Heinrich
Albertz (1915 – 1993)
>>>Gott
Nur ein Hahn kräht noch
über der Wüste seiner Einsamkeit.
Dort wo unser Bericht einsetzt, liegt schon so vieles hinter ihm: der Verrat
des Judas, die Flucht seiner Gefährten, die nackte Angst des Simon Petrus.
Keiner von denen, die ihn begleitet haben, ist geblieben. Ein paar Frauen, wahrscheinlich
seine Mutter, folgen ihm, ratlos und starr vor Schrecken — immer die Frauen,
die Mütter, wenn es ganz ernst wird. Sonst ist er allein. Die erste einzige
Gemeinde um ihn ist zerstoben, noch ehe es wirklich begann. Die vollmundigen
Bekenntnisse sind verschluckt im Entsetzen. Nur ein Hahn
kräht noch über der Wüste seiner Einsamkeit. Dabei ist
er umgeben von Menschen, Soldaten, die ihn greifen, Priester, die ihn verhören,
der fremde Statthalter, der weiß, dass Jesus unschuldig ist, und
der ihn zum Tode verurteilt. Vor allem aber das schreiende, rasende, hassende
Volk. »Nicht diesen, nicht diesen, Barrabas!« Und Hände, die
ihn schlagen, Hohn und Spott, Speichel der Tobenden in seinem Gesicht.
Das alles ist schon hinter ihm. Er schleppt sich gefesselt zum Richtplatz. Hinter
ihm, neben ihm die johlende Menge, einige, die trauern, Frauen, wieder Frauen.
Da wendet er sich um und spricht zu ihnen: »Weint
nicht über mich, sondern über euch und über eure Kinder.«
Hier, genau hier, möchte ich einsetzen, nach uns zu fragen: Haben wir nicht
unseren Karfreitagsgottesdienst, den höchsten Feiertag der evangelischen
Kirche, was immer das sei, zu einem Klagegottesdienst über Jesus gemacht?
Und dreht das erste Wort Jesu in unserem Text nicht nun das grelle Licht der
Erkenntnis auf unsere Gesichter? Wer sind wir, wo sind wir in dieser Szene?
Die alten Maler haben sich nie gescheut, ihre Bilder der Passionsgeschichte
Jesu mit den Gestalten ihrer Zeit anzufüllen. Die Soldaten trugen die Uniformen
der Landesmächte, die Menge die Kleider des deutschen oder niederländischen
oder italienischen 15.oder 16. oder 17. Jahrhunderts, Pilatus das Gewand eines
mittelalterlichen Fürsten. Wo dies moderne Künstler taten, wurde ihre
Provokation als geschmacklos abgetan oder sogar nach dem Staatsanwalt gerufen.
Die Schergen Jesu: unsere Polizei? Die Hohenpriester: die Bischöfe und
unsere Kirchenleitung? Pilatus: der amerikanische Stadtkommandant? Und vor allem
das Volk: wir, wir, du und ich, schreiend, geifernd: »Nicht diesen, nicht
diesen, Barrabas!«? Ist das nicht zuviel der Konkretion? Undenkbar in
unserer Gesellschaft, diesem Staat, diesem Volk, trotz aller Säkularisierung?
Aber haben wir nicht in einer einzigen Generation Erfahrungen hinter uns, die
uns zumindest nachdenklich machen sollten? Wie viele von uns Älteren waren
es denn, auch und gerade in der christlichen Gemeinde, die nicht »Barrabas«
geschrien haben, als die Mörder über uns regierten? Das waren wir,
so oder so, doch beinahe alle. Wieviele von uns, auch und gerade in der christlichen
Gemeinde, haben denn in den Jahren danach nicht sofort wieder auf Waffen und
Gewalt, auf Stärke und Macht gesetzt und nicht auf Versöhnung und
Besinnung, auf die Kraft des Geistes und der Liebe? Wie dicht wohnen wir an
dem gesunden Volksempfinden, das den Platz von Jesu Hinrichtung überflutet?
Wenn einer nicht zu uns passt? Wenn einer die Konventionen sprengt? Wenn
einer sogar zu sagen wagt: »Stecke dein Schwert in die Scheide«? Was ist auf den Plätzen dieser Stadt schon alles geschrien und verurteilt
worden? Nur in den letzten vierzig Jahren. Oder in den letzten zehn?
Und unsere Kirche? Wenn es darum ging, diesem waffenlosen Jesus Christus wirklich
nachzufolgen? Anders zu sein als die anderen? Zu verstehen? Zu vergeben? Zu
heilen? Zu versöhnen? Auf der Seite von Verfolgten und Gequälten in
aller Welt zu sein? Von denen, die staatliche Gewalt ausüben müssen,
will ich heute gar nicht reden. Nur von uns, die wir jeden Sonntag sprechen:
»Ich glaube an Jesus Christus, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt,
gestorben und begraben.« Jesus aber wandte sich um und sprach: »Weint
nicht über mich, sondern über euch und eure Kinder.« Wenn wir
am Karfreitag mit dieser Trauerarbeit an uns selbst beginnen könnten, wenn
wir uns finden könnten, wie wir sind — hätte dieser Gottesdienst
einen Sinn.
Dann kommen sie an. Dieser Jesus von Nazareth. Soldaten. Das Volk, das nicht
aufhört zu höhnen. Und noch zwei Verbrecher. Beinahe - und der Wirklichkeit
des Todes von Jesus durchaus entsprechend — hätte ich gesagt: und
die beiden anderen Verbrecher. Denn eben dies war es ja. Als Gotteslästerer
und Hochverräter sollte er sterben. Nach dem Gesetz. Nach ihrem und dem
der Besatzungsmacht.
In der Johannespassion kann man es hören. Gellend: »Wir haben ein
Gesetz, wir haben ein Gesetz. Und nach dem Gesetz muss er sterben.«
Da war kein Unterschied. Am Karfreitag sind drei Menschen hingerichtet worden.
Zwei, deren Namen wir nicht kennen, wir würden sagen: gewöhnliche
Kriminelle. Und ein kriminalistischer politischer Verbrecher. Dessen Name hat
die Welt bewegt. Aber in den Hinrichtungsakten der römischen Statthalterei
steht er in einer langen Liste unter vielen anderen. In den alten Bildern hängt
dieser eine immer ein Stück höher als die zwei neben ihm. Ich weiß
nicht, ob es so war. Jedenfalls hatten die Menschen Jesus dort, wo sie ihn haben
wollten. Tiefer, ehrenrühriger, schmutziger, blutiger ging es nicht mehr.
Damals.
Ich verweile so lange an dieser Stelle, damit wir uns mit unserem König
und Herrn und Heiland nichts vormachen und wenigstens am Karfreitag in voller
Schärfe erfahren, mit wem wir uns einlassen, wenn wir versuchen, so etwas
wie eine christliche Gemeinde zu sein. Um es in unsere Zeit zu übersetzen:
Ich denke an die Fleischerhaken in der Hinrichtungsstätte in Plötzensee,
an die Marterstühle in chilenischen Gefängnissen, an Untersuchungsräume
in sowjetischen Irrenanstalten. Da ist er. Oder auch so: zwischen Gewaltverbrechern.
Da ist er. Wenn wir das ganz ohne jede Sentimentalität sehen, wird der
Schluß unseres Sterbeberichts nämlich erst in seiner vollen Bedeutung
sichtbar. Denn da sind ja noch einmal zwei, auf die wir achten müssen.
Und bei denen wir nun am Ende auch wieder fragen dürfen, ob wir vielleicht,
vielleicht uns in ihnen wiederfinden könnten. Da ist der eine Verbrecher,
der in seiner Qual nicht wie sein Komplize höhnt, sondern der offensichtlich
durch Blut und Tränen und Schweiß hindurch zu spüren scheint:
Da hängt ein dritter, der ist ein unerklärbar anderer. Der ahnt — vielleicht stimmt die zynisch gemeinte Inschrift I. N.
R. I. —, er ist ein König, oder er wird ein König sein.
Und er flüstert: »Herr, gedenke meiner.« Und da ist noch einer,
nachdem alles vorüber ist, ausgerechnet der Hauptmann des römischen
Exekutionskommandos, der zu begreifen scheint: Der Name Jesus auf seiner Liste
muss eine besondere Bewandtnis haben. Merkwürdig, merkwürdig.
Ein Mörder. Und ein Offizier. Ein Anarchist und ein Garant staatlicher
Ordnung. Ein Ausgestoßener und ein Etablierter.
Zu dem Verbrecher kann der sterbende Herr noch einen Satz sagen. Ich will mit
ihm schließen. Nicht, damit die Karfreitagsgeschichte nun doch noch ein
versöhnliches Ende bekommt. Ich halte auch nichts von Osterpredigten an
diesem Tag. Aber damit wir den ganzen riesigen Bogen unseres Berichtes bis zu
Ende bedenken. Einer, der weiß, was er getan hat: »Denn wir empfangen,
was wir getan haben«, und einer, der spürt, was er unwissend, auf
Befehl, immer sind es Befehle, ausführte, als er diesen Jesus ans Kreuz
schlagen ließ, einer, der über sich selbst zu trauern beginnt, erhält
die strahlende Antwort des gemarterten Herrn: »Heute noch wirst du mit
mir im Paradiese sein.« Es ist das letzte Wort des Heilands an einen Menschen
vor seinem Tode nach dem Bericht des Lukas.
Dann sterben sie beide zusammen. Der dritte, Begreifende, unten sieht zu, eingezwängt
in seine Uniform.
Wenn wir einer dieser beiden sein könnten, werden könnten, dann könnten
wir ohne Angst leben und ohne Angst sterben. Herr, gedenke mein. Amen.
Aus: Heinrich Albertz: Diesseits von Eden (S.56-60),
Radius-Verlag, Stuttgart