Paul Barth (1858 – 1922)
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Deutscher
Philosoph und Philologe, der sich insbesondere um die sittliche
Erziehung der Jugend im Zeitalter des naturwissenschaftlichen Materialismus Gedanken machte. Barth vertrat die Meinung , dass der Philosoph »neben
den Priester der Religion treten« und »durch das Licht des Gedankens
Klarheit Trost und Vertrauen in die Gemüter bringen« und »wie
einst Fichte« lehren soll, »dass des Menschen Wesen Tätigkeit
ist«. So sollen »Wissenschaft und Arbeit« den Menschen »erlösen von der mannigfachen Not«, die ihn »drückt«. Siehe auch Wikipedia |
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Religiöse
und ethische Erziehung
Eine besonders bedeutsame Frage ist diejenige der sittlichen Erziehung der Jugend. Kein Zeitalter war in dieser Beziehung in einer
schwierigeren Lage als das unsere. Die moralische Unterweisung ist leicht in
einer Gesellschaft, in der Einhelligkeit der Welt- und Lebensanschauung aller
ihrer Mitglieder herrscht. Die Jugend empfängt dann die sittlichen Gebote
mit der durch diese Anschauung gegebenen Begründung, die im weiteren Leben
nicht durch Widerspruch aus der Umgebung erschüttert wird. Anders in unserer
Gesellschaft. Sie ist in bezug auf die Weltanschauung sehr disharmonisch.
Die alten Konfessionen, die Nachklänge der »natürlichen
Religion« (des Glaubens an Gott, Unsterblichkeit und jenseitige Vergeltung),
der naturwissenschaftliche Materialismus, der sogenannte
»historische« Materialismus, von dem
oben die Rede war, die aus der Biologie entstandene Entwicklungslehre, alle
diese Ansichten erheben ihre Stimmen um die Jugend bald hierhin bald dorthin
zu ziehen. Die offizielle Schule aber begründet die Lebensregeln immer
noch wie im 16. Jahrhundert auf die Dogmen der Konfession.
Diese haben nur in denjenigen Teilen Deutschlands Leben und Wirksamkeit, die
bei der landwirtschaftlichen Produktion, darum bei der alten Lebensordnung,
Religiosität und Sitte geblieben sind. In den industriellen Gegenden aber,
in denen mit neuer Arbeitsmethode und neuer Lebensweise auch neue Ideen aufgekommen
sind, wird die von der Schule mitgebrachte Dogmatik bald durch die kritischen
Stimmen der Umgebung entwurzelt, ein neuer, oft sehr unklarer
Glaube an diesseitige Ziele pflanzt sich ein oder auch gar keiner, so
dass der jugendliche Mensch gerade in der gefährlichen Zeit des Jugendübermutes
eines leuchtenden und leitenden sittlichen Ideals ermangelt.
Darum halte ich es für unerlässlich, dass die sittliche
Erziehung auf einen anderen Grund gestellt werde.
So sehr die theoretischen Ansichten auseinandergehen, gewisse menschliche Tugenden wagt doch keine Partei zu verwerfen. Wenn die eine Partei gegen sie fehlt, so
schiebt sie die Schuld auf die anderen, die sie dazu genötigt haben, aber
sie wagt nicht, sich ihrer Schuld zu rühmen. So kann man also ein ethisches
System aufstellen, von dem man nicht zu fürchten braucht, dass es künftig
aus der Seele des Kindes herausgerissen werde. Aber jede Ethik muss auf
einer Weltanschauung ruhen, die ihre Gebote begründet. Die
religiöse kann es jetzt nicht, da sie nicht über alle Gewalt hat;
bleibt also die wissenschaftliche, die Philosophie.
Man wird sofort einwenden: Es gibt kein allgemein verpflichtendes
ethisches System, sondern so viele, als es philosophische
Systeme gibt. Jeder Philosoph hat seine eigne Ethik. Wem soll der Lehrer
der Moral folgen? Bei näherem Zusehen indessen zeigt sich die Mannigfaltigkeit
geringer, ja sogar eine gewisse Übereinstimmung. Zunächst in bezug
auf die sittlichen Zwecke. Die klassischen Systeme der Ethik sind die der Stoa,
Spinozas, Kants. Alle drei stellen denselben obersten
Zweck auf: den starken Willen und den sozialen Willen.
Diese beiden Zwecke also wird der ethische Lehrer ohne Widerspruch lehren
können. Weiter abweichend voneinander sind die Begründungen, die Antworten
auf die Frage: Warum soll ich ethische Zwecke erstreben,
den ethischen Geboten folgen?
Aber die Vielheit der darauf gegebenen Antworten ist für die Pädagogik
kein Nachteil, sondern eher ein Vorteil. Der Philosoph braucht die Einheit des
ethischen Motivs zur Einheit seines Systems, der Pädagoge aber kann verschiedene
Motive geltend machen, in der Hoffnung, daß, wenn nicht das eine, so das
andere anschlagen wird. Er kann die Kantische Lehre in aller Strenge wiederholen,
dass man das Gute nur um des Gesetzes willen tun soll, er braucht aber
nicht wie Kant das Streben nach Glückseligkeit auszuschließen. Denn
es ist wohl möglich, dass die Pflichterfüllung zugleich unser Glück sei, was Schiller als das Ideal hinstellt. Daneben kann der Lehrer auch darauf hinweisen, dass
die Sittlichkeit dem Entwicklungsgesetze entspricht, also dem Willen der Natur
oder — wie man auch sagen kann dem Willen Gottes gehorcht, die Unsittlichkeit
aber beiden widerstrebt, darum notwendig zur Strafe, zum Unglück führen
muss.
Nur eines muss der Pädagoge vermeiden, nämlich sich widerstreitende
Gründe zu vereinigen. Wenn er den starken Willen
zum Leben (animositas), den Spinoza verlangt, für sittlich hält,
so darf er nicht gleichzeitig Schopenhauers
Verneinung des Willens predigen, die wohl auch
kaum ein Pädagoge in die Schule bringen wird. Und, wenn der Religionsunterricht
mit Paulus die unheilbare Schwäche des menschlichen
Willens, die Folge der Erbsünde lehrte, der Morallehrer aber starken
Willen forderte, so wäre dies ein Widerspruch, den die Schulleitung nach
Möglichkeit vermeiden sollte. Wenn das Dogma der Erbsünde unentbehrlich
ist, dann sollte der Religionslehrer wenigstens auf den starken
Glauben hinweisen, den der Christ haben soll, der schließlich auch
eine Eigenschaft des Willens ist.
Über alle diese Fragen habe ich mich in zwei Büchern ausgesprochen:
»Die Notwendigkeit eines systematischen Moralunterrichts« und »Ethische Jugendführung
(Grundzüge zu einem systematischen Moralunterricht), habe auch selbst einen
Leitfaden des Moralunterrichts für die oberste Klasse der Volksschulen
und für Fortbildungsschulen (»Der Lebensführer«) entworfen. Freilich glaube ich nicht, dass
der Religionsunterricht aus der öffentlichen Schule auszuschließen
sei. Die Religion in ihren höchsten Erscheinungen
ist das Fühlen der ewigen Werte, die die wissenschaftliche, philosophische
Ethik durch Denken und Forschen erreichen will. Die wirklichen religiösen
Heroen sind darum erhabene Gestalten, Vorbilder eines in höherem Stile,
in stetem Gedenken an das Ewige zu führenden Lebens. Und ein vollständiges
Moralsystem selbst wird nie ohne Religion sein. Freilich wird sie nicht seine
Grundlage sein, sondern seine Krönung. Die sittlichen Gebote selbst ergeben
sich aus den Realitäten des Lebens. Wer das Leben will, muss auch
die Sittlichkeit wollen als die höchste Lebenskraft. Wenn aber die Welt
als Ganzes somit auf die Sittlichkeit angelegt ist, so muss ihre Ursache
selbst eine sittliche sein, also eine Gottheit. So kamen Plato,
Shaftesbury, Kant, Goethe,
selbst Spinoza zur Religion. So vereinigt sich zuletzt
das höchste Gefühl mit dem höchsten Erkennen.
Gegenwärtig aber ist das Erkennen auf der Tagesordnung. Wir erleben eine
Weltwende, wie sie wohl früher niemals so schroff erlebt wurde. Der Weltkrieg
hat nicht bloß die europäische Volkswirtschaft zerrüttet, er
hat auch die alten Autoritäten erschüttert, teilweise zerstört.
Nur eine ist unerschüttert geblieben, die Wissenschaft. Sie ist darum der
mächtigste Hebel des Wiederaufbaues. Die Einzelwissenschaften müssen
mehr Fühlung miteinander gewinnen, ihre Zusammenfassung und Krönung,
die Philosophie, muss den Sinn, die Richtung des Lebens bestimmen. Der Philosoph soll neben den Priester der Religion treten. Wie dieser durch
die Offenbarung, soll jener durch das Licht des Gedankens Klarheit, Trost und
Vertrauen in die Gemüter bringen, soll er auch, wie einst Fichte,
lehren, dass des Menschen Wesen Tätigkeit ist. In ihr liegt eine wichtige
Bedingung für soziale Eintracht. Denn das Tun ist die Freude des Schaffenden,
sein Werk aber kommt den andern zugute und überwindet so den Zwiespalt
zwischen dem eignen und dem fremden Interesse. So wird uns Wissenschaft und
Arbeit erlösen von der mannigfachen Not, die uns drückt. Diese
Hoffnung lässt nicht zuschanden werden. S.17ff.
Aus: Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Mit einer
Einführung herausgegeben von Dr. Raymund Schmidt
Erster Band: Paul Barth / Erich Becher / Hans Driesch / Karl Joel / A. Meinong
/ Paul Natorp / Johannes Rehmke / Johannes Volkelt / Leipzig / Verlag von Felix
Meiner / 1921