Ernst Friedrich
Apelt (1812 – 1859)
Deutscher Philosoph,
der wohl der bedeutendste Schüler von Jakob Fries
war. Nach Apelt müssen wir die philosophischen
Erkenntnisse nicht erwerben. Sie sind uns von vornherein (a
priori) gegeben und können durch bloßes Nachdenken gefunden
werden.
Siehe auch Wikipedia
Einleitung in
die philosophische Erkenntnis
(Ernst Friedrich Apelt, Metaphysik
1857, Seite 1-6)
§1. Alle
unsere Erkenntnis fängt m i t der Erfahrung an, aber es entspringt nicht
alle unsre Erkenntnis aus der Erfahrung. Die Sinnesanschauung ist offenbar
der erste Anfang, womit unser ganzes Erkennen beginnt. Der Zeit nach geht also
keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt
daher alle an.
Aber die Erfahrungserkenntnis ist selbst etwas Zusammengesetztes aus dem, was
die Anschauung und Wahrnehmung der Sinne gibt, und dem, was unser Erkenntnisvermögen
durch sinnliche Anschauung bloß veranlaßt aus seiner eigenen Selbsttätigkeit
hinzugibt, welcher Zusatz nur durch Übung und Aufmerksamkeit von der Sinnenerkenntnis
unterschieden und abgesondert werden kann.
Denn die Erfahrung ist kein bloßes Aggregat von Wahrnehmungen, sondern
die Verknüpfung von Wahrnehmungen nach notwendigen Gesetzen. Diese Gesetze
und Regeln können nicht empirischen Ursprungs sein. Erfahrung würde
gar keine Gewißheit haben, wenn alle ihre Regeln nur empirisch, mithin
zufällig wären. Die Unentbehrlichkeit solcher
nicht empirischer Sätze zur Möglichkeit der Erfahrung selbst läßt
sich also schon a priori dartun.
Wir können aber auch zum Beweise der Wirklichkeit derartiger Sätze
uns auf die Mathematik berufen, deren Grundsätze und Lehrsätze nichts
Empirisches an sich haben. Selbst der allergewöhnlichste Verstandesgebrauch
setzt derartige Sätze voraus, wie z. B. das Kausalgesetz, daß jede
Veränderung eine Ursache haben müsse.
Aber nicht bloß unter unsern Urteilen, sondern selbst unter unsern Begriffen
finden sich einige, die nicht aus der Erfahrung entsprungen sein können.
Wenn man z. B. bei dem empirischen Begriff eines Körpers von allen zufälligen
Eigenschaften abstrahiert, die uns die Erfahrung zeigt (wie
Farbe, Härte oder Weiche, Schwere u.s.w.), so bleibt doch noch der
Begriff der Substanz übrig, die man als Träger aller jener Eigenschaften
notwendig vorauszusetzen gezwungen ist. Die Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit
dieses Begriffes zeigt offenbar an, daß er nicht durch eine zufällige
Wahrnehmung der Sinne gegeben sei, sondern daß er
in unserm Erkenntnisvermögen a priori seinen
Sitz habe.
Ja es scheint sogar Erkenntnisse zu geben, welche über
die Sinnenwelt hinausgehen bis dahin, wohin keine Erfahrung mehr langt
und die mithin völlig unabhängig von der Erfahrung und selbst von
aller Anschauung der Sinne stattfinden würden. Es
ist dies die Erkenntnis von G o t t , F r e i h e i t und U n s t e r b l i
c h k e i t. Diese größten aller Rätsel menschlicher
Erkenntnis sind unvermeidliche Aufgaben für uns und die Lösung dieser
Aufgaben ist die Endabsicht aller Nachforschungen unserer Vernunft.
Fassen wir das Ergebnis dieser Betrachtung zusammen, so können wir vorläufig
sagen: Alle unsre Erkenntnisse zerfallen in empirische und rationale. Die erstern
entspringen aus dem S i n n, die letztern aus der
r e i n e n V e r n u n f t ; die erstern sind
z u f ä l l i g, die letztern n
o t w e n d i g; die erstern sind Sachen der Kenntnis,
die letztern Sachen der E i n s i c h t.
§2. Von jeder andern Wissenschaft
kann man sich leicht einen Begriff verschaffen, auch wenn man keine Kenntnisse
in derselben besitzt. Mit der Philosophie scheint man nicht so glücklich
daran zu sein. Fast jeder Philosoph hat von seiner Wissenschaft einen andern
Begriff und eine andere Definition.
Dies deutet offenbar darauf hin, daß die philosophische
Erkenntnis selbst etwas Dunkles und Rätselhaftes an sich hat. Um
dies Dunkel aufzuhellen, hat man öfters die Philosophie mit der Mathematik
verglichen. Es gibt nicht leicht zwei Wissenschaften, die auf der einen Seite
so verschieden, auf der andern Seite so ähnlich sind.
Verschieden, denn in der Mathematik herrscht durchgängig Einigkeit der
Lehre, in der Philosophie der größte Widerstreit. In der Mathematik
herrscht eine Sicherheit des Wissens, welche den Zweifel völlig ausschließt,
die Erkenntnisse der Philosophie dagegen scheinen unsicher
und dem Zweifel ausgesetzt zu sein.
Dort zeigt sich überall Licht und Klarheit, hier treffen wir häufig
Dunkelheit und Dämmerung an. Ähnlich sind beide Wissenschaften in
der Art und Weise, wie sie zu ihren Erkenntnissen gelangen. Der Mathematiker
findet seine Sätze nicht auf dem Wege der Erfahrung, sondern durch eigenes
Nachdenken. Und ebenso kommt der Philosoph zu seinen Behauptungen. Denn unter
Philosophieren versteht man das eigne freie Denken, das an kein Ansehen gebunden,
an keine Autorität gefesselt ist. Um ein mathematisches
oder philosophisches Problem zu lösen, braucht man nichts weiter als seinen
eigenen Verstand, aber um eine geographische oder historische oder physikalische
Aufgabe zu lösen, sind noch andere Quellen der Erkenntnis erforderlich.
Z. B. das große geographische Rätsel über die Beschaffenheit
des Innern von Afrika kann nicht durch Denken, sondern nur durch die Anschauung
und Untersuchung jener Gegenden gelöst werden. Der Chemiker kann sich die
Zusammensetzung der Stoffe nicht a u s d e n k e n , sondern er muß sie
durch Experiment d. i. auf dem Wege der E r f a h r u n g kennen lernen.
Was man daher auch für eine Ansicht über das Wesen der Philosophie
haben mag, so wird man doch leicht zugeben, daß sie eine rationale oder
eine V e r n u n f t w i s s e n s c h a f t ist. Als solche ruht sie aber auf
P r i n z i p i e n und nicht auf Faktis oder mit andern Worten: die philosophische
Erkenntnis ist Cognitio ex principiis
und nicht Cognitio ex datis (Erkenntnis
aus Grundsätzen und nicht Erkenntnis aus Gegebenem). Nun mag es
vielleicht mit großen Schwierigkeiten verbunden sein, diese Prinzipien
zu finden, aber wenn man sie einmal hätte, dann wäre auch die Möglichkeit
da, die Philosophie als evidente* Wissenschaft auszubilden.
Die philosophische Erkenntnis würde alsdann an Sicherheit und Gewißheit
der mathematischen nicht mehr nachstehen.
*Unter Evidenz versteht man die „anschauende
Gewißheit", der sich niemand entziehen kann.
Es ist eine alte bekannte Schulregel: contra principia
negantem disputari nequit, mit demjenigen
kann man nicht streiten, der nicht die Prinzipien zugibt. Dieser Satz
ist durchaus falsch, denn aller Streit in der Philosophie ist der Streit um
die Prinzipien. Ist man erst in den Gründen einig, so muß man auch
über die Folgen sich einigen können. Denn wo dies noch nicht geschehen
wäre, da müßte auf der einen oder der andern Seite ein Fehler
im Schließen (der Ableitung der Folgen aus den Gründen)
vorgekommen sein und dieser müßte sich mit Geduld und gutem
Willen bald ausfindig machen lassen. Aber etwas ganz anderes ist es, wenn man
sich um die Gründe oder Prinzipien selbst streitet. Ein solcher Streit
kann nicht so leicht geschlichtet werden.
§3. Kenntnis fremder Länder
und Völker hat der, der dieselben gesehen oder sie aus Beschreibungen kennen
gelernt hat. Kenntnis fremder Sprachen besitzt der, der sich dieselbe erworben
hat. Aber ganz anders verhält es sich mit philosophischen und mathematischen
Erkenntnissen. Wenn mir jemand eine philosophische oder
mathematische Wahrheit mitteilt, so sage ich nicht, ich habe sie k e n n e n
gelernt, sondern ich habe sie verstanden oder eingesehen. Da genügt
nicht das bloße S e h e n oder H ö r e n , sondern ich muß
dabei denken. Erst dadurch, daß ich über das, was ich sehe und höre,
nachdenke, erlange ich das Verständnis oder die Einsicht in die mir mitgeteilte
philosophische oder mathematische Wahrheit, erst dadurch mache ich mir eine
solche Erkenntnis zu eigen. Von mathematischen und philosophischen
Dingen kann man sich also keine Kenntnis erwerben, sondern man muß sich
eine Einsicht in dieselben verschaffen. Nur empirische Erkenntnisse sind
Sachen der Kenntnis, rationale Erkenntnisse dagegen sind Sachen
der E i n s i c h t. Mathematische und philosophische Erkenntnisse aber
sind nicht e m p i r i s c h e, sondern r a t i o n a
l e Erkenntnisse; sie werden nicht erfunden wie Fabeln, sie werden nicht
erzählt wie Geschichten, sie werden nicht wahrgenommen wie Tatsachen, sondern
sie werden durch eigenes Nachdenken gefunden.
Empirische Erkenntnisse (Kenntnisse) b e s i t z t der Eine, dem Andern g e
h e n s i e a b. Der Besitz dieser Erkenntnisse ist also für den Einzelnen
z u f ä l l i g. Der Eine hat z. B. eine Vorstellung von dem Niagarafall,
der Andere nicht. Wer sie nicht hat, der kann sich dieselbe durch allen Scharfsinn,
durch alle Anstrengung des Denkens nicht erwerben. Er muß den Gegenstand
selbst sehen oder ihn sich beschreiben lassen.
Philosophische Erkenntnis dagegen ist ebenso wie die mathematische
eine allgemeine und notwendige. Der Besitz der philosophischen und mathematischen
Erkenntnis ist also für jedermann n o t w e n d i g.
Diese Erkenntnisse sind mithin nicht das Eigentum Einzelner, sondern das Eigentum
eines jeden Menschen: man besitzt sie immerdar, zu allen Zeiten und an allen
Orten. Wir haben sie, ohne daß wir uns dieselben erst zu erwerben brauchen.
Wenn wir uns die philosophischen Vorstellungen
erst e r w e r b e n müßten, so würden wir sie nicht durch bloßes
Nachdenken fänden können. Daß wir sie durch bloßes
Nachdenken finden können, ist nur dadurch möglich, daß sie de
facto schon in uns liegen, auch ohne daß wir uns ihrer bewußt sind.
Die rationalen Erkenntnisse werden durch eigenes Nachdenken gefunden, heißt
also nichts anderes, als wir werden uns derselben durch Denken bewußt.
Sie werden durch das Denken nicht hervorgebracht, sondern
zum Bewußtsein gebracht. Jeder Mensch k a n n z. B. jederzeit wissen,
daß 2 mal 2 = 4 oder daß der
briggische Logarithmus von 2 = 0,3010300 ist. Ob er es w i r k l i c
h weiß, ist dann freilich noch eine andere Sache.
Die philosophische Erkenntnis liegt also tatsächlich
in jedem Menschengeiste auf ein und dieselbe unveränderliche Weise. Dieses
Faktum wird sich später noch genauer konstatieren lassen, wenn wir zur
Betrachtung der Erkenntnis a priori
kommen werden.
Die Schwierigkeiten der Philosophie betreffen in der Tat auch gar nicht diesen
ursprünglichen Besitzstand selbst, son¬dern nur die Einsicht in denselben.
Die Schwierigkeiten liegen nicht darin, wie wir die philosophische Wahrheit
erwerben sollen (denn als notwendige Vernunftwahrheiten
sind die philosophischen Erkenntnisse ein ursprüngliches Eigentum unserer
Vernunft), sondern darin, wie wir uns dieses ursprünglichen Eigentums
b e w u ß t werden können.
Philosophische Erkenntnis kann also nicht gelernt werden wie man neue Kenntnisse
in den empirischen Wissenschaften oder neue Sprachen lernt; sie kann nur zum
Bewußtsein gebracht, sie kann nur aufgeklärt werden. Wenn
die philosophische Erkenntnis erst in uns a u f g e k l ä r t werden muß,
so ist sie nicht ursprünglich klar, sondern muß erst klar gemacht
werden. Wenn sie nicht ursprünglich klar ist, so ist sie ursprünglich
dunkel. Die philosophische Erkenntnis liegt also ursprünglich als du n
k l e Vorstellung in jedem Menschengeiste und wir bedürfen mithin eines
besonderen L i c h t e s, um dieses Dunkel in unserm eigenen Innern aufzuhellen.
Dies Licht ist das Licht des Verstandes d. i. das Denken.
Philosophische Erkenntnis ist nun diejenige, welche einzig
und allein in diesem Lichte erscheint d. h. welche uns n u r d e n k e n d zum
Bewußtsein kommen kann. Sie lebt nur in den Begriffen des Verstandes.
Die Ausbildung des Bewußtseins um die philosophische Erkenntnis ist daher
viel verwickelter, viel schwieriger als bei jeder andern Art von Erkenntnissen.
Zufolge der ganzen Organisation unsers Geistes ist die
philosophische Erkenntnis die verborgenste von allen Erkenntnisweisen,
die wir besitzen. S.169-174
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 207, Philosophisches Lesebuch. Zweiter Band, Das neunzehnte Jahrhundert
. Ausgewählt und erläutert von Hermann Glockner ©1950 by Alfred
Kröner Verlag in Stuttgart
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Kröner Verlages, Stuttgart