Thomas Abbt (1738 - 1766)
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Deutscher Literat und Popularphilosoph, der in Halle Philosophie und Mathematik studiert hat und nach Beendigung seines Studiums Professuren in Frankfurt/ Oder (1760/61: Philosophie), Rinteln (1761: Mathematik) und Berlin (1761/62: Philosophie und Mathematik) inne hatte. U. a. war er auch mit Christoph Friedrich Nicolai und Moses Mendelsohn befreundet. Während eines Aufenthaltes in Frankreich besuchte er Voltaire. Im folgenden Text befasst Abbt sich kritisch mit Spaldings Schrift: »Über die Bestimmung des Menschen«. Siehe auch Wikipedia |
Das Ziel unseres
Lebens ist uns ganz unbekannt
Quid sumus? et quidnam victuri gignimur?
Welcher wohltätige Geist will uns die richtige Antwort auf diese Fragen
geben? Ich habe sie gelesen, die Spaldingische
Schrift Über die
Bestimmung
des Menschen, ich habe sie mit Vergnügen gelesen, durchgedacht,
jeden Gedanken genau erwogen. — Meine Bestimmung! Diese erforschen; den
Rang des Menschen in der Welt ausfinden; seine Berührung der Räder
an der großen Maschine ausspähen; die Verbindung seiner Auftritte
mit dem Inhalte des großen Schauspieles und besonders mit dem fünften
Akte ergründen: dieses sollte, deucht mir, der wahre und eigentliche Inhalt
dieser Schrift sein. ...
Ich habe einst eine seltene Schrift gelesen, die mir aber seitdem nicht wieder
unter die Augen gekommen ist; damals machte ich mir nur geschwinde einen Auszug
davon; sie führte ohngefähr den Titel: Beschreibung von dem Marsche
einiger Kriegsvölker, und was für lustige Begebenheiten sieh dabei
zugetragen. Straßburg 1586. ...
Die ganze Schrift [Spaldings] ist die Monologe eines unterrichteten und nachdenkenden Mannes. Daher
passet sie keineswegs auf die ungeheure Menge von Menschen, die fast allein
durch die äußern Gegenstände zu ihrer Glückseligkeit, oder
zu dem Gegenteile bestimmet werden. Was weiß der Wilde, ob es eine Empfindlichkeit
gehe, die der Sinnlichkeit — nach dem Genusse — zu niedrig scheint.
Doch es sei nun einmal der nachdenkende, ausgebildete Mann, der sich hören
läßt.
Der Anfang ist unverbesserlich. Gekünstelte und natürliche Vergnügungen
werden gegeneinander gehalten, und denen letztem in Betracht ihrer Gründlichkeit
der Vorzug eingeräumet.
Doch fangen die Zweifel gegen ihre Füglichkeit zu unserm Wesen und Wohl
auf der 6ten Seite an. »Diese Überredungen
sind zwar stark; aber mir deucht, ihre Stärke hat etwas Wildes und Übertäubendes
an sich, welches meiner Seele noch nicht Stille genug verstattet«.
Schade, dass dies weiter nichts als eine rednerische Wendung ist! Ich habe
es schon gesagt, der ungeschliffene Mensch kann dieses Übertäubende
nicht vom Sanftern unterscheiden, und wenn die Natur bei ihm spricht; so spricht
sie zwar laut, aber er denkt auch nicht, daß irgend sonst was zu eben
der Zeit das Recht habe zu sprechen.
Die nächstfolgende Betrachtung hätte weit gerader zu ihrem Zwecke
auch ohne die letzte falsche Wendung eingetroffen. »Habe
ich denn keinen andern natürlichen Zweck, keine andere natürliche Begierde in meiner Seele als meinen Nutzen, meine eigene Vollkommenheit? Ja
ich entdecke unwidersprechlich, daß noch etwas mehrers ist, wohin sich
meine Seele neiget. — Ich habe vielfältige Triebe und Neigungen in
mir wahrgenommen, die sich lediglich auf andre Wesen und deren Bestes beziehen,
und die ich aus keiner von den vorhin erwähnten Empfindungen erklären
kann — die nicht nur aus Begierde nach sinnlicher Lust, oder nach meiner
eigenen Verbesserung entspringen. Es muß also noch eine andere Quelle
von Neigungen in mir sein als diese. — Mein Geist hat natürlich Begriffe vom Anständigen, vom Schönen, vom Rechte. — Ich werde also meiner
ursprünglichen Einrichtung widersprechen, wenn ich meine Absichten auf
nichts weiter als auf mich, auf meine Lust und auf meinen Vorteil richten wollte«.
Der V[erfasser] fährt auf diesem Wege fort. Man weiß, wohin er führet.
Ich habe nur folgende Anmerkung zu machen. Man wird sich niemals aus dem Streite
zwischen der sogenannten eigennützigen und zwischen der mitleidigen Philosophie
herauswickeln; wenn man nicht drei Stücke auseinandersetzt:
1) Die Neigung, einem Geschöpfe, besonders einem solchen, dessen mit der
unsrigen ähnliche Organisation einen harmonischen Eindruck auf uns macht,
nicht schaden zu wollen.
2) Die Neigung, dies Geschöpf, wenn es sich auf unserm Wege findet, zu
erhalten.
3) Die Neigung und den Eifer, sich allenthalben zur Beförderung des allgemeinen
Besten, zum Dienste aller Nebengeschöpfe anzugeben.
Die beiden ersten Stücke finden sich bei allen Menschen; aber das letztere,
ich zweifle, daß es sich bei einem finde, der es sich nicht durch Nachdenken
und Überlegung erworben. Die Wilden sind hierin die besten und unverwerflichsten
Zeugen der Natur. Sollte aber wohl jemals in der Brust des Wilden das Bewußtsein
einer allgemeinen Liebe für das menschliche Geschlecht gewohnt haben? Wenn
man fragt, ob alle Neigungen der Menschen sich aus einem einzigen Grundsatze
herleiten lassen: so fragt man gewiss nicht, ob das Bewusstsein von
dem ursprünglichen Gegenstande dieser Neigungen immer in gleichem Grade
vorhanden sei: oder ob ich mir bei jeder Neigung gleich stark bewußt bleibe,
daß sie auf meine Vollkommenheit abziele: dies muß freilich verneinet
werden, und gottlob, daß es verneinet werden muss. Sondern
man frägt: ob ich alsdann, wenn alle meine Neigungen bis auf den ersten
Keim derselben, bis auf die erste fruchtbare Handlung meiner hier im Körper
sich bewusst werdenden Seele, aufgelöset werden; ob ich alsdann nicht
finde, dass aus einer mir behaglichen, mir zuträglichen, mir angenehmen
Bewegung oder Empfindung alle fernere und weiter fortgeführte Neigungen
sich zusammensetzen?
Dies sehen unstreitig nicht alle: aber so hat es auch nur
Locke zuerst gesehen, dass der Begriff der
Unschuld aus einem sinnlichen Begriffe entstanden sei.
Unser Denker fängt an, ein System für sich zu bauen. »Dieser
Leib, den ich an mir trage, soll erhalten werden, und dies ist der vernunftmäßige
Zweck, worauf auch die mir eingepflanzte Begierde nach sinnlicher Lust abzielet«. Ich weiß nicht, warum sie bloß auf die Erhaltung des Körpers
abzielen solle. Dies ist vielleicht eine von den Wendungen, womit sich ein Frauenzimmer
den ersten Abend nach dem Abschiede einer platonischen
Liebe tröstet. Mir deucht, diese Begierde könnte ebensogut
darauf abzielen, der Seele eine Veränderung ihres
Zustandes zu verschaffen. Sobald sie an einen Körper gebunden ist,
dessen Nervensystem, in einem gewissen Grade erschüttert, ihr entweder
angenehme oder schmerzhafte Empfindungen geben muss; so ist jede Begierde
nach einer solchen unschmerzhaften Erschütterung, solange diese für
den Körper nicht zerstörbar ist, in der Existenz der Seele gegründet,
und kann auch auf sie selbst zunächst und unmittelbar abzielen.
»Dies soll doch beständig meine Hauptsache
sein, daß ich die höhere und edlere Triebe meiner Seele nicht übergehen
möge; diese Triebe, von welchen ich deutlich genug erkenne, daß sie
billig regieren müssen. — Die Glückseligkeit des menschlichen
Geschlechts, die mich so angenehm rühret, soll unveränderlich ein
Gegenstand meiner ernstlichen Bemühungen und meine eigene Glückseligkeit
sein«. Alles dieses setzt einen Menschen
voraus, der unterrichtet ist. Wenn dieser seine Bestimmung in dem findet,
was er durch Denken herausbringt; worin sollen denn die Tausende die ihrige
suchen, die dergleichen Etwas durchs Denken nicht erforschen können?
»Aus einer solchen Denkungsart erwächset die
Rechtschaffenheit, und aus dieser die Religion. — Es ist nichts bei mir
möglich, das mir einen Wert geben kann, nichts, das mich mit der anfänglichen
Einrichtung meiner Natur und mit den Absichten der höchsten Regierung übereinstimmig
machen kann, als meine innerliche Richtigkeit«. Wird eine Wiederholung
hier überflüssig scheinen? Sie kann es nicht, da sie etwas Wichtiges
vorträgt: Man unterscheide doch einmal die Bestimmung
des Menschen, die er mit allen andern Dingen dieses Weltgebäudes gemeinschaftlich hat, von derjenigen,
die ihm als einer besondern Gattung von Wesen, an einer besondern Stelle, eigen ist.
Aus der erstern lässt sich die letztere nicht schließen, und
diese allein entdeckt uns die Geheimnisse der Gottheit über ihn. Eine Offenbarung, scheint es, kann einzig und allein uns darüber
belehren: und wenn alle vorhandene Offenbarungen darüber stille schwiegen;
so müsste man daraus folgern, daß Gott für dienlich erachtet,
uns von diesem besondern Zwecke nicht zu belehren; folglich vieles vor unsern
Augen in Wolken eingehüllet zu lassen. Dieses würde aber nicht hindern,
sich aus dem allgemeinen Endzwecke aller erschaffenen Dinge Lebensregeln
zu bilden, die auch richtig und zur Erreichung meiner möglichsten Glückseligkeit
hinlänglich wären. Und so ist es klar, daß der Mensch, vor dem
die Türe seines Einganges in dieses Leben und die Türe seines Ausganges
aus demselben mit Wolken verdecket ist, dass dieser
Mensch, sage ich, doch Licht genug hat
für den Weg, den er wandeln soll.
Eben dieser Mensch kann auch getrost sagen: »Der
Geist, der über alles wachet, wird über mich wachen. Er, dessen Weisheit
und Güte sich überall in so sichtbaren Spuren offenbaret, wird nichts
geschehen lassen, davon das Ende ihm nicht anständig, und seinen Geschöpfen
nicht heilsam sei. In seiner Hand stehen auch meine Schicksale. — Zwar
in der Welt ist mir alles ein Rätsel. Ich sehe die Oberflächen der
Dinge, und ihre innere Beschaffenheiten entwischen meinem Auge. — Hier
geht alles ins Unendliche hinein; und so auch die Verwaltung der Welt. Alles
verwirret mich; alles macht mich ungewiss. Doch was brauche ich mehr zu
wissen, da ich meine Schuldigkeit und die Oberherrschaft einer unendlichen Liebe
mit einer ungezweifelten Überzeugung erkenne? Diese sind es endlich doch
nur allein wert, dass sich alle übrige Einsichten darin endigen«.
Sehr vernünftig geurteilet! Warum beunruhigt er sich denn aufs neue, um
Sachen zu erforschen, die vor ihm eines der genannten Rätsel sind? »Ich
folge hin und wieder den Schicksalen in diesem Leben mit meinen Betrachtungen,
und finde den Knoten nicht aufgelöset!« Wer
sagt dem Denker, daß dieser Knoten nicht aufgelöset sei? Dies
ist eben die Frage, der die Philosophen aller Jahrhunderte nachgedacht haben. Gehört wohl zu meiner Existenz auf der Erde noch eine Fortdauer mit angeknüpftem
Faden der Begebenheiten unter zurückerinnerndem Bewusstsein: und müssen sich also die Knoten, die sich in meinem Leben auf der Erde
geschürzt haben, indem sie fortlaufen, wieder aufschlingen? oder werden
diese Knoten wieder aufgeschlungen, ohne dass ich es weiß? bleiben
sie etwa auch wohl geknüpft, weil sie sich an ganz etwas anders anhängen,
und erst mit demselben zuletzt ihre wahre Richtung wieder erhalten?
Noch einmal; dies ist die große und schwere Frage über die Unsterblichkeit
des Menschen. Nichts ist offenbarer, als dass sie sich nur
und allein entscheiden lässet, entweder aus dem Zwecke, zu dem der
Mensch mit allen übrigen Dingen geschaffen ist; aus dem Satze
also: keine Substanz wird vernichtet: anders, die Verknüpfungen in der
Welt werden auf alle mögliche Weise erhalten. Oder
aus dem besondern Zwecke, zu dessen Erreichung der Mensch an die
ihm gewiesene Stelle gekommen ist. Sollte
es nicht wahr sein, daß aus dem letztem Zwecke allein diese Unsterblichkeit
sich strenge erweisen lasse? denn wer will uns aus der Vernunft sagen: ob der
Knoten des menschlichen Lebens hiernieden schon vollkommen aufgelöset sei,
oder nicht? Wer es sagen wolle? Jeder, der nur die Augen offen hat. Und
was sehen diese offene Augen? Eine hiernieden unschickliche Austeilung des Glückes
und Unglückes, des Lohnes und der Strafen.
So ist es mir also leicht, von einem andern zu sagen, er sei glücklich,
er sei unglücklich! Es ist mir leicht zu sagen, die Summen dieses Glückes
seien ungleich ausgeteilt. Ein Domitian, dem das Glück mangelt, einem rechtschaffenen Manne dreiste unter die Augen
sehen zu dürfen, und in dessen Umgang ruhig, unbesorgt und frei von Argwohne
zu leben, dieser Domitian wird mir wegen andrer Dinge, die er besitzt, glücklich
heißen, ohne daß ich den jetzgemeldeten Abgang in Anschlag bringe!
Ein Attila, ein Borgia! ganz glücklich! die reinste Freuden, die ihnen abgehen, ungerechnet! Ein
Bösewicht, der Überlegung hat, leidet von seinem Gewissen. Welcher
bleierne Zusatz zu der Triumphsmünze, die für ihn geschlagen wird!
Ein Bösewicht, dem diese Überlegung mangelt, entbehrt aller Vergnügungen
des Geistes. Werde ich des Caligula neuerwählten
Ratsherrn in seinem marmornen Stalle glücklich nennen? Und wer sagt mir, daß vieles, welches ich als ein
Unglück betrachte, nicht eine Bestrafung sei? Ein angeborener siecher oder
zerstümmelter Körper ist vielleicht ochst dem schädlichen Blitze,
dem Erdbeben, der faulen Luft und der Überschwemmung alles Unglück,
das von der Natur kommt. Kriege, Unterdrückungen, kommen aus der Gesellschaft
der Menschen.
Doch alles dies zusammengenommen, wer will mit Gewißheit sagen, daß
das Unrecht, welches ich durch die letztere leide, notwendig mir, so daß
ich darum wisse, und so zu sagen zur Sättigung meiner Rachbegierde, müsse
ersetzt werden? Kann nicht unsre Erde einem andern Balle und allen Begebenheiten
auf demselben untergeordnet sein? Wie will ich Wurm einsehen, daß irgendwo
in dem Ganzen unersetztes Unrecht vorhanden sei? Mein Wunsch, alles Unrecht,
welches ich leide oder als Unrecht zu leiden glaube, vergolten zu sehen, beweiset
nichts. Es ist eine Hoffnung, mit der ich mich einwiege, und so, wie das gemeine
Volk durch die Überzeugung, daß Gott seine Feinde sichtbarlich auf
der Erde strafen werde, oft von Gewalttätigkeiten abgehalten wird; so scheint
mich diese Hoffnung einer künftigen Bestrafung ebenfalls in meiner Rachbegierde
zu besänftigen.
»Es muß eine Zeit sein, da sich alles, was hier verrücket scheint,
an seine Stelle hinsenket.« Aber, wenn es nur mir verrücket
scheint? »In der ganzen Natur führt mich alles
darauf, daß Rechtschaffenheit und Glückseligkeit zusammen gehören«;
welche Glückseligkeit?
»Ein allgemeiner Hang zur Ordnung wird einmal müssen durchgesetzet
werden.« Unstreitig, aber mit welchem Grunde mache ich mich zum
Subjekt, an dem diese Durchsetzung geschehen muß?
»Sobald ich dies Leben als einen Zustand der Erziehung,
der Prüfung und der Vorbereitung auf etwas weiters ansehe; so wird mir
alles helle und voll begreiflichen Zusammenhanges«. Vorzüglich
in Absicht auf die große Anzahl derer bald nach der Geburt wieder sterbenden
Kinder? Es ist erstaunend, wie man sich hat bereden können, dieser frühzeitige
Tod werde daraus begreiflich, weil dieses Leben nur ein Stand der Prüfung
sei; da doch aus demselben gerade unbegreiflich wird, wie dieses Leben ein Stand
der Prüfung sein könne, Allein es gibt Artikel, die einer dem andern
ohne Gedanken nachbetet, bloß weil man froh ist, etwas, das man vortragen
kann, zu haben.
»Ich spüre Fähigkeiten in mir, die eines Wachstumes ins
Unendliche fähig sind«; woraus schließe ich dieses?
Ich glaube nicht, daß z[um] E[xempel] das Gedächtnis eines Menschen
ins Unendliche wachsen könne. Versuche, die man gemacht hat, beweisen,
daß es wenigstens im gegenwärtigen Körper einen Stillstand habe.
Und wenn alles, was entwickelt werden kann, bis auf einen gewissen Grad entwickelt
werden muß: woher rührt es, daß so viele tausend Fähigkeiten
hier auf der Erde nicht einmal zu dem mäßigen hier möglichen
Grade der Entwickelung kommen? Jede Gattung der Geschöpfe mußte einerlei
Knäuel, wenn ich so sagen kann, anerschaffen haben, den die einzelnen Stücke
dieser Gattung nach Beschaffenheit der Umstände abwinden konnten. Aber
wer sagt mir, daß alle ihn abwinden müssen; und daß nicht etwa
andere Dinge vorhanden sein, die dabei ein Hindernis einlegen? Immer liegt bei
diesen Schlüssen der Gedanke zum Grunde, daß das menschliche Geschlecht
an das übrige Weltgebäude weiter gar nicht gebunden sei.
»Außer der Vernichtung, die von meinem Schöpfer
herrühren müßte, gegen die ich aber gesichert bin, darf ich
keine andre Zerstörung befürchten.« Nein, die darauf
folgende Betrachtungen aber stehen hier am unrechten Orte.
»Nicht aber bloß das Dasein, auch das wirkliche
Leben in der Zukunft wird mir durch die Natur meines Geistes geweissaget, deren
Tätigkeit nicht ganz von den Sinnewerken abhängig ist: sie können
abgehen, ohne daß mir selbst etwas gebreche. Ich werde dann, von allen
Seiten den Eindrücken von außen geöffnet, lauter Empfindlichkeit,
nur ein allgemeiner Sinn sein«. Sollte man wohl ohne Fehler einen
solchen Fortgang der Leichtigkeit im Denken annehmen können? Ich weiß,
daß man sagen kann: wenn wir noch einen sechsten Sinn hatten; so würde
der Umfang unserer Kenntnisse ungemein vermehret; durch einen siebenten, durch
einen achten; noch weiter. Gut. Kann ich mir aber diese Öffnungen als Durchlöcherungen
meines Körpers, ihre Anzahl folglich in einer solchen Menge vorstellen,
daß der Körper gleichsam ganz verschwände? Sobald ich diesen
ganz wegfallen lasse; so verliere ich den dünnen Faden, der mich auf die
Spur des Denkens leitet.
»Aus dieser großen Erwartung, die meinen Wert und meine Bestimmung
erhöhet, erkenne ich nunmehro, daß ich zu einer ganz andern Klasse
von Dingen gehöre, als diejenige sind, die vor meinen Augen entstehen,
sich verwandeln und vergehen«. Mir deucht, eine so schnell gezogene
Folge dürfte in Schwierigkeiten verwickeln. Gehören wohl die Tiere
zu denen Dingen, welche vor meinen Augen entstehen, sich verwandeln und vergehen?
Ich hätte nicht die Dreistigkeit, es zu sagen, es wäre auch nicht
wahr: wenigstens durch meine Beobachtung nicht. Gehören sie aber nicht
zu den vergehenden Dingen; so steigen sie ja auch zu der höhern Klasse
herauf. Wie? Ich Mensch! bin ich schon wieder beschämt, andre Geschöpfe
im Weltgebäude mit mir in Vereinigung und Gemeinschaft zu sehen?
»Aus dieser großen Erwartung ist es mir ebenfalls
klar, daß dieses sichtbare Leben bei weitem nicht den ganzen Zweck meines
Daseins erschöpfe. Ich bin also für ein ander Leben gemacht«. Ich habe schon untersucht, wie weit dieser Schluß gelte!
Was soll ich denn aber nun von meiner Bestimmung denken? Zuerst anbeten! und
dann wohltun! Dies kann ich erkennen, daß ich mit allen Geschöpfen
zur Ordnung und Eintracht geschaffen bin, und daß bei Zerstörung
derselben mein Glück nicht bestehen könne. Welchen Teil der Schöpfung
ich aber ausmache, wie weit ich und meine Gattung in die Berechnung des Ganzen
gekommen seien? ob wir nirgends eine gegenseitige Größe antreffen,
die uns aufhebt: — soll ich entscheiden? Nein. Soll ich den Gedanken meiner
Fortdauer fahren lassen: die Hoffnung auf die Gestorbene verlieren? —
verlieren! tröstlicher Gedanke der Unsterblichkeit! wir können dich
nicht missen: Zwar so wie dich etwa der trockene Verstand in dem Worte »unvernichtet«
hervorbringt; so können wir dich missen: aber nicht so, wie ihn
jede tugendhafte Empfindung mit ihr verbunden hervorgehen lässet. Laß
uns aber dich nicht auf den Eigendünkel gründen, daß Ordnung
hier fehle, sobald wir sie nicht fühlen. Stille müssen wir warten,
bis der Geber alles Guten und der Herr seiner Geschöpfe jedem unter uns
auf der vorgeschriebenen Höhe seine Befehle zu eröffnen erlaubet. Unwissend in diesem Stücke, müssen wir alle vorher absegeln; es sei
denn, daß eine göttliche Offenbarung im voraus, durch tröstliche
Versicherungen das Ziel unserer Abfahrt uns bekannt und erwünschet mache.
Immerhin, »will ich also doch mein ganzes Gemüt
mehr und mehr mit der trostvollen alles versüßenden Vorstellung erfüllen,
daß ich noch in einem andern Zustande zu leben habe, worin ich nach der
Natur der Dinge und nach der gültigen Regierung der höchsten Weisheit
nichts als Gutes erwarten darf; daß ich also noch einmal, nach einer völligen
Befreiung von den Torheiten sowohl als den Plagen dieses Lebens, mich auf ewig
mit der Quelle der Vollkommenheit vereinigen, die ganze Wollust richtiger Gesinnungen
unvermischt und ungestört genießen, und also das große Ziel
desto mehr erreichen werde, dazu ich durch meine Natur und von meinem Urheber
bestimmet bin, nämlich rechtschaffen und in der Rechtschaffenheit glückselig
zu sein.« S.80-89
Aus: Die Philosophie der deutschen Aufklärung, Texte und Darstellung von
Raffaele Ciafardone,
Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinke und Rainer Specht Reclams Universal-Bibliothek
Nr. 8667, © 1990 Philipp Reclam jun., Stuttgart