Gottfried Arnold [Pseudonym: Christophorus Irenaeus] (1666 – 1714)

Deutscher evangelischer Theologe und leidenschaftlicher Befürworter des Pietismus, der sich in seiner 2-bändigen »Unpartheyischen Kirchen- und Ketzerhistorie« (1699/1700) auf die Seite der Ketzer und Mystiker als der wahren Christen schlug. Nach seiner Auffassung besteht der wahre Sinn der Kirchengeschichte weder in Verfassung noch Dogma, sondern in innerlichem Leben aus der Wiedergeburt. Nur Wiedergeborene können die Geschichte des Christentums erkennen. Diese sind zu allen Zeiten unter allerlei Ketzernamen als unliebsame Rebellen von der herrschenden Mehrheit verfolgt worden. Darum sind nach seiner Ansicht diese so genannten Ketzer die wahren Träger der Kirchengeschichte

Siehe auch Wikipedia , Heiligenlexikon und Kirchenlexikon

Beschluss der Kirchen- und Ketzerhistorie (1699)

Im übrigen werden nun verständige und Gott suchende Gemüter aus der ganzen Serie und Ordnung dieser Historie nacheinander ohne fernere Anführung selber ersehen das unaussprechliche allgemeine und so langwierige Elend der ganzen so genannten Christenheit, welches gleichwohl bei allem äußerlichen Ruhm und Schein aus allen und jeden Umständen und Begebenheiten so gar deutlich in die Augen fällt. Man kann nicht leugnen, dass die so genannte Kirche in so viel tausend Stücke gleichsam oder Parteien und Sekten von Anfang her zerrissen und zertrennt worden: Ja, dass, wo man vollends die einzelnen Personen in ihren eigenen Meinungen und Wegen ansieht, wohl so viel Sinne oder Konzepte und Religionsarten, als jederzeit fast Köpfe gewesen. Angesehen (Wie denn) die Worte und Werke der so genannten Christen von Anfang des Verfalls durch alle Zeiten ausweisen, dass gemeiniglich nicht einmal zwei oder drei in Christo Jesu wahrhaftig und gründlich eins oder wie die allererste apostolische Gemeinde ein Herz und eine Seele gewesen. Man findet aber auch ferner, dass diejenigen, welche noch mit dem Heiland der Welt und untereinander wahrhaftig und wirklich eins gewesen, sich allein an dieses Haupt in stiller Niedrigkeit gehalten, und ob sie wohl von denen, die das Ansehen gehabt, als Sektierer und Ketzer ausgerufen worden, danach weder Paulisch noch Apollisch noch Christisch heißen wollen (1. Kor. 3, 3ff.). Woraus ferner offenbar und zu schließen leicht ist, ob die Gemeinden und größten Haufen oder Parteien, deren ein jeder sich rechtgläubig und in der Lehre (wie sie diese von dem Leben also abgerissen) für vollkommen ausgegeben, die wahre Kirche jemals wahrhaftig ausgemacht? oder, ob diejenigen für die unsichtbare rechte heilige Gemeinde Christi anzusehen sei, die unter allen sichtbaren Sekten als Schafe Christi den großen Hirten allein gehört, respektiert und das ewige Leben von ihm empfangen? ...

Deswegen, wo auch eine unparteiische Kirchenhistorie sonst nichts nütze wäre, so kann sie doch darin einem Gemüte, dem es allein um die Rettung der Seligkeit zu tun ist, dazu hauptsächlich dienen, dass es durch die Erkenntnis des allgemeinen Elends desto kräftiger zu Christo, dem ewigen lebendigen Wort des Vaters, allein getrieben wird und sich bei so augenscheinlicher Gefahr in innigster Begierde des Glaubens in ihn hinein senkt. Denn wenn von allen Seiten her mit vollem Halse gerufen wird: Seht, hier ist Christus! da ist Christus! Seht, er ist in dieser Kirche oder Schule, in der oder in jener Predigt oder Übung, in diesem Kollegium oder Kammer- und Hausversammlung, bei der oder jener Person ist er allein! so folgt ein Herz, das Christus wahrhaftig kennt, nicht, geht auch nicht außer sich und außer der Gemeinschaft und dem steten Umgang mit dem Herrn. Sintemal, wo es nicht an andrer Leute Schaden aus den hier erzählten Exempeln klug werden kann, es gleichwohl durch eigene Erfahrung gewitzigt ist, wie leicht das unschuldige lautere und freie Leben Jesu Christi bei solchem Ausschweifen und sektiererischem Ansehen der Personen verletzt und verloren werden könne. Es haben leider! (besage dieser Historie) die gutwilligsten Gemüter und bescheinenden (glänzenden) Gemeinen durch dergleichen Parteilichkeit, sektiererische Absonderungen, Selbstgefälligkeit und eigene Erhebung das von Gott verliehene Gute nach und nach augenscheinlich verloren und mit sich zugleich andere, die sich ihnen allein zugesellt und anvertraut gehabt, verleitet und von dem allgemeinen und einigen Weg, der da Christus selber ist, abgeführt.

So bleibet demnach aus allen vorhergehenden Erzählungen dieses der beste Vorteil, dass unser Gemüt von allem, was Christum zerteilen oder nur stückweise anpreisen und vortragen oder auch an sich und seine Lehre allein binden will, ernstlich fliehe und sein Aug und Ohr einzig und allein gegen Christi wahrhaftige Gestalt und Stimme frei offen behalte. Derjenige Geist der Weisheit, der uns in alle Wahrheit zu leiten versprochen ist, wird auch seine gehorsamen Untergebenen lehren, die Christen genau zu prüfen und mit Hintansetzung menschlicher Vorschriften, Formen, Urteile, Absichten und Übungen bloß und lauterlich aufsehen machen auf unsers Glaubens Anfänger und Vollender. Johannes, Paulus, Kephas und Apollo konnten wohl, da sie Gott dazu brauchen wollte, pflanzen und begießen, mit Fingern auf Christum weisen und rufen: Siehe, das ist Gottes Lamm! Aber wer waren diese alle, und was konnten sie ausrichten, wo nicht Gott das Gedeihen gab? Wer in sektiererischer Eigenliebe die Braut für sich und dem Bräutigam vorenthalten oder ihm einen Anhang und Namen von Unwissenden und Einfältigen zuwege bringen oder auch den von der Welt um einiges guten Willens ihm beigelegten Charakter und Zunamen zur Sammlung einer gewissen eigenen Sekte oder Gemeine brauchen und also Vater, Doktor, Meister und Herr des Glaubens heißen wollte, der konnte mitnichten des Bräutigams Freund (Joh. 3, 29) sein. Und gleichwohl hat der Satan immer dieses zum Fallstrick an sich selbst anfänglich aufrichtiger Lehrer gebraucht, dass sie sich durch der Menschen Lob, Beifall und Erhebung, auch wohl durch einigen von Gott verliehenen Segen, aufblähen und sodann auf antichristliche Art ihre Autorität, Lehren und Aussprüche anstatt Christi Jesu selber in die Herzen setzen und eindrücken lassen. Welches dann eben der rechte Widerchrist durchgehends ist in denen, nach (Joh. 10, 8 die als Diebe und Mörder vor Christo kommen), der sich in den Tempel Gottes oder die Gemüter gutherziger Menschen setzet und vorgibt, er sei Gott, das ist, man müsse seiner Meinung und Führung so glauben und folgen, wie er selbige etwa mit einem missbrauchten biblischen Spruch oder Vernunftschluss oder mit seinem eigenen Exempel als göttlich vorlege.

Aus dieser bitteren Wurzel der eigenen Liebe und Ehre hat sich der ganze Baum des Irrtums und falschen Christentums in so viel hundert Äste, Zweige und Früchte der Ketzereien, Spaltungen, Sekten und Haufen durch die ganze Welt ausgebreitet. Ich will nicht sagen von den offenbarlich-bösen und ganz verwerflichen großen Kirchgemeinen (Konfessionen), deren Gräuel auch ein Vernünftig-Kluger sehen kann. Sondern das Elend derer, welche unter einigem Schein der Wahrheit oder Gottseligkeit danach Christum um Hass und Haders willen in eigener Erhebung disputieren, verketzern und in Verwerfung des allgemeinen unparteiischen Meisters gepredigt haben oder noch predigen, ist desto größer, je weniger es erkannt oder entdeckt wird. Solche Sektierer haben gemeiniglich die Einfalt und den blinden Gehorsam gutwilliger Gemüter missbraucht und die leichten Seelen an sich gelockt, ihren eigenen Weg zur allgemeinen Regel aller andern gemachet, diejenigen, welchen er unzulänglich und zu kurz gewesen, als irrige Eigenwillige und Ketzer verworfen. Woraus dann ferner erfolgt ist, dass solche armen Seelen durch einen subtilen Gewissenszwang in die gesetzten Schranken der menschlichen Meinungen und Satzungen eingeschlossen und nicht weiter als ihre Meister, viel weniger an das Ziel und Kleinod selbst gelangt sind. Niemand kann diesen und dergleichen Irr- und Umwegen entgehen, er risse sich denn mit solcher Gewalt, welche man dem Himmelreich tun soll, von allen menschlichen Respekten los und lasse in seinem Herzen den Geist Jesu Christi eine solche hungrige Begierde des Glaubens erwecken, die mit Vergessung alles, was hinter ihn gehöret, sich nur nach Christo strecke und ihm allein zu folgen resolvierte (beschlösse). Er selbst, der treue und wahrhaftige Zeuge, steht ohnedem vor der Tür, wie ein jeder dessen Anklopfen wohl fühlen wird, und bietet durch seine himmlische Berufung im Herzen das Kleinod wahrhaftig allen treulich an. Die ganze Heilige Schrift zeuget von ihm, und alle Worte darinnen gehen dahin, dass sie uns von der Kreatur zum Schöpfer und vom Sichtbaren oder Menschlichen aufs Unsichtbare und Göttliche durch den einigen (einzigen) Weg, Christum, ziehen möchten.

Kein Atheist kann sich hier weißbrennen, als hätte er den Zug Gottes und die Empfindung einer höhern Kraft niemals bei sich gemerkt: Er wird auch derselben nimmermehr entlaufen noch sie gar unterdrücken oder von sich weisen können, er wehre sich gleich noch so lange und mühsam wieder; folgt er nicht in Liebe, so mag er mit Schaden klug werden. Viel weniger darf jemand einwenden, er wisse bei solcher Uneinigkeit und Verderbnis der Parteien unter den Christen nicht, bei welcher er die Wahrheit suchen solle. Er darf sie nur bei dem suchen, auf welchen uns der Schöpfer gewiesen hat, dass wir ihn als seinen geliebten Sohn hören sollen, so wird er sie nicht allein finden, sondern auch empfinden und in den Kräften oder geistlichen Sinnen seiner Seele schmecken, hören, sehen und genießen. Und also wird er sich mit den häufigen Sekten nicht länger entschuldigen, weil ihn der Geist Christi alles prüfen und das Gute behalten lehren wird ...

Allein, ich muss hier schließen und in wahrhaftiger gemeiner (allgemeiner) Liebe alle und jede unsterbliche Seele Gott ... und diesem lebendigen ewigen Wort seiner Gnade selbst überlassen und empfehlen (Apostelgesch. 20, 32). Dieser, wie er willig und mächtig ist, alle miteinander von ihnen selbst und von der Kreatur zu sich zu ziehen, also wird er sich auch in einem jeden als das wahrhaftige Licht äußern und bezeugen, das da alle Menschen erleuchtet. Selig ist der, welcher, sobald er dessen Schein und Kraft erblicket, demselben eifrig nachspürt, seine Augen dadurch eröffnen lasset und sodann auf seinen Wegen dieser brennenden Lucerne (Leuchte) getrost nachfolgt, bis der Morgenstern selbst und endlich der volle Sonnenschein anbricht (2. Petr. 1, 19). Ein solcher, er sei, wo er wolle, wird keinen Mangel haben an irgendeiner nötigen Kraft oder Gabe und nur im Gehorsam warten dürfen auf die volle Offenbarung Jesu Christi selbst. Außer diesem ist in Ewigkeit kein Heil, kein Name der Parteien oder Religionen, Meinungen, Worte, Gottesdienste oder Opfer, kein Buchstabe oder Geist von Gott uns beniemet (genannt), darinnen wir errettet und selig werden könnten.

In ihm aber ist auf ewig (als in ein Haupt) alles zusammen gefasst, und was zu allen Zeiten von Gott abgewichen und entfernt oder in Sekten und Meinungen zerteilt gewesen, muss alles in ihm wiederum zusammengebracht und durch ihn in Gott eingesenkt und behalten werden. Und nun naht die Zeit auch herbei, dass sich auch wirklich alle Scheidung und Trennung nacheinander verlieren, alle Menschennamen und Parteien verschwinden und alle Kreaturen in ihr ursprüngliches allerseligstes Eins durch die Herwiederbringung aller Dinge als in ein unergründliches Meer der ewigen Liebe, die Gott selber wesentlich ist, hineingezogen werden soll, auf dass Gott sei alles in allem! Zu diesem Zweck müssen auch diese äußeren Buchstaben nach Gottes Wohlgefallen und Führung angewendet werden, dass nämlich des Lesers Sinn immer aus diesen mannigfaltigen Dingen zu dem einigen Notwendigen kräftig gezogen und bei Erkenntnis ihrer Nichtigkeit an Gott allein durch Christum zu hangen gedrungen werde. Gleichwie auch das Gemüt des Schreibers bei dieser Arbeit von der züchtigenden heilsamen Gnade Jesu Christi immerzu von der so leicht geschehenen Zerstreuung und Ausschweifung der Gedanken und Affekte zu ihm, dem Quell des ewigen Lebens, gewaltig gezogen worden ist. So gar, dass, wo er nicht vorlängst den Apparat dieser fast unzähligen Dinge schon beisammen gehabt, selbige nun zu sammeln ihm würde unmöglich gewesen sein, nachdem die Liebe Christi nicht ruht, bis sie uns gar in sich gezogen und gleichsam verschlungen hat. In diese senken wir uns zusammen mit der ganzen verlornen und ausgearteten Kreatur in hitziger innigster Begierde des Geistes hinein und wollen außer dieser Liebe ewiglich keine andere durch ihre Kraft suchen noch haben, nachdem wir lange genug unser selbst gewesen. Wer da kennt den, der ihn liebt, der bitte und nehme, suche und finde und genieße wirklich und umsonst, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben! S. 144-151
Vorlage: Klassiker des Protestantismus, Band VI, Das Zeitalter des Pietismus, herausgegeben von Martin Schmidt und Wilhelm Jannasch, Carl Schünemann Verlag Bremen