Johann Albrecht Bengel (1687 – 1752)
Deutscher evangelischer Theologe, der 1741 Prälat in Herbrechtingen und Abt von Alpirsbach und 1749 Konsistorialrat in Stuttgart wurde. Bengel |
Inhaltsverzeichnis
Die Majestät Gottes Gottes Regierung und Gerichte Über den Tod und den Zustand nach dem Tode Von der Macht und den Grenzen der menschlichen Vernunft |
Christus |
Die Majestät
Gottes
Welch ein Bau ist Himmel und Erde! Da sollen wir lernen, unsern Gott allein
groß achten und durch die Erkenntnis seiner Größe unser Herz
erweitert werden lassen, dass es nicht so finster und eng bleibe, noch
sich mit nichtigen Dingen abschleppe, sich darüber verwundere und darin
verliere.
Die ewige Kraft und Göttlichkeit des Schöpfers wird aus seinen Werken
unstreitig ersehen; und doch will er lieber durch den Glauben als durch das
Wissen als der Schöpfer aller Dinge erkannt sein.
Die Erkenntnis der Wahrheit Gottes ist ein beständiges Lob Gottes, wie
es ein Maler gern hat, wenn man sein Gemälde, ein Dichter, wenn man seine
Verse, ein jeder Künstler, wenn man sein Werk emsig betrachtet. Das ist
ein fortwährendes Bekennen und Preisen.
Lasst uns preisen den lebendigen Gott, außer dem kein anderer Gott
ist!
Wohl dem, der teilhat an dem Lob Gottes in dieser und noch mehr in jener Welt!
Gottes Lob geht über alles; und die ihn loben, sind eben damit selig.
Wären wir emsiger in dem Lobe Gottes, wir würden in allem besser zurechtkommen,
als wenn wir uns mit unsern Untugenden nur geradezu tragen und schlagen. Auf
solche Weise wird man nicht fertig; aber in dem Lob Gottes wächst die Erkenntnis
der Tugenden Gottes und der Eifer wider alles, was ihnen bei uns entgegen ist.
An dem »Lerne dich selbst kennen!« ist viel gelegen; aber wenn das
»Lerne Gott und Christus kennen!« hinzukommt, dann gibt‘s
erst etwas. Durch dieses wird jenes erst recht lauter und hell. Jenes wird als
eine Zugabe noch gegeben. Wenn man immer nur auf sich sieht, dann hat Gott keine
Ehre davon. Die Vollkommenheit des geistlichen Verstandes geht eben auf die
Erkenntnis des Geheimnisses Gottes und Christi. Die Erkenntnis unsrer selbst
ist dabei auch etwas Notwendiges; sie wird aber in einer viel größeren
und überschwenglicheren Erkenntnis wie ein Tröpflein von einem Strom
verschlungen.
Die Furcht Gottes ist nicht etwas, das Angst bereitet, sondern sie ist ein tiefer
Respekt vor der göttlichen Herrlichkeit, da alle, die im Himmel wohnen,
auch die Engel, in verschiedenem Maße mit tiefer Ehrerbietung die Heiligkeit
des Herrn erkennen und den unendlichen Unterschied zwischen ihm, dem Schöpfer,
und ihnen selbst und allen andern Kreaturen. Dieser Respekt währt in Ewigkeit.
Wo keine Furcht vor Gott im Herzen ist, da steht es nicht gut; aber wer eine
wahre, vom Bösen abhaltende Furcht Gottes in sich hat, der darf es mit
dem seligen Lob Gottes halten, auch wenn es nur ein Kind wäre.
Das ist die rechte Art der Bekehrung, daß man anfängt, Gott die Ehre
zu geben, und wenn man die Macht Gottes erfahren hat, nicht bei der Furcht stehen
bleibt, die man sonst auch bald wieder vergisst. Wo die Furcht rechtschaffen
ist, da kommt es weiter, dass man Gott Ehre gibt und erkennt, man habe
unrecht und Gott habe recht. Da behauptet Gott seine unumgängliche Ehre,
und dem Menschen wird wohl geraten.
Öffentlich verteidige die Ehre Gottes, dann wirst du wohl bestehen!
Gott allein ist der Ehre wert, und an ihm ist nichts Verächtliches. Der
Gottlose hält in allen seinen Sachen Gott für nichts. Auch manche
Leute, die sonst Gott zu ehren scheinen, haben doch keine rechte Achtung vor
ihm. Es ist eine unumgängliche Pflicht, Gottes Ehre auf alle Weise zu fördern.
Gott ist nicht schuldig, es zu erwidern; aber er bezeugt sein gnädiges
Wohlgefallen daran und verheißt, er wolle den wieder ehren. Die Ehre,
die Gott einem Geschöpf erweist, ist etwas Unvergleichliches; die Ehre,
die ein Geschöpf seinem Schöpfer erweisen kann, ist etwas sehr Geringes.
Aus: Johann Albrecht Bengel: In der Gegenwart Gottes.
Bekenntnisse und Zeugnisse S.32-33
Zeugnisse der Schwabenväter, Band VII, Verlag Ernst Franz, Metzingen
Gottes
Regierung und Gerichte
Alles ist in der Hand Gottes. Es mag in der Welt noch so toll, grausam und jämmerlich
durcheinandergehen, so soll doch niemand denken, Gott habe auf seine Regierung
verzichtet. Es hat alles seine Zeit. Das Böse steigt sehr hoch, und hernach
muss es selbst zu seiner eignen Vertilgung dienen.
Es nimmt die Bosheit der Menschen je und je zu, bis Gott mit seinen Gerichten
eingreift. Da läßt es ein wenig nach; bald aber nimmt es wieder zu,
bis wieder ein Eingreifen Gottes erfolgt. Es ist, wie wann die Frösche
ein wenig erschreckt werden. Sie fangen aber bald wieder an, sich nach und nach
hören zu lassen. Damit hat man den Schlüssel zu allen Historien.
Jetzt können sich die Menschen in Gottes Wege nicht finden. Sie meinen,
es solle nicht so sein; wenn sie Meister wären, dann sollten die Bösen
ihre Ungerechtigkeit und Gewalttätigkeit nicht so hoch und so lang treiben.
Das Gericht wird zu seiner Zeit gehalten und Gottes Gerechtigkeit vollkommen
erweisen.
Wo man den rechten Sinn des Christentums verliert, da sündigt man hernach
auch gegen die ersten Grundsätze der Moral. Die Bosheit der gegenwärtigen
Zeit muß man nicht nur als natürlichen fleischlichen Sinn ansehen;
es ist vielmehr teuflische Bösartigkeit dahinter.
Wie gering, dürftig und abgeschmackt kommt mir alles Tun der Menschen vor,
wie klein auch das Tun der Auserwählten in diesem Leben! Ein wenig Gehorsam,
ein williges Annehmen dessen, was uns Gott geben will, ist alles und alles.
Und doch achtet es Gott.
Torheit ist es, daß die Menschen sich so brüsten und sich gegen den
allmächtigen Gott auflehnen. Was sich wider ihn erhebt, das läuft
an.
Das beste ist, sich der Regierung Gottes zu überlassen. »Allein das holde
Vaterherz ist, was uns hilft aus allem Schmerz«.
Gottes Gerichte haben ihre heilige Ordnung, und wo das Böse sich in den
Weg legt, da lässt er es sein Maß erfüllen, und das Gute
muss einen Umweg nehmen, bis es hernach dennoch die Oberhand gewinnt und
den Platz allein behält.
Wo der Mensch nicht nachgibt, sondern sich versteift und trotzt, da gibt Gott
auch nicht nach, und in solchem Streit kommt der Mensch zu kurz; er wird darüber
aufgerieben.
Es bleibt nichts ungerichtet. Hierin liegt ein großer Beweggrund zur Geduld
gegen die Feinde; denn alles, was die Menschenkinder in diesem Leben tun, kommt
vor das Gericht Gottes. Da haben die, die sich schuldig machen, nur zwei Wege
vor sich:
Entweder kommen sie zur Buße und zur wahren Abbitte, oder sie fallen ohne
meine Rache der Rache Gottes anheim. Wer sich selber rächt, vergreift sich
an den göttlichen Majestätsrechten.
Aus: Johann Albrecht Bengel: In der Gegenwart Gottes.
Bekenntnisse und Zeugnisse S.73-75
Zeugnisse der Schwabenväter, Band VII, Verlag Ernst Franz, Metzingen
Über
den Tod und den Zustand nach dem Tode
Das menschliche Leben ist ein beständiger Streit mit dem Tod; es fehlt
den Menschen ständig etwas. Es ist daher auch besser, wenn man in gesunden
Tagen sich zu Gott schickt; wenn man es bis auf das Totenbett anstehen läßt,
kann man nur schwer zum Zeugnis eines freiwilligen Geistes durchkommen. Man
muß sich immer in seinem Herzen beschuldigen lassen, wenn du gesund wärest,
so würdest du es nicht so machen.
Es gibt einfache Leute, die können ihren wahren Grund, den sie aus Gott
in sich haben, nicht ausdrücken, weil sie nicht von Jugend auf dazu angeleitet
worden sind. Der Grund zeigt sich oft erst im Sterben; er bleibt nicht ganz
verborgen. Ein Kind Gottes wird nicht leicht unerkannt abscheiden.
Einen Sterbenden, der schon so gar nahe bei der Ewigkeit ist, vergleiche ich
mit der Mündung eines Flusses, der in das Meer fließt, wobei man
fast nicht mehr unterscheiden kann, welches das Wasser des Flusses oder welches
das stehende Wasser des Meeres ist.
Es geschieht manchmal, daß Menschen, auch wenn in natürlicher Weise
die Lösung des Bandes nun vor sich zu gehen scheint, nicht sterben können,
und zwar nicht aus natürlichen Gründen, sondern weil sie noch in Unversöhnlichkeit
beharren. Sobald der Beleidigte ein Wort des Friedens verlauten läßt,
erfolgt auch die Lösung des Bandes. Diese Möglichkeit muß man
sich bei Sterbenden fein einfallen lassen.
Wenn sich bei Gelegenheit eines Sterbens die Ewigkeit öffnet, dann werden
dessen auch andere, zum Beispiel die Umstehenden, mit Freude, Trost, Schrecken
und Angst inne.
Man mag den Tag Christi so nahe setzen und die Bestimmung dieses Tages so ungewiß
machen, als man wolle, so ist es doch auch nur in Betrachtung des Textes Offenbarung
20 etwas Unzweifelhaftes, daß allen, die zu dieser Zeit leben, die Auflösung
des irdischen Hauses dieser Hütte bevorstehe. Daß aber dies den Gläubigen,
besonders seitdem Christus gestorben und auferstanden ist, keine fürchterliche
Sache sein soll, ist eben so richtig. Man erwäge die Stellen: Johannes
11, 16; 1. Korinther 15, 2; 2. Korinther 4, 7—5, 10; Philipper 1, 20.
21; 1. Thessalonicher 6, 13—18; 2. Thessalonicher 3, 3; Hebräer 12,
23 und Offenbarung 7, 9—17; 14, 13. Einem Chemiker ist es etwas Leichtes,
eine einzige Masse aus einer Gestalt in die andere zu verwandeln; wie vielmehr
sollten wir uns der allmächtigen Hand des getreuen Schöpfers überlassen,
wenn er uns alle Tage zerstäuben und wieder lebendig machen wollte. Warum
sollten wir es denn für etwas Schweres halten, ihm unsern Geist ein einziges
Mal in die Hände zu befehlen. Es bedarf dazu nicht einmal einiger Sterbekunst.
Ein Kind, das sich schlafen legen läßt, hat dazu keine Kunst nötig.
Er lege mich zur Ruhe, wann es ihm gefällt. Seine große Ökonomie
wird dennoch in ihrem Gang fortfahren. Schlafe ich hier ein, so wache ich an
einem bessern Ort auf, und der Leib wird nicht zurückbleiben (Röm.
8, 11).
Man kann nicht sagen: Ein Wachender weiß, woran er ist, ob ihm wohl oder
wehe ist, mithin weiß es auch ein Schlafender oder Träumender; er
kann auch aus dem Gegenteil der Beschaffenheit bei den Wachenden darauf schließen.
Das gilt auch für die seligen und unseligen Toten. Es gibt überaus
viel verschiedene Stufen. Viele, die selig werden, wie zum Beispiel die schönen
Scharen, die in der Offenbarung genannt werden, bekommen ihr gutes Teil sogleich
in völliger Richtigkeit. Es werden auch viele von denen, die verloren gehen,
bald inne, wie übel es um sie steht; aber nicht alle, die noch endlich
errettet werden, werden gleich nach dem Tode wissen, woran sie sind. Nicht alle,
die verloren gehen, werden sich gleich nach dem Tode davon überzeugen lassen,
sondern manche werden sich noch immer mit einer träumenden Hoffnung schmeicheln.
Es bleibt überaus viel auf jenen großen Tag aufgespart, der der Tag
Christi, der Tag Gottes und der letzte Tag heißt. Was ist nur dies Eine
für eine große Wohltat für einen wackeren Gläubigen, daß
er gleich nach dem Tode weiß, woran er ist, da es ja nach 1. Johannes
2 andere gibt, die erst an jenem Tag in seinem Gericht zuschanden werden.
An die Stelle Matthäus 7, 22 denke ich oft seit langer Zeit. Es werden
nicht viel Weissager, Teufelaustreiber und Wundertäter an jenem Tage lebendig
angetroffen werden; und deswegen geht die Stelle wenigstens ebensowohl auf solche,
die indessen sterben. Recht wackere Seelen sind von ihrem Abscheiden an selig,
mehr als sie es im Leibesleben waren. Überaus böse Seelen kommen durch
ihren Tod in die Flamme; beides ist zu sehen in der Geschichte von Lazarus und
dem reichen Mann. Eine große Menge bleibt meines Erachtens im Zwischenzustand,
bis sie an jenem großen Tag erst erfahren, woran sie sind, wie denn das
Gericht, dessen in Hebräer 9, 27 gedacht wird, nicht nach dem Tod des einzelnen,
sondern bei der Erscheinung Christi gehalten wird. Mithin kann eine falsche
Hoffnung und Anmaßung bei Heuchlern noch bis dahin bestehen bleiben, was
schrecklich ist. Deshalb ist es gut, den Eingang in das ewige Reich so zu suchen,
daß es ein reichlicher Eingang sein möge.
Wenn man alle Stufen der Heiligung in diesem Leben annimmt, und eine Seele auf
der höchsten Stufe betrachtet, zu der man es in diesem Leben bringen kann,
so ist sie doch nur wie Hefe gegen den Geist des Weines. In der Hefe liegt schon
der Geist; aber der Bodensatz muß vorher abgezogen werden. So muß
auch, obwohl der Wille frei und siegreich ist, eben der Leib der Sünde
erst durch den Tod abgestreift werden.
Die Verstorbenen überläßt man dem Willen Gottes. Luther hat
gesagt, daß man etwa ein paar Mal für sie beten könne; aber
auch dies hat keine Verheißung.
Bei den Christen werden die Toten so begraben, daß sie mit ihrem Angesicht
der aufgehenden Sonne entgegensehen. Das kommt von den Juden her, die im Leben
ihr Angesicht nach Jerusalem wenden; daher stehen auch alle Kirchentüren
regelmäßig gegen Westen, damit der, der hineinkommt, ohne sich umzuwenden
die Gegend vor Augen habe, wohin er sich im Beten wendet. Die Lage der Toten
ist ein feiner Hinweis auf die künftige Auferstehung; denn es ist glaubhaft,
daß Jesus sich wieder vom Osten her werde einstellen, gleich wie er gen
Osten vom Ölberg aufgefahren ist.
Wegen der Erscheinungen nach dem Tode mache ich die Wahrnehmung, daß sie
meistens ihre gesetzten Zeiten haben und hernach aufhören. Sie währen
etwa so lange, bis alle Verbindungen der Seele mit dem Leib vollends aufgelöst
sind. Es ist etwa wie bei einer Festung, bei der man, wenn man sie verlassen
sollte, verschiedene Mauertore passieren muß. Allerdings geschieht die
Lösung der Seele vom Leib gleichsam augenblicklich.
Man kommt bei Gespenstern, deren es in Wahrheit mehr gibt als man denkt, am
besten durch, wenn man seiner Wege geht und es außer acht läßt,
nicht vorwitzig ist, nicht begehrt, sie zu stören oder aufzusuchen, auch
nicht allzu sehr erschrocken ist, sondern tut, als wenn sie nicht da wären.
Wenn wir wüßten, wie die unglücklichen abgeschiedenen Seelen
das Leben in dieser Zeit so wertvoll achteten, während sie nun das Gegenteil
erfahren, so würden wir uns nicht vor ihnen fürchten, zum Beispiel
vor Gespenstern.
Die Liebe hoffet alles. Warum aber gerade bei den Toten, dass sie selig
seien? Kann es nicht ebensowohl Liebe sein, die befürchtet, daß sie
möchten verlorengegangen sein?
Es gibt keinen dritten Zustand der Seelen, so wenig es zwischen Ja und Nein
ein Drittes gibt; aber der Orte sind nicht nur drei, sondern Tausende.
Von dem Augenblick, in dem eine Seele angetroffen wird, wenn sie ihren Leib
verlassen soll, hängt ihr Zustand in alle unaufhörliche Ewigkeit ab.
Der Augenblick des Abscheidens aus dieser Welt gibt auch die Entscheidung ab über unsern Zustand in alle Ewigkeit. Die ich dem lieben Heiland ganz ergeben
haben, kommen gleich nach ihrem Tode zu ihrem Herrn.
Wenn man meinte, der Tod bringe für sich selbst auf natürliche Weise
dem Menschen eine Verbesserung, so wäre das grundfalsch. Dann wäre
ein Pelagianismus auch in der Ewigkeit. Nein, der Leib geht in Verwesung über;
und die Seelen, die hier in eigner Macht alles haben durchsehen und ausecken
wollen, werden hernach mit einem jämmerlichen Durst nach Wissen geplagt
werden und sich je länger, je tiefer in ihre eignen Einfälle verwickeln.
Für die Zeiten des Alten Testaments, da der Artikel von der Schöpfung
noch im Schwange ging, kann man‘s eher gelten lassen, daß die, die
Gott nach ihrer Erkenntnis gefürchtet und gedient haben, seien gerettet
worden, als für die Zeit des Neuen Testaments, da das Evangelium geoffenbart
worden ist.
Das muss eine große Weisheit Gottes sein, so viele Seelen auseinander
zu lesen, die Geister zu wägen und keinem irgendein Unrecht zu tun. Wann
man den unscheinbarsten Menschen aus dem Haufen der Auserwählten und dagegen
den bekanntesten Menschen unter den Verworfenen gegeneinander gestellt zu sehen
bekäme: was würde man sehen?
Ein besonderer Teil der Qual der Verworfenen wird die Langweile sein, die sie
in der ewigen Finsternis ohne irgendeine Abwechslung haben werden, und die sie
nicht durch allerhand Uhren verkürzen oder nur einigermaßen unterscheiden
können. Die Sünden der Gläubigen werden auch am Jüngsten
Tage offenbar werden, aber nicht als abzuurteilende Sachen, sondern einfach
als Tatsachen, sofern sie mit den guten Werken oder mit den Sünden der
Ungläubigen in Verbindung stehen und je nachdem das eine durch das andere
erläutert und vergrößert oder gemildert und aufgehoben wird.
Das Offenbarwerden nach 2. Korinther 5 wird durch andere Stellen, zum Beispiel
Hesekiel 18, nicht aufgehoben. Adam ist ohne Zweifel selig geworden, und dennoch
wird sein Fall in Ewigkeit bekannt bleiben. Die Sünden Davids, des Petrus
u. a. sind ihnen schon lange erlassen und doch erst danach in die Heilige Schrift
gesetzt worden, worin sie noch immer stehen. Sie werden aber im Gericht nicht
als begangene, sondern als bereute und getilgte Sünden vorkommen. Auf diese
Weise wird die Pünktlichkeit der Vergebung hervorleuchten. Die Sünden
der Auserwählten werden ewiglich ein Gegenstand der göttlichen Allwissenheit
sein; und das allein hat mehr zu sagen, als wenn alle Kreaturen sie ewiglich
vor Augen hätten, geschweige denn an dem einen Gerichtstage. Sie selbst
werden auch ewiglich erkennen, wie viel ihnen vergeben sei. Lasterhafte Leute
halten oft ihre Greuel nicht geheim. Verzweifelte sagen alles heraus. Viel mächtiger
ist die Gnade: denn das Wort Gottes scheidet Seele und Geist. Die Scham über
begangene und vergebene Sünde ist in der Seele, nicht im Geist. Wir schämen
uns dessen am meisten, was gegen die Zucht ist; von Rechts wegen sollte man
sich anderer Sünden weit mehr schämen. Dies würde dereinst geschehen,
wenn dann noch Scham statthätte. Doch wird man nicht sagen dürfen,
daß alle Fehler aller auch allen, auch den Verfluchten, klar und deutlich
eröffnet werden. Im Licht ist alles deutlich; aber nicht alle sehen wirklich
alles. Wen ich liebe wie mich selbst, der darf alles von mir wissen, was ich
von mir selbst weiß. Es wird uns noch vieles vergeben, bis wir dahin gelangen.
Im Alten Testament war nicht nur ein Durchgehenlassen, sondern sogar Vergebung
der Sünden; doch war freilich ein Unterschied zwischen dem Zustand nach
dem Tode bei den Gläubigen im Alten und im Neuen Testament. Die Gläubigen
des Alten Testaments waren nach dem Tode in der Ruhe; doch war der Schuldherr
noch nicht befriedigt. Das Gleichnis vom Schuldherrn macht die Sache ziemlich
deutlich: Wenn ein Gläubiger den Schuldner gehen läßt und sein
Recht an ihm nicht geltend macht, dann heißt dies paresis (Durchgehenlassen). So machte es Gott mit denen im Alten Testament, wenn er die Schuldner so hingehen
ließ, obwohl er noch nicht befriedigt war. Ja, es war bei den Gläubigen
noch etwas mehr dabei; sie erlangten auch Erlass der Sündenschuld,
das ist, wenn ich das Bild etwas weiter ausführe, der Gläubiger ließ
sie als Schuldner nicht nur ohne Urteilsvollstreckung hingehen, sondern auch
frei ausgehen nämlich so, wie ein Schuldner von dem Gläubiger freigelassen
wird, wenn der Bürge die Schuld übernimmt. Der Bürge ist Christus
und von ihm forderte dann Gott der Menschen Schuld und ließ den Schuldner
gehen. Als nun Christus mit seinem Tode bezahlte und die Freilassung geschah,
wird ohne Zweifel, wie in allen Dingen eine große Veränderung vorgegangen
ist, auch bei den Gläubigen des Neuen Testaments eine Verbesserung eingetreten
sein. Sie dient zur Ehre Christi und ist überaus glaubhaft. In dem Augenblick,
da Christus verschieden ist, werden erstaunliche Dinge geschehen sein!
Obgleich wir das, was uns in der Schrift meist fast nur beiläufig über
die Herrlichkeit des zukünftigen ewigen Lebens gesagt wird, nicht verstehen,
so sollen wir es doch festhalten. Wenn einer einen Schatz von großem Wert,
zum Beispiel einen Edelstein, findet und nicht sogleich weiß, ihn nach
Würden zu schätzen, so schadet es ihm nicht, wenn er ihn nur nicht
in unbesonnener Weise weggibt oder umtauscht. Zu gegebener Zeit freut er ihn
desto mehr.
Gold, Perlen, Edelsteine können im himmlischen Neuen Jerusalem den Dingen
dieser Welt gleich aussehen und doch himmlischer Stoff sein. Die Stadt liegt
auf einem Berge, der vielleicht der einzige auf der Neuen Erde und folglich
fast auf der ganzen Erde sichtbar ist und wiederum weit und breit die Aussicht
bietet.
Dem Los in der heiligen Stadt nachzudenken, hält mich eine billige Scheu
ab. Was mir ungesucht bei meiner Zurückhaltung begegnet, das fange ich
ehrerbietig auf und bleibe fast nicht länger dabei stehen, als bis ich
es andern vorgelegt habe. Auf solche Weise sind mir meist die Fächer der
großen Dinge vor die Augen gekommen; aber die Dinge selbst werden sich
noch nicht so leicht auseinanderlesen lassen. Hinsichtlich der Bürger der
Stadt wehre ich meinen Augen das Umherschweifen, und ein jeder läßt
es für sich am sichersten auf die Verschwiegenheit des guten Herrn ankommen.
Doch kann es Sünden geben, die einer bei einem sonst nahen Hingang zu tragen
haben wird (Hes. 44, 10).
Wie nahe bin ich der Ablegung meiner schwachen Hütte! Wie kann ich manches
schon mit dem Rücken ansehen, das mir unlängst noch wohl in den Augen
und unter den Händen war! Der Herr bringe uns zu sich!
Aus: Johann Albrecht Bengel: In der Gegenwart Gottes.
Bekenntnisse und Zeugnisse S.75-82
Zeugnisse der Schwabenväter, Band VII, Verlag Ernst Franz, Metzingen
Von
der Macht und den Grenzen der menschlichen Vernunft
Die Vernunft ist eine edle, vortreffliche, unschätzbare Seelenkraft, womit
der Mensch göttliche und natürliche Dinge in und außer sich
»vernimmt«; sie ist aber mir jämmerlicher Verderbnis behaftet
und durchdrungen und nicht nur sehr großer Unwissenheit, sondern auch
manchem Zweifel und Irrtum unterworfen. Trotz solcher Verderbnis behält
der Mensch dennoch einen großen Vorzug, und wegen der Vernunft ist er
doch kein Ross oder Maultier, sondern ein Mensch, so dass ihm das,
was ihm zu vernehmen zukommt, nicht unbekannt ist oder bleibt.
Die Dinge, welche die Vernunft vernimmt, sind viel und vielerlei. Es stellt
sich ihr dar (und kann von ihr erkannt werden):
1. der unsichtbare Gott, seine hohen Eigenschaften, seine Werke und Wohltaten
an allen Geschöpfen, die dankbare Verehrung, die der Mensch ihm deswegen
schuldig ist,
2. Geister, die unter Gott stehen, gute und böse,
3. die Seele und ihre Verbindung mit dem Leibe,
4. die Vernunftlehre selbst, mit deren Hilfe die Vernunft es in der Untersuchung
und Verteidigung ihrer Erkenntnis immer weitertreibt, ebenso die Sprachen und
die Disziplinen (Lehrfächer), die zu einem geschickten Vortrag dienen,
5. die natürlichen sichtbaren Dinge samt und sonders mit ihrer Bewandtnis,
Zahl, Maß, Gewicht, Bewegung, Wirkung usw., wovon die Mathematik, Physik,
Medizin und unzählbare Künste handeln,
6. der Unterschied dessen, was ehrlich oder schändlich ist, es sei zu tun
oder schon getan, wie auch die Unterscheidung dessen, was für einzelne
Menschen oder kleine und große Gesellschaften nützlich oder schädlich
ist,
7. allerlei Geschichten,
8. die Zeugnisse der Heiligen Schrift von der Heiligen Dreieinigkeit, von dem
Mittler, von der Heilsordnung, von den Sakramenten, von den letzten Dingen,
von vielen Geheimnissen, die den klügsten Heiden nicht bekannt sind.
Etliches hiervon vernimmt die Vernunft von selbst, wozu auch das gehört,
was ein Heide aus der Heiligen Schrift nähme, wenn er sie nicht für
ein göttliches, sondern für ein menschliches gutes Buch ansähe;
etliches aber vernimmt sie aus der Heiligen Schrift durch den Glauben. Bei diesem
zweiten ist die Vernunft nur das Werkzeug, bei jenem ersten aber der Grund,
das heißt das zweite wird nur durch die Vernunft, das erste aber auch
aus der Vernunft erkannt. Manches vernimmt sie einigermaßen von selbst,
aber auch dieses viel mehr aus der Heiligen Schrift, und da ist sie viel mehr
Werkzeug als Grund. Hierher gehört, was oben Satz 1 bis 3 angeführt
ist. Wie weit es in diesem Fall die Vernunft für sich allein bringen kann,
ist bei dem größeren Licht der Heiligen Schrift nicht festzustellen,
wie man bei hellem Sonnenschein nicht ermessen kann, wie weit eine Laterne leuchtet.
In der Untersuchung der natürlichen, materiellen Dinge kann die menschliche
Vernunft, die Klugheit, die Emsigkeit und die Erfahrung weit kommen; und daraus
entsteht im gemeinen Leben viel Nutzen, aber auch durch den Mißbrauch
nicht wenig Schaden. Der höchste Nutzen, den man aus der Vernunft schöpfen
kann, ist die Erkenntnis von dem Schöpfer aller Dinge und von seiner Vorsehung.
Auch liegt von Natur einige Unterscheidung des Guten und Bösen in dem Herzen
und Gewissen des Menschen.
In den Stücken, da die Vernunft selbst Grund der Erkenntnis ist wie in
der Mathematik, der Natur- und Vernunftlehre, soll man der sogenannten neuen
Philosophie, um die so stark gestritten wird, all ihren Vorzug lassen; aber
in anderen Stücken muß die rechte Weise mit göttlichen Dingen
umzugehen mit aller Sorgfalt gewahrt werden, und wenn man die Vernunft da, wo
sie nur Werkzeug sein kann, zum Grund oder zur Richtschnur macht, da ist man
auf dem Abwege, von dem wir reden.
Aus: Johann Albrecht Bengel: Das Wort des Vaters rede
du! Ausgewählte Schriften, Predigten und Lieder S.35-37
Herausgegeben und mit Einführung und Anmerkung versehen von Dr. theol.
J. Roessle
Zeugnisse der Schwabenväter, Band VI, Verlag Ernst Franz, Metzingen
Fortsetzung