nur darum handelt mythische Bestandteile auch in dem Neuen Testamente
nachzuweisen, so lange die Frage nur ist, ob einige Wunder zu beseitigen seien,
so halte ich dieses für unwesentlich. Aber
Eine Autorität muss bestehen bleiben. Dies darf nicht gebrochen
werden, die Autorität, auf welcher das ganze Christentum ruht, mit welcher
es steht und fällt, die Autorität von
Christus selbst, des Stifters dieser Religion. Auch ich glaube,
wie das schon einem früheren Votum auseinandergesetzt worden ist, dass
Christus voraus dazu geboren und dazu berufen war, das religiöse Moment
in seiner höchsten Potenz zu verwirklichen. Ihm war das Verhältnis
zwischen Gott und Menschen klarer, als es seither je einem geworden. Und
was Er so aus Seiner eigenen, vom göttlichen Geiste durchdrungenen Seele
schöpfte und äußerte, hat eine höhere Glaubwürdigkeit
anzusprechen, als die kühnsten Philosopheme. Diese Wahrheit,
welche das Denken allein auch des größten Denkers nicht zu geben
imstande ist, geht ein in das Gemüt auch derer, welche nie dazu gelangen
werden, in der Wissenschaft Belehrung zu schöpfen. Diese
Autorität darf auch der größte Denker verehren, ohne sich herabzuwürdigen.
Dr. Strauß nun, dessen Schriften ich allerdings
nur unvollständig kenne, hat so viel ich weiß, seine Grundansichten
in der Hegelschen Philosophie geholt. Diese Philosophie
hat den ehrenwerten Versuch gemacht, von dem Denken aus auch das religiöse
Bewusstsein zu konstruieren. Aber so viel ich davon verstehe, ist dieser Versuch
missglückt. Ich habe vernommen, dass, wer in diese Philosophie eintreten
wolle, vorerst den gemeinen Menschenverstand fallen lassen müsse. Ich weiß
auch, dass sie sagen, nur wer sich zu dieser Philosophie bekenne, könne
darüber urteilen. Da ich weder Lust hatte, meinen gemeinen Menschenverstand
abzustreifen, noch mich zu dieser Philosophie bekenne, sie großenteils
auch nicht verstehe, so kann ich freilich darüber nur in sehr unvollkommener
Weise darüber reden. Aber wenn Hegel gesagt hat,
Gott komme durch das Denken der Menschen zum Selbstbewusstsein, so hat mir das
immer für Blasphemie gegolten. Und wenn Hegel sich
selbst mit Christus verglichen und sich sogar über
Diesen gestellt hat, so ist mir das immer als ein widerwärtiger Übermut
vorgekommen. Der Gott, von dem diese Schule redet, ist nach meinem Glauben auch
kein Gott. Denn ein Gott, der nur das Bewegen des Denkens ist, gilt mir für
ein abstruses Nichts, mit dem ich mich nicht befreunden kann. Wie diese Schule
überhaupt, so weit ich deren Lehren kenne, geneigt ist, den Menschen und
sein Denken über Gebühr hoch zu stellen und Gott, der in keiner Denkformel
begriffen werden kann, viel zu tief herabzuziehen von Seiner in Wahrheit dem
menschlichen Geist unerfasslichen Höhe, so habe ich diese nämlichen
mir anstößigen Lehren auch in einer Schrift von Strauß
wieder gefunden (Leben Jesu, 1. Aufl., 729, 730).
Wie soll nun aber unser Volk imstande sein, daran seinen Glauben zu prüfen?
Wie soll es nur jene Lehren verstehen können, von welchen aus man gedenkt,
seinen Glauben zu reformieren. Ich höre zwar, und ich glaube es gerne,
Dr. Strauß gehöre zu den tüchtigen
Individuen. Dann denke ich, wird er auch bald den formellen Hegelianismus
wieder fahren lassen etc. S. 277-281
Aus: Die grössten Geister über die höchsten Fragen. Aussprüche
und Charakterzüge erster (nicht-theologischer) Autoritäten des 19.
Jahrhunderts. Zusammengestellt von Dr. H. Engel.
Verlag von Carl Hirsch. Konstanz.
Die
Existenz Gottes ist für mich gewisser als meine Existenz
Aus einem Brief an
Albert Schweizer in Zürich, enthalten in »Denkwürdiges aus
meinem Leben«, III, S. 431
Mir ist in meinem Geistesbewusstsein die Existenz Gottes
viel gewisser und sicherer als meine Existenz. Ich kann mir vorstellen, dass
diese früher nicht war, und ich kann Zweifel haben, ob sie nach dem Tode
noch sein wird. Aber ich habe gar keinen Zweifel und kann nicht denken, dass
Gott nicht sei. Ich bin sehr entschieden der Meinung, dass so das ewige und
höchste Sein und Leben nicht nur dem Gemüt und dem Glauben, und nicht
bloß der Phantasie und der Kunst sich erschließt, sondern ganz ebenso
bestimmt und noch klarer dem logischen Gedanken. S.
282
Aus: Die grössten Geister über die höchsten Fragen. Aussprüche
und Charakterzüge erster (nicht-theologischer) Autoritäten des 19.
Jahrhunderts. Zusammengestellt von Dr. H. Engel.
Verlag von Carl Hirsch. Konstanz.
Freimaurergespräche
Über
Gott und Natur
Johannes. Als
die alte germanische Götterwelt versank und der christliche Gott allein
zur Herrschaft kam, da wurde doch ein großer Fortschritt gemacht in der
Erkenntnis Gottes, und nicht etwa nur für wenige weise Männer, sondern,
was für das Leben entscheidend ist, für die ganze Nation. An die Stelle
der unhaltbaren und verwirrenden Vielheit der Götter trat nun die notwendige
Einheit des ewigen Gottes, der Himmel und Erde, Pflanzen, Tiere und Menschen
erschaffen hat.
Es ist beachtenswert, dass den Germanen das Christentum zuerst in der Form der
arianischen Lehre bekannt geworden ist, welche die Einheit Gottes viel entscheidender
betont, als die römisch-katholische Lehre, welche den Einen Gott in drei
Gestalten als Vater, Sohn und Geist darstellt. Offenbar hatte der Gedanke des
Einen Gottes für die Germanen eine überzeugende Kraft. An die vielen
Götter glaubten sie nicht mehr.
Der Eine Christengott hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Allvater,
dem höchsten Ideale der alten Religion, dem Schöpfer und Regierer
der Welt. Wenn sich die alten Germanen diesen Einen Gott in einem Bilde vorstellten,
so dachten sie an die würdevolle Erscheinung eines alten Königs, eines
Mannes voll Kraft, dem die Weisheit aus den Augen leuchtete und die Majestät
auf der Stirne erglänzte. Die christlichen Künstler des Mittelalters
hatten kein anderes Bild von Gott, dem Vater.
Freilich verwarf das alte Mosaische Gesetz jedes
Bildnis von Gott als falsch und heidnisch. »Du sollst
Dir kein Bild, kein Gleichnis machen von dem Höchsten.« In
der Tat, der Gottesbegriff ist zu groß, um in das Bild eines menschlichen
oder menschenähnlichen Körpers einge¬schränkt zu werden.
Wird Gott wie ein Mensch dargestellt, wenn auch mit idealen Zügen, dann
ist die Bahn geöffnet für eine ganze Reihe anderer Götterbilder,
welche in anders idealisierter Menschengestalt ebenfalls zur Erscheinung kommen.
Dem alten Götterkönig mit dem wallenden Haar und dem vollen Bart tritt
dann die stolze Götterkönigin zur Seite und Here,
Juno, Frigg nimmt neben Zeus, Jupiter, Wodan auf dem Throne Platz. Dann stellt sich auch der leuchtende Götterjüngling
als Helios, Apollo oder Balder ein. Eine ganze Götterfamilie sammelt sich um die Göttereltern. Die
Einheit Gottes ist gespalten und die Verwirrung der vielerlei Götter bricht
sich Bahn.
Als die hellenisch-römische Theologie anfing, den Gott Vater und den Gott
Sohn zu unterscheiden und den beiden Gestalten noch den heiligen Geist als Dritten
in dem geheimnisvollen Bilde der Dreieinigkeit beifügte, ließ sie
sich von einem ähnlichen Triebe leiten, den Gottesbegriff menschlich auszugestalten.
Alte heidnische Anschauungen und neue kirchliche Lehren berührten und mischten
sich in dem Volksglauben. Auch die Mutter von Jesus, die nun ähnlich wie
eine Göttin verehrt wurde, erhielt den Namen und die Ehren einer Gottesmutter
und die Ehefrau des Zimmermanns Joseph von Nazareth wurde nun wie die Geliebte und gleichsam die Gattin Gottes des Vaters gepriesen.
Dadurch war der große Fortschritt aus der Vielheit der Götter zu
der Einheit Gottes wieder unsicher und zweifelhaft geworden.
Vormals hatte ein kleiner, verachteter Stamm, die semitischen Juden, den großen
Gedanken des Einen Gottes mit der Inbrunst eines gläubigen Gemütes
ernst erfasst und mitten in der heidnischen Welt mit zäher Energie treu
bewahrt. Später hatte wieder ein semitischer Stamm, die Araber, die Trübung
dieser Einheit durch die griechisch-katholische und die römisch-katholische
Kirchenlehre von den drei Personen in dem Einen Gott,
wie eine schwere Versündigung gegen den Einen wahren Gott empfunden
und mit fanatischem Eifer neuerdings für den Glauben an den Einen Gott
und an dessen Prophet Mohammed den Säbel geschwungen.
Jesus selbst hatte mit großem Nachdruck den
Einen Gott, »seinen Vater und unsern Vater
im Himmel« verkündet, und von diesem Einen Gott allein
Allwissenheit und Vollkommenheit ausgesagt. Wohl wusste er sich geistig Eins
mit Gott. Seine Seele lebte in Gott ein göttliches Leben, und Gottes Geist
lebte in ihm. Aber niemals hat sich Christus Gott
gleichgestellt, niemals sich selber als Gott ausgegeben. Zu
diesem Einen Gott betete Jesus, ihn rief er an
in seiner Not und in seiner Bedrängnis. Ihm empfahl er sterbend am Kreuze
seinen Geist. Den eigenen Willen und die eigene Neigung ordnete er willig und
ganz gottergeben dem Einen göttlichen Willen unter.
Diese theistische Gottesidee, wie sie in den drei großen Kulturreligionen,
dem Judentum, dem Christentum und dem Islam, verkündet wird, beruhigt und
befriedigt mein Gemüt. Zu diesem Gott, den ich als den Schöpfer und
Erhalter der Welt verehre, an dessen Allmacht ich glaube, dessen Allgüte ich vertraue, fühle ich mich in einer lebendigen Beziehung.
An diesen Gott, den uns das Christentum gelehrt hat, den ich als Vater liebe,
kann ich mich wenden, von ihm kann ich Stärkung, Trost, Heil und Segen
erbitten, zu ihm die Zuversicht haben, dass er die Welt ihrer Bestimmung zuführe,
dass er uns allen ein gerechter Richter und zugleich ein gnädiger Vater
sei. Mir scheint, bei diesem Gottesglauben kann die Welt wohl bestehen. Das
praktische Bedürfnis der Menschen wird durch denselben befriedigt und die
sittliche Ordnung der Welt findet in ihm einen sicheren Grund.
Der maurerische Name Gottes als des großen Baumeisters des Weltalls stimmt
mit diesem theistischen Gottesbegriff zusammen. Nur betont er die künstlerische
Schöpferkraft zu stark, das väterliche Liebesverhältnis zu den
Menschen zu wenig. Der Reflex der göttlichen Vaterschaft und der menschlichen
Kindschaft wird aber um so deutlicher sichtbar in dem maurerischen Prinzip,
dass die Menschen Brüder seien, und so jener Mangel wieder behoben.
Die christliche Gottesidee hat zudem außer der Einheit Gottes und dem
Vaterverhältnisse Gottes zu den Menschen noch den Vorzug, dass sie mit
größter Entschiedenheit auf die geistige Natur hinweist. »Gott
ist ein Geist und im Geiste sollen wir ihn verehren.«
Für die sittliche Wohlfahrt der Welt ist die Herrschaft des Geistes über
die Materie durchaus entscheidend. Indem Gott als Geist verehrt wird, ist seine
Erhabenheit über die ganze Sinnenwelt und seine Herrschaft auch über
die Natur anerkannt. Indem wir seiner Vollkommenheit nachstreben, müssen
auch wir die sinnlichen Triebe der geistigen Leitung unterordnen und überall
in den menschlichen Werken und Einrichtungen übt der Geist seine Hoheit
aus über den Leib. Das Leben wird dadurch veredelt und bleibt dem Idealen
zugewendet. So wirkt die christliche Gottesidee reinigend, sittlichend, verschönernd,
erhebend ein auf das Menschenleben. Ich denke, wir haben Ursache, dieselbe heilig
zu halten und in den Gemütern auch der Menge zu befestigen.
Carl. Die Berufung auf
die Brauchbarkeit der theistischen Gottesidee für den Staat und die Kirche
mag dem Politiker, dem Prediger und dem Moralisten willkommen sein. Aber damit
ist ihre Wahrheit nicht erwiesen und sind die Zweifel gegen dieselbe nicht überwunden.
Ihr wisst, ich stehe auf einem ganz andern Standpunkt, als unser Freund Johannes, den Neigung und Erziehung zu einem christlichen Pfarrer bestimmten, dessen Rechtgläubigkeit
freilich vielen, die an der alten Kirchenlehre hängen, verdächtig
ist, dessen Aufrichtigkeit wir alle schätzen.
Mich haben meine Studien und mein Beruf der Naturwissenschaft zugeführt.
Da müsst ihr mir denn auch gestatten, dass ich der theologischen Offenbarungslehre
meine naturwissenschaftlichen Bedenken entgegen setze. Durch den Widerstreit
der Meinungen wird schließlich doch die gereinigte Wahrheit erst in das
richtige Licht gesetzt.
Ich kann mein Hauptbedenken in das Eine Wort zusammenfassen: Die spiritualistische
Gottesidee der Juden, Christen und Mohammedaner erklärt die Natur nicht
und ist mit einer vorurteilsfreien Naturbetrachtung nicht zu vereinigen. Sie
mag den moralischen Bedürfnissen der Menschen genügen, sie befriedigt
die geistigen Forderungen nicht. Man kann daran glauben, man kann nicht so denken.
Die Theologen hatten Gott als den Geist von der Natur als der Sinnenwelt geschieden.
Die Natur war ihnen zur Kreatur geworden von sehr zweifelhafter Güte und
von geringem Wert. Es galt als der Gipfel der Frömmigkeit, sich von der
Natur abzuwenden, der Natur zu entfliehen. Höchste Religion schien Befreiung
von aller Sinnlichkeit, Ertötung des Fleisches schien Reinigung des Geistes.
So wurden die Mönchsgelübde als Stufen zur Heiligkeit gepriesen und
die Weltflucht galt als gottgefälliges Verdienst. Die Freudigkeit und die
Gesundheit des menschlichen Daseins und Lebens konnten bei solcher Religion
nicht bestehn.
Die Naturwissenschaften haben die Menschen von dieser düsteren Weltansicht
erlöst. Da die Theologen von dem Geiste aus keinen Aufschluss gewährten
über die Eigenschaften der verachteten Natur, so wagten es denkende Männer,
nun den umgekehrten Weg zu gehen, die äußere Natur mit den Kräften
der menschlichen Sinne aufmerksam zu beobachten und mit den Mitteln der Erfahrung
und Forschung tiefer in die Geheimnisse der Natur einzudringen.
Die Entdeckungen der Naturwissenschaften enthüllten zahlreiche, vorher
gänzlich verborgene Wahrheiten, und sie machten überdies den Eindruck
der Sicherheit, der Unwiderleglichkeit. Vor den Entdeckungen der Astronomie
konnten die alten Überlieferungen von der festen Erdscheibe, von dem Himmelsgewölbe,
das sich über ihr erhob in mehrfachen Schalen und Stockwerken, von der
Unterwelt unter der Erde nicht bestehen. Denn die Erde war erweislich nur ein
Planet, der neben andern Planeten um die Sonne kreiste und mit der Sonne und
ihren Trabanten durch den unermesslichen Äther dahin rollte. Je mehr der
Mensch die Instrumente vervollkommnete, mit denen er die Sternenwelt beobachtete
und je weitere Entfernungen er berechnen lernte, um so mehr dehnte sich das
Universum vor seinem Geiste ins Unermessliche aus. Der weite Äther, in
dem die unzählbaren Sterne unaufhaltsam sich bewegten, hatte keine Grenzen.
Er war ausgebreitet wie der ewige Raum und die Bewegung der Sterne deutete auf
eine unendliche Zeit. Obwohl die menschlichen Sinne in sich beschränkt
waren und nur Beschränktes erfassen konnten, so konnte doch auch die sinnliche
Anschauung die Vorstellung des Unbegrenzten, Ewigen, Unendlichen nicht abwehren.
Dieselbe war die notwendige Voraussetzung und hinwieder das unvermeidliche Ende
aller beschränkten Beobachtung.
Wenn aber die Natur unvergänglich, unermesslich, unendlich war, dann konnte
sie nicht die Kreatur eines außer ihr
wirkenden Geistes sein. Was sollte das heißen, ein zweites unsterbliches
Wesen, das von dem ersten, geistigen Gotte erschaffen war, gleichsam ein zweiter
leiblicher Gott neben und nach dem ersten Geistesgott? Was sollte der Gott außer
der Natur bedeuten, wenn diese in sich ewig war und ihre Macht immerwährend
bewährte?
Was wär‘ ein Gott, der nur von
außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe?
War es denn zu verwundern, wenn manche
Naturforscher nichts mehr wissen wollten von dem theistischen, außernatürlichen
und übernatürlichen Geistesgotte, der ihnen in ihrer Kindheit von
der Kirche gelehrt worden war? In der sinnlich wahrnehmbaren Natur fanden sie
alle die Kräfte, welche die mannigfaltigsten Erscheinungen des Lebens bewirken.
Wozu war denn noch eine Kraft nötig, außer der Natur? Konnte man
nicht Gottes entbehren? War die Natur nicht selber der wahre Gott, den man außer
ihr nicht finden, nicht beweisen konnte?
Indem die Naturwissenschaft die Materie näher untersuchte, entdeckte sie
überall Gesetze, welche notwendig
und gleichmäßig in den Stoffen wirken. Diese Gesetze waren nicht
von außen her durch den Hauch eines herrschenden Geistes der Materie auferlegt
worden, wie Gebote eines fremden Despoten, sie waren die notwendigen Merkmale
und Eigenschaften der Materie selber, in der sie wirkten. Diese Gesetze waren
überall, wo immer man die Materie prüfte, dieselben, sie änderten
sich nicht, sie duldeten keine Ausnahme. Sie wirkten mit Notwendigkeit unwiderstehlich,
alles bezwingend, allmächtig. Die Naturnotwendigkeit erschien so als das
Grundgesetz der Welt.
Allerdings zeigte sich auch in der äußeren Erscheinungswelt eine
große Mannigfaltigkeit der Formen und der periodischen Wandlungen. Selbst
die Erde und die Gestirne waren nicht von Ewigkeit her dieselben. Nur allmählich
hatten sie sich verdichtet, langsam nur hatte sich die glühende Erdoberfläche
abgekühlt. Die Erhebung der Kontinente und der Gebirge und deren Verwitterung
wies auf eine alte Geschichte hin von Millionen und Milliarden Jahren. Auch
die Pflanzenwelt und die Tierwelt hatte eine lange Geschichte und in dieser
Geschichte war der Zusammenhang der späteren Bildungen mit den früheren
unverkennbar. Der Menschenleib hing durch tausend sichtbare Fäden zusammen
mit dem Tierleib, und stufenweise hatten die Tierleiber sich entwickelt. Noch
bedurften die Tiere größten Teils, um ihr Leben zu erhalten, der
Ernährung durch die Pflanzen, mit denen der tierische Körper verwandt
und ursprünglich verbunden schien. Überall war der Zusammenhang und
überall die Entwicklung sichtbar. Halb mit Notwendigkeit, halb aus Zufall
schien sich diese zu vollziehen. Eines schöpferischen Geistes glaubten
viele nicht weiter zu bedürfen, da die unleugbare Notwendigkeit
und wo diese nicht ausreichte, der geistlose Zufall
so vieles erklärt hatten.
Es ist begreiflich, dass die Freude über die neu eröffnete Erkenntnis
der Natur und die fruchtbaren Entdeckungen und Erfindungen der Naturwissenschaften
auch gute Köpfe völlig einnahm und sie ganz übersehen ließ,
dass von der Materie aus der Geist noch weniger zu erklären als vom Geiste
aus die sichtbare Natur zu begreifen sei, und dass die geistige und die menschliche
Freiheit, die ihnen doch auch teuer war, notwendig verloren gehe, wenn das starre
Gesetz der Naturnotwendigkeit die Alleinherrschaft übe.
Rohere und sinnhichere Menschen mochten die naturalistische
Weltanschauung bis zur Verachtung alles idealen Geisteslebens einseitig
übertreiben und der materialistischen Richtung bis zu rücksichtsloser
Ausbeutung der materiellen und sinnlichen Genüsse folgen und jede Tugend
als Torheit verhöhnen. Die echten Naturforscher blieben doch solchen Verirrungen
fern. Sie blieben sich doch der notwendigen Grenzen ihrer wissenschaftlichen
Methode wohl bewusst. Von dem krassen Materialismus
unterschieden sie sich doch durch die nachdrückliche Betonung der Gesetzmäßigkeit
in der Natur und durch die Einsicht in die Entwicklung der Naturkörper;
denn wer Gesetz und Entwicklung sagt, der sagt Geist und Leben. Das Sittengesetz
und die Geistesfreiheit aber behielten sie, trotz aller mathematischen Berechnungen
und chemischen Analysen, als ein heiliges Gut der Menschheit vor.
Ich gebe zu, dass der Glaube an die sittliche
Weltordnung, dessen die Menschen nicht entbehren können,
wenn sie sich auf ihre Pflichten besinnen und sich in ihren Familien und Staaten
zurecht finden wollen, nicht auf die naturwissenschaftliche Betrachtung gegründet
und nicht als das naturnotwendige Erzeugnis der Materie begriffen werden kann.
Ich gestehe ferner zu, dass das Bewusstsein des Geistes von sich selber und
seine freie Bewegung nicht aus den notwendigen Eigenschaften der leiblichen
Stoffe zu erklären ist. Ich leugne auch nicht, dass die idealen Güter
der Menschheit, die doch dem Menschenleben erst einen wahren Wert verleihen,
sämtlich bedroht würden, wenn die materialistische Gesinnung zur herrschenden
würde. Es ist auch mir klar, dass der Materialismus die Schönheit
zu einem Sinnenkitzel, die Treue zur Trägheit, die Liebe zur Wollust erniedrigen
müsste, wenn er mit energischer Konsequenz die menschlichen Verhältnisse
durchzöge und bestimmte, und dass der belebende und jede Vervollkommnung
weckende Hauch der Geistesfreiheit ersterben würde, von der starren eisernen
Notwendigkeit erkältet und gebunden.
Aber ich musste doch dem Widerspruch Ausdruck geben, den die Naturwissenschaften
der theistischen Gottesidee entgegen setzen. Soll der Gottesglaube in der heutigen
Menschheit wieder erneuert und belebt werden, so muss man auch die Zweifel der
Naturwissenschaft zu widerlegen vermögen.
Kobold. Unter euch Weisen
fühle ich mit Beschämung meine Torheit. Wenn ich einen von euch höre,
so tritt mir immer vor die Seele eure Zuversicht des geistigen Besitzes, die
ich selber nicht habe. Wenn ich aber die entgegengesetzten Meinungen und die
Widersprüche vergleiche, die ihr wider einander vertretet, dann werde ich
einigermaßen getröstet über meine Unwissenheit, und ich fange
an zu glauben, dass keiner etwas Sicheres wisse. Zuweilen kommt mir vor, dass
was ihr Wissenschaft nennt, auf einem Zerreißen dessen beruht, was in
der Wirklichkeit beisammen ist, und zusammen gehört. …
»Die Teile habt ihr in der Hand
Fehlt leider nur das geistige Band.«
Gottfried. Diesmal hat der Skeptiker den Nagel auf den Kopf getroffen. Aber es ist schon spät in der Nacht. Die glänzenden Sterne in dem dunkeln Himmel verheißen einen hellen Sonnenaufgang am Morgen. Brechen wir hier das Gespräch ab, um es morgen früh fortzusetzen und zu Ende zu führen. Gehen wir zur Ruhe und suchen wir im Schlaf die Kräfte zu erneuern, die wir in der Tagesarbeit aufgebraucht haben. Gute Nacht, meine Freunde. …
Bernhard:
Lasst mich, Freunde, an die Schlussbemerkungen von Kobold
und Gottfried anknüpfen.
In der Tat, der Grundfehler der bisherigen Meinungen lag in der unnatürlichen
und unwahren Scheidung von Natur und Geist. Es ist unmöglich, sich zwei
ewige Wesen neben und außer einander vorzustellen, eine leibhafte Sinnenwelt
ohne einen Geist, der sie zusammenhält, ordnet und durchdringt, und außer
ihr einen Gott, der ihr fremd gegenüber steht, und nirgends zu finden ist,
wenn er außerhalb des Raumes gesucht wird, denn es kann nirgends eine
Stelle außer dem Raume geben, da der Raum sich überall grenzenlos
ausbreitet. Ich behaupte nicht, dass der Pantheismus
alle Rätsel löst, aber ich bin der Meinung, dass der
Pantheismus jenen Grundfehler vermeidet, indem er Geist und Natur in
Eins zusammenfasst, und in dem All zugleich die Eine Weltseele
und den Einen Weltkörper erkennt. Erst dadurch wird die wahre Einheit Gottes
und der Welt gewonnen. Die Natur ist nicht ungöttlich und Gott nicht unnatürlich.
Ich verstehe nicht, weshalb man den pantheistischen Gottesbegriff für irreligiös
erklärt. Wenn Religion die Verbindung unserer Seele mit dem göttlichen
Wesen und die Hingabe an dieses ist, so ist der Pantheismus
höchste Religion, er einigt alles, auch das Menschenleben mit dem Leben
Gottes, das sich überall und in allen Erscheinungen offenbart, so mannigfaltig
und verschiedenartig diese dem beschränkten Teilblick sich darstellen mögen.
Die ganze Welt ist die Ausstrahlung und Sichtbarwerdung der Einen Weltseele,
die den Weltkörper durchdringt.
Ihr wisst, dass ich von meiner Jugend an mit Vorliebe mich dem Studium des Sanskrit
hingegeben habe. Ich habe bei den indischen Brahmanen eine schärfere Logik
und einen tieferen Einblick in die Wahrheit gefunden, als in den meisten Schriften
unsrer Theologen und Philosophen, die ich gelesen habe. Der offene indische
Pantheismus ist mir lieber als der verhüllte Pantheismus
der neueren Philosophie. Er ist weniger ein dialektisches Spiel mit Worten,
er hat mehr Innigkeit er ist lebensvoller und religiöser als diese. Brahmanisten
und Buddhisten haben sich nur zu sehr in den Gottesgedanken vertieft, mehr,
als es dem Menschen gut ist; denn der Mensch hat auch gegen die Menschen Pflichten
zu üben und ist bestimmt zu arbeiten und Werke zu schaffen, nicht ganz
in beschauliche Vertiefung zu versinken. Die volle Gotteserkenntnis bleibt seinem
beschränkten Verstande doch unzugänglich.
Der indische Pantheismus betont auch entschiedener
als der europäische die Einheit und
Einzigkeit der Weltseele und hebt
energischer noch die vorzugsweise geistige
Natur derselben hervor, so dass der Weltkörper nur das Sichtbarwerden des
Weltgeistes ist. Dadurch wird die notwendige Herrschaft des Geistes über
die Materie begründet und befestigt, und so die Gefahr abgewendet, welche
den idealen Gütern der Menschheit von Seite eines rohen Materialismus droht.
Kobold. Alle Achtung vor der Frömmigkeit des indischen
Pantheismus. Aber wenn ihr dem christlichen Theismus vorgeworfen habt, dass
er aus übertriebener Hingebung an den Geist zur Verachtung aller leiblichen
Güter und zu einer unfruchtbaren Weltflucht die Menschen verleite, sehe
ich nicht ein, wie dem indischen Pantheismus derselbe Vorwurf erspart werden
kann. Es gab doch viele Jahrhunderte vor den christlichen Einsiedlern brahmanische
Einsiedler, die nur in den Wäldern lebten und von Kräutern sich ernährten
und lange vor den christlichen Klöstern und Mönchen buddhistische
Klöster und Mönche. Die Weltflucht war also eine Erfindung nicht der
europäischen, sondern der indischen Arier. Auch kommt mir vor, dass die
spiritualistische Einseitigkeit dem indischen Pantheismus nicht weniger als
Gebrechen anhaftet, als dem christlichen Theismus. Es sind doch indische Philosophen,
welche die ganze Erscheinungswelt, d. h. die Natur, für bloßen Schein erklärt haben, der wechselnd von dem Weltgeiste gestaltet werde und sich
schließlich wieder auflösen und vergehen werde. Und ist denn nicht
der pessimistische Grundgedanke des Buddhismus die
Seligkeit des Absterbens aller irdischen Genüsse und Beziehungen und die
Ruhe in dem ewigen Nichts, dem Nirwâna?
Mir scheint, die Weltgeschichte hat uns warnend gezeigt, zu welcher Trägheit
und zu welcher Verkommenheit diese Sehnsucht nach dem reinen Geiste, dem gestaltlosen,
dunkeln, sich gleichbleibenden Nichts führe, welches alles Leben verschlingt.
In allen diesen Beziehungen scheint mir der europäische Pantheismus doch
vorzüglicher. Er lässt die Natur fortbestehen und schreibt auch dem
Weltkörper eine leibhafte Wirklichkeit zu. Und selbst wenn er sich kopfüber
in die spiritualistische Richtung hineinstürzt, wie in dem dialektischen
Denkprozesse Hegels, so ist doch nicht tote
Ruhe, sondern Bewegung und Leben in diesem Prozesse.
Johannes. Die Weltflucht
in dem mittelalterlichen Europa war nicht eine notwendige Entwicklung des Christentums.
Jesus selber hat sie nur kurze Zeit als Vorbereitung
für sein öffentliches Wirken geübt, keineswegs als Lebensaufgabe
gelehrt. Sie war eine Verirrung der mittelalterlichen Menschen. Aber in dem
Buddhismus ist sie die notwendige Forderung des Grundgedankens. Dem Christentum
war sie eine zufällige Erscheinung, dem Buddhismus ist sie wesentlich und
notwendig.
Indessen, das ist nicht der Haupteinwand, den ich gegen den gesamten Pantheismus, den indischen und den europäischen, erhebe. Indem er das Universum, den
unbegrenzten, dunklen Äther, in dem die Sternenwelt sich bewegt, alle Sterne,
und auf der Erde alle Pflanzen und Tiere und Menschen zum All Eins zusammen
fasst, hat er eine falsche Einheit voll innerer Widersprüche künstlich sich eingebildet. Mein individuelles Selbstbewusstsein sträubt sich gegen die Vorstellung, dass ich kein
selbständiges Wesen sondern nur
ein Teil des Allwesens, nur eine Blase auf dem schäumenden
Meer der Unendlichkeit sei. Ich kann mich wohl als ein beschränktes und
von Gott abhängiges Geschöpf fühlen aber nicht, ohne eigene Individualität,
ohne eigene Persönlichkeit als ein Stück eines mir fremden, absoluten
Wesens. Mein sittliches Gefühl und mein Verstand empören sich gegen
den wunderlichen Gedanken, dass Gott, oder wenn ihr wollt die Weltseele
erst in der Emanation
des Menschen und in dem denkenden Menschengeiste zu seinem geistigen Selbstbewusstsein gelange, und vorher nur als unbewusste Naturkraft gewirkt habe. Diese pantheistische
Idee unsrer europäischen Philosophen kommt mir wie eine wahnsinnige Überhebung
vor. Ich habe zu den Menschen, die sich selber für Gott oder Götter
halten, kein Vertrauen. Ich sehe, dass die menschliche Wissenschaft, so Großes
sie geleistet hat und so sehr ich ihr Streben ehre und ihre Werke bewundere,
selbst heute noch kaum einen Zipfel des Schleiers ein wenig bewegt hat, welcher
das Geheimnis Gottes und der Natur dem Menschen verhüllt, und ich lächle
über die selbstgefällige Eitelkeit der Menschen, welche sich einbilden,
als hätten sie die Welt zuerst erdacht und eingerichtet. Die menschliche
Wissenschaft, selbst wenn sie die Körperwelt erforscht, noch mehr, wenn
sie das Leben und die Eigenschaften des Geistes erkennt, kann doch nur von Weitem
her und sehr unvollkommen das nachdenken, was lange bevor es Menschen gegeben hat, ein alles überschauender und ordnender
ewiger Geist vollständiger vor bedacht
hat.
Ich bin der Meinung, dass auch die europäischen Völker durch die pantheistische
Gottesidee nicht befriedigt werden können. Die Völker kennen die Mängel
und die Irrtümer des menschlichen Geistes aus Erfahrung zu gut, um demselben
als göttlichem Geiste zu vertrauen. Sie verlangen nach einem höheren
und vollkommeneren Geiste, als den sie unter ihres gleichen finden. Von einem
Gott, der nur durch Menschenohren ihre Bitten vernehmen kann, der ohne das menschliche
Gehirn nicht denken, ohne die menschlichen Hände nichts wirken und schaffen
kann, erwarten sie keine Hilfe in ihrer Not, keine Stärkung in ihrem Handeln,
keinen Trost in ihrem Leiden. Sie bedürfen gerade dann am meisten des übermensclichen
Gottes, wenn ihnen die Menschen die Hilfe versagen, wenn ihnen
die Menschen zur Qual werden.
Das religiöse Gefühl der europäischen Völker unterscheidet
daher zwischen Gott und
Menschen. Es hält einerseits
fest an der Individualität,
an der Persönlichkeit, an der Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen,
als Sonderwesen und zugleich an dem Glauben an ein ewiges Wesen, in dem es den
Schöpfer der Menschenwelt und ihren Regierer verehrt und dessen Geist den
Menschengeist an Weisheit und Macht unendlich überragt, wenn gleich der
Menschengeist von dem göttlichen Geist abstammt. Die europäischen
Menschen wollen Gott verehren, ohne sich selber
aufzugeben.
Wenn die Wissenschaft, sei es die Naturwissenschaft, sei es die Philosophie,
diesem Bedürfnis der menschlichen Seele jede Befriedigung verweigert und
sowohl die Unterscheidung von Gott und Mensch bestreitet, als den Glauben an
einen allweisen Gott, der über den Menschen ist, verwirft, dann hat die
Masse der Menschen nur die bedenkliche Wahl zwischen der Wissenschaft und der
Religion. Entweder vertrauen sie der Wissenschaft und geben den Glauben auf
an einen übermenschlichen Gott. Oder sie verschließen ihre Ohren
den Beweisen der Wissenschaft und unterwerfen sich demütig der Offenbarungslehre
der Kirche. Die einen fallen dem Unglauben anheim und werden gottlos, die andern
werden eine Beute des Aberglaubens und der Herrschsucht der Priester. Für
jene verliert die sittliche Weltordnung ihren Halt und ihre Autorität,
diese bringen ihre intellektuellen Kräfte zum Opfer dar. Die beiden Strömungen
sind in der heutigen europäischen Gesellschaft sehr deutlich wahrzunehmen.
Der rohe Sozialismus und der schwarze Jesuitismus sind nur die äußersten
Flügel der beiden massenhaften Einseitigkeiten und Verirrungen.
Der europäische Pantheismus ist sogar gefährlicher als der indische
Pantheismus, der die begabte indische Nation für die Fremdherrschaft vorbereitet
— weil er ihre Kräfte aufgezehrt hat. Die mehr zur Ruhe geneigten
Orientalen konnten sich doch leichter auch in dem ewigen Nichts be¬ruhigen,
als die Europäer es können, deren Natur und Geschichte in Gutem und
in Bösem mehr auf die Aktion angelegt ist. Überdem hatte der orientalische
Pantheismus, der im Grunde auf die Denker und Weisen beschränkt blieb,
dem Bedürfnis der Menge nach einer Verehrung über- und außermenschlicher
Wesen dadurch Rechnung getragen, dass er die Eine Gottesidee für das Volk
in drei und in mehrere göttliche Personen zerlegte und so für einen
vielgestaltigen Kultus sorgte. Der europäische Pantheismus duldet solche
Inkonsequenz nicht. Indem er rücksichtslos jeden bewussten Geist außer
dem Menschengeist leugnet, zerstört er auch jede Möglichkeit für
das Volk, sich im Gebet an Gott zu wenden. Einzelne Weise von gutem Charakter
mögen sich ohne den Glauben an einen lebendigen, seiner selbst bewussten,
übermenschlichen Gott geistig und moralisch zurecht finden. Die Menge würde
mit diesem Glauben auch den Glauben an die sittliche Weltordnung verlieren und
haltlos den Trieben und den Verlockungen der Sinne folgen. Die ganze gesellschaftliche
und staatliche Ordnung würde nur ein Spiel willkürlicher Kräfte
sein, die bald sich zusammenscharen, bald wider einander kämpfen. Die europäische
Welt würde in dieser Verwirrung sich nicht mehr zurecht finden.
Indem ich der pantheistischen Lehre widerspreche, verteidige ich die großen
moralischen Interessen der Gesellschaft.
Gottfried. Auch in unserem
Freundeskreise tritt so der uralte Zwiespalt, der die Menschheit seit mehreren
Jahrtausenden spaltet, unversöhnt hervor. Es ist weder dem Pantheismus
geglückt, den Theismus zu überwinden, noch diesem gelungen, jenen zu verdrängen. Beide Grundansichten
finden heute noch wie vor Jahrtausenden massenhafte Verbreitung unter den Völkern.
In Süd- und Ostasien herrscht noch der Pantheismus,
wie in Westasien, Europa und Amerika der Theismus vor. Aber wenn auch unter den zivilisierten Staatsvölkern heute der Theismus
weit allgemeiner verbreitet ist, so gibt es doch unter Germanen, Romanen und
Slaven, Europäern und Amerikanern zahlreiche Gruppen von philosophisch
oder naturwissenschaftlich Gebildeten, welche mehr oder weniger bewusst pantheistisch
gesinnt sind.
Der Widerstreit der beiden Meinungen zeigt sich zuweilen in denselben Menschen.
Mit ihren Gefühlen klammern sich oft die Menschen an den theistischen Gott
an, den ihre Gedanken bestreiten. Viele sind im Herzen Theisten und im Kopf
Pantheisten und geraten so mit sich selber in Widerspruch.
Jede der beiden Gottesideen rühmt sich und mit Grund großer Vorzüge,
aber keine von beiden ist in ihrem Be¬stande gesichert. Jede entblößt
die Mängel und Gebrechen der andern, und keine von beiden vermag die Vorwürfe
abzuwehren, welche ihr von der Gegenmeinung gemacht werden.
Der furchtbare Kampf, der zwischen ihnen entbrannt ist, erinnert an die Ahnung
der alten heidnischen Germanen von der bevorstehenden letzten Weltschlacht zwischen
den urmächtigen Naturgewalten, den Riesen und den idealen und geistigen
Lichtgöttern, den Asen, in welchem sich die beiden Götterheere wechselseitig
erschlagen und die ganze alte Welt in Flammen untergeht.
Der Zwiespalt, der auch die moderne Gesellschaft entzweit, ist heute noch gefährlicher
geworden, seitdem der Papst Pius IX. den »Naturalismus
und Pantheismus« im Namen Gottes verdammte und der gesamten modernen
Wissenschaft wie dem modernen Staat den Krieg auf Leben und Tod verkündigt
hat. Soll sich nun der Staat auf die Seite des Pantheismus
stellen, wie sich die katholische Kirche und die alte Kirchenlehre überhaupt
zu dem Theismus bekennt?
Dieser Entschluss wäre für den Staat gefährlich. Unsre Fürsten
und unsre Völker sind sämtlich theistisch erzogen. In den Schulen
und in den Sitten der Familie ist der theistische Gottesglaube dem noch zarten
und empfänglichen Geiste der Jugend tief eingepflanzt worden. Indem sich
der Staat wider diesen Glauben erklärte, würde er nicht etwa nur die
Frauen kränken, denen der überlieferte Glaube heilig ist, er würde
auch die Gefühle, die Gewohnheiten, die Überzeugungen der großen
Mehrzahl derer verletzen, die berufen sind, ihn zu verteidigen.
Gesetzt, der Staat würde, im Vertrauen auf die Macht und Wahrheit der Wissenschaft als Vertreter des Pantheismus den Kampf mit der theistisch gesinnten Kirche
wa¬gen, und gesetzt sogar, der Pantheismus würde mit staatlicher Hilfe
den Sieg erkämpfen, würde nicht der Staat durch die Unterdrückung
des Volksglaubens und des Volksgemütes auch die moralischen Grundlagen
seiner Rechtsordnung zerstören? Die überlieferte Religion kann nicht
ausgerottet werden, ohne dass das überlieferte Sitten¬gesetz und das
geschichtliche Recht ihre Autorität verlieren. Die Mächte der Selbstsucht
würden losgebunden, die Begierden gereizt und das Schwergewicht der Materie
würde die idealen Güter verwüsten und ersticken.
Wenn aber umgekehrt in diesem Kampf ums Dasein der Theismus siegte, dann würde
die Intelligenz wieder wie im Mittelalter von dem Glauben geknechtet, die Freiheit
der Wissenschaft würde ausgelöscht, der Fortschritt der Menschheit
verhindert. Die Welt würde wieder in Unwissenheit und Aberglauben versinken.
Gibt es einen rettenden Ausweg aus diesem Labyrinth? Oder muss der Mensch auf
eine Lösung des Rätsels verzichten, welche Geist und Gemüt zugleich
befriedigt, Glauben und Wissen versöhnt und den uralten Streit abschließt?
Dieser Verzicht ist für den unmöglich, der weiß, dass in der
Menschennatur wie in der Natur überhaupt die Gegensätze der relativ
einander widerstreitenden Kräfte immer durch die Harmonie des Ganzen geeinigt
werden, dem diese Kräfte angehören und dienen. Das Herz kann daher
auf die Dauer nicht eine Wahrheit bestreiten, welche der Kopf durch richtiges
Denken erwiesen hat. Und die Wahrheit kann nicht so beschaffen sein, dass sie
das sittliche Bedürfnis der Menschenseele beleidigt, und die religiösen
Erfahrungen der Menschen zu nichte macht.
Ich glaube diesen sichern Ausweg zu kennen, aber ich habe ihn nicht selber gefunden.
Ich habe einen wunderbar begabten, höchst eigenartigen, den Mitlebenden
meist unverständlichen viel gescholtenen Denker kennen gelernt, dessen
ganzes Leben teils der Erkenntnis der menschlichen Seele, teils der logischen
Erkenntnis Gottes gewidmet war. Seine Erscheinung und sein Tun erinnerten mich
zuweilen an die alte Sage des Luzifer. Es war mir
vergönnt, einen tiefern Blick zu werfen in das furchtbare und unablässige
Ringen dieses Geistes mit den eigenen Zweifeln und mit den überlieferten
Irrtümern. Ich erlebte es dann, wie er gegen das Ende seines keineswegs
glücklichen Lebens nach den schwersten, oft die Verzweiflung der Freunde
reizenden Arbeiten endlich den makrokosmischen Gottesbegriff fand, der zugleich den Gedanken und das Gemüt befriedigt,
Geist und Natur zu Einem Wesen verbindet und das richtige Verhältnis von
Gott und Mensch begründet. Ich habe für meinen Geist und mein Gefühl
in diesem Gottesbegriff die Befriedigung gefunden, die ich vergebens zuvor gesucht
hatte. Ich bin überzeugt, dass in der Zukunft auch die Menschheit dieselbe
Befriedigung erfahren wird; aber ich weiß auch, dass die größten
Wahrheiten langsam unter den Menschen wachsen. Es können Jahrhunderte,
sogar Jahrtausende vergehen, bis der Theismus und der Pantheismus durch die
Wahrheit des makrokosmischen Gottes berichtigt und ersetzt sein werden.
In dem makrokosmischen Gottesbegriff finde ich die Wahrheitskerne, die in dem Pantheismus und dem Theismus mit gefährlichen Irrtümern gemischt waren,
vollständig von diesen abgelöst und aufgenommen, die Irrtümer
aber beseitigt.
Wie der Pantheismus fasst
auch der makrokosmische Gottesbegriff die allgemeine Natur in Eins zusammen.
Er sieht in der Natur nicht einen zufälligen Wirrwarr von mancherlei Stoffen
und Kräften, sondern ein innerlich zu einem Ganzen verbundenes Sein, nicht
vielerlei Körper, die sich wechselseitig bekämpfen und verdrängen,
sondern einen einzigen freilich
unermesslichen Weltkörper, der durch seine Selbstbewegung
sein Leben erweist. Der weite Äther, der sich grenzenlos ausdehnt wie der
ewige Raum mit der glänzenden Sternenwelt, die in ihm ihre vorbestimmten
Bahnen durcheilt, samt all den sichtbaren, wägbaren, sinnlich wahrnehmbaren
Stoffen, ist nicht eine Anhäufung von selbständigen Elementen, sondern
ein zusammenhängender Körper, in dem die Eine Weltseele lebt. Die
Gesetze, welche der ganzen Natur gemeinsam sind und alle Sterne so sicher beherrschen,
wie die irdischen Elemente, die wir hier unterscheiden, sind ein geistiges Band,
welches den ganzen Weltkörper zusammenhält und sind Eigenschaften
des Geistes, der diesen Körper beseelt. Diese große, unermessliche
Natur ist nicht ein wesenloser Schein, nicht ein Spiel des Zufalls, nicht eine
vergängliche Kreatur und nicht die Verkörperung des bösen Prinzips
und dämonischer Kräfte. Indem die im Universum ausgebreiteten Naturkräfte
und Naturstoffe wohl ihre Formen gelegentlich ändern, aber unzerstörbar
fortdauern, und der Äther sich ins Grenzenlose ausdehnt, offenbaren sich
die Unvergänglichkeit und die unermessliche Ausdehnung des Weltkörpers,
der von dem kurzlebigen und eng begrenzten Menschen-, Tier- und Pflanzenkörper
sich scharf abhebt. Wir erkennen in der makrokosmischen Natur eine Macht, die
über uns erhaben ist, die vor uns da war und nach uns wirken wird, die
uns räumlich und zeitlich umschließt und begrenzt. Wenn aber die
Natur unbegrenzt und unendlich ist, so kann sie nicht
außer Gott sein, denn wir können nicht zwei ewige
Wesen denken neben einander und wider einander. Sie kann nur in dem Einen ewigen
Wesen sein, das wir Gott nennen der Weltkörper
kann nur Gottes
Körper sein.
Die ursprünglichen Naturreligionen der alten arischen Völker erhalten
in der Erkenntnis der Natur als dem Körper Gottes eine relative Rechtfertigung.
Unsere Vorfahren hatten nicht Unrecht, wenn sie in den unvergänglichen
Eigenschaften der Natur göttliche Eigenschaften zu finden glaubten. Der
Fehler lag nicht in der Vergöttlichung der Natur, sondern in der Spaltung
der Natur. Er lag darin, dass die Alten sich vielerlei unmögliche Naturgötter
neben einander vorstellten, anstatt die Eine Natur als die Eine Erscheinung
des Einen Gottes zu erfassen.
Versteht man die Natur als Gottes Körper, dann enthüllt sich auch
der geistige Gehalt und der Zusammenhang der Naturgesetze. Indem wir die Bewegung
des Weltkörpers betrachten und uns die Wandlungen vergegenwärtigen,
welche derselbe während der großen Zeitperioden erfahren hat, werden
wir seines Wachstums gewahr und lernen wir die Entwicklung
des Weltkörpers einigermaßen kennen. Die Geschichte
der Weltgestaltung und Naturwandlung, welche unsre kurze Menschengeschichte
unendlich überragt, wird uns dann als die Erscheinung des göttlichen
Lebens offenbar.
Jetzt befremdet es uns nicht mehr, weshalb der Anblick der großen, nicht
von den Menschen umgebildeten Urnatur, des weiten Meeres, des Hochgebirges,
der Gewitterstürme, des nächtlichen Sternenhimmels, des leuchtenden
Tageshimmels unsre Seele so mächtig anzieht und ergreift. Wenn die Natur
Gottes Körper ist, dann haben die Erhabenheit, die Schönheit, die
Weisheit, einen Sinn, welche wir in der Natur als göttliche Eigenschaften
wahrnehmen. Auch die mathematische Gesetzmäßigkeit, welche die Bewegung
der Sterne regiert, wird uns dann verständlich als die wohlgeordnete
Selbstbewegung des göttlichen Lebens.
Aber auch die religiöse Wahrheit, die in dem Theismus
war, hat der makrokosmische Gottesbegriff vor dem Untergang
bewahrt. Er unterscheidet wie dieser und entschiedener noch als dieser zwischen
Gott und Mensch und macht dadurch den religiösen Verkehr zwischen den vielen mikrokosmischen
Menschen und dem Einen makrokosmischen Gotte möglich. Der makrokosmische
Gott ist zugleich Natur und Geist. Der theistische Gott war nur Geist, ohne
Natur und ohne Körper, ohne Entwicklung, ohne wahrhaftes Leben. Der Theismus
wollte das religiöse Bedürfnis der Menschen befriedigen, welche ihrer
mangelhaften begrenzten Persönlichkeit bewusst nach einer vollkommenen
ewigen Person verlangten. Aber es gelang ihm nur, die Gefühle zu beschwichtigen,
nicht die Gedanken zu befriedigen; denn der körperlose und sogar, wie er
vorgestellt wurde, gegensatzlose Geistesgott, der sich
ewig gleich blieb, war keine Person.
Wir heißen Person nur ein Wesen, in welchem
seelische Kräfte und leibliche Erscheinung verbunden sind,
welches Organe besitzt, durch
die es sich, seine Gedanken, seinen Willen, seinen Geist ausspricht, welches
Entwicklung und Leben hat. Das alles fehlte dem theistischen Gott. Er war ohne
Körper, ohne Organe, ohne Entwicklung. Der Mensch kann sich neben den Milliarden
von beschränkten menschlichen und daher mikrokosmischen
Personen wohl Eine unbeschränkte makrokosmische
Person denken. Denn Person heißt nicht notwendig ein kurzlebiges,
eng begrenztes Wesen, sondern ein aus Geist und Körper bestehendes Wesen,
welches befähigt ist, mit Bewusstsein sich selber in Werken zu offenbaren.
Dem makrokosmischen Gotte kommt diese Fähigkeit im höchsten Grade
zu, weil er zugleich alle ewigen Geistes- und alle unvergänglichen leiblichen
Kräfte in ihrer unerschöpflichen Fülle in richtigen Verhältnissen
und in vollkommener Ordnung als das Eine ewige Wesen in sich hat. Der makrokosmische
Gott ist also die höchste denkbare absolute und allmächtige
Person, zu welcher die abgeleiteten relativen Menschenpersonen
mit Vertrauen und Ergebung aufschauen dürfen.
War die pantheistische Lehre unfähig, die einander widersprechenden Menschengeister
zu Einem harmonischen Weltgeiste zu einigen und hob dieselbe sowohl die Freiheit
der menschlichen Individuen als das einheitliche Selbstbewusstsein der übermenschlichen
Weltseele auf, so wahrt dagegen der makrokosmische Gottesbegriff sowohl das
Bewusstsein und die Freiheit Gottes als das Selbstbewusstsein und die Freiheit
der Menschen. Er erkennt ebenso wie der Theismus an, dass die verschiedenen beschränkten Menschengeister aus dem unendlichen
Gottesgeiste stammen, gleichwie die sterblichen Menschenkörper aus Teilen
des unvergänglichen Naturkörpers gebildet sind. Die Menschen erscheinen
so sowohl in ihrer seelischen und geistigen Begabung als in ihrem leiblichen
Dasein als abgeleitete Wesen,
welche in der makrokosmischen Erde die ursprüngliche Mutter ihres Leibes
und in dem lichten Gottesgeiste den Vater ihres Geistes verehren. Der kindliche
Zusammenhang zwischen Gott und Menschen, Natur und Mensch bleibt so vollständig
gewahrt, und die Abhängigkeit der Geschöpfe
von dem Schöpfer gesichert.
Wohl hat der makrokosmische Gott, indem er seinen Weltkörper bildete, sich
selber in diesem geoffenbart. Der Weltkörper ist nicht geschaffen, sondern geworden, er ist die Entfaltung
und Erscheinung des göttlichen Lebens. Aber die mikrokosmischen Wesen sind nicht geworden, nicht die Erscheinung des Einen göttlichen Wesens,
sondern geschaffen worden zu beschränktem Sonderwesen. Eben durch diese
Schöpfung, deren stufenweise von Äonen her vorbereitete Entwicklung
für den Fortschritt der makrokosmischen Natur ein unwidersprechliches Zeugnis
ablegt, hat der makrokosmische Gott seine Persönlichkeit erwiesen. Die
menschlichen Personen sprechen sich in Worten und in Werken aus, die nur Reflexe
und fixierte Bilder ihres Geistes sind, aber kein eigenes Leben in sich haben.
Die allmächtige Person des makrokosmischen Gottes aber spricht seine Empfindungen
und seine Gedanken in lebendigen Wesen aus.
Die Sprüche der Weisen, die Verse der Dichter, die Melodien der Musiker,
die Gemälde und Statuen der bildenden Künstler zeugen auch für
den schöpferischen Geist der Menschen, und sind auch abgeleitete Werke
ihrer Gedanken und Gefühle. Aber sie beurkunden nur das Leben der Menschen,
welche sie hervorgebracht haben. Die Worte, welche Gott spricht und die Bilder,
die er schafft, empfangen durch ihn ein ihnen eigentümliches geschöpfliches
Leben, das sein besonderes Wachstum hat und sich selber fortpflanzt. Der makrokosmischen
Entwicklung folgt so die mikrokosmische Entwicklung nach und es offenbart sich
die unendliche Mannigfaltigkeit der Bildungen, die doch alle ursprünglich
aus der unversieglichen und unerschöpflichen Quelle des ewigen Lebens abgeleitet
werden.
Der makrokosmische Gottesbegriff ist aber auch dem Irrtum des Theismus glücklich
entgangen, dass der göttliche Geist, weil ewig, zugleich unveränderlich,
d. h. empfindungslos, bewegungslos, leblos sei. Der makrokosmische Gott ist
entwicklungsfähig und lebendig. Indem er in dem Weltkörper seinen
natürlichen Leib gestaltet, bewährt er seine Gestaltungskraft und
zeigt er das Wachstum seiner Erscheinung. Indem er in dem Reichtum seiner Schöpfungen
seine Vorsicht und seine Gedankenfülle darstellt, offenbart er den Wechsel
der Zeiten. Indem er die Vervollkommnung der Natur und der mikrokosmischen Schöpfung
kundgibt, verkündet er zugleich die Entwicklung und die Vervollkommnung
seiner selbst. Die Vervollkommnung der
Natur und des Geisteslebens, das sich immer heller und seliger fortbildet, ist
nicht im Widerspruch mit der ewig-vollkommenen Anlage Gottes und der Natur, sondern ihre höchste Bewährung. Das vollkommene
Leben heißt nicht ewiger Stillstand, sondern unaufhörlicher Fortschritt,
nicht langweilige und starre Gleichgültigkeit, sondern unermüdliches
Wirken und nie zu ersättigende Lebenserfahrung und Lebensgenuss, unendliche
Vervollkommnung. Die Vollkommenheit der Naturanlage Gottes bürgt für
die unaufhörliche Vervollkommnung seines Lebens.
Die theistische Weltanschauung hatte den unermesslichen Weltkörper von
Gott getrennt, und wie eine Kreatur betrachtet, ein Geschöpf gleich den
kurzlebigen Pflanzen, Tieren und Menschen. Sie entgöttlichte die Natur
und machte die Wirkung des Geistes auf die Natur, ohne Organe und ohne Stoffe
zu einem unverständlichen Wunder des Schaffens aus dem Nichts. Der makrokosmische
Gottesbegriff hebt jene undenkbare Trennung auf und indem er Geist und Natur
zu Einem Wesen verbindet, erklärt er die Lebensfähigkeit und die Entwicklung
zugleich Gottes und der Natur.
Der Theismus hatte Gott außer dem Raume und
außer der Zeit gesucht und dabei sich Raum und Zeit in mikrokosmischer Weise als begrenzten Raum und messbare Zeit vorgestellt, die doch nur Teile
sind des unbegrenzten Raumes und der unendlichen Zeit. Wäre Gott außer
dem ewigen Raume, so wäre er nirgends, er wäre nicht; wäre er
jenseits der unendlichen Zeit, so würde er nicht leben, denn Zeit heißt
Bewegung, heißt Leben. Der makrokosmische Gott hat den unbegrenzten
Raum in sich als seine Unterlage, und die unendliche
Zeit wird in ihm sichtbar als die Bewegung des Weltkörpers
und das Fortschreiten des Geistes.
Die pantheistische Naturbetrachtung hatte wohl die Unmöglichkeit eines
Gottes außerhalb der Natur und des unbegrenzten Raumes eingesehen. Sie
hatte das Weltall und daher auch den Raum und die Natur vergöttlicht. Sie
hatte Natur und Geist in Eins verbunden. Aber sie hatte den Unterschied nicht
beachtet zwischen dem ewigen Sein des Makrokosmos,
der in Wahrheit das einzige notwendige Wesen ist
von Ewigkeit her in die Unendlichkeit und den vielen
mikrokosmischen Existenzen, die nur ein beschränktes, von
der großen Natur und dem göttlichen Geiste abgeleitetes und umschlossenes
Sonderleben haben. Weil der Leib der Pflanzen, der Tiere und der Menschen aus
irdischen Stoffen gebildet ist und wie er von der Erde genommen ist, sich wieder
in den Leib der Erde auflöst, so hat sie die Pflanzen, Tiere und Menschen
für bloße Teile der makrokosmischen Erde gehalten. Weil der Menschengeist
sogar Unendliches denkt, so hat sie ihn mit dem Gottesgeiste identifiziert,
aus dem er stammt und sogar sich eingebildet, dass der Eine Geist des Alls erst
in dem menschlichen Kopfe zu denken gelernt habe. Sie hatte die Existenz der
Geschöpfe und ihre relative Selbständigkeit geleugnet, die Freiheit
des Menschengeistes zerstört und die wahrhafte
Einheit des Gottesgeistes in die Disharmonie
der vielen Menschengeister zerstückelt Der makrokosmische
Gottesbegriff dagegen bringt die Hoheit und Einheit des Gottesgeistes, der dem
Menschengeiste unendlich überlegen ist, wieder zu Ehren, wie er die Eigenart,
Mannigfaltigkeit und Freiheit der vielen Menschengeister anerkennt.
Allerdings kann der eng begrenzte Menschenleib sich niemals der Macht der unbegrenzten
makrokosmischen Natur entziehen, die ihn geboren hat und deren Teile in ihm
fortwirken. Eben so wenig kann der beschränkte Menschengeist sich völlig
von der Herrschaft des unendlichen Gottesgeistes befreien, aus dem er stammt
und dessen Eigenschaften sich in ihm wieder finden. Aber trotz dieser Ableitung
der Geschöpfe von dem Schöpfer und trotz der bleibenden Abhängigkeit
der menschlichen Individuen von der makrokosmischen Natur und dem göttlichen
Geiste sind wir mikrokosmischen Menschen doch mehr als Schaumbläschen des
Weltmeeres. Wir haben ein wirkliches Dasein in uns und für uns. Unser Körper
hat eine ihm eigene Wärme, die sich abhebt von dem Wärmegrade der
äußeren Natur, die uns umgibt, und ein uns angehöriges Wachstum
in mikrokosmisch begrenzten Altersperioden, verschieden von der makrokosmischen
Bewegung der Gestirne und dem Wechsel der Jahreszeiten. Wir haben einen uns
eigenen Willen und sind verantwortlich für unser Tun. Wir haben sogar die
Wahl, dem allgemeinen Willen zu widerstreben, und folgen oft mehr der eigenen
Neigung als der göttlichen Bestimmung. Unser Geist hat ein ihm eigenes
Selbstbewusstsein und unterscheidet sich von andern mikrokosmischen Wesen
und von dem Einen makrokosmischen Sein der Natur und Gottes. Wir bilden durch
unsere Geistesarbeit die uns eigenen Gedanken aus, die nicht immer zugleich
Gottes Gedanken sind. Wir fühlen und erkennen uns so als Personen, freilich
als beschränkte und endliche, als abgeleitete Personen,
die mit der Einen unbeschränkten und unendlichen Person
des makrokosmischen Gottes in einen lebendigen Verkehr zu treten fähig
ist.
Darauf aber beruht alle Religion aller Zeiten. Ohne den Unterschied von Gott
und Mensch gibt es keine Religion, denn Religion heißt Verbindung der
Menschen mit Gott, heißt innige Beziehung der Menschen zu einem übermenschlichen
Wesen. Die alten polytheistischen Religionen und die drei theistischen Religionen
haben ihre Brauchbarkeit für die Menschen und ihre Stärke eben in
diesem Verhältnisse gefunden zu den Naturgöttern und dem Geistesgott
außer und über den Menschen. Die pantheistischen Religionen vermischen
und verwirren diesen Gegensatz. Der makrokosmische Gottesbegriff
begründet denselben besser und gewährt Gott und den Menschen
ihr volles Recht.
Der makrokosmische Gottesbegriff schließt in der Tat den uralten Widerstreit
der Religionen und der philosophischen Systeme ab und wirkt versöhnend
auf den Zwiespalt von Geist und Gemüt, Kopf und Herz. Er stellt die Harmonie
her zwischen den religiösen und moralischen Bedürfnissen der Menschen
einerseits und andrerseits ihren unbefangenen Beobachtungen der äußern
Natur und ihren logischen Gedanken. Er gewährt der mikrokosmischen Menschenwelt
volle Freiheit, ihre Anlage voll zu entwickeln und stützt den Glauben an
göttliche Weltregierung durch die Bestätigung der wissenschaftlichen
Erkenntnis.
Wenn dereinst, vielleicht nach Jahrhunderten, die Völker in der Natur Gott
sichtbar erschauen und zugleich wissen werden, dass der selbstbewusste Gottesgeist
in der Natur und über den Menschen waltet, dann wird ihnen auch der ewige
Untergrund der menschlichen Lebensordnung tröstliche Zuversicht gewähren
und sie werden als Kinder Gottes ihrer menschlichen Würde, Freiheit und Bestimmung bewusster werden.
Ich erwarte nicht, dass Euch die Wahrheit des makrokosmischen Gottes sofort
einleuchten werde. Aber ich denke, dass die mannigfaltigen Betrachtungen Gottes,
des erhabensten Menschengedankens, die uns heute gezeigt worden sind, in Eurem
Geiste nachwirken und über das große Rätsel der Welt einiges
Licht verbreiten werden. S. 34-52
Aus: Johann Caspar Bluntschli, Freimaurergespräche, I. über Gott und
Natur, II. über Unsterblichkeit. Ein Vermächtnis an die Brüder,
Bauüttenverlag GmbH Bad Kissingen, Copyright by Logen in Heidelberg und
Zürich 1879
Über
Unsterblichkeit
Wolfgang. Da der Körper
des Menschen nach dem Tode völlig unter- und aufgeht in den Elementen des
Erdkörpers, so kann ich mir, was die Menschen geistige Unsterblichkeit
heißen, nicht anders vorstellen, als das Fortleben der geistigen Eigenschaften
in den Kindern und Enkeln und das Fortleben des Menschengeistes in der Erinnerung
der nachfolgenden Geschlechter.
Heinrich. Niemand wird bestreiten, dass manche Eigenschaften
der Eltern vererblich sind, und dass in gewissem Sinne die Eltern in ihren Kindern,
die Ahnen in ihren Nachkommen fortleben. Aber die Vererbung der Rasse ist doch
nicht individuelle Unsterblichkeit. Die Kinder setzen doch nicht die Person
der Eltern fort, sondern sind in Wahrheit neue, eigene Personen. Sie gleichen
auch gar nicht immer den Eltern, sie sind oft besser, oft schlechter als diese,
sehr oft ganz anders geartet, und anders tätig. Je ferner die Nachkommen
von den Ahnen stehen, um so verschiedenere Einflüsse selbst der Vererbung
des Blutes und der Rasse wirken auf jene ein. Wenn endlich der ganze Stamm abstirbt,
mit allen seinen Zweigen, und das geschieht bei Geschlechtern, die in das Licht
der Geschichte eingetreten sind, fast immer nach einigen Jahrhunderten, dann
ist es auch mit dieser Art der Fortdauer zu Ende. Mit dem letzten Nachkommen
wird dann die Fortwirkung aller Vorfahren begraben.
Wolfgang. Ich leugne
das nicht, aber ich kenne nur diese, allerdings unsichere und begrenzte Fortdauer
der Person nach ihrem Tode.
Heinrich. Nicht anders ist es mit der zweiten Möglichkeit
einer Fortdauer, auf welche du hingewiesen hast. Wohl wirkt das Andenken an
den Verstorbenen noch eine Weile nach, nachdem er ins Grab gelegt worden ist,
aber auch dieses Andenken erblasst bald, und verschwindet nach einer kurzen
Spanne Zeit. Wir erfahren es täglich, wie der erste Moment des Todes der
überlebenden Familie heftige Schmerzen verursacht. Sie kann es kaum fassen,
dass sie den Vater, die Mutter, das Kind nicht mehr in ihrer Mitte leben und
wirken sehe. Krampfhaft hält sie auch den Schein und die Überreste
des früheren Lebens, dankbar und treu das Andenken an dasselbe fest. Aber
nach Wochen, Monaten, Jahren wird auch die Trauer ruhiger, stiller, schwächer.
Die Gegenwart mit ihren Sorgen und Freuden, mit all den wechselnden Erlebnissen,
bemächtigt sich der Lebenden und die Erinnerung an die Verstorbenen tritt
in den dunkeln Hintergrund zurück. Allmählich werden auch die Guten
vergessen, die vor uns gelebt haben.
Gottfried. Immerhin ist
ein gutes Andenken unter den Überlebenden ein Trost und ein Segen für
den, der im Leben sich ernstlich bemüht hat, seine Bestimmung zu erfüllen.
Freilich hält dieses Andenken an die meisten Menschen nur einige Jahre,
höchstens einige Jahrzehnte aus nach ihrem Abscheiden. Nur wo es einem
Individuum glückt, dauerhafte Werke der Kunst oder der Wissenschaft zu
schaffen und zu hinterlassen, welche eine Stadt, ein Land, die Welt, als eine
Bereicherung ihrer Kultur achtungsvoll bewahren und den folgenden Geschlechtern
überliefern, oder wenn ein Individuum durch seine Erlebnisse oder seine
Taten in der Volks- oder Menschheitsgeschichte einen weithin leuchtenden Namen
erworben hat, dann kann das Andenken auf Jahrhunderte, in den seltenen Fällen
größter Leistungen für die Menschheit, auf Jahrtausende wie
eine lebendige Macht fortwirken. Ein großer Mann kann so in den spätern
Geschlechtern noch in gewissem Sinne fortleben, wie wenn er persönlich
unter ihnen atmete.
Aber wir können uns nicht verbergen, auch dieses Fortwirken nach dem Tode,
und dieses Fortleben in andern Menschen und andern Zeiten ist nicht individuelle
Unsterblichkeit. Gäbe es keine andere Fortdauer als diese, so würde
mit dem Tode selbst des größten Weltgenies dennoch das Selbstbewusstsein
und die Persönlichkeit desselben für ewige Zeiten beendet sein. Auch
wer das Schwerste gelitten und das Beste geleistet hat, würde doch als
lebendes Wesen mit dem Tode der ewigen Finsternis anheimfallen. Es wäre
für ihn selber alles aus, wie wenn er nie gelebt hätte. Eben dagegen
sträubt sich das Selbstgefühl des Individuums. Wenn der Tod Vernichtung
ist, dann verliert das Leben großen Teils seinen Wert.
Wolfgang. Sehr schön,
aber der Schrecken des Todes beweist nicht die persönliche Unsterblichkeit.
Heinrich. Gewiss nicht,
aber er mahnt uns, die Frage ernst zu prüfen. Seitdem die Menschen denken
gelernt haben, ist ihnen diese Frage immer wieder vor die Seele getreten, und
immerfort haben hier Zweifel und Glauben, Furcht und Hoffnung in der Menschenseele
mit einander gerungen.
Gottfried. Der Wissenschaft
ist es bisher nicht gelun¬gen, einen Beweis für die Notwendigkeit der
individuellen Unsterblichkeit zu erbringen, aber ebenso wenig hat sie die Unmöglichkeit
derselben bewiesen. Wenn sie aber die Möglichkeit oder gar die Wahrscheinlichkeit
dieser klar macht, dann kann die Hoffnung und sogar die Zuversicht auf ein Fortleben
nach dem irdischen Tode freudiger aufblühen.
Wolfgang. Eben diese
Möglichkeit bezweifle ich. Soll ich mir eine individuelle Fortdauer nach
dem Tode vorstellen und eine persönliche Unsterblichkeit für möglich
halten, so muss mein Geist doch nach dem Tode ein Bewusstsein haben, und das
kann er nicht, ohne den Körper, der nicht mehr lebt. Wie soll er empfinden
ohne Empfindungsnerven, wie sehen ohne ein Auge, hören ohne ein Ohr, denken
ohne ein Gehirn? Die bloße schattenhafte Fortdauer, wie die alten Hellenen
sich das dachten, hat doch weder einen Sinn noch einen Wert. Soll die Unsterblichkeit
eine wahrhafte sein, so darf sie nicht ein bloßer Schatten des untergegangenen
Lebens sein, sie muss ein höheres, gesteigertes, vollkommeneres Leben sein.
Das aber ist nicht möglich ohne Organe. Wir können uns ein solches
organloses Leben nicht denken, ohne mit allem unserm Wissen und mit unserer
Logik in Widerspruch zu geraten.
Gottfried. Dieser Einwand
ist schon vor Jahrtausenden ganz ebenso erhoben und im Altertum ebenso erwogen
worden, wie heute. Den menschlichen Körper kennen wir heute genauer als
die Denker vor zwei- und dreitausend Jahren, wir wissen auch den chemischen
Verbrennungsprozess, der den Leichnam im Grabe verzehrt, vollständiger
nachzuweisen, aber das Hauptbedenken gegen das Fortleben des Geistes, die Auflösung
des Leibes, der dem Geist zum Organe gedient hat, wurde vor dreitausend Jahren
in ganz derselben Stärke geltend gemacht wie heute. Aber damals wie heute
haben die Weisen erkannt, dass die Unsterblichkeit des Geistes denkbar sei trotz
der Sterblichkeit des Leibes.
Heinrich. In der Tat, die Frage der Unsterblichkeit
ist eine Geistesfrage, sie ist nicht aus sinnlicher Wahrnehmung zu entscheiden.
Die Naturwissenschaft, welche jeder Zeit von der Erscheinung aus, wie sie von
den menschlichen Sinnen erfasst und geprüft wird, ihre Schlüsse zieht,
würde die ihr gesetzten Schranken überschreiten, wenn sie über
den Geist urteilen wollte, der unsichtbar, unhörbar, unwägbar ist.
Wolfgang. Die Naturwissenschaft hat die Anmaßung nicht, Dinge zu wissen,
die man nicht wissen kann. Aber sie ist in ihrem Rechte, wenn sie behauptet,
dass sie keinen Geist ohne Körper wahrzunehmen vermöge, und dass ihr
daher der Untergang des menschlichen Körpers eher für als gegen den
Tod des menschlichen Geistes zu zeugen scheine.
Gottfried. Wir können
die Berechtigung dieses Zweifels und seine Stärke anerkennen, aber wir
können ihm nicht die Entscheidung zugestehen. Wäre unser Geist nur
ein Produkt des Körpers, würde unser Geist aus der Materie, sei es
mit Notwendigkeit, sei es durch Zufall, oder meinethalben durch eine wunderbare
Zuchtwahl hervor gehen, dann freilich müsste er mit dem Leibe sterben,
ohne den er nicht ist, von dem er in Leben und Tod abhängig bleibt. Aber
unser Geist ist sich wohl bewusst, Eigenschaften zu haben, welche der Leib niemals
besessen hat und daher auch nicht ihm gewähren konnte und in sich frei
zu sein von Schranken, welche den irdischen Leib so lange binden, bis er zer¬fällt.
In unserm Geistesbewusstsein ist etwas Feineres, Höheres, Edleres, das
in unserm Leibe als solchem nicht ist. Während unser Körper an die
Erdoberfläche gefesselt bleibt und nur wie an der Kette, in eng beschränktem
Raume sich langsam bewegt, schwingt sich unsre Phantasie frei und leicht zu
den Sternen empor, und durcheilt im Fluge des Augenblicks die entlegensten Zeiten.
Unser Gedanke erkühnt sich, Unendliches zu denken, unsere Liebe wagt es,
sich mit Inbrunst in die göttliche Liebe zu versenken. Alle menschliche
Tugend bewährt die Zügelung der leiblichen Triebe und die Herrschaft
des Geistes über den Leib. Daher kann auch der Geist nicht völlig
an den Leib gebunden sein, der ihm während des Menschenlebens als Werkzeug
dient; und keineswegs folgt mit Notwendigkeit aus der Verwesung des Leibes nun
auch der Untergang des Geistes.
Wolfgang. Aber noch weniger folgt daraus die Fortdauer
des Geistes.
Gottfried. Ich gestehe
das zu, aber ich meine, du solltest auch die entgegengesetzte Möglichkeit
zugestehen.
Wolfgang. Ich würde
es gerne, wenn ich nur wüsste, wie du dir diese Möglichkeit vorstellst.
Erst dann kann ich sagen, ob ich dieselbe zu fassen vermag, ob nicht. Vorläufig
bin ich beruhigt, dass du nicht die Notwendigkeit, sondern nur die Möglichkeit
eines Fortlebens nach dem irdischen Tode behauptest, denn die Unmöglichkeit
kann ich natürlich auch nicht beweisen.
Gottfried. Bevor ich deine Frage zu beantworten suche,
möchte ich an die Auffassung alter Weiser erinnern, von denen wir noch
immer Bestes lernen können.
Heinrich. Du denkst wohl
an die Gespräche von Sokrates, als er sich
zum Tode bereitete, die uns Platon überliefert
hat. Mir war es immer tröstlich, zu sehen, mit welch freudiger Zuversicht
auf das Fortleben seines Geistes Sokrates in den Tod gegangen ist.
Gottfried. Ich kenne ein noch älteres Gespräch,
in welchem ein indischer Brahmane seinen Unsterblichkeitsglauben dargestellt
hat. Auf mich hat der Mythus,
den er berichtet, einen tiefen Eindruck gemacht. Wollt ihr denselben anhören,
wie ich ihn im Auszuge mir notiert habe? Ich bitte aber scharf aufzumerken auf
den Gedankengang.
Heinrich und Wolfgang.
Wir sind begierig, den Mythus zu vernehmen.
Gottfried.
Nachiketes, der
Sohn eines Brahmanen, von seinem Vater dem Mrityn,
d. h. dem Gotte des Todes geweiht, hatte unbeachtet drei Nächte
in der Wohnung des Mrityn zugebracht.
Indem der Gott ihn wieder entließ, gestattete er ihm drei Wünsche,
und versprach dieselben als Sühne dafür zu gewähren, dass er
dem befreundeten Gaste nicht die gebührende Ehre erwiesen habe.
Nach i k etes verlangte zuerst Beruhigung des Vaters, wenn er zu diesem zurückkehre,
zweitens Mitteilung des himmlischen Feuers der Erkenntnis, die zum Himmel führt
und Unsterblichkeit gewährt. Der Gott erwiderte ihm:
Wer das Feuer Trachiketas dreimal angezündet hat, wer mit den Drei, Vater,
Mutter und Lehrer innig verbunden bleibt, wer die drei Werke, Opfer, Studium
und Almosen vollzieht, der überschreitet Geburt und Tod. Wenn er das allwissende
Licht, das aus Brahma geboren ist, erschaut
und erkennt, dann gelangt er zur ewigen Ruhe.
Nun erbat sich Nachiketes die dritte Gabe
mit den Worten: »Wenn der Mensch gestorben ist, sagen einige, dauert sein
Leben fort, während andere sagen, er ist nicht mehr. Ich bitte Dich, mir
diesen Zweifel zu lösen. Die dritte Gabe sei, von Dir darüber belehrt
zu werden.« — Darauf Mrityn: »Auch von den Göttern ist
vormals hierüber gezweifelt worden. Es ist nicht leicht zu erkennen. Es
ist ein feiner Punkt. Wähle Dir, Nachiketes, eine andere Gabe. Binde mich
nicht an diese.«
Vergeblich versucht der Gott des Todes den Wissensbegierigen
mit andern Gaben zu verlocken. Er will nicht Reichtum, nicht langes Leben, nicht
Kindersegen, nicht Macht. Nachikete s beharrt
auf seinem Verlangen: »Erkläre mir, Mrityn, das, worüber man
zweifelt und streitet. Ich wähle keine andere Gabe als diese.«
Mrityn. »Etwas
anderes ist das Heil, etwas anderes die Lust. Der Tor wählt sich, aus Anhänglichkeit
an seine Schätze, die Lust, der Weise erwählt das Heil. Die Toren,
die sich weise dünken in ihrer Unwissenheit, wandeln der Irre umher, wie
Blinde von Blinden geführt. Der genusssüchtige Tor hat keine Zukunft.
Er meint, es gebe keine andere Welt als die seiner Lust, und im Übermut
fällt er immer wieder in meine Bande.«
»Ich glaube, Nachiketes,
Du bist beseelt von dem Durst nach Wissenschaft. Die mancherlei vergänglichen
Genüsse haben Dich nicht verlockt.«
»Wenn aber der Weise den schwer zu schauenden, verborgenen,
die Natur durchdringenden, im Herze ruhenden, uralten göttlichen Geist
durch innige Vereinigung mit ihm erkannt hat, dann betört ihn nicht Freude
noch Kummer. Von diesem Geiste haben viele nie gehört und viele kennen
ihn nicht, wenn gleich sie von ihm gehört haben. Nur selten erkennt ihn
einer, von erfahrenem Lehrer unterrichtet. Er ist feiner als das Feinste, er
weilt unerforschlich in der Tiefe. Der Sterbliche, der sich zu diesem Geiste,
dem Ziele aller heiligen Vorschriften erhoben hat, der hat die Seligkeit gefunden.
Ich glaube, dass Dir, o Nachiketes, der Weg geöffnet ist, zu dem Orte,
wo Brahma weilt.«
»Den Ort, zu dem alle Vedas führen, den alle Bußübungen
verkünden, den die Menschen erreichen, die ihre Pflichten erfüllen,
mit Einem Worte will ich ihn Dir nennen. Er ist Om. Dieses Wort ist Brahma.
Wer dieses Wort erkannt, der erlangt alles, was er wünscht. Es ist das
Höchste und Unvergänglichste.«
»Der Weise wird nicht geboren, noch stirbt er. Ungeboren, beständig,
ewig ist er das Uralte, das nicht getötet wird, wenn der Leib getötet
wird. Wenn der Mörder ihn zu töten wähnt, und der Gemordete sich
für getötet hält, so erkennen beide den Geist nicht, den jener
nicht töten kann, der in diesem nicht getötet wird.«
»Wenn der Weise den Geist erkannt hat, den mächtigen, alles durchdringenden,
der selber körperlos in den Körpern weilt, den Beständigen mitten
in dem Wechselnden, dann trauert er nicht mehr.«
»Aber dieser Geist wird nicht erreicht durch bloßen Unterricht,
durch bloßes Studium, nicht durch bloßes Hören von ihm. Der
erreicht ihn nur, den er erwählt hat. Wer nicht den Frieden der Seele hat,
wer ohne innere Sammlung und unruhigen Herzens ist, wer nicht auf den Einen
Punkt seinen Geist zu richten vermag, der kann den ewigen Geist nicht finden
und nicht erlangen. Nur durch die Erkenntnis Brahmas ist er zu erreichen, er,
dessen Nahrung der Brahmane und der Kshatrja sind, dem der Tod wie eine Würze
dient.«
»Betrachte den Geist als den Herrn des Wagens, den Körper als den
Wagen, die Vernunft als den Wagenlenker und das Herz als den Zügel. Die
Sinne sind die Rosse und die sinnlichen Gegenstände bilden die Wege.«
»Wer ohne Erkenntnis und ohne Sammlung ist, dessen Sinne sind unbändig,
wie ungezähmte Rosse, die dem Wa¬genlenker durchgehen. Wer dagegen
mit Erkenntnis begabt ist und gesammelten Herzens, dessen Sinne sind willig,
wie gezähmte Rosse, welche dem Wagenlenker gehorchen.«
»Wer ohne Erkenntnis und ohne Sammlung ist, bleibt
stets unrein und gelangt nicht zum Sitze des Höchsten. Er versinkt in dem
Strudel der Welt. Wer dagegen Erkenntnis besitzt und ein gesammeltes Herz, der
ist rein, und erreicht den Sitz des Höchsten und wird ferner nicht wieder
geboren.«
»Höher als die Sinne sind die sinnlichen Gegenstände, höher
als diese ist das Herz, höher als das Herz ist die Ver¬nunft, höher
als der große Geist ist das Unentfaltete, zu Entfaltende, höher als
dieses ist der höchste Geist, der alles erfüllt. Nichts ist über
diesem. Er ist die unübersteigliche Grenze, die höchste denkbare Stufe
des Seins.«
»Der höchste Geist ist in allen Wesen verborgen. Er erscheint nicht
den Sinnen, aber er wird von der auf Einen Punkt gerichteten, durch den Schein
in das Wesen dringenden, scharfsichtigen Vernunft erkannt. Er ist ohne Anfang
und ohne Ende, beständig und unüberwindlich. Wer dieses höchste
Göttliche erkannt hat, der ist von dem Schlunde des Todes befreit.«
»Der höchste Geist, der durch sich selber ist, wird nicht gesehen
noch gehört durch die Sinne, die von ihm abgewendet sind. Der Weise aber,
der sein leibliches Auge zuschließt und Unsterblichkeit sucht, sieht ihn.
Aus ihm stammen, in ihm ruhen alle Götter. Aus ihm steigt die Sonne auf,
in ihm geht die Sonne unter. Was in dieser irdischen Welt sichtbar ist, das
hat seinen Grund in ihm, und wer das verkennt und sich der Erscheinung zuwendet,
der ist des Todes. Viele unwissende Menschen werden nach ihrem Tode wieder aufgenommen
in nachfolgenden Mutterleibern und wieder geboren. Andere gehen über in
Pflanzen, die in dem Boden wurzeln, oder werden in man¬cherlei Tiergestalt
wieder geboren. Einem jeden wird sein künftiges Schicksal bestimmt, je
nach seinen Werken.«
»Jener alles erfüllende, alles gestaltende Geist, der auch in dem
Körper der Schlafenden wacht, der reine, Brahma, ist der Unsterbliche.
In ihm ruhen alle Welten, über ihn kann niemand hinaus. Er ist der Beständige
unter allen Unbeständigen, er ist das Denken der Denkenden, der Eine, der
auch die Begierden der Vielen geschaffen hat. Der Weise, welcher in seinem Geiste
den höchsten Geist erschaut, der hat den ewigen Frieden.«
»Dieses ewige Wesen ist die ewige Seligkeit. das höchste Gut. Es
glänzt nicht mit äußerem Glanze. Das Feuer, das wir anzünden,
die Blitze, welche das Dunkel erhellen, die leuchtenden Sterne, der Mond, die
Sonne haben kein eigenes Licht, sie haben ihre Leuchtkraft von ihm und glänzen
ihm entgegen. Durch seinen Glanz strahlt das All.«
»Wer das ewige Sein als seiend erkannt hat, und die Begierden, die im
Herzen ruhen, abgelegt hat, dieser Mensch, der Brahma
genießt, wird Brahma und unsterblich.« —
Nachiketes lebte
nach der von Mrityn verkündeten Wissenschaft. Er erreichte Brahma
und überwand den Tod.
Heinrich. Der brahmanische
Gedanke ist in der Tat großartig und in wundervollen Bildern dargestellt.
Aber ich fürchte, die Spekulation der Vernunft, welche die sinnliche Wahrnehmung
wie eine Fessel abwirft und sich über alles Sichtbare, Hörbare, Fassbare,
Wägbare empor schwingt, um den ewigen Geist zu suchen, wird unsern Freund Wolfgang nicht befriedigen, der gewöhnt
ist, von dem sinnlich Wahrnehmbaren aus zu schließen.
Wolfgang. Ich habe nie behauptet, dass der Geist unter das Mikroskop gebracht
oder auf die Waage gelegt werden könne. Der menschliche Geist wird nur
in seinen Wirkungen, er ist nicht in seinem Wesen sichtbar, und ebenso der göttliche
Geist. Aber ich habe kein rechtes Vertrauen in eine Erkenntnis, welche die Probe
der Erfahrung nicht besteht, und ich fürchte, dass die spekulierende Vernunft
in dem leeren Raume, wie der steuerlose Luftballon in der Höhe, unsicher
hin und her schwankt; ich besorge, dass der Wunsch als Vater mit der Mutter
Phantasie Bilder zeugt, die lieblich anzuschauen sind und tröstlich wirken
mögen, aber doch nur Einbildungen sind ohne Realität und ohne Wahrheit.
Gottfried. Freilich geht
die Phantasie mit, wenn der denkende Geist sich in die unsichtbare Tiefe des
Unendlichen versenkt; und in den dunklen Regionen spielt sie dann mit den Bildern,
die sie selber erschafft. Ihre Einbildungen, die den Massen verständlicher
und fasslicher sind als die reinen Gedanken strenger Logik, wirken dann oft
mehr als diese auf die Menge.
Heinrich. So sind die
Vorstellungen der alten Inder, auf die auch dein Brahmane hindeutet, von der
Seelenwanderung der unreinen, durch Leidenschaften und unheiliges Leben getrübten
Menschenseelen bald in den Leib von Pflanzen, bald in den von Würmern oder
Insekten oder Raubtieren, in der Tat nur Gebilde der Phantasie, aber sie haben
von jeher die Menschen, die daran glaubten, entsetzlich geängstigt. Der
Rückfall in das Tierleben auf Jahrhunderte und Jahrtausende hin ist doch
für den Menschen ein unerträglicher Gedanke.
Wolfgang. Aber nicht
anders steht es mit den Vorstellungen der Juden und der Christen von dem höllischen
Feuer, in welchem die Seele der Verdammten ewig brennt, wenn gleich sie nicht
aus brennbaren Stoffen besteht. Die Schilderung, welche Mohammed von dem Paradiese macht und dessen Freuden, und die bald schauerlichen, bald
lieblichen Bilder, welche Dante in seiner herrlichen
Dichtung mit prächtigen Worten gemalt hat, das alles sind auch Geschöpfe
der Phantasie, ohne Wirklichkeit; dennoch haben die Priester auch mit solchen
Bildern eine mächtige Wirkung auf die Gläubigen in allen Zeiten und
in verschiedenen Religionen geübt.
Gottfried. Und doch bleibt
es wahr, dass das Gewissen der edeln Menschen feinfühliger ist, als irgend
ein sinnliches Instrument, dass die Unterscheidung von Recht und Unrecht, Gutem
und Bösem nicht durch unsre Sinne bestimmt wird, dass die Kräfte des
Glaubens und der Freiheit, der Pietät und der Liebe, ihre tiefste Begründung
und ihre höchste Vollkommenheit nicht in dem Sinnesleben haben. Ebenso
ist es unbestreitbar, dass der logisch denkende Menschengeist über die
Schranken der Sinnenwelt hinweg tiefer auf den Grund der Dinge geht, schärfer
unterscheidet und wieder verbindet als die Sinne ihm zu leuchten und ihn zu
führen vermögen. In dem Geistesbewusstsein des Menschen ist eine Fülle
von Kräften verborgen, die sich dem Menschen nach und nach erschließen,
die keineswegs von der Sinnenwelt abgeleitet und nicht von der Sinnenwelt beherrscht
werden.
Auch ich habe an der Belehrung des Brahmanen einiges auszusetzen. Mich stört
der hochmütige Zug, welcher nur den aristokratischen Kasten der Brahmanen
und der Ritter die Pforte zur Unsterblichkeit eröffnet, sie aber dem besten
Manne verschließt, wenn er aus niederem Geschlechte geboren ist. Aber
der Eine Grundgedanke leuchtet mir ein:
Nicht von der Betrachtung des Körpers aus, sondern nur von der Versenkung
des Menschengeistes in den Gottesgeist aus eröffnet sich die Aussicht auf
Unsterblichkeit.
Heinrich. Bist du wirklich
der Meinung des Brahmanen über die Unsterblichkeit? Ich denke, das ist
doch nicht die Unsterblichkeit, an die Sokrates geglaubt hat, noch weniger die, welche Christus gelehrt hat, nicht die, welche heute die einen ersehnen, die andern fürchten.
Gottfried. Keineswegs
bin ich derselben Meinung. Unser Brahmane glaubt wie alle Brahmanen an den pantheistischen
Gott. Im Grunde war es für den Pantheisten nicht schwer, die Unsterblichkeit
der in die Weltseele zurückfließenden reinen Menschenseele nachzuweisen.
Indem der Brahmane in seinem Geist Brahma erkennt, wird er Brahma und hat nun
als Brahma einen unzerstörbaren Anteil an dem ewigen Geistesleben. Damit
ist aber seine Eigenart, sein Ich erloschen. Es ist aufgelöst in dem Unendlichen,
es ist verschwunden in Gott, wie ein Regentropfen im Weltmeer, wie ein Hauch
in der weiten Atmosphäre. Das ist in Wahrheit nicht individuelle Fortdauer,
keine Spur von persönlicher Unsterblichkeit, es ist Auflösung unseres
Geistes in dem Gottesgeiste.
Wolfgang. Wenn ich einmal
auf deine Voraussetzung eingehe, dass zwar im Leben der Menschen Geist und Körper
verbunden sind, aber im Tode auseinander gehen, dann scheint mir, liegt die
Annahme nahe, dass ganz ebenso wie der Leib aufgelöst wird von der Erde,
und seine Teile umgewandelt werden in Teile der Elemente, auch der Geist ebenso
aufgelöst werde von dem unendlichen Geiste, in den er zurückkehrt.
Gottfried. Indem wir
den Pantheismus aufgeben, retten wir unser Selbst. Indem wir den makrokosmischen
Gott verehren, gewinnen wir die Hoffnung auf individuelles Fortleben unseres
Geistes. Es ist doch etwas anderes, das Ruhen unsers Geistes in dem göttlichen
Geiste, als der Zu¬sammenfluss unsers Geistes mit dem Gottesgeiste.
Wolfgang. Ich gebe die
logische Unterscheidung zu, aber ich begreife es nicht, wie du unsern Geist
nach dem Tode anders zu retten vermagst, als indem du annimmst, der in den göttlichen
Geist zurückgekehrte Menschengeist lebe als Teil des göttlichen Geistes
fort. Dann aber fällt die Unsterblichkeit, wie du sie dir vorstellst und
die des Brahmanen dem Erfolge nach zusammen.
Gottfried. Ich leugne
die Gefahr nicht, dass der abgeschiedene Menschengeist in dem göttlichen
Geiste, der ihn aufnimmt, ebenso verschwinde, wie der Leichnam in den Elementen.
Ich wüsste nicht, wer ihn vor Gott retten wollte, ihn, der körperlos,
organlos, wehrlos in die Unermesslichkeit versinkt, wenn Gott ihn untergehen
lassen wollte. Ich kenne keine Nötigung für Gott, ihm Unsterblichkeit
zu gewähren. Gott kann ihn auflösen, ihn vergessen, wenn er will.
Der Menschengeist hat die Macht nicht, sich selber am Leben zu erhalten, denn
er hat den Grund seiner Existenz nicht in sich.
Wolfgang. Indem du die
Möglichkeit zugibst, dass der Menschengeist nach dem Tode in dem unendlichen
Geiste verschwinde, wie der Tropfen im Meer oder ein Gasbläschen in der
Luft, leugnest du die Notwendigkeit der individuellen Unsterblichkeit.
Gottfried. Allerdings,
aber keineswegs die Möglichkeit, und nicht die Wahrscheinlichkeit derselben.
Wolfgang. Wie erklärst du denn jene und begründest
du diese?
Gottfried. Ich wiederhole,
der alt-indische Mythus weist uns den Weg dazu. Nur wenn wir von allem Leiblichen
absehen und die Natur unseres Geistes betrachten, nur wenn wir uns in den göttlichen
Geist versenken, geht die Hoffnung, um nicht zu sagen, die Zuversicht der Unsterblichkeit
auf.
Wolfgang. Wie denn?
Gottfried. Der pantheistisch
gesinnte Brahmane erkannte in seinem Geiste den Gottesgeist, Brahma. Wir, unserer Persönlichkeit entschiedener bewusst, und den Unterschied
zwischen Gott und Mensch schärfer erkennend, wir wissen, dass unser Geist
nicht ein bloßer Teil des göttlichen Geistes ist, dass er ein individuelles
Leben hat, aber wir sind auch davon überzeugt, daß unser Menschengeist
nicht aus der irdischen Materie, nicht aus dem Leibe, nicht von den Eltern,
sondern dass er von dem göttlichen Geiste stammt. Unser Individualgeist
ist ein Strahl aus dem Gottesgeiste, ein lebendig gewordener Gedanke Gottes,
ein belebtes Wort Gottes, welches mit dem von den Eltern ererbten Körper
die Fähigkeit und die Freiheit empfangen hat, die in ihm ruhende Anlage
zu entwickeln, sich fortzubilden, sich auszusprechen, sein eigenes Leben darzustellen.
Wenn der Mensch stirbt, so kehrt sein Geist nicht wie er ursprünglich aus
dem Gottesgeiste hervorgegangen, sondern so zurück, wie er durch sein Leben
geworden ist. Die Arbeiten des Geistes, seine Taten und seine Leiden wirken
auf den Geist zurück und lassen Spuren zurück in seiner Entwicklung.
Die Werke folgen ihm nach.
Wolfgang. Wenn ich dich
recht verstehe, so behauptest du, der individuelle Sondergeist gehe nach dem
irdischen Tode, bald reiner und heller, bald befleckt und getrübt, je nach
seinem Leben auf der Erde in den allgemeinen Geist zurück, aus dem er gekommen
ist.
Gottfried. So denke ich
und ich meine, es sei das nicht anders möglich; denn wohin sollte der Geist
sich wenden? Der Verlust des Körpers kann sein Bewusstsein auf einen Schlag
betäuben, aber der Tod des Körpers kann nicht den Geist töten.
Wolfgang. Einen andern
Weg kenne ich auch nicht. Aber da beginnt erst das eigentliche Rätsel,
das wir, fürchte ich, nicht zu lösen im Stande sind. Wie sollen wir
das Schicksal des körperlos gewordenen Geistes vorhersehen, wie über
die dunkle Zukunft etwas wissen?
Gottfried. Gewiss tastet
und stammelt unser Geist nur, wenn er sich in diese geheimnisvollen Regionen
hinein wagt. Wir können eine vollkommnere Welt wohl ahnen, in der die seligen
Geister höheres Leben gewinnen, wir können sie nicht erweisen. Aber
schon die Ahnung hat einen Wert, sie weist auf Unendlichkeit, auf Seligkeit
hin und zeugt für das unaufhaltsame Streben des Geistes nach Vervollkommnung.
Wolfgang. Wenn der körperlos
gewordene Individualgeist, wenn auch mit der Eigentümlichkeit, welche er
durch seine Anlage und durch sein Leben bekommen hat, in den allgemeinen Geist
auf- oder niedersteigt, so fürchte ich doch, dass es ihm ergehen werde,
wie einem Tropfen Tinte, der ins Meer gegossen wird oder wie dem bestimmten
Laut, der in die weite Luft hineingesprochen wird. Die besondere Art wird eine
Weile noch nachwirken, bald aber in der Weite verschwinden, welche sie aufgenommen
hat.
Gottfried. Ich bitte
dich, vergiss nur nicht, dass hier, was du die Weite nennst, der unendlich fortschreitende
Gottesgeist ist, und was du als einen Tropfen oder einen Ton bezeichnest, eine
lebende Idee, ein belebtes Wort Gottes ist. Wenn wir Menschen unsrer Wörter
uns erinnern, obwohl deren Klang erloschen ist und die doch in sich kein eigenes
Leben haben, wie sollte Gott der von ihm zu eigenem Leben geschaffenen Geister
vergessen? Er hat diesen Geistern das Leben verliehen, und nun sollte er sie
vernichten? Er hat ihnen das Streben nach Unendlichkeit eingepflanzt, und nun
sollte er sie täuschen? Er hat ihnen Freiheit gegeben, und nun sollte er
sie zu Sklaven des Todes machen? Er hat sie gemahnt, sich zu vervollkommnen
und seiner Vollkommenheit nachzustreben und da sie seiner Mahnung gefolgt sind,
soll er nun jeden weiteren Fortschritt abschneiden und ihre Vervollkommnung
unmöglich machen? Mir scheint, wir würden Gottes Gerechtigkeit, seine
Liebe, seine Voraussicht und seine Macht verkennen, wenn wir diese Fragen bejahten.
Heinrich. In der Tat,
Gott würde mit den Menschengeistern ein grausames Spiel treiben, wenn er
sie mit dem Streben und der Sehnsucht nach Unendlichkeit ausstatten und dann
nach wenig Jahrzehnten für immer wegwerfen und vernichten wollte. Ich kann
mir nicht vorstellen, dass Gott der Vater seine Kinder, die Menschen so völlig
zerstören und dem Tode auf ewig in den Rachen werfen wolle.
Gottfried. Dennoch können
wir, die Kinder, die Unsterblichkeit nicht fordern, aber wir dürfen sie
zuversichtlich hoffen.
Heinrich. Mir scheint
noch ein anderes moralisches Argument diese Zuversicht zu bestärken, das
auch die alten Ägypter, die Hellenen und das die christliche Religion mit
besonderem Nachdruck betont haben, ich meine das Bedürfnis des Menschenherzens
nach einer vollkommeneren Gerechtigkeit, als es die ist, welche irdische Richter
handhaben. Der menschliche Richter sieht nicht in das Verborgene, er durchschaut
nicht das innere Leben des Geistes. Aber Gott sind auch die geheimsten Regungen
des Gemütes und des Geistes offenbar. Der menschliche Richter hat keine
Macht über die Geister, aber Gott hat Macht über die Geister. Wie
oft erfahren wir, dass edle Menschen verkannt und verfolgt werden, und dass
schlaue Bösewichter ihre Brüder betrügen, ausbeuten, unterdrücken.
Zuweilen geht der Tugendhafte elend zu Grunde, nicht selten triumphiert die
brutale Gewalt. Wie mancher Lasterhafte stirbt mitten aus einem Leben voll Genuss
und sinnlicher Freuden, wie mancher Reiche an Geist ist von drückender
Armut im Leben beschwert. Wie viele Missetaten werden straflos verübt,
wie viele Mühen und Opfer bleiben unbelohnt. Daher kann die irdische Gerechtigkeit
nicht die göttliche Gerechtigkeit ersetzen. Deshalb ist das künftige
Gottesgericht nicht zu entbehren, damit die sittliche Weltordnung, die Gottes
Ordnung ist, zur Wahrheit werde und sich mächtig erweise.
Gottfried. Allerdings
wie der Durst nach Wahrheit, so wird auch das Verlangen nach Gerechtigkeit in
dem irdischen Leben nicht gesättigt. Schon Sophokles und nach ihm Sokrates und Platon haben diesem Gedanken schönen und
sinnigen Ausdruck gegeben. Aber wenn wir auch diese geistigen und moralischen
Wahrscheinlichkeitsgründe für die individuelle Unsterblichkeit hoch
schätzen, so bedarf der von Wolfgang geäußerte
Zweifel doch noch einer Prüfung, damit er sich zur Ruhe begebe.
Wenn der Individualgeist im Tode von dem Körper abscheidet, und in den
göttlichen Geist zurück sinkt, so fällt er zugleich dem Gerichte
Gottes und seinem eigenen Gericht anheim. Die Täuschung anderer und die
Selbsttäuschung sind nun zu Ende. Er kann seine Mängel nicht mehr
verbergen, er hat keine Hülle, keine Decke mehr um sich. Sein Wert und
sein Unwert wird in dem Lichte des göttlichen Geistes offenbar.
Die Harmonie mit dem göttlichen Geiste wird für ihn Seligkeit, die
Disharmonie Unseligkeit bedeuten. Der selige Geist genießt die ersehnte
Ruhe in Gott, der unselige Geist empfindet den Schmerz seiner Trübnis und
findet keine Ruhe. Diesen quält und peinigt das eigene Gewissen, jenen
erquickt die Seligkeit Gottes, deren er mitgenießt. Die abgeschiedenen
Geister haben so Himmel und Hölle in sich.
Wolfgang. Wie denkst du denn das Bewusstsein
der Seligen und der Unseligen? Ohne einen Gegensatz kann ich ein Bewusstsein
mir nicht vorstellen.
Gottfried. Ich auch nicht. Aber die Gegensätze sind
ja unzweifelhaft da. Der Individualgeist hat ja den Gegensatz in sich zwischen
seiner aus Gott stammenden Anlage und seiner im Menschenleben erreichten Entwicklung
und ebenso den Gegensatz außer sich zwischen seiner Sonderexistenz und
dem unermesslichen Gottesgeiste. Überdies liegen in dem ewigen Äther,
der ihn umgibt und auch in ihm ist, der in der Natur und in Gott ist als unerschöpfliche
Fülle aller denkbaren Kräfte, auch ausreichende Mittel, um das Selbstgefühl
und Selbstbewusstsein der Geister zu wecken und zu sättigen.
Wolfgang. Haben wir nicht
bereits die Grenzen überschritten, die dem menschlichen Erkenntnisvermögen
gezogen sind? Wie der körperlose Geist empfinden, denken, leben soll, ohne
einen Körper, das können wir unmöglich wissen. Ich bescheide
mich auch das nicht zu wissen, ob die abgeschiedenen Geister jenen Himmel und
diese Hölle zu empfinden fähig sind. Die volle Persönlichkeit
aber, wie wir Menschen dieselbe verstehen, haben sie nicht, denn damit sie nicht
bloß gleichsam eine passive Seligkeit genießen oder eine Unseligkeit
erdulden, sondern als Personen sprechen, handeln, schaffen können, dazu
bedürfen sie eines Körpers und in diesem der Organe, welche fähig
sind, ihre geistigen Kräfte tatsächlich zu bewähren.
Gottfried. Ich bin mit
dir einverstanden: Keine Person ohne Verbindung von Geist und Körper. Ich
betrachte den körperlosen und daher hilflosen und ohnmächtigen Zustand
des Individualgeistes nach dem Tode als eine bloße Zwischenstufe zwischen
der abgestorbenen Persönlichkeit und der neu zu schaffenden vollkommeneren
Persönlichkeit.
Heinrich. Dieser Zwischenzustand
erinnert ja an die Lehre der katholischen Kirche vom Fegefeuer.
Gottfried. Doch nur insofern,
als er zur Reinigung und Klärung der Geister dient, welche einstweilen
als unpersönliche, weil unkörperliche Geister, das fortschreitende
Leben Gottes begleiten. Ich denke, es ist doch glaublicher, dass Gott seine
belebten Ideen in seinem Geiste bewahre und sich des Reichtums seiner Schöpfung
erfreue, als dass er sie vergesse und einsam fortwandle. Indem sie wie belebte
Ideen Gottes in seinen Fortschritt begleiten, wird auch nach und nach die Trübnis
weichen, welche sie während des Menschenlebens aufgenommen haben. Wie der
von weggeschwemmter Erde getrübte Bergbach in dem See, in den er einfließt,
rein gewaschen wird, und später als kristallheller Fluss aus dem Seebecken
abfließt, so wird die getrübte Menschenseele in dem göttlichen
Weltgeiste, der sie aufnimmt, gereinigt werden und später als veredelter
Geist in verklärtem Körper aus demselben hervorgehen.
Wolfgang. Wie stellst
du dir aber die neue Körperbildung vor? Wird denn nicht der Individualgeist,
wenn er einen neuen verklärten Körper erhält, eben deshalb eine
neue Person?
Gottfried. Auch auf diese
Fragen kann ich nur in Bildern antworten, die nur annähernd andeuten, wie
sich der Gedanke in den dunklen Regionen eher ahnend als wis¬send zurecht
zu finden sucht. Wie der Schmetterling und die Raupe wesentlich dasselbe Geschöpf
ist, wenn gleich diese am Boden kriecht und jener durch die Lüfte flattert,
ebenso bleibt der Individualgeist, d. h. eine bestimmte belebte Idee Gottes,
derselbe, wenn gleich er im Menschenleben an die Erde gebunden war, und im jenseitigen
Leben mit ätherischem Körper ausgestattet zur Sonne fliegt und sich
frei in dem unermesslichen Raume bewegt. Wie sein verklärter Körper
beschaffen sein werde, das freilich wissen wir nicht. Dass derselbe vollkommener
sein werde, als der irdische Leib, das hoffe ich mit Zuversicht.
Auch der Gedanke einer neuen besseren Welt, welche Gott in seinem Fortschritte
erschaffen werde, ist ein alter Glaube der religiös gestimmten Menschen,
wir wissen, dass die irdischen Schöpfungen stufenweise vollkommener geworden
sind, und wir können darauf die Hoffnung gründen, dass die künftigen
Schöpfungen vollkommener sein werden, als die gegenwärtige Welt. Die
unendliche Vervollkommnung ist der Charakter des ewigen Lebens. Indem der Reichtum
der göttlichen Schöpferkraft sich immer voller erschließt, das
Leben des Ewigen wachsende Seligkeit ist, zieht es auch die geschaffene Welt
mit sich vorwärts und verleiht auch ihr höhere Seligkeit. Darauf vornehmlich
beruht meine Zuversicht auf die Fortdauer des individuellen Geistes, der, vom
Gottesgeiste angezogen, der Vervollkommnung nachstrebt.
Heinrich. Brechen wir
hier das Gespräch ab. Dem Menschen ist es nicht vergönnt, den Glanz
des Ewigen zu ertragen. Überlegen wir jeder für sich, im Stillen den
Gedanken einer fortschreitenden Unsterblichkeit, den auch die Symbole und Rituale
der Loge bildlich veranschaulichen und uns ans Herz legen. Mein Glaube an die
Unsterblichkeit ist durch die Zweifel, welche Wolfgang freimütig darlegte, nicht erschüttert, er ist vielmehr durch die Erörterung
dieser Zweifel und durch die Mitteilungen Gottfrieds bestärkt worden. Ich
denke, wir haben alle durch die wechselseitige und brüderliche Aussprache
gewonnen. Halten wir diesen Gewinn in Treue fest. S.
60-80
Aus: Johann Caspar Bluntschli, Freimaurergespräche, I. über Gott und
Natur, II. über Unsterblichkeit. Ein Vermächtnis an die Brüder,
Bauüttenverlag GmbH Bad Kissingen, Copyright by Logen in Heidelberg und
Zürich 1879