Honoré Balzac (1799 – 1851)
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Französischer
Schriftsteller, der die soziologische Realität im modernen
Roman begründete. In seinen von Emanuel
von Swedenborg und Louis Claude Saint
Martin inspirierten Vorstellungen interpretiert er die Details der Außenwelt als vielfältige Anzeichen visionär geschauter innerer Kräfte,
welche die Menschheit sowie das All bewegen. Siehe auch Wikipedia |
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Aus »Louis
Lambert«
Lambert hatte die Mysterien des Altertums herangezogen,
die Geschichte der Märtyrer, die die schönsten Ruhmestitel für
den menschlichen Willen enthält, die Dämonologien des Mittelalters,
die Kriminalprozesse, die ärztlichen Forschungen, indem er überall
die wahre Begebenheit und das wahrscheinliche Phänomen mit bewundernswertem
Scharfsinn unterschied. Diese reiche Sammlung wissenschaftlicher Anekdoten,
die aus so vielen Büchern hergeholt waren, und von denen die meisten Glauben
verdienten, wurde jetzt wohl dazu benutzt, um Papiertüten zu drehen; und
diese mindestens merkwürdige, durch das außerordentlichste der menschlichen
Gedächtnisse erzeugte Arbeit musste zugrunde gehn.
Unter all den Beweisen, die das Werk Lamberts bereicherten, war ein Vorfall,
der sich in seiner Familie zugetragen hatte, und den er mir erzählte, ehe
er seine Abhandlung begann. Diese Tatsache zur Postexistenz des inneren Wesens, wenn ich mir erlauben darf, ein neues Wort zu prägen, um eine unbenannte
Wirkung wiederzugeben, machte auf mich einen so starken Eindruck, daß
sie mir noch gegenwärtig ist.
Sein Vater und seine Mutter hatten einen Prozess zu bestehen, dessen Verlust
ihre Ehre angetastet haben würde, ihren einzigen Besitz auf der Welt. Darum
war die Furcht groß, als sich die Frage erhob, ob man dem ungerechten
Angriff des Klägers nachgeben oder sich gegen ihn verteidigen sollte. Die
Beratung fand in einer Herbstnacht statt, vor einem Torffeuer, im Zimmer des
Gerbers und seiner Frau. Zu diesem Rat wurden die zwei bis drei Verwandten gerufen
und auch Louis Urgroßvater mütterlicherseits, ein alter, schon ganz
gebrechlicher Landmann, noch immer verehrungswürdigen und majestätischen
Gesichts, mit klaren Augen, über dessen von der Zeit gelbgefärbten
Schädel noch einige weiße Locken verstreut waren. Ähnlich dem
Obi der Neger und dem Sagamor der Wilden war er so etwas wie ein orakelnder
Geist, den man bei großen Dingen befragte. Sein Gut wurde von seinen Enkelkindern
bestellt, die ihn nährten und bedienten; er weissagte ihnen Regen und schönes
Wetter und zeigte ihnen an, wann sie das Gras mähen und die Ernte einbringen
sollten. Die barometrische Zuverlässigkeit seines Wortes hatte Berühmtheit
erlangt und mehrte noch immer das Vertrauen und die Ehrfurcht, mit denen man
an ihm hing.
Ganze Tage blieb er unbeweglich auf seinem Stuhl sitzen. In diesem Zustand der
Entrückung war er oft seit dem Tod seiner Frau, für die er die stärkste
und dauerndste Neigung gehegt hatte. Man beriet sich vor ihm, ohne dass er sehr
aufzumerken schien. Als man ihn dann um seine Ansicht bat, sagte er:
»Meine Kinder, dies ist zu ernst, als dass ich allein entscheiden könnte.
Ich muss gehn und meine Frau fragen«.
Der gute Mann stand auf. nahm seinen Rock und ging hinaus, zum großen
Staunen der Anwesenden, die glaubten, er sei kindisch geworden. Bald kam er
zurück und sagte:
»Ich brauchte nicht erst bis zum Friedhof zu gehen,
eure Mutter ist mir entgegengekommen, ich habe sie beim Bach getroffen. Sie
hat mir gesagt, dass ihr bei einem Notar in Blois die Quittungen wiederfinden
werdet, durch die ihr euren Prozess gewinnen müsst.«
Das wurde mit fester Stimme gesprochen. Haltung und Antlitz des Urgroßvaters
zeugten von einem Menschen, dem diese Erscheinung gewohnt war. Und wirklich,
die bestrittenen Quittungen fanden sich, die Klage wurde nicht erhoben.
Dieses Abenteuer, das sich unter dem väterlichen Dach begab, trug für
den damals neunjährigen Louis viel dazu bei, ihn an die wunderbaren Gesichte Swedenborgs glauben zu lassen, der in seinem Leben
mehrmals die von seinem inneren Wesen erworbene visionäre Kraft bewies.
Mit fortschreitendem Alter und in dem Maße, wie sein Verstand sich entwickelte,
musste Lambert dazu geführt werden, in den Gesetzen der menschlichen Natur
die Ursachen des Wunders zu suchen, das seit der Kindheit Beachtung von ihm
gefordert hatte. Wie soll man den Zufall nennen, der um ihn die Tatsachen, die
Bücher über diese Phänomene vereinigte und aus ihm selbst die
Schaustätte und den handelnden Schauspieler der größten Gedankenwunder
machte?... Vielleicht haben seine Chimären über die Engel seine Arbeiten
zu lange beherrscht; aber haben nicht die Gelehrten, indem sie Gold herzustellen
suchten, unbewusst die Chemie geschaffen? S.
334ff.
Aus: Geist und Geisterwelt, Fragmente aus der Literatur des Übersinnlichen
von Thomas Wandler, Rudolf Kaemmerer Verlag, Berlin-Dresden 1923