Franz Alt (1938 - )
Deutscher Fernsehjournalist, Schriftsteller und engagierter Öko-Förderer; Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaften, Theologie und Philosophie. Siehe auch Wikipedia und www.sonnenseite.com |
Inhaltsverzeichnis
Das neue Gottesbild - ein Gott der Liebe
Liebe ist mehr als Gerechtigkeit
Jesu dynamisches Gottesbild
Jesu neues Menschenbild
>>>Christus
Jesus: Der emanzipierte Mann
Das
neue Gottesbild – ein Gott der Liebe
Richtig ist, dass auch im Alten Testament gelegentlich der Liebesgott durchscheint — eher bei Abraham als bei Moses. Aber zur Zeit Jesu hat der Richtegott dominiert. Solange wir noch nicht das befreiende Jesus-Bild und noch nicht seinen
Gott der Liebe entdeckt haben, ist es kein Wunder, dass sich seit Jesus
nicht viel geändert hat. Der »Herr der Heerscharen« ist ein
Kriegsgott und das Gegenteil des gütigen Vaters, den Jesus erkannte! Die
meisten Christen stehen auf der vorjesuanischen Bewusstseinsstufe dieses
aggressiven Kriegsgottes.
Hanna Wolff: »Das Christentum
ist bisher nie wirklich aus dem Schatten des Judentums herausgetreten. Das ist
seine Schuld. Das ist seine Tragik, das ist sein Existenzproblem.« Und
das ist der Grund, weshalb wir heute noch einmal neu mit Jesus anfangen müssen.
Christen sollten nicht bessere Juden sein, sie sollten endlich Jesuaner werden.
Die Evangelien sind nicht judenfreundlich. Wer sie dazu machen will, muss
sie abschaffen. Die Evangelien sind so wenig judenfreundlich wie christenfreundlich,
sie sind jesusfreundlich, judenkritisch und grundsätzlich kirchenkritisch.
Wie sieht nun das neue Gottesbild Jesu und das dazu passende neue Menschenbild
aus?
- »Wer nur noch von Gott etwas erwartet«,
der darf sich freuen. Gott wird den Notleidenden »ihre Last abnehmen«.
- Gott wird »den Gewaltlosen« die Erde zum Besitz geben.
- Gott wird »barmherzig« sein. Die ein reines Herz haben, »werden
Gott sehen«. Die Friedensstifter werden »Gottes Kinder« sein,
sagt Jesus in der Bergpredigt bei Matthäus.
Dieses ganz neue Gottesbild hat mit dem vorherrschend militanten
alttestamentlichen Gott nichts mehr zu tun.
Das jüdische Establishment sah in Jesus den Gesetzesbrecher, Tabubrecher
und Verführer. Das war er, das ist er, und das wird er immer sein. Seine
Botschaft für alle ist die aus Freiheit erwachsende Bindung. Jesus hat
jede systematisierte und dogmatisierte Religion in Frage gestellt. Hundertfach
ist im Neuen Testament belegt, dass Jesus das Alte Testament nicht nur
in Frage gestellt hat, sondern es überwinden wollte. »Unseren Vorfahren
wurde gesagt..., ich aber sage euch«. Weil Jesus allen Vater-Autoritäten
den Gehorsam aufkündigte, konnte er die Liebe des Vaters erkennen und erfühlen.
Den Patriarchen-Gott Jahwe, den die Juden kannten, nahm Jesus gar nicht in den
Mund. Er bekennt sich zum liebenden Vater. Das ist kein abstraktes Prinzip und
kein namenloser Gott, sondern lebendige Beziehung, neue Qualität.
Sechs Tage später nahm Jesus die drei Jünger
Petrus, Jakobus und Johannes mit sich und führte sie auf einen hohen Berg.
Sonst war niemand bei ihnen. Vor den Augen der Jünger ging mit Jesus eine
Wandlung vor. Seine Kleider wurden so leuchtend weiß, wie es keiner auf
Erden machen kann. Auf einmal sahen sie Elijas und Moses bei Jesus stehen und
mit ihm reden. Da sagte Petrus zu Jesus: »Wie gut, daß wir hier
sind, Lehrer! Wir wollen drei Zelte aufschlagen, eins für dich, eins für
Moses und eins für Elijas.« Aber er wußte gar nicht, was er
sagte, denn er und die beiden anderen waren vor Schreck ganz verstört.
Da kam eine Wolke und warf ihre Schatten über sie. Eine Stimme aus der
Wolke sagte: »Dies ist mein Sohn, dem meine ganze Liebe gilt; auf ihn
sollt ihr hören.« Dann aber, als sie um sich blickten, sahen sie
niemand mehr, nur Jesus war noch bei ihnen. (Mk 9,2—8)
Die Jünger Jesu stehen hier vor der alles entscheidenden Frage: Wein sollen
wir vertrauen? Jesus oder den Vertretern des alten Glaubens Elijas und Moses?
Sie tun, was die Kirchen bis heute tun: Sie versuchen zunächst mit »drei
Zelten« gleichberechtigt nebeneinander eine Harmonisierung des Alten mit
dem Neuen. Aus Angst vor dem Neuen sind sie »vor Schreck verstört«.
So geht es uns immer bei einer grundsätzlich neuen Erkenntnis. »Vielleicht
ist nichts grausamer in diesem Leben, als einem Menschen seinen Gott zu zerstören.
Einem Menschen seinen Gott zu zerstören bedeutet, ihn einen Augenblick
lang einer furchtbaren Einsamkeit und Angst auszusetzen; es bedeutet, ihn entsetzlichen
Schuldgefühlen, furchtbaren Selbstanklagen und grausamen Selbstbeschuldigungen
auszuliefern; und doch gibt es oft keine Alternative.« Der erfahrene Therapeut
Eugen Drewermann beschreibt hier das Fegefeuer, durch das jeder hindurch muss,
der sich wirklich wandeln will. Es gibt keinen anderen Weg der Befreiung. Erst
nach dem Schreck kommt die Chance der Befreiung und Bewusstseinserweiterung:
Die Jünger »hören« jetzt ähnlich wie Jesus bei seiner
Taufe die Stimme Gottes: »Dies ist mein
Sohn, dem meine ganze Liebe gilt; auf ihn sollt ihr hören.« Diese charismatische Gotteserfahrung, die Markus in so eindrucksstarken Bildern
schildert, führt dazu, daß »nur noch Jesus« bei ihnen
war. Die Vertreter des Alten waren weg. Der Neue, Jesus, war jetzt ihre alleinige
Autorität.
Moses und Elijas waren große politische und religiöse Führer
ihres Volkes. Die beiden großen Männer des Alten Testaments haben
ihr Volk aus der ägyptischen Gefangenschaft geführt. Jesus will viel
mehr. Er will einen Weg aus der inneren Gefangenschaft, aus der Gefangenschaft
unseres Herzens weisen. Bei Jesus geht es nicht mehr um die Gefangenschaft eines
Volkes und um dessen Befreiung, sondern um die Gefangenschaft aller Menschen
und um deren Befreiung.
Für den Umsturz seines Gottesbildes kann sich Jesus auf keine schriftliche
Anweisung stützen, sondern »nur« auf den Atem, der ihn durchdrungen
hat.
»Warum erwartet ihr von Gott eine Belohnung, wenn
ihr nur die liebt, die euch auch lieben? Das tun sogar die Menschen, die nicht
nach Gott fragen... Nein, eure Feinde sollt ihr lieben! Tut Gutes und leiht,
ohne etwas zurückzuerwarten. Dann bekommt ihr reichen Lohn: ihr werdet
zu Kindern des Höchsten. Denn auch er ist gut zu den undankbaren und schlechten
Menschen. Werdet barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist.« (Lk 6,32
und 35—36) »Barmherzig« und »mütterlich« ist
im griechischen Text identisch. Hier im Zusammenhang mit der Feindesliebe wird
das neue Gottesbild Jesu am deutlichsten. Im Alten Testament beten die Menschen:
»Zerstöre meine Feinde. Zertritt sie in Staub.« Jesus: »Nein,
eure Feinde sollt ihr lieben.« Denn Gott liebt alle Menschen
wie eine Mutter ihre Kinder. Eine Mutter »kalkuliert« nicht über
gut oder böse, wenn sie ein Kind bekommt, sie liebt es. Vordergründig
gesehen ist Mutterliebe ja etwas ganz Irrationales. Wäre es nicht »vernünftiger«,
nur für sich selbst zu sorgen? Doch das mütterliche und väterliche
Wesen in uns will seine Mütterlichkeit und seine Väterlichkeit ausleben.
Und Gott will das auch an uns, sagt Jesus: Damit Leben werde! »So
ist der von Jesus erlebte und verkündete Gott Vater und Mutter, jedoch
nicht nebeneinander, sondern ineinander: Gott ist die Mutter im Vater.« (Karl Herbst) Euer Vater ist barmherzig heißt: Euer Vater ist mütterlich.
»Werdet barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist« heißt:
Wachst, reift, öffnet euch, sucht, vertraut und liebt mit Herz und Verstand. Gott liebt uns, wie eine Mutter ihre Kinder liebt: ohne Gegenleistung
und innig! Nie ist in der Religionsgeschichte ein schöneres Gottesbild
gemalt worden als diese Geistesverwandtschaft der Menschen mit Gott. Wir sind
Gottes Geliebte, wie Jesus sein Geliebter war.
»Alles kann, wer vertraut«, wer liebt, vertraut. Und wer
vertraut, dem wird vertraut. Das heißt: Wir sind Stellvertreter Gottes.
Jeder ist sein eigener Papst, weil wir über unser Gewissen Gott verantwortlich
sind. Jesus wird aber noch deutlicher: »Ihr sollt vollkommen sein, wie
euer Vater im Himmel vollkommen ist. « Eine bis dahin unerhörte Aussage.
Die Patriarchen, die einen Super-Patriarchen als Gott verehrten, haben sich
entsetzt abgewendet. Den partnerschaftlichen, völlig neuen, dem Menschen
liebevoll zugewandten Gott konnten sie Jesus nie verzeihen. Dieser Gott Jesu »beruft uns zu Großem« (Hanna Wolff). Wir sollen seine Schöpfung hegen und pflegen und an ihr weiterarbeiten
wie Künstler an einem Kunstwerk. Wir sind nicht mehr Gottes Knechte wie
im Alten Testament — wir sind dank Jesus Gottes Beauftragte.
Vater, Herr über Himmel und Erde, ich preise dich dafür, dass du den Unwissenden zeigst, was du den Klugen und Gelehrten verborgen hast...
Ihr plagt euch mit den Geboten, die die Gesetzeslehrer euch auferlegt haben.
Kommt doch zu mir, ich will euch die Last abnehmen. Ich quäle euch nicht
und sehe auf keinen herab. Stellt euch unter meine Leitung, und lernt bei mir,
dann findet euer Leben Erfüllung. (Mt 11,25 und 28—29)
Entgegen aller komplizierten Theologie beharrte Jesus auf seinem einfachen Gottesbild,
das die »Unwissenden« kennenlernen, nicht aber die »Klugen«
und »Gelehrten«. Wissen ist gut, Vertrauen ist aber viel wichtiger.
»Woher wissen Sie, dass Ihr Jesus-Bild echt ist? Woher wissen Sie,
dass sein Gottesbild echt ist?« werde ich oft gefragt.
Keiner von uns Heutigen hatte die Chance, Jesus persönlich kennenzulernen.
Und dennoch können wir ihn kennenlernen. Keiner von uns Heutigen hat auch
Bach oder Mozart persönlich kennengelernt, und dennoch können wir
beim Hören von Bach oder Mozart empfinden und fühlen, ob uns dieser
so gespielte Bach oder Mozart gefällt. Echt ist, was uns innerlich berührt,
bewegt und in Bewegung hält. Echt ist, was »unser
noch nicht durch falsches Denken verdorbenes Herz erreicht« (Karl Herbst). Nach Jesus ist das Einfache echt, nicht das Zwie-spältige. Das ist echt
Jesus. Wer es fühlt, weiß es.
Liebe
ist mehr als Gerechtigkeit
Woher weiß eine Frau, ob ein Mann sie liebt? Am intensivsten durch ihr
Gefühl und durch ihre Intuition.
Jesus sah seine Jünger der Reihe nach an und sagte: »Wie schwer haben es doch reiche Leute, in die neue Welt Gottes zu kommen!« Die Jünger erschraken über dieses Wort, aber Jesus sagte noch einmal:
»Ja, es ist sehr schwer hineinzukommen! Eher kommt ein Kamel durch ein
Nadelöhr als ein Reicher in Gottes neue Welt.« Da gerieten die Jünger
völlig außer sich. »Wer kann dann überhaupt gerettet werden?«
fragten sie einander. Jesus sah sie an und sagte: »Menschen können
das nicht machen, aber Gott kann es. Für Gott ist nichts unmöglich.« (Mk 10,23—27)
Liebe ist mehr als soziale Gerechtigkeit. Der große Schatz, die Liebe,
kann nicht verdient, nur geschenkt werden. Die Jünger waren so entsetzt,
wie wir es über diese Worte sind. Soll ich alles verschenken? Innerlich
dazu bereit sein, ja —und im Ernstfall es auch tun. Zu viele Sorgen wegen
des äußeren Besitzes, zuviel Marschgepäck verhindern, daß
wir auf dem schmalen Pfad uns Gottes Liebe nähern. »Habt doch mehr
Vertrauen.« »Sorgt euch nicht.« »Betrachtet die Lilien
des Feldes und die Vögel des Himmels.« Wenn unser Reichtum uns am
einfachen Leben hindert, fehlt es an jesuanischem Urvertrauen, und wir leben
vergeblich.
Wer Gottes Einladung versteht, der handelt wie ein Kaufmann,
der schöne Perlen sucht. Wenn er eine entdeckt, die besonders wertvoll
ist, verkauft er alles, was er hat, und kauft sie. (Mt
13,45—46)
Mit dem Gottesbild des barmherzigen, mütterlichen Vaters hat uns Jesus
den wertvollsten Schatz unseres Lebens geschenkt. Nur: Wir haben bisher weitgehend
vergessen, mit diesem »Pfund« auch zu wuchern. Auch kostbare Schätze
werden unansehnlich, wenn man sie verrotten läßt. Dabei gibt es die
feste Zusage, dass dieser Schatz — kaufmännisch richtig angelegt
— »hundertfache« Frucht, also Zins und Zinseszins, bringen
wird. Das heißt: Nicht die Hände in den Schoß legen, nicht
Gottvertrauen als Passivität und Schicksalsergebenheit mißverstehen,
sich nicht ewig über »die« Zeitläufe und »die«
Umstände, »die« Gesellschaft oder »die« Politiker
beklagen, sondern handeln, so wie man kann, sich auf den Weg machen, wo man
es kann, und andere anstecken, so gut man es kann. »Alles kann, wer vertraut.«
Die Erfahrung meines Lebens ist: Diese Zusage ist wahr Ich weiß das, weil
ich so oft an ihrer Verwirklichung gezweifelt und dann doch ihre Wahrheit erlebt
habe — in privaten und beruflichen Krisen.
Jesu
dynamisches Gottesbild
Jesus vertritt ein dynamisches Gottesbild im Gegensatz zum statischen Gottesbild
des orthodoxen Judentums. Das Gottesbild des allmächtigen Patriarchats
ist entwicklungsfeindlich, Jesu Gottesbild ist entwicklungsfreundlich. Über
Gott sagt Jesus: »Bei Gott ist alles möglich.« Und entsprechend
über den Menschen: »Alles kann, wer vertraut.« Der Mensch muss
sich nicht mehr ducken und Angst haben vor einem allmächtigen Gott, sondern
ist Gottes vertrauenswürdiger Mitarbeiter geworden. Wir sind Partner in
Gottes schöpferischer Dynamik.Jesus meinte,
— einen Gott der Wahrheit, nicht der Starrheit,
— einen Gott der Liebe, nicht des Rechts,
— einen Gott der Intuition, nicht der Institution,
— einen Gott der Frohbotschaft, nicht der Drohbotschaft,
— einen Gott der Erfahrung und keinen Gott der Wissenschaft.
Während einer Zugfahrt erzählte mir eine Theologiestudentin
im dritten Semester die Erfahrung aus ihren Vorlesungen: »Das sind Vorlesungen
wie in Chemie oder Physik. Keiner meiner Professoren ist ergriffen von Gott.«
Jesus war kein Theologie-Professor und hat auch keine Professoren-Theologie
gelehrt. Er war aber zutiefst »ergriffen von Gott« — ergriffen
von dem, was die Theologiestudentin suchte und was wir alle suchen, ob bewusst
oder unbewusst! Nichts kann Theologen so sehr aus der Fassung bringen,
als wenn man sie nach ihren persönlichen Gotteserfahrungen fragt —
dafür haben sie Bücher. Es muss furchtbar sein zu spüren,
dass man anderen jahrzehntelang einen Gott gepredigt hat, ohne ihn selbst
erfahren, erfühlt, erkannt und ohne von ihm geträumt zu haben.
Sören Kierkegaard nennt es das größte Gaunerstück der Weltgeschichte,
dass Theologen das »Erhabene« verkünden, das sie sich
selbst vom Leibe halten. Sie halten Gott zum Narren mit der Behauptung, ihm
zu dienen. In den meisten Predigten soll Gottes Herrschaft irgendwann einmal
kommen, so wie in den meisten Bibelübersetzungen die Markus-Stelle, wo
Jesus den Beginn des Reiches Gottes verkündet, so übersetzt wird:
»Die Gottesherrschaft kommt.« Das steht aber überhaupt nicht
da. Im griechischen Urtext heißt es viel konkreter: »Es ist soweit:
Die Gottesherrschaft ist da!« Nicht morgen oder am St. Nimmerleinstag,
nein: Hier und jetzt und mit dir muss es beginnen, sagt Jesus. Da bleibt
weder Zeit noch Platz für Drückebergerei, theologische Ausreden und
kirchliche Vertröstung. »Neu« und »Jetzt« sind
zentrale jesuanische Positionen!
Können wir diesen Gott Jesu verstehen? Theoretisch nicht! Auch Jesus definiert
Gott nicht wissenschaftlich. Aber praktisch ja! Das hängt ausschließlich
von uns ab. Jesus: »Die Weisheit Gottes wird bestätigt
durch alle, die dafür offen sind« (Lk
7,35). Das einzig wirklich überzeugende Gottesbild ist die eigene
Gotteserfahrung. Ein Bild von Gott können uns auch andere übermitteln,
zum Beispiel die Kirchen. Aber Gott selbst begreifen wir nur durch uns selbst
und durch unser Selbst, innen!
»Wie geht es zu, wenn Gott seine Herrschaft aufrichtet?« fragte Jesus. »Womit kann man das vergleichen? Es ist wie mit einem Senfkorn.
Es gibt keinen kleineren Samen; aber ist er einmal in die Erde gesät, so
geht er auf und wird größer als alle anderen Gartenpflanzen und bekommt
starke Zweige, in deren Schatten die Vögel nisten können.« (Mk 4,30—32)
Noch einmal fragte Jesus: »Womit kann ich das vergleichen,
wenn Gott seine Herrschaft aufrichtet? Es ist wie beim Sauerteig. Eine Frau
mengt ihn unter einen halben Zentner Mehl, und er macht den ganzen Teig sauer!« (Lk 13,20—21)
Warten können bis zur Reife und vertrauen, daß die Saat aufgeht:
Das ist das Geheimnis des Gottes Jesu. Ein Gottesbild, das auf die Entwicklungsmöglichkeit
und auf die Entwicklungsfähigkeit des Menschen vertraut. Ein Gottesbild,
das um die selbstregulierende Kraft der menschlichen Seele weiß. Das Geheimnis
menschlicher Schöpferkraft liegt im Wartenkönnen und im spontanen
Zupacken. So wird aus Kleinem Großes, aus dem »Senfkorn« ein
richtiger Baum und aus ein wenig Sauerteig die alles verändernde Zutat
für »den ganzen Teig«.
Jesus und sein neues Gottesbild stehen im Gegensatz zum alten Gottesbild:
- individuell und nicht mehr kollektiv
- mütterlich-väterlich und nicht mehr patriarchalisch
- global und nicht mehr national
- gegenwartsorientiert und nicht mehr vertröstend
- dynamisch und nicht mehr statisch
- organisch und nicht mehr mechanisch
- angstbefreiend und nicht mehr angstmachend
- heilend und nicht mehr krankmachend
- freiheitlich und nicht mehr gesetzlich
- gewaltfrei und nicht mehr rachsüchtig
- liebevoll und nicht mehr bestrafend.
Jesu
neues Menschenbild
Mit diesem neuen Gottesbild reisst Jesus die Trennwände zwischen Menschen
ein: zwischen Armen und Reichen, zwischen Juden und Ausländern, zwischen
Mann und Frau, zwischen Gelehrten und Nichtgelehrten, zwischen Erwachsenen und
Kindern. Aus Jesu neuem Gottesbild wird ein neues Menschenbild. Dabei beruft
er sich nie auf das Gesetz, auf die jüdische Thora — auch wenn ihm
dies Matthäus unterstellt. Er beruft sich — weit hinter Moses zurückgehend
—auf den »Vater«, auf Gott selbst.
Dabei geht er von Gott als dem gütigen Schöpfer aus und nicht mehr
von einem willkürlichen Herrscher und Macher wie noch Moses oder Elija
im Alten Testament. Deshalb ist Jesus auch nicht der Begründer einer neuen
konfessionellen Religion; er ist vielmehr der Überwinder aller Gesetzesreligionen.
Das allein führt zu wahrer Religion. »Religio« ist die Rückbindung
an Gott, die Erinnerung an Gott und die Hoffnung auf Gott. Religion ist die bewußte Bereitschaft, die Abhängigkeit von Gott als Glück
zu empfinden.
Diese Abhängigkeit ist aber nicht einseitig, sondern besteht nach beiden
Seiten. Gott braucht auch uns als Helfer seiner Schöpfung .— sonst
gäbe es kein echtes Liebesverhältnis Gott—Mensch. »Am
Anfang war das Wort« bedeutet: »Am Anfang
ist die Beziehung« (Martin Buber); die Beziehung zwischen Gott
und Mensch. Da jede wirkliche Beziehung dynamisch und nicht statisch ist, ist
das Verhältnis Gott—Mensch ein Prozess. Nicht nur wir machen
Erfahrungen mit Gott, auch Gott macht Erfahrungen mit uns. Jede Beziehung ist
mehr als ein Sein, sie ist ein Werden und eine Erfahrung, ein Prozess.
In dieser Prozess- oder Erfahrungstheologie »residiert Gott nicht
in einer Überwelt jenseits der Geschichte, sondern lebt und wirkt ganz
im Gegenteil genau wie wir in und durch die Geschichte« (Dorothee Sölle).
Gott teilt seine Macht mit uns, indem er uns ermächtigt und nicht unterwirft.
Söhne und Töchter Gottes, wir, haben die Aufgabe, an jedem
Ort und zu jeder Zeit auf das Wort Gottes zu hören und es zutun. Das ist
unser Auftrag, das ist unsere Freiheit, das ist die täglich geforderte
Gewissensentscheidung. Mit dieser neuen ganzheitlichen Spiritualität hatte
der Jude Jesus aufgehört, Jude zu sein — er war »Bürger« im Reich Gottes geworden.
Die Glückselig-Preisungen beschreiben das Ziel, das Jesus immer im Hinterkopf
hat: das Reich Gottes. Der Weg dorthin führt allerdings über Umwege,
über Stationen des Leids und über schmerzhafte Entzugserscheinungen.
Deshalb hat der Realist aus Nazaret denen, die ihm folgen, auch »Verfolgung«
vorausgesagt: »Freuen dürfen sich alle«, die verfolgt werden,
denn sie werden mit ihm in der neuen Welt »leben«. Auch
hier denkt Jesus nicht nur an äußere »Verfolgungen«,
an Widerstände aus der Umwelt. Weit schwieriger ist es, mit den inneren
Verfolgungen, mit dem Bösen in uns selbst zurechtzukommen. Das
Hauptproblem ist immer das menschliche Herz. Die äußeren Diktatoren
sind harmlos gegenüber dem »Hitler« in uns. Bruder Adolf in
uns war schon 1933 die Voraussetzung für das Elend, das der größte
Kriminelle des 20. Jahrhunderts auf diesem Planeten anrichten konnte. Hätten
wir Deutschen auch nur im Ansatz etwas von dem wirklichen Jesus, seinem Gottesbild
und seinem Menschenbild begriffen gehabt, wäre der Welt und uns viel erspart
geblieben.
Das neue Gottesbild Jesu befreit uns Menschen zu Autonomie, Selbsterkenntnis,
Eigenverantwortung und zur Widerstandsfähigkeit. Das alte Gottesbild hielt
die Menschen als Sklaven in Fremdbestimmung und Autoritätsgläubigkeit
gefangen. Jesu neues Gottesbild befreit uns zur nächsthöheren Bewusstseinsebene.
Der Gott Jesu will nicht blinden Gehorsam, erwirbt um unser Vertrauen und um
unser Herz. Er wirbt um Vertrauen von Herz zu Herz. Wir sind Gottes »Kolleginnen«
und »Kollegen« und Gottes Gesprächspartner. Und dieser Gott
hat immer Sprechstunde — zu jeder Zeit, an jedem Ort.
Ein solches Menschenbild hat nichts zu tun mit dem der Jammertal-Ideologen,
die nur von Buße reden anstatt vom Tun. Es hat aber auch nichts
gemein mit einer vordergründigen New-Age-Philosophie, die uns zuraunt »Du
bist o. k., was auch immer du tust.« Jesus: Du bist o. k., wenn du das
Richtige tust, wenn du auf deine innere Stimme, auf dein Gewissen hörst
und entsprechend handelst. Du bist nicht o. k., wenn du dir einbildest, immer
o. k. zu sein. Du bist aber o. k.,wenn du suchst, auch wenn du dich gelegentlich
verirrst und fällst.
Aus: Franz Alt, Jesus – der erste neue Mann
(S.120-132)
© 1989 Piper Verlag GmbH, München (Serie Piper 1356)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Piper
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