Pierre de Bérulle (1575 – 1629)

  Französischer Mystiker und Theologe, der nach Studien an der Sorbonne und im Jesuitenkolleg zu Clermont im Jahre 1599 zum Priester geweiht wurde. Bérulle spielte eine führende Rolle in der französischen Gegenreformation. 1611 rief er das französische Oratorium - nach dem Vorbild des vom italienischen Mystiker und Reformer Filippo Neri gegründeten - ins Leben, eine kirchliche Vereinigung (Kongregation) von Weltpriestern zur Pflege der Seelsorge und Wissenschaft, die 1613 als »Oratorium unseres Herrn Jesus Christus« den päpstlichen Segen erhielt. Vom französischen Hof des Öfteren mit wichtigen diplomatischen Aufträgen betraut, wurde er 1627 zum Kardinal und 1628 zum Präsident des Staatsrats ernannt. Sein Gegenspieler war der berüchtigte Kardinal Richelieu. Bérulle, dessen christozentrisch geprägte Frömmigkeit auf seine jesuitische Erziehung zurückzuführen ist, war Begründer der »Ecole Française«, einer französischen Schule des 17. Jahrhunderts, an der asketische und mystische Theologie gelehrt wurde.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis
Gott im Menschen
Der Mensch in Gott
Die Übung

Gott im Menschen
Durch die Menschwerdung hat Gottes Name, Größe, Kraft, Würde, Majestät, soweit sie dem Geschöpflichen sich mitteilen kann, ihren Sitz und ihre Wohnung aufgeschlagen in der menschlichen Natur. Gott verbindet sie mit sich und gibt ihr Leben und persönliche Einigung mit seiner Gottheit. Wird die menschliche Natur angebetet, so wird Gott in ihr angebetet; wenn sie spricht und sich bewegt, so spricht und bewegt sich Gott. Man schuldet Ehrfurcht den Spuren seiner Füße, man schuldet Gehör seinen Worten, denn es sind Spuren und Worte eines Gottes. Wenn diese Menschheit handelt oder leidet, so ist Gott in ihr handelnd und leidend, es sind göttliche Handlungen und göttliche Leiden und als solche von unendlichem Wert... So läßt denn Gott, der Unfaßliche, sich fassen in dieser Menschlichkeit. Gott, der Unaussprechliche, läßt sich vernehmen in der Stimme seines fleischgewordenen Wortes. Gott, der Unsichtbare, läßt sich sehen im Fleische, das er geeint hat mit d er ewigen Natur. Gott, der Erschreckende im Glanze seiner Majestät, läßt sich verkosten in seiner freundlichen Güte und Menschlichkeit. . . . O Wunder! O Größe!

Das Wort nennt sich »Anfang« bei den Propheten. Denn eine Sonne ist es gleichwie der Vater; eine Sonne, entflutend einer Sonne . . . ein ewiger Aufgang, der immer in seinem Mittag ist durch seines Lichtes Fülle und immer in seinem Aufgang durch die Eigenschaft seiner Zeugung, die immerfort währet und nimmer endet, wie sie niemals beginnt; durch die er immer geboren ist, wie er immer geboren wird in der Ewigkeit. — Und wir haben zugleich einen Kind-Gott, einen sterblichen Gott, einen leidenden, zitternden, weinenden in einer Krippe, einen Gott, der lebt und wandelt auf Erden, in Ägypten, im Judenlande … einen Gott, der leidet und stirbt am Kreuze... Denn er, der unsere Natur angenommen durch das Geheimnis seiner Menschwerdung, hat auch annehmen wollen alle Zustände und Eigenschaften unserer Natur und sie ehren durch die persönliche Einigung mit der Gottheit ... Alle diese Zustände und Geheimnisse seines Lebens sind göttlichen Charakters und haben deshalb göttliche Würde und höchste Kraft und heilige Wirkung … und wir sollen nach Gottes Ratschluß sie ehren und uns eigen machen für unsere Seelen.

Er wird geboren von seinem Vater als Licht und will auch geboren werden zur Welt in Licht, als Gott vom Licht. Das Licht aber steigt hernieder vom höchsten Himmel bis zu den Tiefen der Erde, ohne doch niedrig zu werden; es dringt durch alles, doch ohne befleckt zu werden; es eint sich allem und macht sich innerlich allem, doch ohne sich zu vermischen... So behält auch das göttliche Wort mitten in der Eigenschaft unserer Kindheit seine Größe und Vollkommenheiten ... Indem es sich erniedrigt, ohne niedrig zu werden, erhebt es uns; indem es sich einigt. läutert es uns; indem es uns innerlich wird, vergöttlicht es uns.

Denn die Menschwerdung ist ein bleibender Zustand und bleibend in Ewigkeit. Ohne Unterlaß beschenkt uns Gott mit seinem Sohn. Ohne Unterlaß gibt dieser Sohn, der Gottes Geschenk ist, sich selbst unserer Menschheit. Der göttliche Geist. in dem dieses Geheimnis vollbracht wurde, die innere, bleibende Seite des äußeren Geheimnisses, jene Tätigkeit und Kraft, die dies Geheimnis in uns lebendig und wirksam werden läßt, jene heilige Verfassung und jenes Verdienst, wodurch er uns seinem Vater erworben hat, ... ja, die Seelenstimmung und lebendige Bereitschaft, in der Jesus dieses Geheimnis wirkte, ist ihm immer lebendig und gegenwärtig. Sein Herz ist ewig offen, ewig verwundet; seine Herrlichkeit entfernt nicht diese Wunde, denn es ist Wunde der Liebe. Die äußere Wunde von der Lanze ist nur ein Zeichen der wahren und inneren Wunde seines Herzens … Dank dem himmlischen Vater, der ihm diese Wunde zugedacht hat am Kreuze, um uns für ewig eine Wohnung zu geben in seinem Herzen!

Nicht als erloschene Vergangenheit also sollen wir die Geheimnisse Jesu behandeln, sondern als lebendige Gegenwart, selbst Ewigkeit, von der wir eine immer gegenwärtige, ewige Frucht ernten sollen ... Laßt uns Leben schöpfen in diesem Geheimnis des Lebens! Laßt uns ewiges, unwandelbares Leben schöpfen in diesem Geheimnis ewigen, unwandelbaren Lebens!

Unter den Wechselfällen dieses elenden Lebens auf Erden laßt uns bleibendes, wechselloses Leben schöpfen, da wechsellos beharrt dieses hochheilige Geheimnis im Wechsel der Zeiten, Orte, Umstände, unter denen der Sohn Gottes auf Erden erfunden ward! . . . Laßt uns anbeten das bleibende Wesen dieses göttlichen Geheimnisses! Und wie es selber wandellos, so laßt uns den Sohn Gottes bitten um einen Geist, der wandellos in ihm verharrt. Wir schöpfen Leben aus diesem Geheimnis des Lebens. Laßt uns darum auch schöpfen von seinem wandellosen, bleibenden Sein einen wandellosen Stand von Gnade und Leben in Gott!

Der Mensch in Gott

Jesus Christus ist ein göttlich Behältnis der Seelen und ist ihnen Quell eines Lebens, dadurch sie leben in ihm. Das Geheimnis der Menschwerdung ist von lebendiger Wirksamkeit, und man muß davon Früchte tragen und Wirkungen, tragen und empfangen.

Es ist ein Geheimnis, das Gott mit dem Menschen und den Menschen mit Gott verbindet, und man muß sich in Verbindung bringen mit diesem Geheimnis. Es ist ein Geheimnis, das den Menschen von der Sünde trennt durch die Gnade, und von sich selbst durch eine verborgene, erhabene und diesem Geheimnis eigene Gnade. Man muß sich trennen von sich selbst und allem, was uns auf uns selber stellt, auf Adam statt auf Jesus, der unser Adam und unser alles ist. . . Ein jeder muß in sich selbst entblößt und zunichte werden, um Jesus zu eigen zu sein, in Jesus seinen Grund zu haben, in Jesus sein Wesen, in Jesus sein Leben, in Jesus sein Wirken, in Jesus seine Frucht.

Jesus ist die Ergänzung unseres Seins, das nicht Bestand hat als nur in ihm, und nicht Vollendung als nur in ihm, wahrhaftiger als der Leib sein Leben und seine Wesensergänzung hat in der Seele und das Glied im Leibe und der Zweig im Rebstock und der Teil im Ganzen. Denn wir haben Teil an Jesus, und er ist unsere Ganzheit. Und unser Gut ist, in ihm zu sein und ihm zu gehören: zu sein, zu leben, zu handeln durch ihn, wie der Rebzweig Sein und Leben und Frucht hat vom Rebstock.

Darum sollen wir Jesus ansehen als unseres Wesens Ergänzung. Denn er ist es und will es sein, wie das Wort die Ergänzung ist der menschlichen Natur, die in ihm ihren Bestand hat. Darum müssen wir Jesus uns verbinden als dem, der unseres Wesens Grund ist durch seine Gottheit und das Band unseres Wesens mit Gott durch seine Menschheit, der Geist unseres Geistes, das Leben unseres Lebens, die Fülle unserer wartenden Leere. Unsere erste Kenntnis muß sein, daß wir Stückwerk sind und unvollendet, und unsere erste Bewegung muß sein zu Jesus hin, der unser Wesen erfülle. Und dieses Suchen und dieses Anhangen an Jesus und dieses tiefe und stete Abhängigsein von Jesus ist unser Leben und unsere Ruhe und unsere Kraft und all unser Vermögen. Nie sollen wir handeln, es sei denn mit ihm geeint, vom ihm geführt, von ihm belebt,. . . in der Gewißheit, daß wir ohne ihn weder sein noch handeln können, daß es zu unserem Heile ist.

Denn es gibt drei verschiedene Arten von Leben:

die erste, das Leben von sich und in sich selber zu haben, und dies kommt unter allen Lebendigen nur dem ewigen Vater zu.....

die zweite das Leben in sich selber zu haben, und das ist des Sohnes Eigenschaft ...

die dritte, es weder von sich noch in sich selber zu haben, sondern in und von Jesus Christus, und dies gilt von unseren Seelen, die leben müssen in Jesus und nicht in sich selber... All sein Tun in Jesus und durch Jesus vollbringen, dies ist das wahre Leben, und dies heißt Früchte des ewigen Lebens bringen.

Indem uns Gott Jesus als unser Leben gibt, gibt er uns auch uns selber zurück. Denn wir waren verloren ohne dies Leben — und gibt uns eine neue Welt obendrein: sich selbst.

Darum öffnet eure Seelen den Wirkungen des Wortes und lasset sie ganz seinen Absichten! . . . Da ihr euer eigenes Tun als zu gering erkennt, um es zu achten, so gebet euch hin der Kraft und Wirkung seines Geistes, damit er nach seiner Güte euch bereite, ihn zu ehren, durch seine Einflüsse, seine Wirkungen in euch! ... Denn er liebt es, in den Seelen einzuprägen sein eigenes inneres Sein und dessen Wirkungen, seine Geheimnisse und seine Leiden . . . Laßt uns darbieten unser Herz seiner Demut, seiner Liebe, seiner Güte! Laßt uns diesen es öffnen, auf daß sie sich einprägen darin! . . .

Die göttlichen Tugenden sind Wirkkräfte. Sie alle wollen wirken und eine Ähnlichkeit schaffen außer sich mit sich selber in Wesen, die dafür bereit sind und darinnen sie wohnen möchten. Das ungeschaffene Licht wirkt ein geschaffenes Licht, die ungeschaffene Liebe wirkt eine geschaffene Liebe. So ist es auch mit den Eigenschaften und Kräften des menschgewordenen Gottes. Seine Demut, so göttlich-menschlich, will sich einprägen in unseren Seelen. Seine Milde möchte uns milde machen. Das ist der Sinn jener schönen Worte: »Lernet von mir, denn ich bin sanft und demütig von Herzen«.

Die Übung
Man muß fürs erste auf Gott schauen und nicht auf sich selber, und darf nicht wirken, sich selbst in Denken und Suchen, sondern im lauteren Hinblick auf Gott.

Anbetung, das ist die wesentlichste Betätigung der Religion. Anbeten, einen erhabenen Gedanken haben von dem, was wir anbeten, und einen Willen, der hingegeben, unterworfen und selbsterniedrigt ist vor der Hoheit und Würde, die wir in ihm glauben oder wissen. Dieser hohe Begriff im Geiste und dieser Einklang des Willens, der sich ganz hingibt an jene erhabene Würde, das ist das Wesen der Anbetung. Denn sie verlangt nicht nur den Geist, sondern auch das Herz und unterwirft, in gleichmäßiger Anwendung beider Seelenkräfte, Verstand und Willen, die ganze Person demjenigen, dem wir huldigen wollen.

Laßt uns anbeten Gott, der immer schafft und immerfort die Welt zu sich als ihrem Endziel lenkt und sie regiert, sie schaffend im ewigen Akte, so daß das Sein der Kreatur von Gott fließt ohne Unterlaß und nicht eigenen Bestand hat als allein in diesem steten, ewigen Fließen.. . Daraus entnehmen wir die immerwährende Abhängigkeit des kreatürlichen vom ungeschaffenen Sein. Schauen wir hin auf diese Wesensbeziehung und machen wir uns eine Aufgabe daraus, indem wir in neuer und besonderer Weise Welt und eigenes Ich auf Gott beziehen: indem wir unseren freien Willen entsprechend diesem wesentlichen Urbestande unseres Seins einstellen — unseres Seins, das nur ein Schatten ist und eine Abhängigkeit und ein Behältnis jenes ungeschaffenen Wesens . . . O, wie sehr muß das geschaffene Wesen jenem Ungeschaffenen anhangen! ... Das muß unser Streben sein: unsere eigene persönliche Bewegung zu verbinden jener allgemeinen der Natur, die ihr von Gott gegeben — Gott zu unserem Ziel zu machen, unser Eigenwesen nach dem Willen dessen zu gebrauchen, der es uns gegeben: ihm gehörend, ihm lebend, an ihn denkend, ihm zu weihen unser ganzes Leben, Kraft, Pläne, Beruf, Wirken.

Gib deine Seele, o Mensch, dem göttlichen Wesen und der heiligen Dreifaltigkeit! Tu es mehr in Ehrfurcht deines Gemütes als in verstandesmäßiger Überlegung, mehr in lauterer Einfalt als in kunstvoller Berechnung! Denn jenes ungeschaffene Wesen ist so fern und erhaben über allem geschaffenen Wesen, daß sich verlieren in seinem Abgrund uns besser steht als ihn kennen, und ihm angehören durch sein verborgenes Wirken besser als durch eigenes Denken und Vorstellen. Diesem göttlichen Wesen, so innerlich, so gegenwärtig, so wirksam, verlange zu sein und anzugehören auf jene Weisen, die er deiner Seele nach seinem Ermessen zuteilen mag ohne dein Wissen; sei nicht zufrieden in der Beschränkung mit denen, die dein eigener Sinn dir ausdenken mag!

Maria war lauter Behältnis für Jesus, von Jesus erfüllt durch eine völlige Hingabe an ihn ... Mit ihr biete dich Jesus an, gib dich ganz seinem Geiste! … Laß dich dem Sohne Gottes! S.167ff.
Aus: Gott in uns. Die Mystik der Neuzeit. Von Otto Karrer, Verlag "Ars sacra" Josef Müller, München