Jean Amery, eigentlich Hans Mayer (1912 – 1978 )
In Wien geborener jüdischer Schriftsteller, der 1938 nach Belgien emigrierte. Die Jahre 1943-45 musste er im KZ verbringen. Dann lebte er in Belgien. 1978 wählte er in Salzburg den Freitod. Siehe auch Wikipedia |
Provokationen
des Atheismus
Wer ist Gott? Das möchte ich auch gerne wissen
— und schon seit langer Zeit. Ich bitte darum, mir dieses vielleicht etwas
zynisch tönende Bekenntnis durchgehen zu lassen. Es ist ernster gemeint,
als es hier den Anschein hat, und es liegt mir, darüber hinaus, gar sehr
daran, in die gelehrsame Debatte ein zugleich naives und persönliches Element
einzuführen; denn allzusehr, so glaube ich, hat sich die Auseinandersetzung
über Glauben und Unglauben in einem Gestrüpp philosophischer Begrifflichkeiten
festgefahren, in dem die Fundamentalfragen, die »existentiellen«,
wenn man so will, entweder gar nicht mehr gestellt oder nur noch in einer so
vertrackten und jargonisierten Form aufgeworfen werden, daß der um das
Problem bemühte einzelne eine gewisse Neigung hat, es den sogenannten Fachleuten
zu überlassen, wiewohl doch im Sinne strikter Wissenschaftlichkeit das
Nachdenken über Existenz oder Nichtexistenz Gottes ganz gewiß kein »Fach« ist.
Das möchte ich auch gerne wissen, dachte ich denn zunächst, um allerdings
nach der ersten Betroffenheit und den unmittelbarsten, gröbsten Denkansätzen
mir einzugestehen, daß ich mir eigentlich nur ein Klischee vorgesagt hatte.
Will ich wissen, wer Gott ist? Es tut mir leid: nein. Die Frage ist im Grunde
keine für mich. Und ich befinde mich in voller Übereinstimmung mit Claude Lévi-Strauss, dem Begründer
der strukturalistischen Schule, der einmal erklärt hat: »Persönlich
bin ich nicht mit der Frage nach Gott konfrontiert.
Ich finde es durchaus erträglich, mein Leben zu verbringen, wissend, daß
ich mir niemals die Totalität des Universums werde erklären können.« So schreibe ich denn hier — als was? Als Atheist? Als Agnostiker? Es ist
bekannt, dass man begrifflich zu unterscheiden hat. In einem Aufsatz über
die »gesellschaftliche Relevanz des Atheismus«
schreibt der Philosoph und Theologe Heinz Robert Schlette:
»Den Begriff Atheismus verstehe ich recht
altmodisch als die explizite Bestreitung der Existenz eines absoluten göttlichen
Seins, das heißt für unser geschichtliches und religiöses Bewußtsein
im allgemeinen: die explizite Leugnung eines gegenüber Mensch und Welt
>anderen< Prinzips, das wir als >Gott< zu bezeichnen gewohnt sind
und im allgemeinen nach Analogie der menschlichen Personhaftigkeit vorstellen.« Diesem solcherart definierten Atheismus stellt Schlette dann den Agnostizismus
entgegen, der nach Ansicht des Autors bereits weit auch in das christliche
Denken, zuvörderst das protestantische, jedoch auch das katholische, eingedrungen
sei. Nun, der Agnostizismus ficht die Existenz Gottes nicht ausdrücklich
an, meint nur, daß das Erfahrungstranszendente, sei es religiös oder
philosophisch-metaphysisch, nicht erkennbar sei. Weitgehend kommt, so glaube
ich, echter Agnostizismus zwangsläufig zur Kongruenz mit dem modernen logischen
Positivismus, für den die Frage nach Gott nur eine Scheinfrage ist.
Ich habe, zu Recht oder Unrecht, eine gewisse Tendenz, mich über die begriffskritisch
gewissnotwendige Unterscheidung von Atheismus und Agnostizismus hinwegzusetzen,
dies gerade in der mir als geboten erscheinenden obenerwähnten Naivität,
die unser Grundproblem aus der terminologischen Überwucherung wieder herauszulösen
sich bemüht. Fasse ich den Begriff Atheismus mit dem Instrumentarium Schlettes an, dann muss ich allerdings zugeben: eine explizite und gar streitbare
Leugnung der Existenz Gottes ist in jeder Hinsicht eine unhaltbare Position;
unter allen Möglichkeiten findet sich auch: die der Existenz eines gegenüber
Mensch und Welt »anderen« Prinzips — was immer das heißen möge —, ja sogar die eines göttlichen
Seins in dessen allereinfachsten fideistischen Formen. Muss denn also der
Begriff des Atheismus preisgegeben werden zugunsten des Konzepts Agnostizismus, das ganz gewiss philosophisch besser zu justifizieren ist? Doch wohl nicht:
denn für den echten Agnostiker, der sich, wie Lévi-Strauss es sagte,
von gewissen religiösen und metaphysischen Problemen einfach nicht betroffen
fühlt, ist die Möglichkeit der Existenz Gottes bereits eine so blasse,
abstrakte, existentiell unbeträchtliche, daß ihre Einräumung
gleichsam nur noch ein begriffskritisches Zugeständnis beziehungsweise
eine Art Höflichkeitsgeste ist: die Aussparung der Frage nach Gott liegt
mit der Leugnung Gottes — die allerdings ganz ohne Eifer, mit der urbanen
Indifferenz einer inhaltsleeren Toleranz betrieben wird — beinahe kongruent.
Ich fühle mich also in diesem Sinne als Atheist und Agnostiker und werde demgemäß im folgenden die beiden Begriffe
als austauschbare verwenden.
Jedoch, ich habe hier das Begriffsproblem keineswegs nur darum erwähnt,
weil ich eine persönliche und darum auch wohl unwichtige Position eingrenzen
wollte. Der Grund für das Verfahren liegt tiefer: und wenn wir ihn entdecken,
befinden wir uns mitten in einem Problem, das für den modernen Atheisten
oder Agnostiker in seinem Gespräch mit dem gläubigen Menschen von
ganz erstrangiger Triftigkeit ist: es kann nämlich der Glaubensfreie an
das Denken des Gläubigen, der in einer fideistischen, meinetwegen sogar
in einer primitiv anthropomorphischen religiösen Vorstellungswelt lebt,
leichter herankommen als an den philosophisch trainierten, modernen »gläubigen
Agnostiker«. Gerät der Atheist ins Gespräch mit einem gläubigen
Christen, der den Katechismus, den man ihm auf der Elementarschule in die Hand
gedrückt hat, mehr oder weniger wörtlich nimmt, dann wird er sich
sagen: Der Mann glaubt an etwas, das mir in so hohem Grade unwahrscheinlich
vorkommt, daß ich seinen Glauben fast als Aberglauben bezeichnen möchte;
immerhin aber weiß ich zumindest, woran er glaubt, und kann also versuchen,
mich mit ihm darüber verständigen. Liest man hinwiederum die Schriften
moderner. fortschrittlicher, aufgeklärter und toleranter Theologen, namentlich
jener, welche die »God-is-dead-Theorie« zu ihrer eigenen machen,
befällt einen wachsende Ratlosigkeit. »Überm Sternenzelt muss
ein guter Vater wohnen« — wenn er das hört, sagt sich der Atheist oder Agnostiker: Ich glaube das nicht, glaube es so gründlich nicht, dass
ich mit approximativer Gewissheit zu sagen wage: Aber nein, er wohnt nicht
dort. Wird ihm, dem Agnostiker, aber erklärt, dass der vielleicht
größte Theologe unserer Zeit Ernst Bloch sei und daß Gott sich
in der Geschichte verwirkliche, dann denkt er: Nun ja — Verzeihung! —,
in Gottes Namen, vielleicht ja, vielleicht nein, das kann alles und nichts heißen,
und man kann daraufhin ebensogut höflich den Kopf schütteln wie auch
ernsthaft mit ihm nicken; der Satz ist — um es mir dem Positivisten Topitsch zu sagen: eine Leerformel. S.209-212 [...]
Unleugbar ist es ja so, dass, was im 20. Jahrhundert an geistigen, sozialen,
politischen Entscheidungen fiel, ohne Gott, wo nicht direkt gegen ihn
gefallen ist. Die Menschen haben sich und ihre Aspirationen in weiten Gebieten
unserer Welt, und keineswegs nur in den augenblicklich von den verschiedensten
Kommunismen beherrschten Ländern, in ihren Revolutionen politisch gegen
den Glauben realisiert. Der Aufstand um, wie Ernst Bloch es sagte, »das
Recht des Menschen, kein Hund zu sein«, die Revolution um Fabriken, Spitäler,
Ackerland, um Schulen und Energiequellen — sie lief so enge parallel mit
der Kontestation der tradierten Religionen, daß sie streckenweise mit
dem atheistischen Elan zusammenfiel. Wie das politische war auch das geistige
Wachstum dieser Zeit ein Prozeß, wenn nicht gegen den Glauben, so doch
ganz jenseits seiner. Die großen geistigen Bewegungen, die dem Jahrhundert
sein Gesicht gaben, waren glaubensfrei. Die Naturwissenschaften — und
mochten auch zahlreiche Forscher persönlich gläubige Menschen gewesen
sein, was jedoch für ihre Arbeiten nicht ins Gewicht fiel und in die Resultate
der Forschungen nicht einging — standen in ihrer Verpflichtung an die
doppelte Wahrheitsprüfung durch empirische Kontrolle und logische Deduktion
per definitionem der Religion ferne, und sehr spät, zu spät hat sich
das Christentum dazu bequemt, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse anzuerkennen.
Der logische Positivismus als eine der ganz wichtigen intellektuellen Erscheinungen
hat, um mit Wittgenstein zu sprechen, die Frage nach Gott nur behandelt, »wie
man eine Krankheit behandelt«. Die Psychoanalyse hat den Mythos der Seele
zerstört, an deren Stelle die Psyche trat, die in ihrer Ankerung im materiellen
Substrat selbst zu einem physischen beziehungsweise physikalischen Phänomen
wurde.
Der Marxismus, geistige Tragsäule der Moderne, hat Eschatologie und chiliastische Hoffnung entmythologisiert und verweltlicht: nicht Gott, der Unbekannte, über
den nichts auszusagen ist, verwirklicht sich in der Geschichte, sondern der Mensch: den kennen wir. Man wandere die überblickbaren Jahrzehnte dieses
Säkulums auf und ab, wo immer das Neue und Wesentliche aufscheint, dort
wurde auch schon die Loslösung von der Religion vollzogen. Die großen
Philosophen der Zeit, von Husserl bis Sartre, von Carnap bis Heidegger,
hatten nichts mit Gott zu schaffen. Die Schriftsteller, auf die es ankam, ob
Proust oder Joyce, Thomas Mann oder Samuel Beckett hatten der Religion abgesagt,
sei es in streitbarem Atheismus, sei es in freundlich-duldsamer Gleichgültigkeit.
Was an religiöser Philosophie oder Literatur sich hervortat —und
es soll im einzelnen nicht unterschätzt werden —, es hatte dennoch
wenig Zugriff auf die Zeit. Nicht Gabriel Marcel, um nur willkürlich ein
Beispiel zu geben, wurde die zentrale Figur des französischen Existentialismus,
sondern Jean-Paul Sartre. Die
Eliot, Claudel, Julien Green, Francois Mauriac in Ehren; sie kamen und
kommen nicht auf gegen den breiten Strom glaubensfreier Schriftsteller, der
in Deutschland so gut wie in Frankreich, in den USA nicht anders als in England
das repräsentiert, was wir zusammenfassend die »große
Literatur dieser Zeit« nennen. Die christlichen Denker und Schriftsteller
waren oft hochachtens- und bewundernswerte Persönlichkeiten von außerordentlichen
Gaben; sie werkten und wirkten aber nur am Rande der Zeit. Selbst von einem
Denker und Forscher wie Teilhard de Chardin, der übrigens seinerseits schon zu jenen gehört, die die Selbstsäkularisierung
des Christentums vorantrieben, weiß man heute nicht, ob er am Ende mehr
gewesen sein wird als eine interessante Geistesmode der fünfziger Jahre. S.215-216 [...]
Die gesellschaftliche Relevanz besteht nicht in den subjektiven
Motivierungen, sondern in der Objektivität der nunmehr nicht nur möglichen,
sondern praktisch vielfach schon vollzogenen Kooperation christlicher und glaubensfreier
Kräfte bei der geschichtlichen Verwirklichung von etwas Neuem und Anderem
— das man »Gott« nennen mag oder den »Menschen«.
Die Atheismus-Diskussion ist heute, zumindest für den Agnostiker, eine
zutiefst unzeitgemäße geworden.
Ob sie es auch für den Christen ist? Da wage ich natürlich keine Antwort.
Es scheint mir wahrscheinlich, dass der Christ, wie sehr er auch seinen
Glauben säkularisiert habe, die Chiffre »Gott« auch heute noch,
und sei es nur aus Gründen der Tradition oder der Erziehung, emotionell
stark besetzt, so dass es ihn vielleicht grämt, wenn sein agnostischer,
atheistischer Gesprächspartner dem Problem nur noch geringes Gewicht beimisst.
Damit wären wir allerdings schon übergetreten in das Feld individueller
Psychologie, die für den einzelnen wesentlich sein mag, die aber die intersubjektiven
gesellschaftlichen Tatbestände nicht beeinflusst.
Provokationen des Atheismus? Mag sein, dass auch der fortgeschrittenste
Christ die indifferente Toleranz des Atheismus noch als Herausforderung, vielleicht
sogar als Kränkung empfindet. Der Agnostiker muss sich hierüber
ein Urteil versagen, kann nur die Versicherung geben, dass er
nicht mehr provozieren will, da seiner festen Überzeugung nach
die geistige und soziale Entwicklung das Streitgespräch von einst hinter
sich gelassen hat. Es kann da und dort noch — wie etwa in Polen —
auf Grund besonderer politischer Umstände die Auseinandersetzung von einst
mit der Härte von einst geführt werden: aber das sind Spezialfälle
ohne geschichtlichen Horizont. Die Zukunft gehört der christlich-atheistischen
Zusammenarbeit an der Errichtung einer befriedeten Welt. S.218-219
Aus: Was ist das eigentlich – Gott? Herausgegeben
von Hans Jürgen Schulz (S.209-212, 215f, 218f)
Dem Buch liegt eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks zugrunde
Einmalige Sonderausgabe . Veröffentlicht im Januar 1969 als Band 119 in
der Reihe »Die Bücher der Neunzehn« © 1969 by Kösel-Verlag
KG, München
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Kösel-Verlags,
München