Alfred Adler (1870 – 1937)

In Österreich geborener jüdischer Arzt und Tiefenpsychologe, der 1902-1911 an den Diskussionsrunden der Mittwochabendgesellschaft von Sigmund Freud teilnahm, wo er auch u. a. die Bekanntschaft mit Lou von Andreas-Salomé machte, die ihn folgendermaßen charakterisierte: »Er ist liebenswürdig und sehr gescheit. Mich störte nur zweierlei: dass er in viel zu persönlicher Weise von den obwaltenden Streitigkeiten sprach. Dann, dass er wie ein Knopf aussieht. Als sei er irgendwo in sich selbst sitzen geblieben«. 1911 kam es infolge unüberwindbarer Gegensätze in der Psychoanalyse zum Bruch mit Siegmund Freud. Adler wurde zum Begründer der Individualpsychologie, die als treibende Kraft in der menschlichen Verhaltensweise in erster Linie das Geltungs-, Macht- und Vollkommenheitsbestreben des einzelnen Menschen sieht. In Hans Vaihingers »genialer Philosophie des Als-Ob« fand er sich bestätigt, weil die ihm aus der Neurose vertrauten Gedankengänge als für das wissenschaftliche Denken allgemeingültig hingestellt wurden.

Siehe auch Wikipedia

Das Gottheitsideal
Eine, dem menschlichen Denken und Fühlen seit jeher nahe liegende Konkretisierung der Idee der Vollkommenheit, der höchsten Bildhaftigkeit von Größe und Überlegenheit, ist die Ansehung einer Gottheit. Zu Gott zu streben, in ihm zu sein, seinem Ruf zu folgen, sich mit ihm zu vereinigen, aus diesem Ziel des Strebens, nicht eines Triebes, folgern und ihm schließen sich an: Stellungnahme, Denken und Fühlen. Gott konnte nur erkannt werden, sich offenbaren innerhalb eines Denkprozesses, der sich nach der Qualität der Höhe hinbewegt, nach der Leitidee der Größe und der Allmacht innerhalb von Gefühlsvorgängen, die Größe, Allmacht, Allwissenheit als Erlösung von drückenden Spannungen, von Minderwertigkeitsgefühlen empfinden und erleben. Als Ewig-Strebender konnte der Mensch nicht sein wie Gott. Gott urewig fertig, der die Sterne lenkt, der Meister der Geschicke, der den Menschen aus seiner Niedrigkeit zu sich erhebt, aus dem Kosmos zu jeder einzelnen Menschenseele spricht, ist bis auf den heutigen Tag die glänzendste Manifestation des Zieles der Vollkommenheit. In seinem Wesen erschaut die religiöse Menschheit den Weg zur Höhe, in seinem Ruf hört sie wieder erklingen die eingeborene Stimme des Lebens, das seine Richtung haben muss nach dem Ziele der Vollendung, nach Überwindung des Gefühles der Niedrigkeit und Vergänglichkeit des irdischen Daseins. Der menschlichen Seele ist es als ein Teil der Lebensbewegung mitgegeben, an Aufschwung, Erhebung, Vollkommenheit, Vollendung als an einem Maß des Erlebens wertend teilzunehmen. Die Gottesidee und ihre ungeheure Bedeutung für die Menschheit kann vom individualpsychologischen Standpunkt aus verstanden, anerkannt und geschätzt werden als Konkretisierung und Interpretation der menschlichen Anerkennung von Größe und Vollkommenheit und als Bindung des Einzelnen wie der Gesamtheit an ein in der Zukunft des Menschen liegendes Ziel, das in der Gegenwart durch Steigerung der Gefühle und Emotionen den Antrieb erhöht. (Fischer 6283, Adler/Jahn: Religion und Individualpsychologie, S.68-69)

Das Gottähnlichkeitsbestreben

In der Fortbildung des Ehrgeizes gibt es keine äußerste Grenze. Es ist interessant zu beobachten, wie sowohl im Märchen, wie in der Wirklichkeit, sowie im überhitzten Seelenleben des eitlen Menschen die Steigerung des Strebens nach Macht in eine Art Gottheitsideal münden kann. Man braucht oft nicht lange zu forschen und man findet, dass sich solch ein Mensch — wie in den schwersten Fällen dieser Art — entweder direkt so benimmt, als ob er ein Gott oder an Gottes Stelle wäre, oder dass er derartige Wünsche und Ziele hat, bei deren Erfüllung er geradezu ein Gott wäre. Diese Erscheinung, das Gottähnlichkeitsstreben, ist der äußerste Punkt der bei ihm auch sonst vorhandenen Neigung, über die Grenzen seiner Persönlichkeit hinauszugreifen. Gerade in unseren Tagen wird dies außerordentlich oft offenbar. Alle Bestrebungen und Interessen, die sich um Spiritismus und Telepathie gruppieren, deuten auf Menschen, die nicht erwarten können, über die ihnen gegebenen Grenzen hinauszukommen, die sich Kräfte beimessen, welche Menschen nicht besitzen, die manchmal geradezu die Zeit aufheben wollen, indem sie sich über Zeit und Raum hinweg z. B. mit Geistern von Verstorbenen in Verbindung zu setzen suchen. Wenn wir tiefer schürfen, finden wir, dass ein Großteil der Menschen die Neigung hat, sich wenigstens in Gottes Nähe ein Plätzchen zu sichern. Es gibt noch eine Menge Schulen, deren Erziehungsideal es ist, die Menschen zur Gottähnlichkeit zu bringen. Früher war das überhaupt der Inbegriff aller Religionserziehung. Wir können nur mit Schaudern feststellen, was daraus geworden ist, und verstehen, dass wir uns schon um ein tragfähigeres Ideal umsehen müssen. Es ist aber begreiflich, dass diese Neigung so stark im Menschen wurzelt. Abgesehen von psychologischen Gründen spielt hier auch der Umstand eine große Rolle, dass ein großer Teil der Menschheit nahezu seine ersten Erkenntnisse über das Wesen des Menschen aus jenen Worten der Bibel schöpft, die erklären, dass der Mensch nach dem »Ebenbild Gottes« geschaffen sei, was bedeutsame, oft folgenschwere Eindrücke in der kindlichen Seele hinterlässt. Die Bibel ist natürlich ein herrliches Werk, das man, sobald man zum Verständnis herangereift ist, immer mit Bewunderung lesen wird. Will man aber damit auch bei Kindern beginnen, so muss man ihnen dabei wenigstens einen Kommentar geben, damit sie lernen, sich zu bescheiden, sich nicht allerlei Zauberkräfte zuzumuten und zu verlangen, dass ihnen alles untertan werde, angeblich, weil sie nach dem Ebenbild Gottes geschaffen waren.

Auf den Spuren des Gottähnlichkeitsstrebens begegnet man auch der Erscheinung, dass jemand die Befriedigung religiöser Bedürfnisse in missbräuchlicher Weise dadurch sucht, dass er darin nur Erfüllung seiner Eitelkeit sucht. Man bedenke, wie bedeutsam es z. B. besonders für einen seelisch zusammengebrochenen Menschen sein kann, wenn er sich über alle andern hinweg mit seinem Gott verbindet und mir ihm Zwiesprache hält, wie er sich in der Lage fühlt, durch fromme Handlungen und Gebete den Willen desselben in Bahnen zu lenken, die er selbst benötigt, wie er mit ihm auf Du und Du verkehren kann und sich auf diese Weise ganz in Gottes Nähe gerückt fühlt. Manchmal liegen solche Erscheinungen weitab von dem, was man echte Religiosität nennen könnte, so dass sie schon einen krankhaften Eindruck machen. So, wenn einer z. B. erzählt, dass er nicht einschlafen könne, wenn er vorher nicht irgendwelche Gebete gesprochen habe; denn wenn er das nicht täte, könnte es geschehen, dass irgendeinem Menschen in der Ferne ein Unglück widerfahre. Man versteht das Ganze als Schaumschlägerei erst, wenn man eine solche Mitteilung negativ fasst und sie so versteht: Wenn ich diese Formel spreche, dann kann ihm nichts geschehen. Das sind Wege, auf denen einer leicht zur Empfindung eigener Zaubergröße gelangen kann. Denn diesem Menschen ist es in der Tat gelungen, ein Unglück für den andern bis zur angegebenen Stunde zu verhindern! Auch in den Tagesphantasien solcher Menschen kann man finden, dass sie weit über alles menschliche Maß hinausschweifen. Es enthüllen sich uns da leere Griffe, Tätigkeiten, die am wirklichen Wesen der Dinge nichts zu ändern vermögen, nur in der Einbildung etwas ausmachen und ihren Träger verhindern, sich mit der Wirklichkeit zu befreunden.
(Fischer 6080, Adler: Menschenkenntnis, S.189-191)