Erich Adickes (1866 – 1928)
![]() |
Deutscher
Philosoph, der als Professor in Tübingen lehrte und eine Art
evolutionären
Pantheismus vertritt, in dem Gott und Welt eins und in permanenter ewiger
Selbstverwirklichung begriffen sind, in der jede Phase Selbstzweck ist.
Von der Vorstellungswelt Kants beeinflusst, ist Adickes der Auffassung, dass nicht die fertige Raum- und Zeitvorstellung, sondern vielmehr der Zwang, die Dinge der Welt räumlich
und zeitlich anschauen zu müssen, von vorneherein gegeben ist. Die Materie ist als solche »ein Werk unseres Geistes
und existiert nur als Bewusstseinszustand«. Alle Dinge sind
psychischer Natur und sind Glieder eines »universellen
psychischen Kausalzusammenhanges«, die uns als Körperwelt erscheint (psychophysischer Parallelismus).
Es gibt keine absoluten, wohl aber allgemeingültige Normen und Werte. Siehe auch Wikipedia |
|
Pantheismus
der Entwicklung
Bei der näheren Bestimmung des an sich Seienden wirken nun meine starken
erkenntnistheoretischen Interessen und die mit ihnen gegebene kritische Stellung
gegenüber den transzendenten Spekulationen insofern hemmend auf die metaphysischen
Bedürfnisse ein, als sie drängen, mit einem Mindestmaß von Metaphysik
auszukommen und nur die gar nicht abweisbaren Fragen zur Beantwortung zuzulassen.
Probleme der Theogonie
und Theosophie zum Beispiel, wie sie so manche Mystiker auf das Lebhafteste beschäftigt
haben, oder Fragen nach Art Schellings: warum
die Welt oder einzelne Erscheinungen in ihr gerade so sind, wie sie sind, scheinen
mir so weit über alles menschliche Begreifenkömnen hinauszuliegen,
dass man sie am besten überhaupt gar nicht in Angriff nimmt. Denn über Phantasien und Phantastereien käme man doch nicht hinaus.
So tut die erkenntnistheoretische Selbstbesinnung meiner Metaphysik zwar nach
der Seite der Extensität hin Abbruch, nicht dagegen nach der Seite der
Intensität, wo vielmehr mein Glaube so stark und selbstsicher ist wie nur
irgendein anderer
Und dieser Glaube steht nun stark unter dem Einfluss einerseits meiner monistischen Tendenz,
anderseits meiner religiösen Orientierung.
Jene ließ, was das Verhältnis von Gott und Welt betrifft, nur den Pantheismus zu, diese zwang, ihm eine Gestalt zu geben, bei der die religiösen
Bedürfnisse zu ihrem vollen Recht kommen können. Ein
Pantheismus des Seins, des Stillstandes mit seinem
Glauben an das raum- und zeitlose, über Entwicklung, Entstehen und Vergehen
erhabene, ewig sich selbst gleiche, wandellose Alleine war durch meinen Realismus
ausgeschlossen. Es wäre für mich gleichbedeutend mit Nichtsein
oder wenigstens mit Todesstarre. Nur wo Entwicklung, Betätigung ist, da
ist Leben, und nur wo Leben ist, da ist wahres Sein. Für einen Schopenhauer
ist diese Welt bloßer Schein, weil in ihr »keine
Stabilität irgendeiner Art, kein dauernder Zustand möglich, sondern
alles in rastlosem Wirbel und Wechsel begriffen ist, alles eilt, fliegt«. Für mich dagegen würde die Welt
zum Schein herabsinken,
sobald ich davon überzeugt würde, daß Vergänglichkeit,
Wandel, Werden, Vergehn
dem Ansich fremd sind,
weil ich in dem allen nur notwendige
Vorbedingungen und
Erscheinungen des Lebens sehe, und Leben, vollstes, reichstes Leben mir der
höchste Wert zu sein dünkt.
So blieb für mich nur eine Möglichkeit: ein
Pantheismus der Entwicklung, des Fortschritts.
Gott und Welt eins, die Welt nach außen
durch Raum, Zeit, Kausalität zusammengeschlossen, nach innen: ein einheitliches
geistiges Leben, und zwar als etwas Ursprüngliches, Wesenhaftes, alle Einzeldinge
in ihm wurzelnd und von nur relativer Selbständigkeit als seine Modifikationen;
das mit innerer Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit in fortwährender Evolution,
in ewiger Selbstverwirklichung begriffen; ihr Ziel
nicht am nie erreichbaren Ende, sondern jede Phase Selbstzweck.
Gott zugleich das All-Gute, und darum Moralität
tiefster Gehalt und Sinn der ganzen Entwicklung; trotzdem aber - das Geheimnis
der Geheimnisse! - auch das Böse in ihm gegründet als ein minder
Vollkommenes, das allmählich in immer höherem Maße ausgeschieden
wird; dabei die Menschen in Selbstüberwindung und Kampf gegen die Sünde
Mitstreiter Gottes.
Wie sich in Gott Kausalität und Finalität einen? Ob er Persönlichkeit besitzt? Müßige
Fragen! Sicher ist er nicht eine Person wie wir, die wir nur Teile, nur in und an ihm sind, während er nichts neben
sich hat. Dadurch entstehen Verhältnisse, die wir nicht denken, nicht auf
Begriffe bringen können. Auf jeden Fall: von einem Planen und Zwecksetzen,
einer Auswahl zwischen mehr oder weniger geeigneten Mitteln kann keine Rede
sein, das ist Menschen-, nicht Gottesart. Bei ihm ist alles unendlich viel höher,
eben darum aber auch für uns unerforschlich.
Es muss uns genügen, dass der pantheistische Gedanke die religiösen Gefühle zu voller Geltung und Entfaltung kommen lässt und uns verbürgt, dass es Sinn und Vernunft
im Universum gibt, dass seine Entwicklung den Idealen, die uns die höchsten
sind, allmählich zum Siege verhelfen wird, dass auf uns unfassbare
Weise eine Erziehung der Einzelnen wie der Völker mit dem Ziel der Versittlichung
stattfindet und daß im Hinblick auf dies Ziel jedes (auch
das schwerste) Erlebnis, durch das wir hindurchmüssen, das Beste
ist, was uns unter den obwaltenden Umständen treffen kann.
Bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen Körper und Geist
schied der Materialismus wegen seiner Flachheit und prinzipiellen Unzulänglichkeit selbstverständlich
ohne weiteres aus, der Dualismus
war meinem Monismus,
der Spiritualismus
meinem Realismus
zuwider. So blieb nichts als der psychophysische Parallelismus
mit seiner Konsequenz: der Allbeseelung. Er vermeidet einerseits die
für mich ganz unausdenkbare Wechselwirkung zwischen zwei so vollständig
verschiedenen Substanzen, wie Körper und Geist es nach dualistischer Behauptung
sein sollen, und befriedigt anderseits die dem Monisten durchaus einleuchtende
Forderung der Naturwissenschaft, die ganze Körperwelt als ein einheitliches,
in sich geschlossenes, ununterbrochenes, dem Gesetz
von der Konstanz der Energie
unterworfenes System
von Bewegungsvorgängen betrachten zu dürfen.
Die Allbeseelung lässt sich kaum anders
als in monadologischer Form durchführen, setzt
dann aber auch einen lokalen Parallelismus
voraus: d. h. die kleinsten materiellen Einheiten sind
und bewegen sich im Raum, zugleich aber spielen sich in ihnen, den Bewegungen
parallel gehend, auch psychische Prozesse ab.
Viele Parallelisten beginnen nun zwar außerhalb des menschlichen Körpers
monadologisch und damit auch substanzialistisch, enden aber schließlich
im Menschen selbst bei der aktuafistisehen Auffassung. Demgegenüber fordert
mein Monismus Einheitlichkeit der Betrachtungsweise und stellt sich dementsprechend
auch beim Menschen auf den monadologisch-substanzialistischen Standpunkt, zu
dem mir übrigens auch die Bewußtseinstatsachen selbst hinzudrängen
scheinen. - -
Die kleinsten Einheiten, aus denen ich mir die Welt bestehend
denke, nenne ich Kraftzentren, um damit anzudeuten, dass Körperlichkeit
im Sinn von materieller Raumerfüllung, weil ganz in subjektiven, sekundären
Qualitäten aufgehend, dem Ansich nicht zukommen kann. Jedes
von diesen Kraftzentren besitzt gewisse bewegende Kräfte, hat eine bestimmte
Lage im Raum, schließt aus einem abgegrenzten Teil desselben durch seine Kraftwirkungen alle anderen Kraftzentren aus, steht aber mit ihnen allen in
durchgängigem Kausalzusammenhang, der in gesetzmäßigen Bewegungen
zum Ausdruck kommt. Zugleich ist jedes Kraftzentrum Träger
von Innenzuständen, die, unter sich unendlich verschieden, gleichfalls
in einem durchgängigen Kausalzusammenhang stehn,
der jenem der physischen Reihe parallel geht.
Auch meine Seele ist
ein solches Kraftzentrum und bildet einen Teil des Gehirns. Auch sie ist also
einerseits mit einer bestimmten Summe bewegender Kräfte, einem bestimmten
Maß von Energie ausgestattet und nimmt durch ihre physischen Kraftwirkungen
einen gewissen Raumteil ein, anderseits ist sie Träger meiner Bewußtseinserscheinungen.
In den Seelensitz
brauchen nicht etwa von allen Seiten Leitungsbahnen einzustrahlen. Es genügt vielmehr eine unmittelbare Verbindung des Seelenkraftzentrums
nur mit einer beschränkten Reihe von Unterzentren, wie ja auch ein
Monarch nicht mit jeder einzelnen Behörde oder bei einem Telephonnetz nicht
jeder mit jedem, sondern nur mit seiner Zentralstelle in Verbindung steht.
Nach der physischen Seite hin kann das
Seelenkraftzentrum als mit besonderen organischen oder auch individuellen bewegenden Kräften versehn gedacht werden,
d. h. mit solchen, die nicht der chemisch-physikalischen Gesetzmäßigkeit
unterliegen, sondern ihrer eignen folgen. Sowohl beim Aufbau des Organismus als bei seinem mannigfaltigen Funktionieren kann es also als organischer bzw.
individueller Faktor tätig sein, ohne daß der von der Naturwissenschaft
geforderte in sich geschlossene Bewegungszusammenhang dadurch auch nur im geringsten
durchbrochen würde. Denn es kämen ja dabei nicht Einwirkungen psychischer
Kräfte (Vorstellungen, Willensakte) in Betracht,
sondern das Spiel der physischen bewegenden Kräfte bliebe ganz ungestört,
nur daß sich in dasselbe neben den chemisch-physikalischen Kräften
noch andersartige (organische, Individualkräfte) einmengten. Die Seele im eigentlichen Sinn umschließt
nur die Innenzustände des Kraftzentrums, und diese gehören einem eignen
Kausalzusammenhang an: dem psychischen, in den bewegende Kräfte ebensowenig
eingreifen, wie Teile von ihm in die physische Reihe.
Diese Art des Parallelismus habe ich in Vorlesungen schon seit annähernd
25 Jahren vertreten, ihn auch in meinem »Kant contra
Haeckel« flüchtig skizziert: Neuerdings hat K.
Groos in seinen »Untersuchungen über
den Aufbau der Systeme« (Zeitschr. f. Psychol., 77, S. 199ff.) die
Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt und hervorgehoben, dass er durch die Bedenken
nicht getroffen werde, die gegen die sonst üblichen (aktualistischen)
Formen des Parallelismus, mit Recht deshalb erhoben worden seien, weil
sie alle dem »wurzelhaften Unterschied« zwischen
Bewusstsein und Gehirn bzw. Gehirnprozessen nicht gerecht würden könnten.
In der Tat: bei ihnen allen läuft das Psychische Gefahr, in seiner Eigenart
zu kurz zu kommen und in dieser oder jener Weise mechanisiert oder materialisiert
zu werden.
Nur gegen den aktualistischen Parallelismus, der
die Seele als das Ansich oder als das Innere des ganzen aus Billionen kleinster
materieller Teilchen aufgebauten Gehirns betrachtet, richten sich der Vorwurf
der psychologischen Atomistik, der »Seelensplitterchen«;
Busses Austerlitz- und Telegrammargumente und ähnliche
Einwände. An dem monadologisch-substanzialistischen Parallelismus, prallen
sie ab: er allein vermag innerhalb der parallelistischen Denkweise die Rechte
des Psychischen ganz zu wahren.
Als einen besonderen Vorzug möchte ich ferner noch geltend machen, daß
er hinsichtlich des Umfangs, in welchem den Innenzuständen Bewegungen entsprechen,
weitesten Spielraum walten lassen kann.
Durchgehender Parallelismus darf nicht gefordert werden, ist auch nicht zu erwarten.
Aufgabe des Parallelismus ist ja nur, die dualistische Wechselwirkung zu vermeiden
und dem Bedürfnis der Naturwissenschaft, die Körperwelt als ein in
sich geschlossenes System zu betrachten, Befriedigung zu verschaffen. Und jeder
Bewegung wird, da sie das äußere Verhältnis zweier oder mehrerer
Kraftzentren verändert, auch eine Änderung in ihren inneren Beziehungen
und damit in ihren Innenzuständen entsprechen müssen.
Nicht aber auch umgekehrt! Vielmehr sind, vor allem in
den Kraftzentren, die als Zentralmonaden der menschlichen Körper die Menschenseelen
bilden, Bewusstseinsvorgänge denkbar, die sich nach rein innerer
Gesetzmäßigkeit in ihnen abspielen, ohne Einwirkung
von außen, d. h. von andern Seelen, her. Derart mögen abstrakte
Gedankengänge, Begriffe von Werten und Idealen, rein geistige Lust- und
Unlustgefühle sein. Das Entscheidende ist, ob unsere Seele dabei in innere
Wechselbeziehungen zu anderen Kraftzentren des Gehirns tritt. Ist es der Fall,
dann muss dies »in innere Beziehungen treten« auch von äußeren Lageverschiebungen begleitet sein, die auf Grund
der bewegenden Kräfte erfolgen, mit denen die Kraftzentren als Glieder
der physischen Welt ausgerüstet sind.
Ist es nicht der Fall, so ist nicht abzusehen, weshalb jene ganz und
gar auf unsere Seele beschränkten und aus ihrer rein inneren Gesetzlichkeit
völlig erklärbaren Bewusstseinszustände von Bewegungen begleitet
sein sollten, ja! wie sie überhaupt davon begleitet sein könnten.
Inwieweit das eine oder das andere Platz greift, ist im Grunde eine einfache
Tatsachenfrage. Nur stehen uns leider Tatsachen auf diesem Gebiet nicht zu Gebote.
An ihre Stelle treten die verschiedenartigen Lokalisationstheorien. Ihnen allen
steht mein Parallelismus aus den angeführten Gründen gleichgültig
gegenüber. Er läßt sie sämtlich zu. Aber er ist an keine
gebunden und kann daher auch von keiner mit in ihren Sturz hineingerissen werden.
Sehr wichtig ist, dass bei dieser Auffassung die beiden Kausalzusammenhänge
bis zu einem gewissen Grade unabhängig gegeneinander werden. Denn auf der
psychischen Seite sind mehr Glieder vorhanden, können wenigstens mehr Glieder
vorhanden sein als auf der physischen. Jedem Glied der letzteren entspricht
zwar ein Glied im psychischen Kausalzusammenhang, nicht aber umgekehrt. Hier
vielmehr nur dann, wenn das Geschehen nicht auf das Innenleben
eines Kraftzentrums (einer Seele) beschränkt
ist, sondern wechselseitige innere Beziehungen zwischen
verschiedenen Kraftzentren in Betracht kommen.
Die Vorwürfe, dass sich für das beziehende Denken und seine Synthesen,
für die Einheit des Bewusstseins usw. keine physische Analoga ausfindig
machen lassen, haben also für meinen Parallelismus nicht den Charakter
von Einwänden. Busses Behauptung (Geist
und Körper S. 350), dass die physische Gesetzmäßigkeit
beim Parallelismus für die psychischen Vorgänge mit gelte, trifft
für ihn nicht zu, und die Antinomie zwischen dem logischen Denken mit seiner Notwendigkeit und dem kausal-mechanischen
Zusammenhang der Gehirnprozesse, die Liebmann so
schwer zu schaffen machte, ist für ihn nicht vorhanden.
Nur im Vorübergehen sei darauf hingewiesen, dass mein
Parallelismus Unsterblichkeit,
auch eventuell in Form der Seelenwanderung, nicht nur zuläßt, sondern geradezu nahelegt.
Was mich zur deterministischen Weltanschauung trieb mit ihrer Annahme einer
allgemeinen, ausnahmslosen Gesetzmäßigkeit auch auf geistigem Gebiet,
war gleichfalls wieder meine monistische Tendenz. Sie machte mich hellsichtig
gegenüber der eignen Entwicklung und ließ mich die Wahrheit des Determinismus
an mir selbst erleben.
Bei seiner Ausgestaltung im einzelnen spielten sodann die drei ererbten Tendenzen,
von denen o. S. sf. die Rede war, eine entscheidende Rolle. Sie hielten alles
unnötig Radikale fern, was aus der deterministischcn Weltansicht weder
mit Notwendigkeit folgt, noch sie zu begründen erforderlich ist. Andere,
vor allem Paul Ree, stellen gerade das stark in
den Vordergrund und tragen so nicht wenig dazu bei, den Determinismus bei den »Gutgesinnten« in Verruf zu bringen.
Solche Naturalisten machen sich meistens ein Zerrbild von der Gesetzmäßigkeit
im materiellen Sein und Geschehen zurecht und übertragen es dann auch auf
das geistige Gebiet (das für sie ja oft nur ein Annex
des Materiellen ist).
Mein Monismus beurteilt im Gegenteil alle Gesetzmäßigkeit
nach der geistigen, die ich in mir selbst auf das Anschaulichste erlebe, bei
der ich zwar innere Notwendigkeit antreffe, aber
keinen äußeren Zwang, keine Nötigung durch Faktoren, die nicht
meinem Selbst angehören; und nach diesem Urbild betrachte
ich dann auch das Geschehen in der körperlichen Natur.
So kann ich praktische Freiheit,
Spontaneität und Persönlichkeit (letztere im
Sinn einer selbständigen Kraftquelle) im Menschen anerkennen, kann,
so gut wie. ein Paulus,
Augustin und Luther, Religiosität und Determinismus in mir vereinigen; der Unterschied
zwischen Gut und Böse
verliert nichts von seiner beherrschenden Bedeutung, und die Begriffe der Pflicht und Schuld, des Gewissens und der Reue, der Zurechnung, Strafe und Sühne
behalten ihren guten Sinn und ihre volle Berechtigung auch für das praktische
Leben.
Unter dem Einfluss der monistischen Tendenz entwickelten sich schließlich
auch meine ethischen Ansichten. Auch hier war mir
Einheitlichkeit der Betrachtung ein unabweisbares Bedürfnis. Daher nicht
zwei Welten wie bei Kant, keine
Kluft zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit, sondern auch die Sinnlichkeit
muss versittlicht werden und beim wahrhaft Guten versittlicht sein. Kein absolut gebietender kategorischer Imperativ, unter
dem das ganze Gefühls- und Triebleben geknechtet werden müsste,
sondern auch in diesem schon ein natürlicher Drang zum Guten. Die Versittlichung
demgemäß ein Naturprozess, der in gesetzmäßiger Entwicklung
verläuft, selbst bei der sogenannten »Wiedergeburt«;
denn auch diese geht mit innerer Notwendigkeit vor sich
und ist das natürliche Endergebnis eines oft langen Kampfes, der sich im
Menschen zwischen den einander widerstreitenden Seiten seines Wesens abspielt
und in dem die in der Wiedergeburt siegreiche Seite
zunächst unterlegen war.
Die von den Eltern ererbte Wesensrichtung sorgte dafür, daß bei dieser
Neuorientierung die Reinheit der Moral nicht getrübt und den Begriffen
des Soll, der Norm, der Pflicht, der Askese als unentbehrlichen Mittels zur
moralischen Selbsterziehung nach jeder Richtung hin ihr Recht wurde. Aber auch
sie müssen sich gefallen lassen, in die natürliche psychische Gesetzmäßigkeit
eingefügt zu werden, und darum behalten Relativismus und Eudämonismus
auch in der Moral das letzte Wort.S.18ff.
Aus: Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen.
Herausgegeben von Dr. Raymund Schmidt.
Zweiter Band: Erich Adickes / Clemens Baeumker / Jonas Cohn / Hans Cornelius
/ Karl Groos / Alois Höfler / Ernst Troeltsch / Hans Vaihinger. Leipzig
/ Verlag von Felix Meiner / 1921