Erich Becher (1882 – 1929)

 

Deutscher Philosoph, der in Bonn u. a. Mathematik, Physik und Philosophie studiert hat. Mills ulitaristischem Empirismus beeindruckte Becher zwar »tief«, allerdings ohne ihn »ganz zu befriedigen«. Unter dem Einfluss der mechanistischen Richtung in der Biologie, seines Lehrers Erdmann und seines philosophischen Lieblingsschriftstellers Fechner wurde er »überzeugter Parallelist«. Seinen hohen logischen Ansprüchen, die er sich in seinem Mathematikstudium »in bezug auf Beweisen und Begründen von Behauptungen« erworben hatte, »wurde Nietzsche ganz und gar nicht gerecht«.
Nietzsches »Lehren vom Willen zur Macht, von der ewigen Wiederkehr usw. erschienen mir unbewiesen und unbeweisbar, seine antisoziale Richtung widersprach schroff meinen ethischen Überzeugungen und Idealen, seine Maßlosigkeiten stießen mich ab. Mit der Idee einer Höherentwicklung des Menschen war ich sehr einverstanden; sie ergab sich mir aus meinen darwinistischen und eugenistischen Ansichten. Indessen erstrebte ich einen wesentlich anderen Übermenschentypus als Nietzsche, einen Typus, dessen wesentliche Eigenschaften Vernunft und Liebe sind«.
Becher ist der Auffassung, dass sich sowohl in der materiellen Weltentwicklung als auch der psychischen Realität des menschlichen Daseins - von den primitiven Anfängen bis zu den höchsten Leistungen der Kultur - eine überindividuelle »pandynamistische« und »panpsychische« seelische Kraft betätigt.

Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis
Die Realität der Außenwelt, Das Leib-Seele-Problem, Pandynamismus und Panpsychismus

Die Realität der Außenwelt
Die Dinge-an-sich, die Außenweltskörper, werden von uns aus ihren Wirkungen erschlossen. Sie stellen also Wirkungsfähigkeiten, Kräfte bzw. Kraftkomplexe dar. Damit ist eine dynamistische Naturauffassung angebahnt (die jedoch nicht zu einer energetischen gestaltet zu werden braucht). Die Bausteine der Materie, die Elektronen usw., sowie die von ihnen ausgehenden Felder erscheinen so als eigentümliche Gefüge von Kräften, die materielle Welt als ein ungeheurer, gesetzmäßig geordneter Kräftekomplex.

Ist die Existenz und Erkennbarkeit von bewußtseinstranszendenten Außenweltskörpern gesichert, so ist die Erkenntnis des Fremdseelischen leicht zu begründen. Hinter den Wahrnehmungen meines Leibes und des Leibes eines Mitmenschen stehen gleichartige Außenweltskörper. Wenn nun mit meinem Leib, seinen Organen und Funktionen ein Seelenleben verbunden ist, so wird auf Grund der Regel- und Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung, oder, wie wir auch sagen können, auf Grund eines Analogieschlusses auch zum Leibe des Mitmenschen ein zugehöriges Seelenleben anzunehmen sein. Direkt oder indirekt werden so leibliche Organe (Sinnes-, Nervenorgane), Funktionen (Lachen, Sprechen, Schreiben, Bauen) und Produkte solcher Funktionen (Tränen, Schriftstücke, Bauten) zu physischen Zeichen für Fremdseelisches. Die Benutzung dieser Zeichen, die »Methode der physischen Zeichen« ist neben der Selbstwahrnehmung die grundlegende und Hauptmethode der Geisteswissenschaften, der Psychologie wie der Kulturwissenschaften.

Auch die Annahme von unbewußtem Seelischen stützt sich auf die Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung und das Kausalprinzip. Diese Annahme ergibt sich am einfachsten aus Gedächtniserscheinungen; durch den Psychovitalismus wird sie sehr weit ausgedehnt.

Das Leib-Seele-Problem
Unsere erkenntnistheoretischen Darlegungen haben uns mehrfach an die Grenze der Metaphysik geführt. Diese hängt in der Tat mit der Erkenntnistheorie eng zusammen und muß sich auf sie stützen. Metaphysik ist die Wissenschaft, die das Gesamtwirkliche sowie Wirklichkeitskomponenten als Teile des Gesamtwirklichen erforscht. Da das Gesamtwirkliche aus Physischem und Psychischem zusammengesetzt erscheint, dürfte das Leib-Seele-Problem in das Zentrum der Metaphysik hineinführen.

Von den verschiedenen Leib-Seele-Hypothesen scheitern die streng materialistischen daran, daß unmittelbar wahrnehmbaren seelischen Objekten, z. B. Gefühlen, die wesentlichen Merkmale körperlicher Dinge und Vorgänge fehlen. Die verschiedenen parallelistischen Hypothesen werden mehr oder weniger erschwert durch den Umstand, daß die Struktur des uns bekannten, bewußten Seelischen von der des Gehirns und der Gehirnvorgänge sehr verschieden erscheint. Manche Formen der Wechselwirkungslehre werden der innigen Verbindung des Seelischen mit dem Körperlichen nicht gerecht. An ehesten befriedigt mich eine Form der Wechselwirkungslehre, die mit dem Parallelismus anerkennt, daß alle unsere seelischen Vorgänge mit leiblichen verbunden sind, abweichend vom Parallelismus aber annimmt, daß leibliche Vorgänge seelische hervorrufen und beeinflussen, und daß diese seelischen Vorgänge die körperlichen im Bahnnetz des Gehirns zweckmäßig leiten. Diese Annahme, daß das Seelische Hirnvorgänge führend beeinflußt, ist auch durch speziellere Erwägungen (vgl. das oben über psychistische Gedächtnishypothesen Gesagte) nahegelegt. Sie wird durch das komplizierte Leitungsnetz der Hirnbahnen suggeriert, in welchem sich doch wohl nichtgeführte »blinde« materielle Prozesse verlaufen und zerstreuen müßten. Sie entspricht der sich schon im täglichen Leben aufdrängenden Auffassung, daß dem Seelischen eine Führerrolle beim Tun und Lassen von Mensch und Tier zukommt. Endlich spricht zu ihren Gunsten, daß seelische Einwirkungen, die einen leitenden, führenden Einfluß auf körperliche Vorgänge ausüben, mit dem Energieerhaltungssatz durchaus vereinbar wären. Übrigens schließen auch die besten Atwaterschen Versuche minimale Störungen des Erhaltungsprinzips in unserem Gehirn nicht aus, und wenn dies Prinzip infolge der Wechselwirkung in unserem Leibe seine strenge Gültigkeit verlieren sollte, so wären bei der Lage der Dinge von vornherein nur äußerst geringe Abweichungen zu erwarten.

Pandynamismus und Panpsychismus

Wenn wir das Psychische nicht von der Seite der inneren Wahrnehmung, sondern als im Gehirn wirksamen Faktor betrachten, so erscheint es als Kraft oder Kräftekomplex, der die Hirnvorgänge führend beeinflußt. Sehen wir aber auch in den psychischen Realitäten Wirkungsfähigkeiten oder Kräfte, so erweitert sich die oben angedeutete dynamistische Auffassung der materiellen Welt zu einer solchen der Gesamtwirklichkeit. Dieser Pandynamismus besagt freilich zunächst nur, daß seelische wie körperliche Weltbausteine Wirkungsfähigkeiten repräsentieren.

Wenn nun diejenigen Weltbausteine oder Kräfte, die unserer inneren Wahrnehmung zugänglich sind, sich als psychische Realitäten offenbaren, dann wird dadurch der Gedanke nahe gelegt, daß alle Weltbausteine oder Kräfte, auch die unserer inneren Wahrnehmung nicht zugänglichen, welche die Körperwelt bilden, ihrem An-sich-Sein oder »innere« Wesen nach von seelischer oder dem Seelischen verwandter Natur sind.

Wir kämen so zu einer Art Panpsychismus: Alles Wirkliche ist seinem inneren Wesen nach seelisch oder doch dem Seelischen verwandt; und ferner ergäbe sich, daß das seinem inneren Wesen nach Seelische oder dem Seelischen Ähnliche überall als Kraft sich darstellt, wenn wir es »von außen«, von seiner Wirkung her, erfassen. Diese Formulierung erinnert stark an den psychomonistischen Parallelismus, nach welchem alles Wirkliche seinem inneren Wesen nach seelisch ist, von außen betrachtet aber als körperlich erscheint.

Doch dürfen uns die pandynamistische Betrachtungsweise und die sehr hypothetische panpsychistische Ausdeutung nicht darüber hinwegtäuschen, daß ein Dualismus in unserer Metaphysik bestehen bleibt. Es bleibt der Unterschied der »niederen« Kräfte, die der körperlichen Außenwelt zugrunde liegen, und der »höheren«, körperliche Vorgänge im Gehirn führenden Kräfte, die sich, soweit sie der Selbstwahrnehmung zugänglich sind, als seelische Realitäten offenbaren.

Nahe liegt nun die Frage, warum diese höheren, führenden Kräfte oder Kraftkomplexe sich uns nicht als Körper oder Komponenten von Körpern darbieten. Darauf wird zunächst zu antworten sein, daß Kraftsysteme nur dann Körper darstellen, wenn die Kräfte in geeigneter Weise räumlich zusammengefügt sind. Aus anziehenden und abstoßenden Zentralkräften kann man sich Körper gebildet denken, nicht aber etwa aus gleichgerichteten, überall in der Kraftrichtung gleich starken Kräften. Damit ist unsere Frage freilich nicht abschließend beantwortet; sie hängt eng mit der Frage zusammen, was den Raumbeziehungen in der Außenwelt zugrunde liegt. Dies Problem bietet vielleicht einmal Anlaß zu weiteren metaphysischen Untersuchungen.

Sehr bemerkenswert erscheint im Zusammenhang mit den skizzierten Gedankengängen die psychovitalistische Hypothese, welche in seelischen Realitäten, die im Organismus mit den physikalischen und chemischen Faktoren zusammenwirken, die eigentlichen Lebensprinzipien erblickt. Der Unterschied des Lebendigen vom Toten beruht nach dem Psychovitalismus darauf, daß in jenem Seelisches weilt und wirkt; wo Leben ist, da ist auch Beseelung. Für die Annahme, daß alle lebende Substanz, etwa alle Zellen und Organe, beseelt seien, lassen sich mancherlei Analogie-, Kontinuitäts- und Entwicklungsbetrachtungen geltend machen
. S.36ff.
Aus: Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Mit einer Einführung herausgegeben von Dr. Raymund Schmidt
Erster Band: Paul Barth / Erich Becher / Hans Driesch / Karl Joel / A. Meinong / Paul Natorp / Johannes Rehmke / Johannes Volkelt. Leipzig / Verlag von Felix Meiner / 1921