Richard Avenarius (1843 – 1896)
Deutscher
Philosoph, der nach einem metaphysikfreien
»menschlichen« Weltbegriff suchte und das System des
Empiriokritizismus
(er)fand. Unter »Empiriokritizismus«
versteht er eine Art positivistischer Empirismus, in dem die Erfahrung von
allen metaphysischen »Zutaten« gereinigt und nur Erfahrbares, d. h. »Vorgefundenes«,
unmittelbar »Gegebenes« anerkannt werden soll. Dabei
hält er die eigene und fremde Erfahrung prinzipiell für gleichberechtigt.
Unter dem von ihm geprägten Terminus »Introjektion«
(»Einlegung«) versteht
Avenarius, dass der Mensch in seine Mitmenschen »Vorstellungen«
von Umgebungsbestandteilen als »innere«
Zustände hineinlegt, wodurch eine Spaltung der natürlichen
Einheit der empirischen Welt in »Innen- und
Außenwelt«, »Objekt und Subjekt«, eine »Verdoppelung« der Welt« erfolgt, was die Wirklichkeit »verfälscht«.
Aufgabe der Wissenschaft ist es, diese Verfälschung durch die Introjektion zu beseitigen, d. h. die Introjektion zu eliminieren, zurückzunehmen.
Durch »Ausschaltung« der Introjektion und durch Ersetzung derselben durch die »empiriokritische
Prinzipialkoordination« wird der »natürliche
Weltbegriff« restituiert. Ein »Innensein« neben einem »Äußeren« gibt
es nach dieser Ansicht nicht, ebenso keinen Gegensatz zwischen »psychisch« und »physisch«, sondern nur einen
Erfahrungsinhalt, der bald »absolut«,
bald »relativ« betrachtet wird. Siehe auch Wikipedia |
Die
Variation des natürlichen Weltbegriffes.
Erstes Kapitel.
Der natürliche Weltbegriff
des Mitmenschen.
I.
31. — Da es — die
Grundannahme der prinzipiellen menschlichen Gleichheit zugelassen — im
Prinzip gleichgültig sein muss, ob ich meine Untersuchung in Anknüpfung
an mich selbst oder an einen Leser oder an einen beliebigen anderen Mitmenschen
weiterführe, so hat über diese Anknüpfung lediglich die methodologische
Zweckmäßigkeit zu entscheiden. Denn da, was
prinzipiell von mir gilt, auch als vom Mitmenschen — was prinzipiell vom
Mitmenschen gilt, auch als von mir geltend angenommen wird, so fragt
sich hier nur, wo die Untersuchung am bequemsten einsetzt und das fruchtbarste
Arbeitsfeld gewinnt.
32. — Bei der Anknüpfung
an mich selbst habe ich es, wie erwähnt (vgl. n.
10ff.), nur mit Selbsterfahrenem zu
tun — und dies hat dann alle die allgemein gekannten Vorzüge des unmittelbar Gegebenen.
Aber anderseits hat dies unmittelbar Gegebene wieder den Nachteil, dass es eben nur das Selbsterfahrene
umspannt. Dagegen die Anknüpfung an den Mitmenschen alle
die in Aussagen enthaltenen und erhaltenen Erfahrungen einer unbeschränkten
Anzahl von menschlichen Individuen, von Völkern — ja von Generationen
der Menschheit in Betracht zu ziehen vermag. Sodann hat die Anknüpfung
an den Mitmenschen den Vorteil für sich, dass ich die analytischen Bestimmungen
des menschlichen Individuums tatsächlich an fremden Individuen gewonnen
habe: was ich von dem inneren Bau meines Leibes, was ich von meiner Muskulatur
— einschließlich derjenigen der Gefäße — von den
Gefäßen selbst, von dem Blut und der Ernährung, von den Nerven
und schließlich vom System C »weiß«,
»weiß« ich im weit überwiegenden Maße nur
durch die Zerlegung des fremden Körpers
und mithin erst durch Übertragung auf den meinigen.
Ferner sind auch die Variationserscheinungen, die uns beschäftigen werden,
im Grunde nicht die meinen, sondern solche, die ich von fremden Individuen ausgesagt
erhalten habe. Und endlich: alle die Begriffe, welche zu behandeln sein werden,
treten in der Anknüpfung an fremde Individuen für mich selbst in eine »objektivere Beleuchtung« — treten
zu mir selbst in ein Verhältnis »reinerer Sachlichkeit«. Und diese »sachlichere Stellung« und
»objektivere Stimmung« den zu behandelnden
Begriffen gegenüber scheint mir der nur sachlichen Bestimmung meiner Voraussetzungen
und Denkbarkeiten auch da förderlich zu sein, wo ich nicht umhin können
sollte, doch schließlich eigene Gedanken dem fremden Individuum zu leihen.
So dürfte denn die Rücksicht auf die methodologische Zweckmäßigkeit
zugunsten der »objektiveren Betrachtungsweise« entscheiden; und d. h. dafür: die Weiterführung meiner Untersuchung
an fremde Individuen anzuknüpfen.
II.
33. — Diese
Anknüpfung vollziehe ich, indem ich annehme, dass der
Mitmensch M — zunächst noch unberührt
von aller wilden oder zivilisierten Philosophie — auch den natürlichen
Weltbegriff vertrete: er finde sich selbst vor in einer Umgebung — sich
selbst mit allen seinen Gedanken und Gefühlen, die Umgebung mit allen ihren
veränderlichen Bestandteilen, sich und die Umgebungsbestandteile in mannigfaltigsten
Abhängigkeiten untereinander.
Zu den Umgebungsbestandteilen, welche M vorfindet, sollen Menschen gehören, mit denen er in sprachlicher Gemeinschaft
lebt; an Stelle ihrer Gesamtheit diene uns ein beliebiger
anderer Mitmensch, welchen wir mit T
bezeichnen wollen.
Die Gesamtheit der übrigen Umgebungsbestandteile
werde hier durch einen Baum vertreten; er
sei es, den wir, wenn nicht anderes ausdrücklich gesagt wird, mit R
bezeichnen.
Die Hauptstücke des — unserer Annahme nach — von
M Vorgefundenen sind demnach:
M, T, R.
34. — Wir machen nun die
ferneren Annahmen:
Die Werte M, T, R, welche M vorfindet, finde er teils als Sachen, teils als Gedanken vor, alle aber sind ihm ursprünglich
Erfahrung; und seine ursprüngliche Erfahrung umfasse nur Sachen, die er vorfindet, und Gedanken,
die er vorfindet — diese aber umfasse seine ursprüngliche Erfahrung
auch nur so,
wie er sie vorfindet: mit allen qualitativen und quantitativen
Bestimmtheiten ihrer selbst und ihrer Beziehungen.
Die ursprüngliche Erfahrung von
M umfasse also nicht nur die Farben, Töne, Härte usw.
der Sachen, sondern auch die Unabhängigkeit ihrer räumlichen Bestimmtheit,
ihres zeitlichen Entstehens und Vergehens usw. von seiner (des M)
Gegenwart oder Abwesenheit; ferner ihre Gestalt und Stärke, ihre räumliche
Größe und Lagerung, ihre zeitliche Dauer und Aufeinanderfolge, ihr
Sein und Scheinen überhaupt, ihre Änderung und Beharrung, ihre Ähn¬lichkeit
und Verschiedenheit, ihre Allgemeinheit und Besonderheit, Bekanntheit und Fremdheit,
Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit, ihre Einheit und Vielheit usw. Und alles
das, und was sonst noch die Analyse ergeben dürfte, also als Vorgefundenes
bzw. Vorfindbares.
35. — Die in voriger Nummer
angenommenen Sachen und Gedanken bilden für M
die zwei Arten empirischer Werte überhaupt; ihre Gesamtheit
das System der empirischen Werte, das sich mithin in M‘s ursprünglicher Erfahrung aus einer Sachen-
und einer Gedankenvielheit zusammensetzt. Oder kurz: sie bilden die empirische
Welt des M, und zwar
die empirische Welt des M,
wie sie erlebt und vorgefunden
wird.
36. — Bis jetzt würde
der Ausdruck: »Eine Erkenntnis ist aus der Erfahrung
entsprungen« bzw. »von der Erfahrung
abhängig« in bezug auf M
in allgemein-erkenntnistheoretischer Hinsicht so viel bedeuten wie: Eine Erkenntnis
ist bei ihrer Erwerbung bzw. in der Konstituierung, die sie bei ihrer Erwerbung
hatte, als »Erfahrung« charakterisiert
gewesen und hat diesen Charakter bewahrt. Nimmt man aber den Ausdruck »abhängig« in einem mehr rein logischen Sinn, so besagt
er bis jetzt auch nur: Eine Erkenntnis ist durch einen
empirischen Wert beschaffenheitlich bestimmt.
37. — Zu den vorgefundenen
empirischen Sachen gehöre also für M
(gemäß n. 33) auch der
Mitmensch T, welcher
mit M in sprachlicher
Gemeinschaft lebt.
Wir nehmen an, dass M die
Bewegungen (und Laute) des
T als Aussagen bezeichne, und dass, wie schon in dieser Bezeichnung liegt, sie für M
nicht nur Bewegungen (und Laute),
sondern noch etwas anderes bedeuten. Besagt dieses andere für
M zunächst nichts weiter, als daß mit den Bewegungen
(und Lauten) in bezug auf T auch noch ein Affekt, ein Wille oder Unwille u. dgl. anzunehmen sei, so würde
M auch hiermit auf dem Boden des natürlichen Weltbegriffes
geblieben sein: es würde sich für M
um E-Werte
in unserem Sinn handeln (n. 15). Und auch darin
stehe M auf dem Boden
des natürlichen Weltbegriffes, daß er
jene E-Werte des Mitmenschen
T als von den Bestandteilen seiner (des
M) Umgebung abhängig annimmt, welche Abhängigkeit
sich ihm in eine Funktionalbeziehung zwischen den Bestandteilen seiner (des
M) Umgebung und dem System
C des Mitmenschen T und eine solche zwischen den Änderungen des mitmenschlichen
Systems C und dem Inhalt der mitmenschlichen
Aussagen zerlegen lasse, und daß er endlich dem System
C seiner selbst dieselbe Beziehung zur Umgebung des Mitmenschen
und zu dem Inhalt seiner eigenen Aussagen einräume, welche er dem mitmenschlichen
System C zugesteht.
Zweites Kapitel.
Die Introjektion im allgemeinen.
I.
38. — Wir nehmen also an
— um es mit Einem Wort zu sagen —, daß der Mitmensch
M, an den wir unsere weitere Untersuchung anknüpfen,
die einzelnen Momente sämtlich vorfinde, welche die erste und allgemeinste
Analyse unseres eigenen Vorgefundenen ergeben hat. Annehmen aber, daß
M alles das vorfinde,
heißt eben annehmen, daß M
den natürlichen Weltbegriff vertrete.
Unsere anfängliche Frage: Was nötigt zur Variation des angegebenen
allgemeinen und natürlichen Weltbegriffes des Menschen? formuliert sich
demnach für unsere Untersuchung jetzt dahin: Was nötigt
M, seinen natürlichen Weltbegriff zu variieren?
39. — Sehen wir einstweilen
davon ab, was M‘s natürlichen Weltbegriff notwendig variieren
müsse, und suchen wir nur zuvörderst eine Annahme darüber zu
gewinnen, was M‘s natürlichen Weltbegriff tatsächlich variieren könnte.
Hierüber vermöchten freilich mancherlei logische »Möglichkeiten«
aufgestellt zu werden; wir wählen diejenige Annahme, welche uns
die mindest »hypothetische« erscheint,
weil sie noch heute in jeder sprachlichen Gemeinschaft immerfort ihre Bestätigung
finden dürfte, und zwar auch seitens solcher Mitmenschen, bei denen die
konkreten, ehemals kräftigen und lebensvollen Variationsformen bereits
im Prozess der Verkümmerung weit vorgeschritten sind.
40. — Die Annahme, welche
wir wählen, ist die folgende:
Nach unserer früheren Annahme (n. 37) bedeuteten
die Bewegungen (und Laute) des Mitmenschen
T für
M noch etwas anderes
als nur Bewegungen. Diese allgemeine Annahme des anderen
in bezug auf T kann sich
wiederum in verschiedenen speziellen Formen vollziehen. Von diesen verschiedenen
denkbaren Formen, in denen jene allgemeine Annahme des anderen in bezug auf
T sich spezialisieren
kann, habe sich für M diejenige
verwirklicht, welche etwa als Beilegung oder,
genauer, Einlegung — am
einfachsten aber mit einem ganz beziehungsfreien Ausdruck als Introjektion
zu bezeichnen wäre.
41. — Was die Einlegung
oder Introjektion für sich selbst besagt,
und was sie für das menschliche Weltdenken bzw. Welterkennen bedeutet,
tritt sofort am Begriff der Wahrnehmung zutage: Solange sich das Individuum
seiner Umgebung gegenüber rein beschreibend verhält, findet es als
Bestandteile derselben nur »Sachen« vor,
beziehentlich im Gegensatz zu den »vorgestellten Gedanken«: »wahrgenommene
Sachen« die »Sachen als Wahrgenommenes«
— als »Wahrnehmungen«.
Nun aber lege M — unwissentlich, unwillentlich und unterschiedslos —
in den Mitmenschen T
Wahrnehmungen der von ihm (M)
vorgefundenen empirischen Sachen hinein,
aber auch Denken, Gefühl und Wille und, sofern alles dies als Erfahrung
oder Erkenntnis bezeichnet wird, auch Erfahrung und Erkenntnis überhaupt.
42. — Diese Introjektion vollziehe
sich für M gleichfalls
als Erfahrung, d. h.
M erfährt,
dass T Wahrnehmung, Gefühl,
Wille . . . Erfahrung, Erkenntnis hat.
43. — Wurde an und für
sich die empirische Sache — die Erfahrungssache — durch und in sich
selbst eben auch als die »wahrgenommene Sache«
vorgefunden, so findet infolge der Introjektion das
Individuum M zunächst auf der einen Seite
die Umgebungsbestandteile als »Sachen« und auf der anderen Seite Individuen vor, welche
die »Sache« »wahrnehmen«:
also »Sachen« einerseits und »Wahrnehmungen
von Sachen« oder »Wahrnehmungen«
kurzweg anderseits. Es treten mithin für M
nunmehr die Erfahrungssache - es sei der Baum R —, welche T wahrnimmt,
und die Wahrnehmung, welche T
hat, auseinander und gegeneinander.
44. — Es
gilt jetzt für M —
mit den bezeichnenden Ausdrücken der neueren Philosophie versehen —-
der Satz:
Meine Erfahrungssache R ist
Gegenstand oder Objekt der Wahrnehmung (bzw. Erfahrung
oder Erkenntnis überhaupt) des T,
welchem Gegenstand oder Objekt das Individuum T
selbst als der Träger oder das
Subjekt der Wahrnehmung (bzw. der Erfahrung oder
Erkenntnis überhaupt) gegenübersteht.
45. — Wie die Stimme des T aus dessen Innern kommt,
wie T selbst gewisse
Gefühle in Organen seines Körpers lokalisiert aussagt, die im allgemeinen
seinem Innern zugehören — so verlegt auch M
die dem T beigelegten
Werte irgendwie in dessen Inneres,
und um so leichter, als sie ihm in der Tat am Äußern des T
nicht vorfindbar sind.
46. — Nachdem M
dem Individuum T eine
innere Welt durch die Introjektion
geschaffen hat, steht dieser die von
M vorgefundene empirische Welt — die Erfahrungswelt
als äußere Welt gegenüber;
und es gilt für M
der Satz:
Das Individuum T hat eine äußere Welt, die es wahrnimmt, erfährt, erkennt, und
eine innere Welt, die aus seinen Wahrnehmungen, Erfah¬rungen, Erkenntnissen
besteht.
47. — Durch die
Introjektion ist die natürliche Einheit der empirischen Welt nach
zwei Richtungen gespalten worden: in eine Außenwelt und in eine Innenwelt, in das Objekt
und das Subjekt. Von beiden Gegenüberstellungen
ist das erste Glied noch immer die Erfahrungssache des M,
und das zweite Glied gehört dem T zu:
die Innenwelt ist die
Welt, soweit sie in T hineinverlegt
wurde, das Subjekt ist das Innere selbst
des T.
Zugelassen, dass die Introjektion haltbar sei,
so würden jene Gegenüberstellungen von Außen-
und Innenwelt, Objekt und Subjekt also immer nur zulässig sein,
sofern die Glieder in der angegebenen Weise verteilt bleiben: die Außenwelt — nämlich diejenige des T — und das Objekt der Wahrnehmung -— nämlich
derjenigen des T — sind die Erfahrungssache des M, sind
das, was M als empirische
Sache vorfindet; die Innenwelt und das Subjekt der Wahrnehmung ist — nämlich vom Standpunkte des M
aus — immer nur T, sofern er
(T) wahrnimmt, also immer nur T,
um dessen Wahrnehmung es sich infolge der Introjektion
eben handelt.
48. — Nun geschieht aber
die Introjektion nicht nur auf seiten M‘s in bezug auf T,
sondern auch auf seiten des T in
bezug auf M. Was M
in bezug auf T erfährt,
erfährt T ebenso gut
in bezug auf M.
49. — Und so nehmen wir
an, es gelten für T die Sätze:
A. Meine Erfahrungssache
R ist Gegenstand oder Objekt der Wahrnehmung (bzw. Erfahrung oder Erkenntnis überhaupt) des M,
welchem Gegenstand oder Objekt das Individuum M
selbst als der Träger oder das Subjekt der Wahrnehmung (bzw. der Erfahrung oder Erkenntnis überhaupt) gegenübersteht.
B. Das Individuum M hat eine äußere Welt, die es wahrnimmt, erfährt,
erkennt, und eine innere Welt, die aus seinen Wahrnehmungen, Erfahrungen, Erkenntnissen
besteht.
50. — Wie M zu T
sagen könnte: »Meine Erfahrungssache
R ist Objekt deiner Wahrnehmung, deren Subjekt du bist
(bzw.: dein Inneres ist); du
hast eine Außenwelt, die du wahrnimmst, erfährst, erkennst, und eine
innere Welt, die aus diesen Wahrnehmungen, Erfahrungen, Erkenntnissen besteht«,
so könnte T dem
M sagen: »Meine Erfahrungssache R ist Objekt deiner Wahrnehmung« — und so wörtlich weiter
wie M.
51. — Sofern die Introjektion
nicht auch selbst — als bestimmter eigenartiger Akt — ein
abgehobenes Bestandstück der »Erfahrung«
bzw. »Erkenntnis« geworden ist, fehlt
auch die »Erfahrung« bzw. »Erkenntnis«,
dass die Introjektion nur vom Standpunkt des einen
und in bezug auf den anderen gelten könnte: der Standpunkt der Introjektion wird verwechselt — und so gilt, was für
M in bezug auf
T und für T
in bezug auf M gelten
könnte, auch für M und
für T in bezug auf
sich selbst. D. h. jedes Individuum »erfährt«:
A. Meine Erfahrungssache
R ist Gegenstand oder Objekt meiner Wahrnehmung
(bzw. Erfahrung oder Erkenntnis überhaupt), welchem Gegenstand oder Objekt ich selbst als Träger oder Subjekt der Wahrnehmung (bzw. der Erfahrung oder Erkenntnis überhaupt) gegenüberstehe.
B. Ich selbst habe eine äußere
Welt, die ich wahrnehme, erfahre, erkenne, und eine innere Welt, die aus diesen
Wahrnehmungen, Erfahrungen, Erkenntnissen besteht.
Die Gedanken sind
hiernach in der natürlichen Erfahrung nicht auch ein Inneres (bzw. Bestandteile, Geschehnisse, Tätigkeiten einer Innenwelt), sondern
als solche werden sie erst erfahren infolge der primären Einlegung und
der sekundären Übertragung der Einlegung auf den Einlegenden selbst
der, wie wir es kurz nennen könnten, Selbsteinlegung.
52. — Wie nunmehr die Individuen »erfahren«,
dass sie eine äußere und eine innere Welt haben, welche sie erfahren,
so »erfahren« sie auch, dass sie eine äußere und eine innere Erfahrung haben.
III.
53. — Jetzt, nach der
Introjektion, kann der Ausdruck: »Eine Erkenntnis
ist aus der Erfahrung entsprungen« für M so viel bedeuten als: Eine Erkenntnis hat ihren Ursprung in der Außenwelt,
im Objekt, und der Ausdruck: »Eine Erkenntnis ist
von der Erfahrung abhängig« so viel als: Eine
Erkenntnis ist durch das außenweltliche Objekt beschaffenheitlich bestimmt.
54. — Und wenn sich Erkenntnisse
vorfinden, welche nicht aus der Außenwelt entsprungen, nicht durch ein
außenweltliches Objekt beschaffenheitlich bestimmt »sein
können« — nun, so würden diese Erkenntnisse
eben nicht »aus der Erfahrung entsprungen«,
»nicht von dem außenweltlichen Objekt abhängig«
sein.
Es würde kein Widerspruch sein, das Auftreten solcher Erkenntnisse als
in verschiedener Weise denkbar zu bezeichnen. Die Verwirklichung einer dieser
Denkbarkeiten suchen wir im nächsten Kapitel zu entwickeln.
Drittes Kapitel.
Die Introjektion nach konkreten
Bestimmungen.
I.
55. — Auch jetzt —
nach Einführung der Introjektion — ist
unser zugrunde gelegter Fall noch nicht vollständig bestimmt.
Wir haben die Introjektion einstweilen völlig
abstrakt angenommen — unabhängig von jeder bestimmten Kulturstufe
und für alle bis jetzt gekannten Kulturstufen denkbar; diese abstrakte
Annahme haben wir zu determinieren. Um aber anzugeben, in welcher konkreten
Form wir die Introjektion im auszuwählenden Fall verwirklicht annehmen,
müssen wir auch eine bestimmte Kulturstufe für ihre Verwirklichung
angeben.
56. — Wir beginnen mit derjenigen
niedreren Stufe der Kultur, die man als ihre Anfänge bezeichnet hat.
Alle Umgebungsbestandteile, welche — namentlich
durch ihre Bewegung, aber auch durch ihr Leuchten und Tönen oder durch
ihren Widerstand usf. — zum »Bemerktwerden«
und weiterhin zur Benennung gelangt sind, werden in den Bereich der
Introjektion gezogen, erhalten Wahrnehmen und Denken, Erfahren und Erkennen,
Fühlen und Wollen eingelegt.
Nicht nur der Mitmensch, sondern auch der Baum, die Quelle, der Fluss, das Meer,
der Stein und der Berg, der Wind und die Wolke, der Mond und die Sonne, die
Erde und der Himmel — alle sie sind zu Wesen
geworden wie der Mensch, und zwar ist der Inhalt
dieses Satzes, wenn selbst nicht gleich originell und spontan für alle
Individuen, so doch für diejenigen, welche die autoritative Instanz in
der Gemeinschaft bilden: eine »Erfahrung«
(vgl. n. 42).
57. — Wenn es vorwiegend
die Bewegungen (inkl. Gesten und Sprache) des Menschen
waren, welche diese primitive Erfahrung für die Mitglieder einer menschlichen Gemeinschaft — sagen
wir wieder: für M — bedingten, so konnte auch die Variation dieser Bedingungen seitens der
Mitmenschen — sagen wir wieder: des T
— eine Variation der angeführten Erfahrung
für M
bedingen.
Nun aber antwortet T nicht
immer auf die Sachen, die um ihn herum sind oder geschehen, mit den gleichen
Bewegungen (inkl. Gesten und Sprache). Das geschieht
namentlich nicht, wenn er schläft.
Dann ist wohl der Umgebungsbestandteil derselbe,
aber T ist ein anderer.
58. — Das hiermit gesetzte andere würde an
sich die variative Form der Andersheit sein; sie wird aber zunächst zur numerativen dadurch, dass in vielen Fällen
(eben denjenigen des Schlafes) T aus seiner
Bewegungslosigkeit zurückgeht in Bewegungen (Gesten,
Sprache) und seinerseits nun die Erfahrung
aussagt (beschreibt), dass er an einem entfernten
Orte, also abwesend, gewesen sei.
59. — Durch das Zusammenfließen
der Erfahrung des M
und derjenigen des T
wird T von M
nicht mehr als eine (numerische) Einheit erfahren,
sondern als eine Zweiheit, als ein Zusammen von zwei Individuen T1
und T2. Nämlich als ein äußerlich
vorhandenes Individuum T1,
für welches aber mit dem Wegfall der Bedingungen zur Einlegung auch
das Eingelegte (die Wahrnehmung, das Denken, das Gefühl,
das Wollen) weggefallen sind, und ein
innerlich vorhandenes Individuum
T2, welchem — nach der Erfahrung des T (ob,
genauer, T1,
oder T2,
ist hier nicht zu entscheiden) nunmehr das Eingelegte
(Wahrnehmung, Denken . .) zugehört, und welches innere Individuum T2 das äußere Individuum T1
bewegt und aus ihm spricht: aber freilich alles das nur, wenn und sofern es
eben in T1 und nicht außerhalb desselben ist.
Die Doppelseitigkeit des
Individuums T, zu welcher die Introjektion direkt führte, ist
durch die Doppelerfahrung der niedreren Kultur zum Doppelindividuum geworden.
Und auch dies Doppelwesen des menschlichen Individuums
ist »Erfahrung«.
60. - Die zuletzt angeführte
primitive Erfahrung impliziert
nun auch die besondere Erfahrung,
dass das zweite Individuum (T2)
das erste (T1) verlassen und wieder dahinein zurückkehren kann. Da aber zugleich erfahren
wird — nämlich bei dem Sterben der Mitmenschen
—, dass, wenn das zweite das erste zu lange verlässt, das erste vergeht,
so sind für die primitive Erfahrung
nicht nur die Bewegungen, die Sprache und die Wahrnehmungen usw. des ersten
Individuums, sondern das »Erste Individuum«
ist auch selbst in seinem eigenen Bestand vom »Zweiten
Individuum« abhängig.
61. — Dagegen bedingt der Umstand,
dass das Zweite Individuum solcher, deren Erstes
vergangen - gestorben - ist, den Mitgliedern ihrer Gemeinschaft wieder erscheinen
kann — nämlich und namentlich im Traum —, dieser Umstand bedingt
also die weitere primitive Erfahrung,
dass das Zweite Individuum nicht nur einen selbständigeren,
sondern auch einen unvergänglicheren Bestand habe.
62. — Dementsprechend lebt nach diesem, dem einen
Leben, der Mensch erfahrungsgemäß
ein zweites. Das Gestorbensein wird nicht als Tod, sondern
als Überleben erfahren — nicht die Sterblichkeit des Menschen, sondern
seine Unsterblichkeit ist primitive
Erfahrung. Nur muss freilich unter »Mensch« nicht T1,
sondern T2 verstanden
werden.
63. — Durch die Erfahrung,
dass das Zweite Individuum sich aus dem
ersten heraus — und wieder in dasselbe hinein begeben kann, wiederholt
sich zwischen dem Ersten und dem Zweiten Individuum
die Beziehung zwischen dem Menschen und seiner
Behausung.
Diese Beziehung variiert sich nach
den weiteren Erfahrungen: die freiwillig bezogene Behausung ist die Wohnung,
die unfreiwillig aufgezwungene das Gefängnis oder der Kerker.
64. — Wird das
Erste Individuum als der »Körper«
bzw. »Leib«, das Zweite
Individuum als der »Geist«
bzw. die »Seele« bezeichnet, so gibt es je nach ihrem Verhältnis zu ihrer Behausung (Wohnung,
Kerker) für die »Geister«
oder »Seelen« einen
doppelten Zustand: einen eingekörperten
und einen entkörperten; und für die »Körper« oder »Leiber«
gibt es entsprechend einen Zustand der Beseelung
und einen Zustand der Entseelung.
65. — So vermag denn die
niedrere Kultur zu erfahren,
dass die »Seele« des Menschen eingekörpert
oder entkörpert leben kann; dass der Mensch einen »Geist«
in sich aufnehmen oder ihn von
sich geben, ihn aufgeben kann: dass der Lebende ?»beseelt«,
der Tote »entseelt«, und dass der Mensch
eben wegen des möglichen
Abscheidens seiner »Seele« sterblich
ist.
In diesen Erfahrungen muss
freilich unter »Mensch« nicht
T2,
sondern T, verstanden
werden.
66. — Die niedrere Kultur legt nun
aber einen »Geist« nicht nur den Menschen
bei, nicht einmal nur den Sachen, die ähnlich wie der Mensch organisiert
sind (über welchen Begriff sie ja nicht verfügt),
sondern unterschiedslos allen Sachen: der Quelle, dem Stein, dem Baum, der Sonne,
dem Himmel usw. (vgl. n. 56). Diese Erfahrung
der allgemeinen Beseelung determiniert
sich durch die weitere Erfahrung des
Wohnungsverhältnisses zu der bestimmteren Erfahrung:
dass ein Geist in der Quelle, in dem Baum und dem Stein, in der Sonne und in
dem Himmel usf. wohnt und lebt; dass Quelle, Baum und Stein, Sonne und Himmel
Wohnsitze eines lebendigen
Geistes sind.
67. — Diese Geister, deren
die Welt voll ist, unterscheiden sich u. a. — nach ihrer Beziehung zur
Wirkungsweise, an den menschlichen Bedürfnissen gemessen: in schädliche
und nützliche, oder böse und gute; — nach der Beziehung zu Macht und Weisheit, an der menschlichen gemessen:
in menschliche, untermenschliche und übermenschliche; — nach der Beziehung zur räumlichen Bestimmtheit ihres Aufenthaltes,
an der Erde gemessen : in irdische, unterirdische und überirdische; und sie differenzieren sich durch die angegebenen
Beziehungen, aber auch durch andere, wie z. B. durch den von jenen Beziehungen
freilich bedingten Kultus, in die mannigfaltigsten Klassen, von denen hier an
die Vulgärgeister (inkl. Gespenster), an die
Ahnengeister, an die Dämonen und an die (im engeren
Sinn) göttlichen Geister — zu
erinnern genügen mag.
68. — Als die wichtigste von den
durch Differenzierung der »Geisterwelt« für die primitive Erfahrung
entstandenen Geisterklassen darf uns hier diejenige
der göttlichen Geister — und als der
wichtigste derselben derjenige gelten, welcher als der »Geist im Himmel« bezeichnet wird.
II.
69. — Die spezielle Weiterentwickelung
dieses »Geistes im Himmel«, so anziehend
sie sein mag, haben wir hier nicht weiter zu verfolgen, wohl aber müssen
wir eine Hinzufügung allgemeinerer Art machen.
Die Analyse ergibt, dass die Werte: Beseeltheit, Unsterblichkeit,
überhaupt Geist und göttlicher Geist im besondern zunächst charakterisiert sind
als Erfahrung, Erkenntnis, Seiendes. In dieser
Charakteristik fallen also die Produkte der angezogenen Stufe allgemeiner menschlicher
Kultur zusammen mit den Charakteren der ersten Entwickelungsstufe menschlicher
Aussageinhalte.
Trifft nun unsere Voraussetzung zu, dass die Erfahrung des Geistes in den Menschen
und den übrigen Umgebungsbestandteilen nur
auf dem Boden der Introjektion erwachsen konnte,
von der sie nur eine bestimmte Form ist; so wird es weiter denkbar, dass in
der Fortentwickelung auch die Charaktere in der Kombination der zweiten
Entwickelungsstufe gesetzt werden. D. h.: jene allgemeinen Werte besitzen
wohl noch die Charakteristik des Erkannten und
Seienden bzw. des erkannten Seienden, aber
nicht mehr diejenige des Erfahrenen.
70. — Angenommen nun, es
habe sich diese Denkbarkeit für ein Individuum —
M mag wieder jenes Individuum sein — in der
Form verwirklicht, dass es wohl noch den »Geist«
oder die »Seele im Mitmenschen«, den
»Geist im Himmel« und die »Unsterblichkeit
des Geistes« überhaupt als Seiendes erkennt, aber (entsprechend
dem Umstand, dass der Geist nur eine Modifikation des eingelegten
Innern ist) die unsterblichen Geister
im allgemeinen sowohl als den göttlichen Geist
im besondern auch nicht mehr in der äußeren Erfahrungswelt miterfährt; so wird dieses vorgeschrittenere Individuum sich, sofern auch keine Tradition
von dem ursprünglichen Erfahrensein dieser Werte es mehr berührte,
im Besitz einer Erkenntnis wissen, welche nicht-empirisch ist, welche weder ihren Ursprung aus der empirischen Außenwelt haben noch
von einem empirischen außenweltlichen Objekt beschaffenheitlich bestimmt
sein kann — da diese Werte ja eben kein Bestandteil, kein Objekt der empirischen
Außenwelt mehr sind und auch nicht mehr sein sollen.
Also nicht-empirisch
in dem doppelten Sinne, dass sie nicht als Erfahrung
charakterisiert sind, und dass sie nicht aus der Erfahrung entsprungen und von
ihr bestimmt sind; ein doppelter Sinn, der dadurch
ermöglicht, dass auch der Ausdruck »Erfahrung«
inzwischen einen Doppelsinn angenommen hat — wie wir noch genauer anmerken werden.
71. — War bisher die (körperliche) Außenwelt auch die einzige Welt, die es außerhalb des Menschen gab, so gibt es nunmehr — wo und inwieweit
das Innere in der Form
des Geistes aus der körperlichen Außenwelt,
zu der doch auch wieder der Mensch (das Individuum
T1) gehört, herausgelöst ist — noch eine (geist- und geisterhafte) Welt
nebst und außerhalb jener Außenwelt: das außerhalb des Menschen Seiende hat sich in das außenweltliche und das außerweltliche
Sein gedoppelt.
72. — Für die weitere
Bezeichnung wird eine inzwischen gemachte Erfahrung maßgebend: Die körperliche
Außenwelt wird vermittelst gewisser Bestandteile des Körpers —
nämlich der Sinneswerkzeuge wahrgenommen, erfahren; wobei freilich diese
körperlichen Organe erst dadurch zu Sinnes-»Werkzeugen«
oder -»Organen« geworden sind, dass
ihnen die »Funktion«, Wahrnehmung bzw.
Erfahrung zu vermitteln,
durch die Introjektion zugewachsen ist.
Infolge dieser erkenntnistheoretisch so bedeutungsvollen Erfahrung
lässt sich der Charakter des Wahrgenommenen und Erfahrenen
auch als ein Sinnliches bezeichnen,
und weiterhin auch die äußere Welt, die Welt des Körperlichen,
als die sinnliche Welt, als die Welt des Sinnlichen — welcher sinnlichen
körperlichen Außenwelt
die geisthafte Innenwelt und die
Geisterwelt überhaupt als die nicht-sinnliche gegenübersteht.
73. — Nun hat sich für
die Erfahrung des M
die Erkenntnis differenziert: in eine
empirische = sinnliche, welche die
sinnliche Außenwelt erfasst, und in eine
nicht-empirische = nicht-sinnliche,
welche das nicht-sinnliche Seiende ergreift - mag
dies im übrigen ein innen- oder ein außerweltliches sein, in jedem
Falle aber ein Geisthaftes ist.
Und die für M bestehende
Erfahrung, dass der Mensch — es sei wieder T
— sinnliche und nicht-sinnliche Erkenntnisse
haben kann, lässt sich von M auch so ausdrücken: T hat
ein sinnliches und ein nicht-sinnliches
Erkenntnisvermögen.
74. — Wie die »Geisterwelt«,
sofern sie zugleich ein Überirdisches ist,
die »höhere«
ist, so ist das Nicht-Sinnliche, d. h. Geist-
und Geisterhafte, auch ein Übersinnliches;
und die höhere nicht-sinnliche
Erkenntnis des Übersinnlichen ist auch
die überempirische,
d. h. eine die niedere sinnliche Erkenntnis der
bloßen Erfahrung
überschreitende.
Die primitive Form der nicht-empirischen bzw. nicht-sinnlichen Erkenntnis ist
in diesem Falle also die überempirische bzw. übersinnliche Erkenntnis.
Das »Höhere« ist
hier nicht im Sinne der Logik verstanden als das Allgemeinere (Abstrakte); sondern
zunächst im eigentlichen (räumlichen), dann im übertragenen (»geistigen«)
Sinn. Wie die philosophische Betrachtung zu diesem verschiedenen Sinn eines
»Höheren« gelangen konnte, geht aus unserer Darlegung hervor;
im übrigen zeigt die Geschichte der philosophischen Spekulation in interessantester
Weise, mit welchem gewaltigen Gedankenaufwand der verschiedene Sinn des »Höheren«
wieder in eine Einheit zusammenzuschließen versucht wurde.
III.
75. — Wir hatten
(n. 53) angemerkt, dass nach der Introjektion der
Ausdruck: »Eine Erkenntnis ist aus der Erfahrung
entsprungen« für M so
viel bedeuten könne wie: Eine Erkenntnis hat ihren
Ursprung in der Außenwelt, im Objekt; und der Ausdruck: »Eine
Erkenntnis ist von der Erfahrung abhängig« so viel wie: Eine
Erkenntnis ist durch das außenweltliche Objekt beschaffenheitlich bestimmt.
Nun hatte M, von seinem
Standpunkte aus, aber auch erfahren,
dass zwischen die Außenwelt, die Erfahrung des M,
und die dem T beigelegte
Innenwelt, die Erfahrung des T,
die Sinne als Vermittler eingeschaltet sind.
Jetzt, nach Aufdeckung dieser Einschaltung, kann der Ausdruck: »Eine
Erkenntnis ist aus der Erfahrung entsprungen« für M
so viel bedeuten wie: Eine Erkenntnis
ist durch die Sinne vermittelt, indem ein außenweltlicher Erfahrungsgegenstand
die Sinne affizierte und damit einen Eindruck bewirkte;
und der Ausdruck: »Eine Erkenntnis ist von der Erfahrung
abhängig« so viel wie: Eine Erkenntnis
ist durch die vom außenweltlichen Erfahrungsgegenstand affizierten Sinne
beschaffenheitlich bestimmt.
Auf die in diesem Satz mit einbeschlossene Kausalität gehe ich hier als
auf einen allzu speziellen Fall nicht näher ein.
76. — Die durch die Sinne
vermittelte und bestimmte Erkenntnis braucht nicht notwendig Erfahrung zu sein. Wenn es aber der Fall ist und
M diesen Fall dahin verallgemeinert:
dass ihm alles durch die Sinne Vermittelte und Bestimmte als Erfahrung gilt;
so kann für M der
Ausdruck »Empirisch« so viel bedeuten
wie: »Durch die Sinne vermittelt und bestimmt«,
und der Ausdruck: »Nicht-Empirisch«
so viel wie: »Nicht durch die Sinne vermittelt und
bestimmt«.
IV.
77. — Es wird sich nun empfehlen,
bevor wir weitergehen, erst noch einmal besonders hervorzuheben, dass in diesem
System von Verdoppelungen, welches durch die Urverdoppelung — nämlich durch die Introjektion seitens
M — für M
entstanden ist, auch die Erfahrung selbst inbegriffen ist
(vgl. n. 70).
Da ist einerseits die Erfahrung, die von M
vorgefundene Welt, sofern sie mit dem Charakter des Erfahrenen
versehen ist, bzw. die Form dieses Vorfindens als Akt (Erfahrung
als Inhalt und Erfahrung als Akt); anderseits die Erfahrung, sofern die
dem T seitens M
eingelegten Werte von
M zugleich in der betreffenden Charakteristik angenommen
werden, bzw. der Akt ihrer Erwerbung durch T.
Um diese beiden Erfahrungen bequemer auseinander zuhalten, wollen wir die erstere
als M-Erfahrung, die
letztere als T-Erfahrung bezeichnen
(genauer wäre: T2-Erfahrung;
doch mag T-Erfahrung genügen).
Die dritte Spezies von Erfahrung, nämlich die Erfahrung des
M, dass T Erfahrungen hat, bleibe unbezeichnet.
78. — Wird nun
(nach n. 76) von M das
durch die Sinne Vermittelte und Bestimmte als eine Erfahrung angenommen, und
ist ferner das durch die Sinne Vermittelte und Bestimmte das vom äußeren Erfahrungsgegenstand Bewirkte,
so ist Erfahrung das von der Erfahrung Bewirkte,
und es kann für M
der Satz gelten: Die Erfahrung bewirkt die Erfahrung.
Wenn dieser Satz einen Sinn haben soll, so kann er ihn nur auf dem Boden der
Introjektion haben; aber auch da nur, solange von
M unterschieden wird,
dass die bewirkende Erfahrung seine eigene — die M-Erfahrung —,
die bewirkte Erfahrung diejenige des
T — die T-Erfahrung — ist.
79. — Für eine Entwickelung
endlich, die bereits an dem Punkte angelangt ist, wo die der Erfahrbarkeit verlustig
gegangenen Werte auch der Erkennbarkeit entzogen erscheinen, würde es denkbar
sein, dass sie keine »Erkenntnisse« zulasse
als solche, welche zugleich auch »empirische«
seien. Es wäre das die Beschränkung zulässiger Erkenntnisse
auf eine reine Erfahrung — wenigstens der Forderung nach.
80. — Das würde aber
freilich nicht die entgegengesetzte Denkbarkeit ausschließen, dass die
in so langer Vorgeschichte erworbene und gepflegte nicht-empirische
Erkenntnis in irgendeiner Form als einstweilen noch höchst wertvolles
Überblebsel aus früheren Entwickelungsperioden sich erhielte und mitten
im sonst wohlbegrenzten Gebiete der rein nur als Erfahrung noch möglichen Erkenntnisse eine eigenartige Position behauptete.
81. — Als naheliegendste Form, in welcher eine
zugleich fortschreitende Entwickelung
das Nicht-Empirische innerhalb der sonst nur noch als reine Erfahrung
möglichen Erkenntnisse konservieren konnte, lässt sich das
Nicht-Empirische in der Form des »die Erfahrung
selbst erst Ermöglichenden« voraussetzen.
Um über die Verwirklichung dieser Form eine An¬nahme zu machen, müssen
wir auf einige vorhergehende Entwickelungsmomente des Denkens zunächst
zurückblicken.
V.
82. — Wenn nach der
Introjektion für sich allein der Mensch
T die Wahrnehmungen, Erfahrungen, Erkenntnisse hat, so
ist nach der Verdoppelung des T
in T1
und T2
das Zweite Individuum, der Mensch
T2,
der eigentliche Inhaber der Wahrnehmungen usw.
Bezeichnet man das zweite Individuum als »Geist«
oder »Seele«, so ist also der
Geist oder die Seele dasjenige Etwas, welches die
Wahrnehmungen usw. hat.
83. — Wie für M der innere Mensch, der Geist oder die Seele zu dem äußeren Menschen,
dem Körper oder Leib in das Verhältnis des Einwohners zur Wohnung
getreten ist, so ist es nun ferner denkbar einerseits, dass der Geist bzw. die
Seele auch zu dem Erbauer seiner
Wohnung (des Leibes) wird, anderseits dass der
Geist zu seinen bzw. die Seele zu ihren Wahrnehmungen usw. in dasselbe Verhältnis
tritt, in welchem der Mensch T
zu dem Material steht, aus dem er seine Wohnung
baut, aber auch seine
Gerätschaften, Waffen und Bekleidungen arbeitet
und schafft.
84. — Einer Kultur, welche
bereits von der »Seele« oder dem »Geist«
als »Schöpfer« oder »Arbeiter« teilweise zu abstrahieren vermag, lässt die Introjektion
an sich allein mehrere Wege für die Auffassung eventueller neuer
Bildungen innerhalb der Wahrnehmungen, Erfahrungen, Erkenntnisse offen. Für
unsere Analyse kommen hauptsächlich zwei dieser Wege in Betracht: der eine
führt zu einer Variationspsychologie, der
andere zu einer, wie wir sie nennen mögen, Mosaikpsychologie.
Es würde dann die psychologische Entwickelung damit enden, dass eventuelle
neue Bildungen immer nur — im ersten Fall:
als Änderungen eines
ursprünglichen, veränderlichen Bestandes, — im
zweiten Fall: als Zusammensetzungen von
ursprünglichen, unveränderlichen Bestandstücken aufgefasst
werden. — Beide Auffassungen sind denkbar.
85. — Die
Sprache, welche so wesentlich die Introjektion überhaupt förderte, hat auch zunächst die Auffassung bestimmt,
welche für das Geschehen innerhalb des Eingelegten
verwirklicht wurde:
Wie die Sprache in einzelnen Worten die Wahrnehmungen,
Erfahrungen, Erkenntnisse benennt, so sind diese Benannten je ein Einzelnes
für sich — so besteht das gesamte Eingelegte
aus Einzelheiten.
Und je enger abgegrenzte Teile zum Bemerkt- und Benanntwerden
gelangen: in desto einfachere Bestandstücke zerlegt sich ein Ganzes
der Wahrnehmung, Erfahrung, Erkenntnis — aus desto einfacheren
Bestandstücken setzt es sich zusammen.
86. — Diese Zerlegung
konnte im Denken ihre
Grenze erst bei denjenigen Bestandstücken finden, welche zugleich eben
nicht mehr als zerlegbar gedacht werden
konnten: an einem absolut Einfachen.
Bezeichnet man dies gedachte, dem Menschen eingelegt verbliebene Endprodukt
der »psychologischen« Entwicklung als
»Empfindung« — nun, so ist die »Empfindung«
des Menschen als ein absolut Einfaches gekennzeichnet.
Woraus dann die bloße
(»reine«) Empfindung als Einfaches
noch besteht, das wird lediglich davon abhängen, was man ihr noch gelassen
hat — von der Strecke, die sie auf ihrem Wege sukzessiven
Entblößtwerdens zurückgelegt hat, ist also gewissermaßen
eine Funktion dieses Weges.
87. — Wir nehmen an, diese
beiden, in n. 83 und n. 86 angedeuteten Gedanken
verbinden sich in dem Maße,
als eine kulturelle Übergangsform gleichzeitig einerseits — in der
Geisterwelt — Werte entwickelt hat, welche nicht mehr
empirisch, nur mehr nicht-empirisch und
der Erfahrung entzogen sind (über der
Erfahrung stehen); anderseits in den »bloßen
Empfindungen« — Werte, die an sich noch nicht Wahrnehmung
oder Erfahrung, obwohl in die Wahrnehmung und Erfahrung einbezogen sind (aus
denen Wahrnehmung und Erfahrung bestehen).
88. — Es ist dann ferner
denkbar, dass mit der soeben angenommenen Verwirklichung für M
eine Rangordnung von drei Erkenntnisarten
erfahrbar werde, denen, je nach der Kulturentwickelung,
eine Mehrheit von Seelen oder nur Seelenteilen oder gar nur Seelenvermögen
oder aber Erkenntnisvermögen zugehören könne.
Das höchste Glied dieser Rangordnung
wäre — da, was einer früheren Kultur ein sinnlich Wahrgenommenes
und Erfahrenes war, einer späteren nur noch ein Gedachtes zu sein vermöchte
— das Denken oder, in anderer Bezeichnung,
die Vernunft: die Seele
(der Geist), sofern sie Vernunft hat oder Vernunft
ist, bzw. wenn die Seele als besonderes Zweites Individuum
bereits ihres »Seins« verlustig zu
gehen beginnt, die Vernunft für sich ist, als das Vermögen der über
sinnlichen, von der Erfahrung unabhängigen Erkenntnisse, der freie Schöpfer
von Erkenntnissen.
Das niederste Glied der Rangordnung wäre die
bloß sinnliche Seele oder die Seele, sofern sie bloße Sinnlichkeit
besitzt oder ist, bzw. die bloße Sinnlich¬keit für sich: sie
ist, als das Vermögen der sinnlichen Eindrücke, der unterste
Arbeiter, der nichts weiter vermag, als dem Menschen
bloße Empfindungen zu beschaffen.
Das mittlere Glied endlich ließe sich als
Verstand oder Intellekt bezeichnen und die
intellektuelle Seele oder die Seele, sofern sie Verstand oder Intellekt
hat oder ist, bzw. der Verstand oder der Intellekt für sich ist, als das
Vermögen der Verknüpfung, Trennung, Vergleichung usf., die
höhere Instanz, die den rohen Stoff sinnlicher Empfindungen bearbeitet.
VI.
89. — Wir nehmen weiter
an, von den letzteren Formen denkbarer Anthropomorphismen
habe sich für M so
viel verwirklicht, dass für ihn der Satz gilt: Das
rein nur durch die Sinne Vermittelte und Bestimmte, oder kürzer: das rein
nur durch die Sinne Bedingte — die sinnlichen Eindrücke
— sind auch rein nur Empfindungen. (Wobei
dahingestellt bleibt, wieviel oder wie wenig im speziellen Falle noch zur Empfindung
gerechnet werde.)
Da nun die Sinne ihrerseits, um die Empfindungen zu bedingen, vom außenweltlichen
Erfahrungsgegenstand gerührt (oder erregt) werden
müssen, so würde für M
in bezug auf die Erfahrung auch der Satz gelten können: Wenn die Erfahrung
(nämlich die T-Erfahrung)
rein nur durch den außenweltlichen Erfahrungsgegenstand
(nämlich der M-Erfahrung)
bedingt wäre, so müsste sie rein nur sinnlicher
Eindruck = Empfindung sein oder, m. a. W., nur aus reinen Empfindungen
als den sinnlichen Eindrücken bestehen.
Nun zeigt aber die Erfahrung, dass
die vom äußeren Gegenstand bedingte Erfahrung nicht bloß aus
solchen sinnlichen Eindrücken oder reinen Empfindungen bestehe.
90. — Diese
Erfahrung, dass die Erfahrung nicht nur aus sinnlichen
Eindrücken oder reinen Empfindungen bestehe, hätte für
M nur an der M-Erfahrung
zugänglich sein können. Unterscheidet aber
M nicht genügend scharf zwischen sich und T,
so wird M auch die von
ihm vorgefundene — jetzt äußere
— empirische Welt mit der
(von ihm) dem T
eingelegten inneren empirischen
Welt, oder kurz die M-Erfahrung
und die T-Erfahrung
verwechseln.
Infolge dieser Verwechslung kann von M
die angegebene Erfahrung
in bezug auf das Individuum T
oder auf die T-Erfahrung
gemacht werden.
91. — Da nun aber —
erfahrungsgemäß —
die Erfahrung (nämlich die T-Erfahrung)
nicht, wie sie müsste, nur aus reinen Empfindungen als den sinnlichen
Eindrücken besteht, so besteht sie — erfahrungsgemäß
— aus den sinnlichen Eindrücken und
einer nicht-sinnlichen Zutat.
92. — Durch diese Entwickelung
hat der Ausdruck »Erfahrung« unter
der Hand wieder einen zweifachen Sinn angenommen: das eine Mal ist Erfahrung
schlechthin das durch die (vom außenweltlichen Erfahrungsgegenstand
affizierten) Sinne Bedingte, das andere Mal das, was aus diesem durch
die Sinne Bedingten und aus einem
durch die Sinne Nicht-Bedingten besteht: ein Doppelsinn,
durch welchen möglich
geworden ist, dass die von außen bedingte Erfahrung
Bestandteile, und zwar sehr wesentliche Bestandteile enthält, welche
nicht von außen bedingt und nicht-empirisch sind.
Wir wollen diese differenten Bedeutungen auch durch die Bezeichnung genauer
unterscheiden und zwar, da es sich nur um die T-Erfahrung
handelt: die Erfahrung, sofern sie schlechthin das durch die Sinne Bedingte
ist, als die T-Erfahrung I
— und die Erfahrung, sofern sie aus den sinnlichen Eindrücken
und einer nicht-sinnlichen Zutat bestehen soll, als die T-Erfahrung
II.
93. — Wer sich mithin im
Besitz einer beliebigen Erfahrungserkenntnis weiß und dazu »erkannt«
hat, dass das, was seinen Ursprung aus der empirischen Außenwelt (M-Erfahrung)
hat und durch das empirische außenweltliche Objekt beschaffenheitlich
bestimmt ist, lediglich durch die Sinne bedingt, also sinnlicher
Eindruck = Empfindung ist, dass folglich die Erfahrungserkenntnis (jetzt:
T-Erfahrung II) aus sinnlichen
Eindrücken = Empfindungen, also empirischen
Bestandteilen (nunmehr: T-Erfahrung
I) und aus einer nicht-sinnlichen, also nicht-empirischen
Zutat besteht, ein solcher weiß sich eben damit im Besitz von Erkenntnissen,
welche, soweit sie nicht-sinnliche Eindrücke = Empfindungen
sind, auch nicht-empirisch sind, Erkenntnisse, welche weder ihren Ursprung aus
der empirischen Außenwelt haben, noch von einem
empirischen außenweltlichen Objekt beschaffenheitlich bestimmt
sein können.
94. — Wenn die Zutat
ihre charakteristische Bestimmung nach Seite des Produktes bereits
besitzt, weil sie dem Eingelegten eben von Anfang an eigen war, nämlich
als Erfahrung, so kann sie, auf Grund ihrer entwickelungsgeschichtlichen Vergangenheit,
ihre näheren Bestimmungen finden — nach Seite
des Zutuenden: als Verstand (in
späterer Modifikation: als Intellekt), der
den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke oder Empfindungen
bearbeitet oder verarbeitet;
und nach Seite des Zugetanen —
im Gegensatz zum Stoff: als Formen,
wozu je nach Fortschritt der betreffenden Abstraktion alles gehört,
was — nachdem aus der Erfahrung vorher all dasjenige weggedacht
worden ist, was nicht als durch die Sinne bedingt und mithin als nicht den Sinnen
angehörend angenommen wird — nun freilich zum Schluss übrig
bleiben muss, wenn dann wieder aus den Erfahrungen alles weggeschafft
wird, was den Sinnen angehört.
VII.
95. — Vollendet sich für
M die oben
(n. 90) angeführte Verwechslung der Erfahrung in der Verwechslung
des Erfahrenden, d. h.
des einlegenden Individuums
M mit dem Individuum
T, dem Erfahrung (T-Erfahrung)
eingelegt wird, so kann auch das räumliche
Verhältnis der mit der Zutat versehenen
T-Erfahrung II
zur M-Erfahrung
seine nähere Bestimmung finden. Eine räumliche Bestimmung wird aber
zum Bedürfnis, sobald das räumliche Verhältnis des außerhalb
des Individuums T befindlichen
Erfahrungsgegenstandes (M-Erfahrung)
zur Erfahrung als etwas in dem Menschen Geschehendes oder in bezug auf ihn
Inne-Seiendes
(T-Erfahrung) zur Frage führt: Wie soll
sich denn der außerhalb
befindliche Erfahrungsgegenstand (M-Erfahrung)
nach den zuzusetzenden Formen
richten, als welche »unserem« Innern
angehören?
96. — Solange das Eingelegte
neben den Gedanken, dem Gefühl und Willen nur die »Wahrnehmung«
der »Sache« (und
nicht die »Sache« selbst) war (vgl.
n. 48), machten auch die Wahrnehmungen und Gedanken, Gefühl und
Wille — oder, in allgemeiner Bezeichnung, die Vorstellungen
die (durch die Einlegung geschaffene)
Innenwelt aus. So wie sich M
mit T verwechselt,
wird der vorgefundene Erfahrungsgegenstand (M-Erfahrung),
insoweit er erfahren ist oder
wird, zu generisch nichts anderem als die eingelegte Erfahrung
(T-Erfahrung); und sofern diese — als
Wahrnehmung, Gedanke usf. —»Vorstellung«
bereits war, wird nun auch der nicht-eingelegte
und bislang nicht-einlegbare Erfahrungsgegenstand
(M-Erfahrung), insoweit
er erfahren wird — als Bestandteil im
Denken oder des Denkens
— zu einer bloßen »Vorstellung«
oder, nach anderer Seite bezeichnet, zu einem bloßen
»Gedachten«.
97. — Und da nun die »Vorstellungen«
»in uns« sind, so sind auch die Erfahrungsgegenstände
— als erfahrene —, die ja nichts sind als
»unsere Vorstellungen« »in uns«: hiermit ist
das räumliche Verhältnis der T-Erfahrung
II zur M-Erfahrung
dahin bestimmt, dass beide »in
uns« sind.
98. — Nun ist freilich nichts
einfacher und leichter, als dass — nicht: die Erkenntnisse von den Erfahrungsgegenständen,
sondern: — die Erfahrungsgegenstände von den nicht-empirischen
Erkenntnissen abhängig sind (sich nach ihnen
richten); aber anderseits hat doch auch der Satz von der Bewirkung der
Erfahrung durch die Erfahrung (n. 78) den einzigen
Sinn verloren, den er auf dem Boden, auf dem er erblühte, auf dem Boden
der Introjektion noch etwa haben durfte.
99. — Das räumliche
Verhältnis des Nicht-Empirischen bleibt hiernach
in völliger Harmonie mit früheren und frühesten Kulturstufen
als ein Inne-Sein bestimmt.
Dagegen vermag das Verhältnis zur Zeit mit Unterschieden in den Kulturstufen
auch mit Unterschieden in seiner Bestimmung zu folgen: nach Seite des zeitlichen
Verhältnisses der Zutat
zu den sinnlichen Empfindungen würde eine
frühere Erklärung, die der primitiven Kultur noch näher stand,
vielleicht nicht gezögert haben, die von der Erfahrung
(M-Erfahrung) unabhängigen Erkenntnisse
einer vor-empirischen Erfahrung der präexistierenden
Seele, einer Erfahrung vor der Geburt
zuzuschreiben; eine spätere Kultur würde sich begnügen,
sie nur für angeboren anzusetzen,
eine noch spätere würde sie der Zeit nach in dem Menschen nicht vor
der Erfahrung (T-Erfahrung II)
vorhergehen lassen und sie nur noch als eine Fähigkeit
(bez. Anlage) annehmen,
die durch die Gegenstände (der M-Erfahrung)
in Bewegung, bez. durch die sinnlichen Eindrücke zur Aktualität
und Aktivität gebracht wird.
100. — Nennt man endlich
solche Erkenntnisse, welche von
der Erfahrung (M-Erfahrung)
und selbst von allen Eindrücken der Sinne (T-Erfahrung)
unabhängig sind, a
priori in Unterschied von den empirischen
(T-Erfahrung
I), die ihre Quelle a
posteriori, nämlich in der Erfahrung (M-Erfahrung)
haben, so ist mithin das Apriorische
die konkrete Form, in welcher eine besondere Art des Nicht-Empirischen
den Untergang seines Geschlechtes überlebt
und sich mitten im Gebiet der sonst rein nur als Erfahrung noch zugelassenen
Erkenntnisse zu behaupten vermag (vgl. n. 80 f.).
Nach den gemachten Annahmen würden
drei Phasen naiver Erkenntnisse der Gesamtheit vorgefundener Erfahrungssachen
aufeinander folgen und aufeinander fußen. Nur die erste, die Phase des
naiven Empirismus, scheint diese Gesamtheit ohne Zuhilfenahme eines Nicht-Sinnlichen
zu erkennen (bzw. zu erklären) — weil
sie nur in der Charakteristik der Erfahrung erkennt (bzw.
erklärt); für die zweite Phase, diejenige des naiven Rationalismus,
ist die Form des Nicht-Sinnlichen das Über-Sinnliche;
und für die dritte, die Phase des naiven Kritizismus, das (an
angegebenen Sinn) Vor -Sinnliche. Die Bezeichnung naiv bezieht sich nur
auf die Grundlage, nicht durchweg auch auf die darauf errichteten
»Lehrgebäude«. Was
den gekennzeichneten Rationalismus und Kritizismus zu einem naiven macht, sind
die — allerdings grundlegenden - Überlebsel des naiven Empirismus.
Dass in all diesen auf Grund der Introjektion erwachsenen Bezeichnungen Ȇber-,
Vor-, Nicht-Sinnlich« das Sinnlich nicht mehr
nur einen Charakter der Erkenntnisse, sondern eine Theorie ihrer Erwerbung bedeutet,
sei zum Schluss doch noch einmal besonders hervorgehoben.
VIII.
101. — Die angeführten
Bestimmungen der Erfahrung als solcher ziehen auch die Erfahrung als Erkenntnis
in Mitleidenschaft: auf der einen Seite steht nach der Introjektion
die Erfahrung als Gegenstand in der Außenwelt, auf der anderen die Erfahrung
als Erkenntnis im Menschen — das Verhältnis des
innen-seienden Erkennens zu seinem außen-seienden
Gegenstand musste an die Fortbildungen der Introjektion
gebunden bleiben.
Zwei Entwicklungen sind für uns von besonderem Interesse: die eine macht
Gegenstand und Erkenntnis oder
»Sein« und »Denken«
einander unvergleichbar die andere
einander unerreichbar.
102. — Sofern die ursprüngliche
Erfahrung Sachen (Gegenstände) und Gedanken
betrifft, ist die ursprüngliche Erfahrung eine sachhafte (gegenständliche)
oder eine gedankenhafte; und wenn man in bezug hierauf die Erfahrung
als eine reale oder eine ideelle bezeichnet, so gebraucht man eben nur andere
Ausdrücke.
Immerhin bilden die empirischen realen und die
empirischen ideellen Werte ursprünglich nur
eine Zweiheit, aber keinen
Dualismus
im philosophischen Sinn (vgl. n. 19, Abs.
4).
103. — Sofern einstweilen
noch nicht die Sachen (Gegenstände) in ihrer
Sachhaftigkeit oder Realität von dem einen
Individuum dem anderen
eingelegt werden, kann auch nicht das Eingelegte
im Charakter der Sachhaftigkeit erfahren werden: so bleibt nur der Charakter
der Gedankenhaftigkeit übrig — in moderner Bezeichnungsweise: der
Idealität.
Wie der einstweilen nicht eingelegte
Charakter der Sachhaftigkeit oder Realität den Modifikationen des Körperlichen
und Sinnlichen, so ist der bereits eingelegte
Charakter der Idealität den Modifikationen des Unkörperlichen
(Geistigen) und Nicht-Sinnlichen
zugänglich.
Besteht das eingelegte Gedankenhafte speziell aus Gedanken, so kann das Produkt
der Introjektion auch wieder in speziellen Bestimmungen
erfahren werden; z. B. in derjenigen des Fließens — als Denken,
oder, im Gegensatz zum Wahrnehmen, in der Bestimmung als Vorstellen
(vgl. n. 20).
104. — Jetzt vermöchte
(gemäß n. 103, Abs.. 2) M den
T allerdings als ein
Reales, Sinnliches, Körperliches und als ein Ideelles,
Nicht-Sinnliches, Geistiges zu erfahren; wobei sich aber — im Sinne
der durch die Introjektion geschaffenen Doppelseitigkeit
des T —
für die Erfahrung des M die
Realität, Sinnlichkeit, Körperlichkeit auf das Äußere
— die Idealität, Nicht-Sinnlichkeit, Geistigkeit auf das Innere
des T verteilen würden.
105. — Nachdem wir hiermit
(in n. 102 ff.) die allgemeineren Bemerkungen vorangeschickt
haben, wenden wir uns wieder der konkreteren Betrachtung zu.
Wohl bezeichnen auch höhere Kulturen übereinstimmend mit den niedreren
das Erste Individuum als das »körperliche«
oder den »Körper« schlechthin,
das Zweite Individuum als das
»geistige« oder den »Geist«
schlechthin; wohl auch bezieht das »Geistige«
seinen Namen vom »Geist«. Aber das
»Geistige« der höheren Kultur
setzt schon mehr die Introjektion in jener abstrakten
Reinheit voraus, die wir annahmsweise einführten; die niedrere Kultur verhält
sich weniger unterschiedsempfindlich in ihren
Erfahrungen und setzt infolge davon dem Eingelegten
Bestandteile hinzu, von denen es sich erst allmählich wieder reinigen musste
— es bedurfte einer langen Entwickelung, ehe der »Geist«
der primitiven äußeren Erfahrung zu etwas »Geistigem«
im Sinne moderner innerer Erfahrung
werden konnte.
Wir haben uns daher oben des Ausdruckes
geist-, bzw. geisterhaft
bedient.
106. — Es sind namentlich
Erfahrungen besonders
veranlagter oder besonders (etwa durch Fasten) vorbereiteter
Individuen von autoritativer Stellung (Priester) durch
deren Hinzufügungen zur gemeinen Erfahrung die Beschaffenheit des
Zweiten Individuums näher bestimmt und zugleich ebenfalls zu einem
primitiven Erfahrungsinhalt
erhoben wird. Der letztere trägt ursprünglich wohl einen ganz
numerativen Charakter.
Das heißt:
Das Zweite Individuum hat — nach diesen autoritativen
Erfahrungen — dieselbe Farbe, Größe, Gestalt,
ja dieselben Schmuck- und Bekleidungsstücke wie das
Erste Individuum.
Oder allgemeiner:
Nach den Erfahrungen der Eingeweihten kommen dem Zweiten
Individuum überhaupt die allgemeinen Beschaffenheiten
des Ersten Individuums zu: Ausdehnung, Schwere,
Palpabilität [Greifbarkeit, Fühlbarkeit]
usw.
107. — Auch darin unterscheiden
sich das Erste und Zweite
Individuum nicht voneinander, dass jedes für sich der
Introjektion weiter zugänglich bleibt.
Das heißt:
Auch nachdem sich das Zweite Individuum vom
Ersten getrennt hat,
kann — für die primitive Erfahrung
— das Erste Individuum noch Wahrnehmungen
haben (der Tote »empfindet« noch);
während das abgeschiedene Zweite
Individuum doch wieder ein nur Äußeres für ein weiteres
Innere sein. kann, das in. der ganzen Reihe das Dritte
Individuum ergäbe — und wohl nur die Ermüdung hindert,
dass die Reihe nicht in infinitum fortgesetzt wird.
108. — Mithin: das Zweite Individuum
ist für die primitive Erfahrung
seiner Beschaffenheit nach nichts anderes als das
Erste Individuum noch einmal;
und bezeichnet man das Erste Individuum als den
Körper bzw. Leib des Zweiten
und das Zweite Individuum als den
Geist bzw. die Seele des Ersten, so ist
der Geist oder die Seele für die primitive
Erfahrung nichts anderes als die schlichte Verdoppelung
des Körpers oder Leibes.
109. — Erst eine lange,
im einzelnen hier nicht zu verfolgende Entwickelung, in welcher weitere, widersprechende
Erfahrungen (von der Impalpabilität usf) und
Spekulationen der
Theologie, aber auch
der (namentlich christlichen) Philosophie als die
fruchtbaren autoritativen Momente auftreten, lässt dazu gelangen, dass
der Geist oder die Seele
als »ein ganz anderes
als der Körper« (als ein Ausdehnungsloses,
Unteilbares, Ungreifbares usf.) bestimmt wird — dass der Geist
als etwas Geist- oder Geisterhaftes
zum Geist als etwas
Geistigem erhoben wird.
An Stelle der ehemaligen numerativen Form des anderen ist die bivariative getreten
— und zwar im vollendeten Sinn: die Doppelseitigkeit
des menschlichen Wesens ist zur absoluten Heterogenität, die anfängliche
naiv-empirische Zweiheit zum metaphysischen
Dualismus geworden.
Nicht nur durch die Impalpabilität
(in anderen Fällen: Invisibilität u. ä.)
z. B. wiedererscheinender Verstorbener (d. h. der
Seelen Verstorbener) ist die Erfahrung
an der Umbildung der naiv-empirischen Zweiheit zum »metaphysischen«
Dualismus beteiligt; sie wirkt — freilich mehr oder minder verborgen —
auch in der theologisch-philosophischen Spekulation mit.
Wenn die Introjektion
die Erfahrung (für M)
nach sich zog, dass T das Denken (im allgemeineren Sinn
von DESCARTES‘
cogitare) habe, so war auch die weitere Erfahrung nahe gelegt, dass das
Denken (des T) im Gegensatz zu den sichtbaren, greifbaren
—kurz: sinnlich-wahrnehmbaren Sachen (der M-Erfahrung) ein Unsichtbares,
Ungreifbares — kurz: Nicht-Sinnlich-Wahrnehmbares sei; und dass die unsichtbare
. . . »Seele« über die sichtbare
. . . siegen konnte, lag in der Erfahrung
(des M), dass der eingelegte Wert »unsichtbar«
usw. war. — War aber wiederum das Denken nichts Sinnlich -Wahrnehmbares
und d. h. nichts, das durch die äußeren Sinne wahrgenommen werden
konnte, und wurde das Denken trotzdem erfahrungsgemäß
wahrgenommen, nämlich durch T selbst, so musste
dieser Wahrnehmung oder Erfahrung des Innern bzw. dieser inneren Wahrnehmung
oder Erfahrung natürlich ein »innerer Sinn«
entsprechen.
Ebenso konnte die Erfahrung an der Erkenntnis
des Unausgedehntseins des Denkens und seiner Bestandteile, des Gedachten (bzw.
wieder auch der Seele) mitwirken: die Welt, die äußere Sache
(der M-Erfahrung) ist
ausgedehnt; nachdem die Erfahrung die Wahrnehmung
oder Vorstellung der Welt in T hinein verlegt
hatte, konnte die Welt als Wahrnehmung oder Vorstellung in T
keinen Raum ausfüllen: so muss, im Gegensatz zur res extensa die res cogitans
unausgedehnt werden und nach Ersatz der Seele bzw. des Denkens als eines Ganzen
durch die einzelnen Vorstellungen und Empfindungen auch diese; womit dann wieder
der Boden für ihre Unräumlichkeit vorbereitet ist.
So möchte denn Erfahrung mitgewirkt haben, dass
eine der anfänglich allgemeinsten und sichersten Erfahrungen,
nämlich die »Wechselwirkung« zwischen
Leib und Seele oder Körperlichem und Geistigem zum Problem wurde —
zu dem Problem, wie ist es denkbar, dass das Ausgedehnte auf das Unausgedehnte
wirke, dass das Unausgedehnte vom Ausgedehnten abhänge bzw. eines das andere
»hervorbringen« solle?
110. — Unvergleichbar
wie Körperliches und Geistiges
stehen sich jetzt die Erfahrung als Sache (Gegenstand)
und die Erfahrung als Erkenntnis gegenüber — eine Unvergleichbarkeit,
die freilich, wenn man die Introjektion überhaupt zulassen wollte, nur
da bestehen dürfte, wo Erfahrung als Sache dem
M zugehörig — Erfahrung als Erkenntnis dem T
zugeschrieben bleibt; aber doch sich auch zu erhalten vermag, wo
M unter der Hand der Selbstverwechselung mit T
anheim gefallen ist. In diesem Falle wird dann
M auch im Gebiet selbsteigener Erfahrung die Unvergleichbarkeit
seines Erfahrungsgegenstandes und seiner Erfahrungserkenntnis
desselben zu — erkennen vermögen
und daraus seine Konsequenzen zu ziehen sich berechtigt halten.
IX.
111. — Wir wenden uns zur
zweiten (n. 101) angekündigten Entwickelung.
Der Gegenüberstellung Subjekt—Objekt
würde auch innerhalb der von der Introjektion
unberührt gebliebenen Erfahrung noch eine gewisse Brauchbarkeit
zugestanden werden dürfen, wenn der Ausdruck »Subjekt«
nichts weiter besagen soll als: das menschliche
Individuum, sofern
es in derjenigen bestimmten Beziehung zu seiner individuellen
Umgebung gedacht wird, welche die Analyse des natürlichen Weltbegriffes
für mich selbst gegenüber meiner eigenen Umgebung ergibt
(vgl. oben n. 6 f. und n. 17 ff.) — und der Ausdruck »Objekt«
nichts weiter als: den Bestandteil der individuellen Umgebung, sofern er als
Glied derselben Beziehung gedacht
wird.
Auf dem Boden der Introjektion ist
aber — in der Sprache der Kausalitätsannahme — das Objekt als
außenweltlicher Gegenstand zur Ursache der Wahrnehmung im
Subjekt geworden: jene Gegenüberstellung
ist der Ausdruck einer Theorie.
Und mit dieser Theorie, wonach der außenweltliche
Erfahrungsgegenstand als Objekt die Wahrnehmung
im Subjekt bewirkt, ist der anfänglich
außenweltliche Erfahrungsgegenstand in jene Transformation der Charakteristik
übergeleitet, deren aufeinander folgende Stufen durch die drei
Werte: Nicht-Erfahrbar, Nicht-Erkennbar, Nicht-Seiend
markiert sind — und die Erfahrung geht jeder Beziehung zum Erkennen
und zum »Sein« verlustig.
112. — Von den verschiedenen Formen, welche für die
Vollziehung jener sukzessiven Transformation denkbar sind, nehmen wir folgende
als verwirklicht an:
Mit dem Ergebnis der angegebenen Entwickelung, dass die Erfahrung ein Produkt
unserer inneren oder
geistigen Organisation
und der äußere Gegenstand, inwieweit er Erfahrung ist, nur eine Vorstellung
in mir sei, ist gesetzt, dass der äußere Gegenstand
nicht selbst dasjenige sein könne, was
eigentlich »erfahren« werde; er müsste
ja, um selbst erfahren zu werden, in unser Inneres hinübergewandert sein
— was widersinnig, oder aber es müsste das Erkenntnisvermögen
nicht an die Vermittelung der Sinne gebunden sein, was wenigstens nicht für
»menschliche« Geister
gelten würde. — Der Erfahrungsgegenstand als Objekt ist also zunächst
ein Nicht- Erfahrbares geworden — Bestandteil
eines »unerfahrbaren Seins«.
113. — Ist aber der Erfahrungsgegenstand
als erfahrbarer nur eine Vorstellung in mir, so erkenne ich, wenn ich
einen Erfahrungsgegenstand erkenne, den Gegenstand immer nur so, wie er für
mich (für meine Erfahrung, mein Erkenntnisvermögen,
mein Denken, mein Bewusstsein) ist; nicht,
wie er außerhalb meines Bewusstseins oder an
sich sei. — Der Erfahrungsgegenstand als Objekt ist sonach
ein Nicht-Erkennbares geworden.
114. — Selbst wenn
— in einer Übergangsform dieser mannigfache Grade
zulassenden Entwickelung der äußere Gegenstand noch als ein Erfahrbares
und Erkennbares geduldet werden sollte, so würde er jetzt immer an Dignität
des Seins und der Erkennbarkeit den Vorstellungen und dem Bewusstsein nachstehen;
denn durch die Einschaltung der Sinne als Vermittler
zwischen Außen- und Innenwelt ist die Vorstellung oder das Bewusstsein
auch zu dem unmittelbar Gegebenen
und Erkannten geworden, und werden die äußeren Gegenstände,
inwieweit also überhaupt ihre Erkennbarkeit noch zugelassen wird, zu dem
immer mir mittelbar Gegebenen
und Erkannten.
115. — Der Gegenstand
bleibt ewig draußen, und sein Bewirktes,
die Wahrnehmung, ist (als Vorstellung) so
unvergleichbar mit dem Gegenstande selbst wie Sein
und Bewusstsein. Das Denken bleibt ewig
drinnen, und alles, was man vom Denken aus erreichen
kann, kann immer wieder nur ein Gedachtes sein. Geht man also vom Sein aus,
so bekommt man die Gegenstände nicht ins Bewusstsein hinein; geht man vom
Bewusstsein aus, so kommt man nicht zum Gegenstand hinaus.
116. — Nun muss
aber vom »Bewusstsein« ausgegangen
werden als dem unmittelbar Gegebenen und Gewissen
(der »Urtatsache«);
also bleibt nur noch übrig: der außenweltliche Gegenstand - der Gegenstand
ehemaliger unmittelbarer Erfahrung! — ist nur meine Vorstellung, ist als
meine Vorstellung nur in meinem Bewusstsein, als mein Gedachtes nur in meinem
Denken. Und dieses Nur kann
doch nicht ein anderes und mehreres bedeuten, als dass es für mein Denken
oder Bewusstsein kein Sein außerhalb
meines Denkens oder Bewusstseins (meiner »Subjektivität«)
gibt. Und in dieser Form kann dann auch der außenweltliche Gegenstand
zu einem außerhalb meines Denkens Nicht-Seienden, d. h. eben: zu einem
Nicht-Seienden werden.
Zur Erläuterung diene eine Bemerkung:
Normalerweise ist die Umgebung als »Seiendes«
charakterisiert; und wenn demgemäß die Umgebung
(die Außenwelt — die Welt schlechthin) als das »Seiende«
bezeichnet wurde, so wurde es eben nach einer normalerweise nie fehlenden Charakteristik
bezeichnet. Nun scheint aber diese Charakteristik insofern vom individuellen
»Denken« »abhängig«, als die Umgebung (z.
B. in Psychosen) auch als ein »Nur-Scheinendes« oder sogar
als ein »Nicht-Seiendes« charakterisiert werden kann; das »Sein«
der Umgebung in diesem Sinn wäre mithin so wenig eine vom
»Denken« unabhängige Bestimmung wie die »Schönheit«
und »Annehmlichkeit« oder die »Wahrheit«
und selbst wie die »Farben« usw. Wenn
aber einerseits die als »seiend« charakterisierte
Umgebung als das »Seiende« schlechthin
bezeichnet werden konnte, anderseits aber auch erfahren wurde, dass das »Seiende«
etwas »vom individuellen Denken Abhängiges«
sein könne, so erbot sich zum (nunmehr nötig
gewordenen) Kriterium
ihres »Seins« oder des
»Seins« schlechthin eben die »Unabhängigkeit
vom Denken überhaupt«; und das »Sein«
nimmt jetzt den Sinn an: »unabhängig vom Denken
sein« — und auch der in diesem zweiten »Seins«-Begriff
enthaltenen Forderung genügt die Umgebung, insofern sie unabhängig
von meiner Gegenwart oder Abwesenheit ist.
Diese Bestimmung der Umgebung, welche ihr auf dem Boden der von der Introjektion
unberührten Erfahrung zukam, diese Bestimmung der Umgebung bzw. der Umgebungsbestandteile,
als Unabhängiger erster Art (vgl. n. 27),
ist es also zuvörderst, welche in der angegebenen Entwickelung der außenweltliche
Gegenstand verliert, indem es kein Sein außerhalb
meines Denkens oder Bewusstseins mehr gibt: und indem die Umgebung zu einem
»Nicht-Seienden« im zweiten Sinn des »Seins«
wird, wird sie auch zu einem »Nicht-Seienden«
im ersten Sinn.
Vorausgesetzt, dass für M die Umgebung überhaupt
ein »Seiendes« sei, so ist sie ihm
als solches ursprünglich nicht ein »Erzeugnis«
oder eine »Tathandlung« u. ä.
seines »Ich«, sondern sehr einfach
ein »Vorgefundenes« oder »Gegebenes«
oder dgl. Ebensowenig ist sie ihm, sofern er nur auf sie reflektiert, wie er
sie in bezug auf T vorfindet, ein »vom
Denken des T Abhängiges«: denn T
mag »denken« oder »nicht
denken«, »wahrnehmen« oder »nicht
wahrnehmen«, T mag sogar »leben«
oder »nicht leben« usf. —
die Welt, welche M vorfindet, bleibt davon vollständig
unberührt. Um seinerseits auf den »Gedanken«
zu geraten, dass die Welt vom »Denken« des
T abhänge, müsste er immer erst »Wahrnehmen«
und »Vorstellen« in T
hineinverlegen und dann noch alles Hinein- und Beigelegte durcheinander werfen,
indem er alles miteinander als »Denken« bezeichnet;
und um endlich sein Werk mit dem besonders hohen »Gedanken«
zu krönen, dass die ganze vorgefundene Welt und ganz so, wie sie vorgefunden
wird, nun gar von »seinem eigenen Denken«
abhänge, müsste er zum guten Schluss auch noch sich selbst
mit T verwechseln. Weitere Bedingungen freilich dürften zu dieser allerdings
eminent »philosophischen« Leistung
nicht erforderlich sein.
X.
117. — Durch den
Doppelsinn der Erfahrung (T- Erfahrung)
ist übrigens .auch zu allen Fehlbestimmungen der »Erfahrung«
überhaupt noch speziell eine solche für die »reine
Erfahrung« denkbar geworden.
Versteht man unter Erfahrung die Erfahrung, sofern
sie — abgesehen von der Introjektion —
theoriefrei als in formenvoller Lebendigkeit gesetzt ausgesagt wird
(die T-Erfahrung schlechtweg — als Vertreterin
der M-Erfahrung), so dürfte die Beschränkung
zulässiger Erkenntnisse, wie n. 100 gesagt,
auch mit der reinen Erfahrung, wenigstens der Forderung nach, zusammenfallen.
Versteht man unter Erfahrung aber die Erfahrung, sofern sie aus den reinen Empfindungen
und der nicht-sinnlichen »Zutat« bestehen soll (die
T-Erfahrung II), so kann
der Ausdruck »bloße Erfahrung«
auch auf die Erfahrung nach Wegschaffung jener nicht-sinnlichen
Zutat (auf die T-Erfahrung
I) bezogen werden: und die reine Erfahrung wird just zu etwas,
was nie erfahren wird — zur Gesamtheit bloßer oder reiner Empfindungen.
Nachdem — durch die Verwechselung
— die reale Welt zur »Vorstellung«
geworden ist, kann, wie schließlich noch beiläufig angemerkt werden
mag, das beliebig, eventuell bis ins Unendliche, verkleinerte
Element der Vorstellung in verschiedenen denkbaren Formen sich
zu einem letzten Element der realen Welt entwickeln.
S. 21-62
Aus: Der menschliche Weltbegriff von Dr. Richard Avenarius,
Vierte unveränderte Auflage, Leipzig O.R. Reisland 1927