Honoré Balzac (1799 – 1851)

  Französischer Schriftsteller, der die soziologische Realität im modernen Roman begründete. In seinen von Emanuel von Swedenborg und Louis Claude Saint Martin inspirierten Vorstellungen interpretiert er die Details der Außenwelt als vielfältige Anzeichen visionär geschauter innerer Kräfte, welche die Menschheit sowie das All bewegen.

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Aus »Louis Lambert«
Lambert hatte die Mysterien des Altertums herangezogen, die Geschichte der Märtyrer, die die schönsten Ruhmestitel für den menschlichen Willen enthält, die Dämonologien des Mittelalters, die Kriminalprozesse, die ärztlichen Forschungen, indem er überall die wahre Begebenheit und das wahrscheinliche Phänomen mit bewundernswertem Scharfsinn unterschied. Diese reiche Sammlung wissenschaftlicher Anekdoten, die aus so vielen Büchern hergeholt waren, und von denen die meisten Glauben verdienten, wurde jetzt wohl dazu benutzt, um Papiertüten zu drehen; und diese mindestens merkwürdige, durch das außerordentlichste der menschlichen Gedächtnisse erzeugte Arbeit musste zugrunde gehn.

Unter all den Beweisen, die das Werk Lamberts bereicherten, war ein Vorfall, der sich in seiner Familie zugetragen hatte, und den er mir erzählte, ehe er seine Abhandlung begann. Diese Tatsache zur
Postexistenz des inneren Wesens, wenn ich mir erlauben darf, ein neues Wort zu prägen, um eine unbenannte Wirkung wiederzugeben, machte auf mich einen so starken Eindruck, daß sie mir noch gegenwärtig ist.

Sein Vater und seine Mutter hatten einen Prozess zu bestehen, dessen Verlust ihre Ehre angetastet haben würde, ihren einzigen Besitz auf der Welt. Darum war die Furcht groß, als sich die Frage erhob, ob man dem ungerechten Angriff des Klägers nachgeben oder sich gegen ihn verteidigen sollte. Die Beratung fand in einer Herbstnacht statt, vor einem Torffeuer, im Zimmer des Gerbers und seiner Frau. Zu diesem Rat wurden die zwei bis drei Verwandten gerufen und auch Louis Urgroßvater mütterlicherseits, ein alter, schon ganz gebrechlicher Landmann, noch immer verehrungswürdigen und majestätischen Gesichts, mit klaren Augen, über dessen von der Zeit gelbgefärbten Schädel noch einige weiße Locken verstreut waren. Ähnlich dem Obi der Neger und dem Sagamor der Wilden war er so etwas wie ein orakelnder Geist, den man bei großen Dingen befragte. Sein Gut wurde von seinen Enkelkindern bestellt, die ihn nährten und bedienten; er weissagte ihnen Regen und schönes Wetter und zeigte ihnen an, wann sie das Gras mähen und die Ernte einbringen sollten. Die barometrische Zuverlässigkeit seines Wortes hatte Berühmtheit erlangt und mehrte noch immer das Vertrauen und die Ehrfurcht, mit denen man an ihm hing.

Ganze Tage blieb er unbeweglich auf seinem Stuhl sitzen. In diesem
Zustand der Entrückung war er oft seit dem Tod seiner Frau, für die er die stärkste und dauerndste Neigung gehegt hatte. Man beriet sich vor ihm, ohne dass er sehr aufzumerken schien. Als man ihn dann um seine Ansicht bat, sagte er:

»Meine Kinder, dies ist zu ernst, als dass ich allein entscheiden könnte. Ich muss gehn und meine Frau fragen«.


Der gute Mann stand auf. nahm seinen Rock und ging hinaus, zum großen Staunen der Anwesenden, die glaubten, er sei kindisch geworden. Bald kam er zurück und sagte:

»Ich brauchte nicht erst bis zum Friedhof zu gehen, eure Mutter ist mir entgegengekommen, ich habe sie beim Bach getroffen. Sie hat mir gesagt, dass ihr bei einem Notar in Blois die Quittungen wiederfinden werdet, durch die ihr euren Prozess gewinnen müsst.«

Das wurde mit fester Stimme gesprochen. Haltung und Antlitz des Urgroßvaters zeugten von einem Menschen, dem diese Erscheinung gewohnt war. Und wirklich, die bestrittenen Quittungen fanden sich, die Klage wurde nicht erhoben.

Dieses Abenteuer, das sich unter dem väterlichen Dach begab, trug für den damals neunjährigen Louis viel dazu bei, ihn an die wunderbaren Gesichte Swedenborgs glauben zu lassen, der in seinem Leben mehrmals die von seinem inneren Wesen erworbene visionäre Kraft bewies. Mit fortschreitendem Alter und in dem Maße, wie sein Verstand sich entwickelte, musste Lambert dazu geführt werden, in den Gesetzen der menschlichen Natur die Ursachen des Wunders zu suchen, das seit der Kindheit Beachtung von ihm gefordert hatte. Wie soll man den Zufall nennen, der um ihn die Tatsachen, die Bücher über diese Phänomene vereinigte und aus ihm selbst die Schaustätte und den handelnden Schauspieler der größten Gedankenwunder machte?... Vielleicht haben seine Chimären über die Engel seine Arbeiten zu lange beherrscht; aber haben nicht die Gelehrten, indem sie Gold herzustellen suchten, unbewusst die Chemie geschaffen?
S. 334ff.
Aus: Geist und Geisterwelt, Fragmente aus der Literatur des Übersinnlichen von Thomas Wandler, Rudolf Kaemmerer Verlag, Berlin-Dresden 1923