Paul Althaus (1888 – 1966)
Deutscher evangelischer Theologe, der sich insbesondere mit der paulinischen Theologie und der Theologie Martin Luthers befasste, wobei er in behutsamen, aber deutlichen Worten Luthers Auffassung von der totalen Sündhaftigkeit des Menschen kritisierte. Althaus’ anfängliche Einstellung gegenüber dem »Dritten Reich« ist nicht unumstritten. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Vom Sinn und
Ziel des Lebens
Denn mögen wir der Frage nach dem Sinn und Ziel des Lebens auch sonst lange
aus dem Wege gegangen sein, dem alternden, dem alten Menschen, der sich dem
Ende nicht mehr fern weiß, drängt sie sich unabweisbar auf. Aber
im Grunde ist sie uns allen schon zu jeder Zeit unseres Lebens gestellt. Ja,
sie kann schon einen jungen Menschen und gerade ihn leidenschaftlich überfallen.
Viele weichen ihr allerdings lebenslang aus. Sie leben und arbeiten freilich
nicht ohne einen Sinn und ein Ziel. Aber es ist ein Teil-Sinn, ein
Nahziel, für das sie leben: die Mutter für die Familie und
ihre Kinder, der Lehrer für seine Schüler, der Arzt für die Betreuung
seiner Patienten, der Politiker für die Existenz seines Volkes und Staates
und so weiter. In der Hingabe an diese Aufgaben spürt man einen Sinn des
eigenen Lebens, da fühlt man — wie es heißt —»wozu
man da ist«. Sicher, so kann man auch leben: ich diene meinen nächsten
Pflichten — und damit gut! Die hintergründigen Fragen nach Sinn und
Ziel des Lebens überhaupt lasse ich auf sich beruhen, darüber mache
ich mir keine Gedanken — wer hat denn da auch eine gültige und gewisse
Antwort? So weisen viele die Frage ab — aus Skepsis, aus Resignation gegenüber
den letzten Fragen, noch viel mehr aber aus Flachheit. Man kann so, wie gesagt,
zwar eine Zeitlang und mancher vielleicht lebenslang existieren, aber man verzichtet
dabei auf ein Stück seines Menschseins. Denn das gehört wesentlich
zu unserem Menschsein: dass wir nach dem Gesamt-Sinn und nach dem endgültigen,
dem unbedingten Ziel unseres Lebens fragen müssen. Daher kann diese Frage,
wenn auch noch so lange verdrängt, uns eines Tages stellen und fordern.
Dann merken wir: der Teil-Sinn, den wir in unserem Berufe fühlen, das Nah-Ziel,
für das wir heute und hier jeweils leben, befriedigt Geist und Herz noch
nicht. Haben wir nicht mehr als das, dann leben wir gleichsam auf einer Insel
von Sinn — aber rings um sie herum brandet ein unendliches Meer der Sinn-Leere,
der Fraglichkeit alles Sinnes und Zieles, der Sinn- und Ziellosigkeit. Mag mich
meine bestimmte Berufsarbeit noch so beglücken, etwa mein Dienst an jungen
Menschen, an ihrer Bildung, an ihrem Fortkommen — einmal erhebt sich doch
die Frage: was ist denn der eigentliche Sinn dieses Lebens selbst, dieser Jugend,
der ich diene? Niemand kann es hindern, dass ihn einmal der nihilistische
Gedanke überfällt, von dem der Prediger Salomo in der Bibel redet:
Es ist alles zuletzt ganz nichtig, alles ganz eitel, alles sinkt in den Tod!
Alles ist Bruchstück! Das kann besonders auch in Zeiten der Krankheit und
Erschöpfung geschehen, wenn wir nicht mehr zu arbeiten vermögen. Aber
die Frage ist immer da, auch in den Tagen großer Leistung und leuchtenden
Glückes kann sie plötzlich wie ein schwerer Schatten sich über
unseren Tag, unseren Abend legen. Dass es so ist, dass wir uns dieser
Frage stellen müssen, das ist Würde und Not unseres Menschseins. Wir
sind ganz wach zum Leben erst, wenn sie uns umtreibt. Erst dann verstehen wir
uns selbst und unsere Lage als Mensch ganz.
Sinn und Ziel des Lebens — was heißt das nun? Wir fragen nach dem,
wodurch unser Leben zu seinem wahren Wesen kommt, ein Ganzes wird, erfüllt,
unbedingten Wertes.
Sinn und Ziel — es ist das, wofür ich ganz da sein kann,
das, worum alles andere sich verlohnt; das, was meinem Leben Glanz und Würde
gibt; was mich trägt, worin ich unbedingt geborgen bin. Sinn und Ziel —
das ist das Bleibende, das Unzerstörbare, Unfragliche; das, was inmitten
aller Zeitlichkeit und Vergänglichkeit Ewigkeit an sich trägt.
Wir sprechen vom »Sinn« und vom »Ziel« in der Einzahl.
Wir fragen also nach einem, dem einen, alles umfassenden und durchdringenden,
alles betreffenden Sinn und Ziel. So müssen wir auch das Leben im Ganzen
nehmen: es bringt Zeiten der Aktivität und der Muße, des Ruhestandes;
der vollen Kraft und der Entkräftung; des Wirkens und des Wartens; des
Aufbaus und des Abbaus; des Lebens und des Sterbens. Wir fragen ja nicht nach
dem Sinn dieser oder jener einzelnen oder herausgehobenen Zeiten, sondern nach
dem Sinn des Lebens im Ganzen. So muß die Antwort auf die Frage
auch alles, was das Leben bringt, im Auge haben. Das Müdewerden und Altern
gehört auch zum Leben; das Sterben auch. Wir können uns also nicht
mit einer Sinn-Antwort begnügen, die etwa nur für die Zeiten unserer
Aktivität gälte und die anderen als nicht mehr sinnvoll, als sinnleer
hinstellte.
Wo aber sollen wir dann den Sinn und das Ziel unseres Lebens suchen? Manchem
mag die Antwort naheliegen:
Sinn und Ziel ist das Glück, das Glücklich-Werden.
Die Antwort ist gewiß nicht einfach falsch. Aber was heißt schon
»Glück«? Es gibt mancherlei Arten und Stufen von »Glück«,
angefangen von dem »erbärmlichen Behagen« des Spießers
— soll das etwa der Sinn sein? Wir müssen doch wohl sagen: nicht
das Glück verleiht dem Leben Sinn, sondern umgekehrt: die Erfüllung
des Sinnes macht das Leben glücklich. So bleibt die Frage offen: was gibt
dem Leben Sinn?
In der modernen Menschheit ist man weithin geneigt, den Sinn in der Arbeit für
große objektive, übergreifende Werte zu finden; also etwa: mein Leben
hat dem Fortschritt der Menschheit, dem kulturellen, dem technischen oder dem
sozialen und politischen zu dienen — das ist sein Sinn! Oder, wie wir
es vor 25 Jahren in unserem Lande immer wieder hörten: du bist nichts,
dein Volk ist alles — deines Lebens Sinn ist der Einsatz für deines
Volkes Leben und Zukunft! An diesen Losungen ist gewiß etwas Richtiges,
aber als Antwort auf die Sinn-Frage reicht keine von ihnen aus. Wir können
keine streng beim Worte nehmen. Es ist ja gar nicht wahr, daß wir mit
unserem ganzen Leben für den Fortschritt der Kultur und so weiter, für
das Leben unseres Volkes da sein könnten. Wir führen alle ein privates, persönliches
Leben, z. B. in der Familie, im Begegnen von Mensch und Mensch — diese
ganze Sphäre hat nicht das mindeste mit dem Fortschritt der Menschheit
oder des eigenen Volkes zu tun — und wer will behaupten, daß das
private Leben zwischen Mensch und Mensch weniger wichtig wäre als das,
was wir für öffentliche Aufgaben leisten? Das persönliche Leben
in der Familie und meine ganz private Aufgabe, etwa ein schweres Schicksal zu
tragen und zu bestehen, das alles hat einen Eigen-Sinn, der in keiner jener
so vornehm klingenden Losungen und Sinngebungen aufgeht. Wir sind für jene
öffentlichen Werte und Ziele der Menschheit immer nur mit einem Teile unseres
Arbeitens da, niemals ganz. Wer dennoch so tut, der gibt an, der berauscht sich
an großen Worten ohne Deckung durch die echte Wirklichkeit unseres Lebens.
Dieses ist viel reicher und mannigfaltiger, als daß es in einer jener
Beziehungen aufginge.
Wir ahnen jetzt schon die sinngebende Instanz kann nur da sein, wo unsere ganze
Existenz, nicht nur ein einzelner Bereich, umfaßt wird. Das heißt
aber: sinngebende Instanz ist kein anderer als Gott, der Schöpfer und Herr
meines Lebens. Er ist mir in allem nahe, begabend und aufrufend, in meinem privaten
Leben so gut wie in meinem öffentlichen Berufe. Der Sinn kann kein anderer
sein als dieser: für Gott da sein, jeweils in der besonderen Weise, wie
sie durch meine ganz persönliche Art und Gabe und durch die immer neue,
ganz besondere Lage bestimmt wird. Die Frage nach dem Sinn, in der Tiefe genommen,
ist die Frage nach Gott. Und die zuletzt einzig mögliche Antwort auf die
Frage nach Sinn und Ziel meines Lebens ist der lebendige Gott selbst, seine
Wirklichkeit als die meines Schöpfers und Herrn. Denn das ist die wahre
Wirklichkeit meiner Existenz, daß der ewige Gott, wie wir ihn durch Jesus
Christus kennen, mich gewürdigt bat, für ihn da zu sein in freier
Hingabe an ihn. Was das heißt, das sagt er uns durch seine Gebote, die
ich in der jeweils neuen Situation meines Lebens jeweils neu zu hören habe.
Alle Gebote Gottes aber haben den einen und selben Generalnenner: für ihn
da sein.
Dieses Für-Gott-Dasein hat teils unmittelbaren, teils mittelbaren Charakter.
Unmittelbar: das heißt: im ständig neuen, lebendigen Anerkennen dessen,
daß er mein Schöpfer, mein Herr und gnädiger Vater ist, von
dem ich mein Leben in jedem Augenblick empfange; Für-Gott-Dasein in dem
dankbaren und demütigen Empfangen aller Gaben seiner Güte, aller Freuden,
aller Aufgaben aus seiner Hand; in dem ständigen Zutrauen zu ihm, daß
ich bei ihm auf alle Fälle geborgen bin; in dem immer neuen Sich-Öffnen
für seinen Willen an mich.
Für Gott sollen wir aber auch mittelbar da sein, nämlich in der Hingabe
an den Mitmenschen, zu dem Gott mich in den von ihm gesetzten Lebensordnungen
ins Verhältnis gesetzt hat. Ich darf und soll für den Nächsten
(jeder kann es mir werden!) da sein, je nach der Gabe und dem Vermögen,
die mir gegeben sind, je nach dem Stande und Berufe, in dem ich stehe. Gott
braucht mich und würdigt mich dessen, daß ich seine Hand sein darf
im Dienste an meinen Mitmenschen, daß ihr Leben erhalten werde und daß
es reich sei, reich an echter Freude und Freiheit. Ein unendliches Gebiet! Das
eine Gebot, darin für Gott da zu sein, daß ich für den Mitmenschen
da bin, erreicht mich in unerschöpflicher konkreter Brechung.
Ebenso weist uns das Gebot des Schöpfers an die Welt der Dinge und Sachen,
ruft uns zum Erkennen der Natur und Geschichte, der Wahrheit überhaupt
und zum technischen Auswerten der Kräfte des Kosmos für den Dienst
am menschlichen Leben — auch das ist Sinnerfüllung, eine Seite von
ihr, nie das Ganze, nicht einmal das Höchste. Für Gott da sein im
Umgang mit dem Kosmos der Natur und des Geistes sollen wir auch so, daß
wir bei allem Mute und Drange zum Eindringen in das noch Unerkannte, zum technischen
Gestalten und Beherrschen doch das Geheimnis in der Tiefe der Dinge und die
strenge Grenze für die Anwendung technischer Möglichkeiten mit Scheu
achten. Nicht wir, sondern Gott allein ist der Herr der Welt.
Das also ist der Sinn unseres Lebens: die Verhältnisse nach Gottes Willen
erfüllen, in die er, der Schöpfer, uns zu sich selbst, zu dem Mitmenschen,
zu der Welt der Dinge und Wahrheiten gesetzt hat. Indem wir diese Daseins-Verhältnisse
erfüllen, erfüllt sich unser Leben zum Sinngehalt.
Im Glauben an Gott als den Schöpfer der Welt und den Herrn meines Lebens,
der mir meine jeweilige Lage bereitet, glaube ich, daß es keine Lage,
kein Daseinsverhältnis gibt, in dem nicht ein Sinn auf mich wartet. »Wartet«,
sagen wir. Der Sinn ist in der bestimmten Lage meines Lebens nicht einfach gegeben.
Er verwirklicht sich nicht wie ein Naturgeschehen gleichsam hinter meinem Rücken,
ohne mich. Gott hat uns zu lebendigen Personen gesetzt, er hat uns ein Abbild
seiner eigenen Freiheit des Gestaltens verliehen. Er nimmt unsere Freiheit für
das Verwirklichen des Sinnes in Anspruch. Nicht als ob wir Menschen erst Sinn
in eine sonst sinnlose Weltwirklichkeit trügen, wie der französische
Existentialismus von JEAN PAUL SARTRE wähnt: Sinngebung des Sinnlosen durch den Menschen! Nein,
so nicht! Da hat der verstorbene deutsche Philosoph NICOLAI HARTMANN mehr recht,
wenn er von der »Sinnbereitschaft« der Welt spricht. Das
meint auch unser Satz: der Sinn wartet auf uns. Gott, der Herr unserer Schicksale,
der uns unsere Lage bereitet, macht zu jeder Stunde, in jeder Lage ein Sinn-Angebot,
gibt uns sozusagen eine Chance der Sinn-Erfüllung. Wir fühlen das
oft genug deutlich, wie der wartende Sinn einer Stunde geboren werden will.
Aber — das ist die andere Seite — das geschieht eben nicht ohne
uns. Es gilt, den auf uns wartenden Sinn zu ergreifen, handelnd oder in lebendigem
Empfangen. Der Sinn erschließt und verwirklicht sich nur der Bereitschaft,
ihn zu empfangen. Ohne das bleibt die Stunde, die Lage unerfüllt, leer.
Wir können den Sinn also verfehlen. Noch mehr: indem wir den wahren Sinn
einer Lage, das Sinn-Angebot des Schöpfers und Herrn verfehlen, kann dadurch
ein Gegen-Sinn, ein dämonischer, sich verwirklichen. So ist der Sinn gegeben
und aufgegeben in einem. Wir könnten ihn nicht verwirklichen, wenn er nicht
wartete; aber er wartete vergeblich, wenn wir ihn nicht ergriffen. Die Verwirklichung
des Sinnes ist jenseits der Unterscheidung von objektiv und subjektiv, sie ist
beides in einem. Das Sinn-Angebot ist immer zugleich Sinn-Gebot.
Dieses Sinn-Angebot Gottes an uns ist nun so umfassend, so allgegenwärtig,
so an jedem Punkte präsent wie die von Gott gesetzte Wirklichkeit unseres
Lebens — aber auch so im Konkreten verschieden, ja gegensätzlich
wie die Lagen des Lebens selbst unter Umständen und doch wieder eins in
der einen, alles durchherrschenden Sinngebung: in je ganz verschiedener Weise
und doch in allem für Gott da sein. Keine Situation, keine noch so extreme
Lage, kein einziger Mensch ist von dieser Sinngebung seines Lebens ausgenommen.
Und im Entscheidenden wird hier uns allen, wie verschieden eines jeden Leben
von dem der anderen auch sein mag, das eine und selbe angeboten: Erfüllung.
Hier fällt nämlich in der Tiefe der Unterschied zwischen dem nach
unseren Begriffen bedeutenden Leben und dem kleinen, zwischen einer großartigen
und einer ganz simplen, schlichten Lebensaufgabe. Denn es liegt dem Herrn unseres
Lebens offenbar zuletzt nicht an der Leistung als solcher, an dem Ertrage oder
Erfolge, sondern an dem Menschlichen, das jeweils in eine Arbeit hineingelegt,
in ihr investiert wird. Gewiß ruft der Schöpfer und Herr einen jeden
von uns jeweils gemäß unseren Gaben und unserer Kraft an ganz bestimmte
sachliche Aufgaben, zu sachlicher Leistung — er braucht uns Menschen,
er würdigt uns dessen, daß er uns braucht, um diese Welt in Ordnung
zu halten, ihre Möglichkeiten zu entwickeln. Er braucht dazu gerade auch
die bedeutenden Menschen und die große Leistung. Aber — das haben
wir aus der Bibel gelernt — zuletzt liegt es dem Herrn nicht an den Sächlichkeiten,
die wir schaffen oder mehren: Kultur, Technik, Geist, Wissenschaft als solchen,
sondern an den lebendigen Personen. Zuletzt sucht er nicht unsere große
Leistung als solche, sondern die Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft, die
Treue, die Geduld, die Freudigkeit, auch die innere Freiheit, mit der wir jeweils
bei unserer Sache sind. Das alles kann aber auch der ganz schlichte Mensch in
der Hingabe an eine sehr bescheidene, kleine Aufgabe bewähren. Geschichtlich,
gleichsam in der Horizontale, mag seine Leistung wenig bedeuten. Aber hier gilt
die Senkrechte, die Vertikale, in der unser Tun unmittelbar zu Gott ist, in
der Dimension der Ewigkeit. Nicht die Leistung, sondern die Hingabe erfüllt
das Leben zur Sinnhaftigkeit. Gott sucht das, was die Bibel den »inwendigen
Menschen« nennt.
Es ist sicher ein Geschenk des Schicksals, wenn man sein Leben an eine zusammenhängende
große Aufgabe durch Jahre oder gar Jahrzehnte setzen darf, oder wenn man
sieht: das eigene Werk, welches es auch sei, hat Dauer. Das ist schön,
gewiß! Aber der Sinn des Lebens ist daran nicht gebunden und darauf nicht
beschränkt. Er kann in einer ganz alltäglichen, schnell vorübergehenden
Lage und Aufgabe aufleuchten, in der Begegnung mit jemandem, der auf meine Hilfe
ganz zufällig angewiesen ist, den ich nie wiedersehe — aber die flüchtige
Stunde hat ewigen Sinn und ihre Erfüllung ewigen Bestand. WERNER BERGENGRUEN sagt in einem seiner Gedichte: »Nichts Vergängliches vergeht.« Das heißt: der Sinn, die Erfüllung des Sinnes bleibt, sie steht vor
Gott und gilt. In der geschichtlichen Welt der Öffentlichkeit mag sie ganz
verborgen bleiben, aber sie hat unvergängliches Sein in der noch verborgenen
ewigen Welt Gottes.
In unserer Gegenwart gilt es, ein anderes besonders zu betonen. Der moderne
Mensch meint, der Sinn des Lebens liege allein in der Arbeit. Die Arbeit
steht im Begriffe, bei uns zum Götzen zu werden, nicht nur drüben
im Osten. Nein, der Sinn des Lebens kann ebenso im rechten Ruhen erfüllt
werden wie in der rechten Arbeit, ebenso in der Entspannung wie im angespannten
Wirken. MARTIN LUTHER hat einmal gesagt: »Man
kann Gott auch mit Ruhen dienen, ja mit nichts mehr als mit Ruhen.« Auch
mit Ruhen: das Für-Gott-Sein dürfen wir auch leben in dem aufgeschlossenen,
dankbaren Genießen und Empfangen der Freuden, die das Leben, die seine
Schöpfung uns bietet. Wenn LUTHER aber sogar hinzufügt: »man
kann Gott mit nichts mehr dienen als mit Ruhen«, dann heißt das:
man kann sehr gottlos arbeiten. Wir alle heute vergessen in unserem Arbeitsfanatismus
so oft, daß es zuletzt nicht an uns liegt, sondern an dem Segen Gottes.
Darum ist es eine wichtige Probe auf unser Ernstnehmen Gottes, ob wir richtig
ruhen, uns von den Sorgen auszuspannen vermögen im Vertrauen auf ihn. So
trägt auch das Ruhen tiefen Sinn in sich.
Der Sinn, von dem wir sprechen »für Gott da sein«, übergreift
auch den Unterschied, den wir bei oberflächlicher Betrachtung unseres Lebens
so gerne machen: zwischen sogenannter »verlorener Zeit« und erfüllten
Jahren. Natürlich gibt es verlorene Zeit, nämlich relativ, gemessen
an einem Lebensplane, an einer Laufbahn, die wir erhofften. In diesem Sinne
haben unzählige Soldaten des zweiten Weltkrieges durch Krieg, Gefangenschaft,
als Spätheimkehrer kostbare Jahre der Ausbildung oder des Berufsweges »verloren«,
und es gibt hier Verluste, die man nicht einholen kann, die man lebenslang tragen
muß. Aber das ist keinesfalls das letzte Wort; auf die Tiefe gesehen kann
es ganz anders sein. Auch in den verlorenen Jahren geschah ein Angebot von Sinn
— und es kam nur darauf an, es zu ergreifen und nicht zu verfehlen. Mancher,
der draußen ein Jahrzehnt und mehr im gewöhnlichen Sinne »verloren«
hat, bekannte hinterher doch, was die Jahre ihm innerlich bedeutet haben: zur
Besinnung auf die wahren Güter des Lebens, auf das Eine, was not ist. Nicht
wenige sind in einer solchen Zeit gereift, haben Geduld, Demut unter Gott, Glauben,
Warten im Vertrauen auf ihn gelernt. HELMUT GOLLWITZER erzählt in seinem bewegenden Buche »Und führen wohin
du nicht willst.. . « davon, wie denen, die in der russischen Gefangenschaft
Auge in Auge mit Gott dem Herrn lebten, auch die leeren Jahre nicht verlorene
wurden: »Wer im Hören der Botschaft verharrte..
., dem war kein Tag verloren, weil er an jedem Tage in Begegnung mit seinem
Herrn, im Gespräch mit seinem Worte, in Verantwortung für Menschen,
zu denen dieses Wort ihn wies, stand, also immer beschäftigt mit Aufgaben
und neuen Erfahrungen. Ihm wurden diese Jahre zu unverlorenen und reichen Jahren.«
Das gleiche gilt auch für alle die, die in ungeliebter Arbeit stehen oder
in einer, die ihr Leben nicht erfüllt, wie es das Schicksal so vieler Frauen
ist. Auch an dem Entbehren der ganzen irdischen Erfüllung kann ein Mensch
reifen, wenn er ein solches Schicksal aus Gottes Händen nimmt und es lebt
als ein Opfer an ihn. Der Apostel PAULUS ruft den Sklaven, die auch wohl oft
genug sinnlose Arbeit (im üblichen Verstande) nach der Laune ihrer Herrn
zu tun hatten, einmal zu: »Alles, was ihr tut, das tut von Herzen, als
dem Herrn und nicht den Menschen«, also auch die ungeliebte, ja vielleicht
unwürdige Arbeit.
Die Sinngebung, von der wir sprechen, gilt nicht nur für die Zeiten der
Kraft und des ungehemmten Wirkens, sondern auch für das Altern, das Welken,
das Kranksein, ja das Sich-Bereiten zum Sterben. Auch das ist nicht davon ausgenommen,
sinnvolles Leben zu sein. Auch das Kranksein stellt eine persönliche Aufgabe.
Jede ernstere Krankheit erinnert den Menschen an die Grenze seiner Lebendigkeit
und Kraft. Sie ist das Vorzeichen der unbedingten und endgültigen Grenze,
des Sterbens. Im Kranksein erfahren wir wie nie zuvor unsere kreatürliche
Endlichkeit. Meine Zeit ist befristete Zeit, meine Kraft eine begrenzte und
gebrechliche. Meine Aktivität ist umschränkt von nur Leidentlichem.
Den Sinn der Krankheit erfüllen heißt: unter diese Erfahrung der
kreatürlichen Grenze sich beugen in der Bescheidenheit, die dem Geschöpfe
geziemt. Das wird unserem menschlichen Stolze und unserer gewöhnlichen
Selbstsicherheit nicht leicht. Aber damit ehren wir den Schöpfer und Herrn
unseres Lebens, der allein von unbegrenzter Lebendigkeit und Kraft ist: wahrhaftig
ein würdiger Sinn!
Wir Menschen der Gegenwart sind mehr oder weniger hochmütige Aktivisten,
die ihre Grenzen verkennen. Es hat schon guten Sinn, daß wir hart auf
sie gestoßen werden. Auch das ist sinnvoll: sich dahinein zu bescheiden,
daß andere uns pflegen müssen; das Danken ganz neu zu lernen für
den Dienst der Menschen, die für uns da sind und denen wir Last bereiten
mit unserem Kranksein. Als Kranker lerne ich auch das Warten, die Geduld —
wer möchte leugnen, daß diese Schule für unser menschliches
Reifen viel bedeuten kann?
Noch mehr: das Kranksein, das Altern, das Sich-Anmelden des Endes in manchen
Vorzeichen, zieht mir mehr oder weniger den Boden meiner Existenz unter den
Füßen weg. Mir wird vieles genommen, worauf ich stand, womit ich
immer neue Selbstbetätigung und Erfüllung fand. So werde ich gedrängt,
nach dem bleibenden Halt und Gehalt meines Lebens zu fragen, nach der unbedingten
Gründung meines Personseins, meiner Freudigkeit und Zuversicht. Daß
das Kranksein, das Altern und Welken mir diese Frage eindringlich stellt, das
macht ihr menschliches Plus aus gegenüber den gesunden Tagen. Dieser Frage,
die mich in dem Kranksein an-geht, nicht ausweichen, das gehört zu der
persönlichen Aufgabe der Krankheit. Ich kann sie in Flachheit oder Stumpfheit,
in Herzenshärtigkeit, wie die Bibel sagt, verfehlen. Aber ich kann sie
auch ergreifen — dann vermag das Kranksein mich zu einer Vertiefung meines
Lebens im Wesentlichen zu führen, zu einer Begegnung mit dem Herrn meines
Lebens, mit der Ewigkeit, mit dem ewigen Grunde, der mich trägt. Das hat
tiefen, bleibenden Sinn. So kann man auch sein Altwerden vor Gott leben und
darin für-Gott-sein, in anderer Weise als in den Tagen der Vollkraft, aber
nicht weniger ernst und schön.
Wann unser Leben Sinn hat und wann nicht, das dürfen wir also keinesfalls
nach unseren oberflächlichen kulturellen oder politischen Maßstäben
beurteilen. Was für ein schauerlicher Verrat am Menschlichen war es doch,
daß man im »Dritten Reiche« sich vermaß, zu dekretieren:
dieses und das Leben hat keinen Wert mehr für die Volksgemeinschaft, es
ist unnütz und damit ohne Sinn geworden! Daher darf man es durch sogenannte
»Euthanasie« beenden! Nein, hier darf kein Mensch die Grenze setzen
— das ist Sache des Schöpfers allein. Im Lichte
der Ewigkeit kann unser Leben auch dann noch Sinn haben, wenn es im Sinne unserer
vorwitzigen zivilisatorischen Maße »niemandem mehr nützt«,
sondern »nur noch eine Last ist«, wie die törichte Rede geht.
Alles in allem: für Gott da sein — das ist
der Sinn des Lebens, der nie aussetzt, für den es keine Pausen, keine sinnleeren
Zeiten gibt. Und das Ziel? Wir können es in nichts
anderem sehen als darin: daß der Sinn, von dem wir sprachen, einmal ganz
erfüllt werde. Für-Gott-Dasein — das wird ja —
wir müssen es eingestehen — in dieser unserer irdischen Ezistenz
immer nur bruchstückhaft von uns verwirklicht. Wir lassen so manches Sinn-Angebot
Gottes ganz oder halb ungenützt vorübergehen. Aber wir sind gewiß:
das ist Gottes Ziel mit uns, daß er aus uns Halben Ganze macht, daß
er das Sinn-Bruchstück unseres Lebens einmal zur Ganzheit vollendet. Dem
gehen wir entgegen.
Kröner, Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 286, Der alte Mensch in unserer Zeit,
Das Heidelberger Studio, eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks S.
145ff.
Copyright 1958 by Alfred Kröner Verlag Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred
Kröner Verlages, Stuttgart