Anselm von Canterbury (1033 – 1109)

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Warum Gott Mensch geworden ist

Wie es — obwohl das Niedrige, das wir von Christus aussagen, sich nicht auf die Gottheit bezieht — den Ungläubigen dennoch ungeziemend erscheint, daß man es von ihm, sofern er Mensch ist, aussagt; und warum ihnen dieser Mensch nicht aus freiem Willen gestorben zu sein scheint.
Anselm. Es muß uns der Wille Gottes zur Begründung genügen, wenn er etwas tut, auch wenn wir nicht einsehen, warum er es will. Denn der Wille Gottes ist niemals unvernünftig.

Boso. Das ist wahr, sobald feststeht, daß Gott das will, wovon die Rede ist. Denn viele beruhigen sich durchaus nicht damit, daß Gott etwas will, wenn die Vernunft dem zu widerstreiten scheint.

A. Was scheint dir der Vernunft zu widerstreiten, wenn wir bekennen, Gott habe das gewollt, was wir von seiner Menschwerdung glauben?

B. Um es kurz zu sagen: daß der Höchste sich so zu Niedrigem herabläßt, der Allmächtige etwas mit so vieler Mühe tut.

A. Die das sagen, verstehen nicht, was wir glauben. Denn wir behaupten, daß die göttliche Natur ohne Zweifel leidensunfähig ist und daß sie auf keine Weise von der Höhe herab sich erniedrigen kann noch abmühen in dem, was sie tun will. Aber vom Herrn Christus Jesus sagen wir aus, daß er wahrer Gott und wahrer Mensch ist, eine Person in zwei Naturen und zwei Naturen in einer Person. Wenn wir daher sagen, Gott erleide etwas Niedriges oder Schwaches, so verstehen wir das nicht von der Erhabenheit der leidensunfähigen Natur, sondern von der Schwachheit der menschlichen Substanz, die er besaß; und so erkennt man, daß unserem Glauben keine vcrnüriftige Uberlegung sich entgegenstellt. So nämlich bezeichnen wir keine Erniedrigung der göttlichen Substanz, sondern zeigen, daß die Person Gottes und die des Menschen eine sei. So wird also bei der Menschwerdung Gottes keineswegs seine Erniedrigung verstanden, sondern es wird die Erhöhung der Natur des Menschen geglaubt.

B. So sei es, nichts soll der göttlichen Natur angerechnet werden, was von Christus der Schwachheit des Menschen nach ausgesagt wird. Aber wie wird man als gerecht und vernünftig beweisen können, daß Gott diesen Menschen, den der Vater «seinen geliebten Sohn, an dem er sein Wohlgefallen hat» nannte und zu dem der Sohn sich selber gemacht hat, so behandelte oder behandeln ließ? Welch eine Gerechtigkeit aber ist es, den gerechtesten aller Menschen für den Sünder dem Tode zu überliefern? Welcher Mensch würde nicht der Verurteilung wert erachtet, der einen Unschuldigen verurteilte, um einen Schuldigen zu befreien? Die Sache scheint doch auf dieselbe Ungereimtheit hinauszulaufen, von der oben die Rede war. Denn wenn er die Sünder nicht anders retten konnte als durch die Verurteilung der Gerechten: wo bleibt da seine Allmacht? Hat er es jedoch gekonnt, aber nicht gewollt: wie werden wir da seine Weisheit und Gerechtigkeit verteidigen?

A. Gott Vater hat diesen Menschen nicht so, wie du es zu verstehen scheinst, behandelt oder einen Unschuldigen für einen Schuldigen überliefert. Denn er hat ihn nicht gegen seinen Willen zum Sterben gezwungen oder zugelassen, daß er getötet wurde, sondern er selber erlitt nach eigenem Willen den Tod, um die Menschen zu erretten.

B. Wenn auch nicht gegen seinen Willen, weil er dem Willen des Vaters zustimmte, so scheint er ihn doch irgendwie gezwungen zu haben, indem er es befahl. Es heißt nämlich, daß Christus «sich selbst erniedrigt hat, dem Vater gehorsam geworden bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze; weshalb ihn Gott auch erhöht hat»; und: «er lernte Gehorsam aus dem, was er erduldete»; und: «seines eigenen Sohnes hat der Vater nicht geschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben». Und der Sohn selber sagt: «Ich bin nicht gekommen, meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat». Und wie er das Leiden antritt, sagt er: «Wie der Vater mir den Auftrag gegeben hat, so tue ich es ». Desgleichen: «Den Kelch, den mir der Vater gab, soll ich ihn nicht trinken?» Und anderswo: «Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber; aber nicht wie ich will, sondern wie du». Und: «Vater, wenn dieser Kelch nicht an mir vorübergehen kann, ohne daß ich ihn trinke, so geschehe dein Wille». In andern scheint mir Christus mehr aus Zwang des Gehorsams als aus freier Entscheidung des Willens den Tod auf sich genommen zu haben. S.25, 27 f.

Daß er freiwillig gestorben ist; und was das ist: «gehorsam geworden bis zum Tode»; und: «deshalb hat ihn Gott auch erhöht»; und: «ich bin nicht gekommen, meinen Willen zu tun»; und: «seines eigenen Sohnes hat Gott nicht geschont» und: «nicht wie ich will, sondern wie du»
A. Wie mir scheint, unterscheidest du nicht gut zwischen dem, was er tat, weil der Gehorsam es verlangte, und dem Geschehen, das er ertrug, weil er den Gehorsam bewahrte, ohne daß der Gehorsam es verlangte.

B. Ich habe nötig, daß du das offener darlegst.

A. Warum haben ihn die Juden bis zum Tode verfolgt?

B. Aus keinem anderen Grunde, als weil er die Wahrheit und Gerechtigkeit im Leben und Reden unbeugsam festhielt.

A. Das, meine ich, verlangt Gott von jedem vernünftigen Geschöpfe und das schuldet dieses Gott durch den Gehorsam.

B. So müssen wir bekennen.

A. Diesen Gehorsam also schuldete jener Mensch Gott Vater und die Menschheit der Gottheit, und diesen verlangte der Vater von ihm.

B. Das ist niemand zweifelhaft.

A. Sieh, da hast du, was er tat, weil es der Gehorsam verlangte.

B. Das ist wahr; und schon sehe ich, was er ertrug, das ihm angetan wurde, weil er im Gehorsam beharrte. Denn angetan wurde ihm der Tod, weil er im Gehorsam verharrte, und ihn ertrug er. Aber inwiefern das der Gehorsam nicht verlangt, sehe ich nicht ein.

A. Wenn der Mensch niemals gesündigt hätte: müßte er den Tod erleiden oder dürfte Gott das von ihm verlangen?

B. Wie wir glauben, würde der Mensch nicht sterben noch würde das von ihm verlangt; aber ich möchte von dir den Grund dafür hören.

A. Daß das vernünftige Geschöpf gerecht erschaffen wurde und dazu, damit es durch den Genuß Gottes selig sei, leugnest du nicht.

B. Nein.

A. Du wirst aber auch keineswegs meinen, daß es Gott geziemt, es, das er für die Seligkeit gerecht erschaffen hat, zu zwingen, ohne Schuld unglücklich zu sein. Denn daß der Mensch gegen seinen Willen stirbt, ist ein Unglück.

B. Das versteht sich, daß Gott vom Menschen den Tod nicht verlangen dürfte, wenn er nicht gesündigt hätte.

A. Mithin hat Gott Christus, in dem keine Sünde war, nicht zu sterben gezwungen, sondern er selber hat freiwillig den Tod erlitten, nicht aus Gehorsam, das Leben zu verlassen, sondern ob des Gehorsams, die Gerechtigkeit zu bewahren, indem er so tapfer ausharrte, daß er dadurch in den Tod kam.

Man kann auch sagen: der Vater befahl ihm zu sterben, weil er das befahl, wodurch er in den Tod kam. So also «tat er, wie ihm der Vater aufgetragen» und «trank er den Kelch, den er reichte » und «wurde er dem Vater gehorsam bis in den Tod» und so «lernte er aus dem, was er erlitt, Gehorsam», das heißt, wieweit der Gehorsam gewahrt werden müsse. Das Wort aber, das dasteht: «er lernte», kann auf zweifache Weise verstanden werden. Denn entweder ist «er lernte» gesagt für: er machte andere lernen; oder: was er durch seinen Willen wohl kannte, lernte er durch die Erfahrung. Wenn aber der Apostel nach dem Worte: «er erniedrigte sich selbst, gehorsam geworden bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze» hinzufügt: «darum hat ihn Gott erhöht und ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist» — was ähnlich ist dem Worte Davids: «vom Bache am Wege trank er, deshalb erhöhte er das Haupt» —: so ist das nicht so gesagt, als ob er auf keine andere Weise zu dieser Erhöhung hätte kommen können als durch diesen Gehorsam bis zum Tode und diese Erhöhung lediglich als Belohnung für diesen Gehorsam verliehen worden wäre — vor seinem Leiden sagte er nämlich, «alles» sei ihm «vom Vater übergeben worden» und alles, was des Vaters sei, sei sein —; sondern weil er selber mit dem Vater und dem Heiligen Geist beschlossen hatte, nicht anders als durch den Tod die Erhabenheit seiner Allmacht der Welt zu zeigen. Denn wenn beschlossen wurde, daß etwas nur durch jenen Tod geschehen solle: wenn es durch ihn geschieht, so sagt man nicht unpassend, es sei seinetwegen geschehen.

Wenn wir nämlich etwas zu tun beabsichtigen, uns aber vornehmen, etwas anderes zuvor zutun, wodurch jenes geschehen soll: wenn bereits geschehen ist, was wir vorausgehen lassen wollen, so sagt man mit Recht, falls das geschieht, was wir beabsichtigen, es geschehe deshalb, weil geschehen ist, um dessentwillen es aufgeschoben wurde; denn es war ja beschlossen worden, daß es nur durch jenes geschehe. Denn wenn ich mir vornehme, einen Fluß, den ich zu Pferd oder Schiff überqueren kann, nur zu Schiff zu überqueren, und deshalb aufschiebe überzusetzen, weil kein Schiff da ist: wenn nun ein Schiff zur Verfügung steht, so sagt man, wenn ich übersetze, mit Recht von mir: das Schiff war bereit, deshalb setzte er über. So sagen wir nicht nur, wenn wir durch das, was wir vorausgehen lassen wollen, sondern auch, wenn wir nicht durch jenes, sondern nach jenem etwas anderes zu tun beschließen. Denn wenn jemand deshalb Speise zu sich zu nehmen aufschiebt, weil er an diesem Tage der Meßfeier noch nicht beigewohnt hat: wenn nun durchgeführt ist, was er vorher tun wollte, so sagt man ihm nicht unpassend: jetzt nimm Speise zu dir, weil du bereits getan hast, um dessentwillen du sie zu nehmen aufschobst. Viel weniger ungebräuchlich ist also die Redeweise, wenn man sagt, Christus sei deshalb erhöht worden, weil er den Tod erlitt, durch den und nach dem er jene Erhöhun2 zu vollziehen beschlossen hatte. Das kann auch so verstanden werden, wie man vom selben Herrn liest, daß er «an Weisheit und Gnade vor Gott zugenommen» habe; nicht weil es so war, sondern weil er sich so gab, als ob es so wäre. Denn so wurde er nach dem Tode erhöht, als ob es um dieses willen geschehen wäre.

Wenn er aber selbst sagt: «ich bin nicht gekommen, meinen Willen zu tun, sondern dessen, der mich gesandt bat», so ist das gleich jenem: «meine Lehre ist nicht mein». Denn was jemand nicht von sich, sondern von Gott hat, das muß er nicht so sehr als das Seine, sondern als Gottes bezeichnen. Kein Mensch aber hat aus sieh die Wahrheit, die er lehrt, oder den rechten Willen, sondern von Gott. Christus kam also nicht, seinen Willen, sondern den des Vaters zu tun, denn der rechte Wille, den er besaß, war nicht aus der Menschheit, sondern aus der Gottheit. «Seines eigenen Sohnes» aber «hat Gott nicht geschont, sondern bat ihn für uns dahingegeben» bedeutet nichts anderes als: er hat ihn nicht befreit. Denn vieles derartiges findet sich in der Hl. Schrift. Wo er aber sagt: «Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber, jedoch nicht wie ich will, sondern wie du»; und: «wenn dieser Kelch nicht vorübergehen kann, ohne daß ich ihn trinke, so geschehe dein Wille»: da bezeichnet er mit seinem Willen das natürliche Begehren nach Rettung, durch das das menschliche Fleisch vor dem Todesschmerze floh. Vom Willen des «Vaters» aber spricht er, nicht weil der Vater lieber den Tod als das Leben des Sohnes gewollt hätte, sondern weil der Vater das Menschengeschlecht nicht erneuert haben wollte, es sei denn, der Mensch vollbringe etwas so Großes, wie jener Tod es war — denn die Vernunft forderte nicht, was ein anderer nicht vollbringen konnte —: deshalb sagt der Sohn, jener wolle seinen Tod, den er selber lieber erleiden will, als daß das Menschengeschlecht nicht gerettet würde. Als ob er sagen wollte: Weil du die Versöhnung der Welt nicht anders geschehen lassen willst, so sage ich, du wollest auf diese Weise meinen Tod. Es geschehe also dein Wille, das heißt, es vollziehe sich mein Tod, damit die Welt dir wiederversöhnt werde. Oft nämlich sagen wir, jemand wolle etwas, weil er etwas anderes nicht will; würde er dieses wollen, so geschähe jenes nicht, von dem es heißt, er wolle es; so, wenn wir sagen, der wolle das Licht auslöschen, der das Fenster nicht schließen will, durch das der Wind hereinkommt, der das Licht auslöscht. So also wollte der Vater den Tod des Sohnes, weil er die Erlösung der Welt nicht anders wollte, außer der Mensch vollbringe etwas so Großes, wie ich es gesagt habe. Da das ein anderer nicht vollbringen konnte, so galt das dem Sohne, der das Heil der Menschen wollte, so viel, als ob er ihm zu sterben befohlen hätte. Daher «tat er so, wie ihm der Vater den Auftrag gegeben» und «trank er den Kelch, den ihm der Vater gab», «gehorsam bis zum Tode». S.29,31,33 f.
Aus: Anselm von Canterbury: Cur deus homo - Warum Gott Mensch geworden
Lateinisch und Deutsch. Besorgt und übersetzt von Franciscus Salesius Schmitt O. S. B.
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