Carl Amery,
eigentlich Christian Mayer (1922 – 2005)
>>>Gott
Folgen des Christentums
Die Hinrichtung Jesu birgt Unklarheiten;. aber wenn die Römer einen Präventivschlag
gegen ihn führten — und die Umstände der Leidensgeschichte scheinen
darauf hinzudeuten —, dann mit der Absicht, ihn daran zu hindern, zum
Kristallisationspunkt einer großen Masse von Deklassierten zu werden.
Mußte er ihnen nicht verdächtig erscheinen, dieser Menschensohn,
der durch heiße graugelbe Dörfer zieht, der in Häusern predigt,
von denen man das Dach reißt, auf Höhen, von Tausenden umlagert,
umringt von Schreien und Staubwolken?
Aber wie hätte Jesus — wenn er dies vorgehabt hätte - eine erfolgreiche
Revolte ohne Kommandostruktur anzetteln können? In seinem angebrochenen
Reich gibt es ja keine Hierarchie. Hart fährt er die Jünger an, die
über Rangstufen streiten und spekulieren - er verweist ihnen dies als satanisches Gerede. Niemand soll herrschen, niemand beherrscht werden. Mit seiner Botschaft
war weder eine Rechtslehre noch eine Organisation, weder eine Kirche (in unserem
Sinne) noch eine Politik zu machen. Es gibt ein (außerhalb der Evangelien überliefertes) Herrenwort, das man heute als echt betrachtet: «Ich
bin eine Brücke, auf eine Brücke baut man nicht.» Dies heißt:
Jesus vermittelt nicht nur ein Provisorium, sondern ein bewusstes und totales
Provisorium — die Ablehnung jeder ich- und wir-bezogenen Verfestigung
und Kontinuität.
Hier muss betont werden, dass mit dieser Zusammenfassung keine neue
Ketzerei beabsichtigt ist — sie stützt sich großenteils auf
allgemein anerkannte exegetische Ergebnisse. Selbstverständlich liegt es
nahe, den Gegensatz zwischen Jesu Lehre und Antlitz und einer späteren
Christenheit zu formulieren — ein Gemeinplatz aller Kirchenkritik von
den ersten Ketzern an. Und es gibt sicher keinen ernst zu nehmenden Mann der
Kirche, der diesen Gegensatz nicht selbst fühlt, ihn ständig empfindet
und auf seine Weise darunter leidet. (Er leidet sicherlich
mehr als manche forschen Kritiker, die den Gemeinplatz mit routinierter Sicherheit
hantieren.)
Lassen wir also den Gemeinplatz beiseite. Es geht hier doch um die Folgen des
Christentums, nicht um die moralische Beurteilung einer mehr oder weniger geglückten
Rezeption der eigenwilligen Botschaft Jesu. Wir haben angekündigt, daß
weder Altare besetzt noch irgendwelche Schurken ausgemacht werden sollen. Die
Frage, um die es geht, ist die Frage nach den Kräften, die den evidenten
Erfolg des Christentums in den letzten zwei Jahrtausenden verursachten, und
nur in diesen Zusammenhang ist auch das Faktum eines — größeren
oder geringeren — Abfalls der Christenheit von der frohen Botschaft zu
stellen. Sie läßt sich dann — auf der einfachsten kausalen
Ebene — so formulieren: Wenn die Christenheit Jesus verraten hat —
warum hat sie ihn dann verraten? Welche Kräfte hielten sie davon ab, ihm
bedingungslos zu folgen?
Es gibt eine monumentale literarische Fixierung dieser Frage: die Erzählung
vom Großinquisitor in den «Brüdern Karamasow». Absichtlich wählt Dostojevskij (oder, wenn man will, sein Iwan) diese Figur,
die von unzähligen Anklägern als die anstößigste der Kirchengeschichte
immer wieder attackiert und kommentiert worden ist. Er ist sozusagen die Quintessenz dessen, was mit dem Christentum <schiefging> oder überhaupt schiefgehen
kann. Der Vertreter des kirchlichen Immobilismus läßt den wiedergekehrten
Herrn selbst verhaften, er erkennt ihn richtig als Anstifter von Unruhe und
Umsturz. Nachts
besucht er ihn dann in seiner Zelle, und er rechnet Jesus vor, was
er alles falsch gemacht habe: er habe die äußerste Freiheit verkündet,
die erfahrungsgemäß eine Illusion, und zwar eine gefährliche
Illusion sei. Die Menschen wünschten keine Freiheit, sie wünschten
Führung, Vorsorge, Kontinuität — und vor allem Entlastung von
der Verantwortung. Jesus antwortet mit keiner Silbe.
Schließlich bittet der alte Seelenherrscher den Herrn, wegzugehen und
nie wiederzukommen.
Und was tut Jesus? Er tritt auf den Machthaber zu, er
küßt ihn auf die Stirn und geht dann in die Nacht hinaus; vermutlich
wird er nie wiederkehren. Mit anderen Worten: die beiden verstehen sich. Sie erkennen das jeweils andere Dilemma des anderen — und sie erkennen
es an. Jesus und der Großinquisitor sind die beiden Pole, zwischen denen
sich kirchliche Wirklichkeit und christliche Entwicklung seit Jahrtausenden
bewegen. (Es ist bezeichnend, dass der fromme Aljoscha auf die letzte große
Pointe der Erzählung, den Kuss Jesu, sein Verstehen des Großinquisitors,
gar nicht eingeht: Fromme haben für solche Pointen selten ein Gespür.)
Übersehen wir dabei eines nicht: Dostojevskijs Großinquisitor geht
von einer in den Evangelien überlieferten Erzählung aus — den
drei Versuchungen Jesu in der Wüste. Ohne die Tradition der Kirche, welcher
der Großinquisitor auf seine Weise dienen zu müssen glaubt, wären
diese Versuchungen dem 19. Jahrhundert längst unbekannt gewesen. Wenn etwas
die Kirche ehrt, der man ständig Verrat am Evangelium vorwirft, dann müßte
es doch die unbegreifliche Hartnäckigkeit sein, mit der sie eine Botschaft
weitergibt, die sie selbst richtet. In dieser Botschaft stecken nicht nur sämtliche
Anlässe späterer Kirchen- und Christentumskritik, sondern auch die
ersten, archetypischen Berichte über den Abfall selbst: in den entscheidenden
Tagen, da der Herr von ihnen geht, sind die Jünger völlig außerstande
zu begreifen, was vorgeht, bis zuletzt sprechen sie über Kommandoketten
und Schwerter, sie schlafen ein, sie verleugnen den Meister, sie laufen davon.
Es gibt kein sonstiges Beispiel einer Religionsgründung, die in ihre heiligen
Bücher, den Grundstein ihres Selbstverständnisses, so viele negative
Beschreibungen der eigenen Inkompetenz eingelassen hat, soviel blutiges und
schändliches Desaster. Das Fest ist vorüber, der Herr ihres Lebens
wurde getötet.
Die Seinen bleiben aber zurück, ohne Statut, ohne weltlich brauchbares
Recht, ja ohne eine weltlich brauchbare Ethik — mit einem gebrochenen
Verhältnis zu ihrer jüdischen Umwelt. Anweisungen über Rangordnung,
Gemeindeaufbau, Verhältnis zu existierenden sozialen und politischen Mächten
liegen nicht vor. Was die Gemeinde zunächst verbindet, ist ein Antlitz:
das Antlitz und Andenken des Meisters. Es bleibt ihnen Mahlgemeinschaft, Oster-
und Pfingsterlebnis — und die Hoffnung auf den Tröster, der sie schon
lehren wird, was sie in dieser komplizierten Welt verstehen und lernen müssen.
Mit solcher Ausstattung macht sich die kleine Gruppe von Unterprivilegierten
auf den Weg in die Welt. Die Welt: das ist der Riese Rom, das ist die akademische
Welt hellenistischer Spekulation, welche nicht nur den Dieu
des Philosophes, den
Einen Gott des Wahren, Guten und Schönen, erarbeitet, sondern auch eine
stoische Dienst-Ethik von hohen Graden geschaffen hatte, welche die aufgeklärte
hohe Beamtenschaft zum selbstlosen Wahrnehmen ihrer Aufgaben anhält. Die
Welt ist ferner die der vorderasiatischen Kulte, der Mysterien, die zunehmende
Bedeutung gewannen, der geheimnisvollen geistig-seelischen Zwischenwelt der
Gnosis.
Diese ganze Welt wird durch das Christentum höchst eindrucksvoll verändert;
das liegt klar auf der Hand. Was nun eingehender besprochen werden muß,
ist der Mechanismus der Veränderung, zu dem unweigerlich die Veränderung
der Gemeinde selbst gehört; also die Verwandlung der Urgemeinde in das,
was wir unter Kirche verstehen. In dieser Veränderung entstanden die dialektischen
Positionen, die noch heute das geistige, politische und wirtschaftliche Geschick
des Planeten bestimmen — entstand vor allem eine Praxis, in der sich die
Resultate der Auseinandersetzungen immer weiter von den Absichten der ringenden
Gegner ablösten und verselbständigten. (S.44-47)
Aus: Carl Amery, Das Ende der Vorsehung, Die gnadenlosen
Folgen des Christentums . Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag
GmbH, Reinbek als rororo Sachbuch 6874
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Autors:
Herrn Carl Amery
Er
kam nicht wieder
Abfall: sprechen wir das Stichwort noch einmal aus. Es klingt dumpf, nach dem
Eiskreis von Dantes Hölle, nach unwiderruflicher Verworfenheit. Aber die
Schrecken, die es in unseren Nerven auslöst, sind schon Teil unseres Erbes.
Die Propheten sprachen vom Abfall als Hurerei und Unzucht; keine geschlechtliche
Ausschweifung meinten sie, sondern die Hingabe an fremde Götzen und ihre
Riten. Die christliche Botschaft hat uns Petrus unter dem krähenden Hahn überliefert: ein neues archetypisches Bildnis des existenziellen Verrats.
«Der Herr blickte ihn an», heißt es in der Leidensgeschichte:
unter dem Blick des Herrn wird der Abfall der Seinen unerträglich.
Christliche Geschichte ist eine Geschichte des Abfalls geblieben; in allen ihren
Darstellungen bleibt er ein wichtiges Kompositionsprinzip; nur die Figuren werden
jeweils anders eingesetzt, wechseln von der linken auf die rechte Seite des
Bildes und umgekehrt. Es war immer der jeweils andere, den man in Zeiten selbstsicherer
Frömmigkeit auf die Seite der Abtrünnigen verbannte; dem man —
mehr oder weniger scharfsinnig und leidenschaftlich — den gran
rifiuto, die Große Verweigerung von Christi Angebot nachwies.
Während die institutionalisierten Kirchen Wert darauf legten und legen
mussten, in direkter und ungebrochener Nachfolge auf den Gründer selbst
zurückzugehen, und ihre Apologeten dazu anhielten, dies zu beweisen, waren
alle Ketzer — und nach ihnen ihre ungläubigen Erben — sich
wenigstens in der einen Methode einig: den Abfall eben dieser Kirchen von ihrer
eigenen Botschaft zu erhärten. Die Unfruchtbarkeit solcher Polemik beruht
darauf, dass man sich — je nach Bedarf— ein Bild und Gleichnis
von der <ursprünglichen> Botschaft machte, das den Absichten der
Kämpfer entsprach und ihrer Beweisführung entgegenkam. Auch mit Beschwörungen
des altbösen Feindes, der da jeweils beim Gegner am Werk war, wurde nicht
gespart.
Einen Schritt weiter geht die progressive (auch die innere) Kritik der Gegenwart:
sie stellt Jesus selbst jedem Kirchenwesen gegenüber, das sie an sich und
in sich schon als Abfall postuliert. Wir werden dies im einzelnen noch zu besprechen
haben.
Kehren wir zum Gang unseres Arguments zurück und fragen wir uns: wie konnte,
nachdem Jesus die Seinen auf sich selbst und den Paraklet, den Tröster,
gestellt hatte, sein Erbe weitergegeben werden? Welche Erwartungen, welche Persönlichkeiten,
welche organisatorischen Grundvoraussetzungen standen dafür zur Verfügung?
Er hatte es ihnen ja nicht leichtgemacht. Er hatte Gottes Verheißungen
als präsent verkündet, er unterließ jede Anweisung, jede Methodik
des Über- und Weiterlebens in einer unvollkommenen, von ungeheuren Lasten
bedrückten Welt. Sünde, Zielverfehlung war ihm lediglich die Verweigerung
des Glaubens gewesen — und dieser Glaube versetzt Berge, macht Methode,
Politik, Wirtschaft nicht nur überflüssig, sondern entlarvt sie als
Evidenz des Unglaubens: «Wer nicht glaubt, ist schon
gerichtet.» Dies war Jesu zentraler Angriff auf das Gesetz gewesen — auf jedes Gesetz, das er überwand, indem er es erfüllte. Und wegen dieses
Angriffs musste er, vom Standpunkt jeglicher Politik aus zu Recht, sterben.
Zu Recht; denn solche Botschaft war das genaue Gegenteil dessen, was man damals
unter Recht, Kontinuität, Ethik und Philosophie verstand - und was man
bald wieder darunter verstehen sollte. So war die Urgemeinde, trotz des Geistes
der Brüderlichkeit und der Erinnerung an den Herrn, die sie erfüllten,
von Anfang an mit der Paradoxie beschäftigt, welche die Christenheit nie
mehr verlassen sollte: mit der Paradoxie nämlich des Überlebens in
einer Welt, die <an sich> mit der Gegenwart Jesu schon gerichtet und überwunden
war.
Trotz der Spärlichkeit der außerchristlichen Dokumente und der redaktionellen
Tendenzen der Akten, Briefe und Evangelien wissen wir heute ziemlich viel über
diese ersten Jahre der Gemeinde. Wir glauben annehmen zu dürfen, daß
der petrinischen Lösung des Leitungsproblems eine kurze Epoche dessen vorausging,
was man ein Kalifat nennen könnte: eine Verwaltung der Tradition durch
die Verwandten Jesu unter Führung von Jakob dem Älteren. Lassen wir
aber Fragen beiseite, die zur Parteilichkeit herausfordern; stellen wir die
eine, allgemein anerkannte Tatsache fest, daß sich schon in den ersten
Jahren in der Urgemeinde eine Überzeugung durchsetzte, die Überzeugung
nämlich von der baldigen Wiederkunft des Menschensohnes. Diese Überzeugung (alle Dokumente belegen es) beseelte das gesamte
Selbstverständnis der Gruppe und wurde auch von dem großen Paulus geteilt. Maranatha — komm, Herr!
war der stereotype Gebetsruf dieser ersten Generation.
Wiederkunft als klar erkennbares, jede Geschichte beendendes Ereignis —
war sie, so müssen wir fragen, unabdingbarer Bestandteil der Lehre Jesu
selbst? Die Evangelien führen eine Reihe seiner Aussprüche auf, die
darauf schließen lassen. Albert Schweitzer hat sich zu der Ansicht bekannt,
dass die eigene Überzeugung Jesu von seiner chiliastischen Wiederkunft
notwendig sei, um seine Gestalt und sein Wirken zu erklären. Allerdings:
<Ihr kennt nicht den Tag und die Stunde>, lautet ein wichtiger Satz zu
diesem Thema; und selbst wenn der Satz der Arbeit eines späteren Redakteurs
zu verdanken wäre: er läßt die Möglichkeit offen, daß Jesus selbst davor warnte, Wiederkunft zum Angelpunkt seiner Botschaft zu machen.
Logischer ist es, anzunehmen, daß die sehnsüchtige Beschwörung
der Rückkehr des geliebten Meisters zunächst und vor allem ein gemeindebildender
Faktor war, genauer: ein Faktor, der die Gemeinde daran hindern sollte und sie
wirklich lange daran hinderte, zu einer kontinuierlichen <Organisation>
zu werden, an dieser Kontinuität interessiert zu sein, Wurzeln in einer
fremden und die Botschaft mißverstehenden Kultur zu schlagen. Wiederkunftsglaube
wäre dann der erste Lösungsversuch des Dilemmas, von dem wir sprechen:
des Dilemmas der Existenz in einer Welt, die schon gerichtet war. Indem man
auf die endgültige Offenbarung dieses schon angebrochenen Gerichts wartete,
kam man nicht in die Gefahr, die Saat der Botschaft unter die wuchernden Dornen
des Aion, der fortdauernden Zeitlichkeit, zu säen.
Wer ganz unerbittlich ist, kann schon in dieser Wiederkunftserwartung Abfall
und Verrat wittern. Er kann argumentieren, daß Jesus jeden einzelnen dazu
herausfordert; Jesus <zu werden>; daß er in jedem, der ihm nachfolgt,
die alles überwindende Glaubens- und Liebespotenz freisetzen wollte, die
jede heteronome, das heißt von außen hereinbrechende <Endlösung>
in Form eines künftigen Heilsereignisses überflüssig machen würde.
Schon die Übertragung der Erlösung auf ein solches Ereignis von außen,
eine verordnete Zukunft, käme dann dem Offenbarungseid — und damit
dem Abfall der Gemeinde gleich: Maranatha als
Alibi.
Nun, wer so argumentiert, muß eine sehr hohe Meinung von seinem eigenen
Jesus-Verständnis und eine mittelmäßige Meinung von den Jüngern
und Freunden Jesu haben; eine Meinung, die letzten Endes auf Jesus selbst reflektiert.
Dass ihn die Seinen nicht verstanden, dokumentieren die Evangelien ständig
(auch ein Beweis für die hartnäckige Ehrlichkeit der späteren
Kirche). Ein Mann wie Jesus, den heute auch der Agnostiker als religiöses
Genie anerkennt, hätte dann als <Pädagoge>
wie als <Stifter> versagt, weil er sein Erbe
höchst unzuverlässigen Verwaltern anvertraut hätte. Nein, bleiben
wir auch in diesem Zusammenhang unserer eigenen Methode treu, stellen wir ganz
einfach fest, daß es weder einen jakobitischen noch einen petrinischen,
noch einen paulinischen <Abfall> gab, sondern
daß sich bereits die Urgemeinde mit dem Problem befassen mußte,
das dem Christentum verblieb und das unsere Welt bis in die Gegenwart geformt
hat: nämlich dem Gegensatz zwischen der Erinnerung an den Herrn und der
Notwendigkeit, ohne ihn in der Welt als Gemeinde
leben zu müssen.
Sieht man das Problem in dieser unparteiischen Sicht, so erweist sich - wie
schon gesagt - die Sehnsucht nach der Wiederkunft des Herrn als eine erste,
logische Modifikation der <Anti-Methode> Jesu selbst. Diese Sehnsucht,
die den noch Abwesenden ins Zentrum jeder Ecclesia, jeder sich bildenden Gemeinde
stellte, war zunächst die sicherste Abwehr gegen jede organisatorische,
juristische, theologische und kasuistische Verfestigung. Sie war die Konsequenz
aus der Lehre, welche die Jünger empfangen hatten: nämlich aus der
harten Verwahrung Jesu selbst gegen jede Spekulation über Rangordnung und
Hierarchie. Die Seinen hatten in ihm den Blitz gesehen, der leuchtet vom Aufgang
bis zum Niedergang — und warten nun auf den Donner. Der Donner kam nicht: Jesus kam nicht wieder. Wenn es ein historisch
gesichertes Faktum in der Kirchengeschichte gibt, dann ist es dieses. Ob man
Jesu Wiederkunft für möglich hält oder nicht, spielt in diesem
Zusammenhang keine Rolle. Wichtig ist lediglich das Faktum selbst. Dass
es ein negatives Faktum ist — das Nichteintreten eines erwarteten Ereignisses
—, nimmt ihm nichts von seiner Bedeutung — im Gegenteil. Mit der
Stunde oder mit der Dekade, in der die Wiederkunft als unmittelbares organisatorisches (oder anti-organisatorisches) Moment aufgegeben. werden musste,
beginnt die eigentliche Kirchengeschichte; beginnt die Geschichte einer Weltkirche,
die ihre raison d‘être aus
einer Negation aufbaute: aus der ausbleibenden Wiederkunft — und aus der
Negation einer Negation: aus der Weigerung, aus solchem Ausbleiben die Konsequenz
der Selbstauflösung zu ziehen.
Die Dialektik der Negation bestimmt von da
an bis in unsere Tage den Weg der christlich beeinflussten Menschheit.
Die Kirche — von nun an können wir den Ausdruck verwenden —
mußte sich also auf Dauer einrichten. Auf eine provisorische Dauer gewissermaßen;
aber eine Dauer, deren historische Erstreckung niemand kannte außer dem
Vater. Damit war die Entscheidung für eine — wie immer geartete —
Orthodoxie gefallen: die Kategorie der Vorsorge, die in Jesu Logien und Gleichnissen
eine so negative Rolle spielt, wird zur Kategorie der Kirche. Was ihr verblieb,
um vorzusorgen, waren einige wenige Blankovollmachten: die Vollmacht des Bindens
und Lösens, die Verheißung an Petrus den Felsen, die Aussicht auf den Paraklet, den Tröstergeist, der alles
lehren würde, was bislang noch verborgen war. (Hier geht es nicht um exegetische <Echtheits>-Fragen, sondern um das Selbstverständnis der Kirche,
wie es sich unter den neuen Verhältnissen kristallisierte.)
Wer in der Geschichte der nächsten kirchlichen Jahrtausende einen spirituellen
Machiavellismus ohnegleichen am Werke sieht, hat (meistens) recht. Er bedenkt
jedoch nicht, welche Voraussetzungen vorlagen. Der Vorwurf, die Kirche habe
alle oder fast alle Karten des Spiels gezinkt, ist unrichtig, weil zu schüchtern:
sie musste die Karten nämlich nicht nur zinken, sondern selber zeichnen.
Der Stifter hatte ihr für das Spiel, in das sie nun eintrat — eintreten
musste — einfach keine Karten hinterlassen.
Sie mußte anfangen, Rom und Hellas zu taufen. (S.49-54)
Aus: Carl Amery, Das Ende der Vorsehung, Die gnadenlosen
Folgen des Christentums . Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag
GmbH, Reinbek als rororo Sachbuch 6874
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Autors:
Herrn Carl Amery