Petrus Abaelard(us) (1078 – 1142)

  Französischer Philosoph und Theologe der Scholastik, der infolge seiner Liebesbeziehung zu Héloise (Briefwechsel) auf Veranlassung von Héloises Vater entmannt wurde. Abaelard war ein originärer Denker und einflussreicher Lehrer. Seine teilweise von Platon inspirierte Interpretation der göttlichen Trinität wurde insbesondere von Bernhard von Clairvaux angegriffen. In seinem »Konzeptualismus« schuf er eine eigene Lösung in der Universalienfrage, die formelhaft bis ins Hochmittelalter benutzt wurde. Abaelard gilt als Wegbereiter zu wissenschaftsorientierten Denkformen innerhalb theologischer Fragestellungen

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis
Die Entdeckung der Intention
Über den Fehler des Geistes, der die Sitten betrifft
Über den Unterschied zwischen der Sünde und einem Laster, das zum Bösen geneigt macht
Was Laster des Geistes ist und was eigentlich Sünde heißt
Wie kann man auch bei dem, was gestattet ist, davon sprechen, es werde eine Sünde begangen [...]?



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Die Entdeckung der Intention
»Sitten« nennen wir Fehler und Tüchtigkeiten des Geistes, die uns geneigt machen zu guten oder bösen Werken. Es gibt aber nicht nur Fehler und gute Verfassungen des Geistes, sondern auch des Körpers, z. B. die körperliche Schwäche oder die Stärke [körperliche oder geistige Überlegenheit], die wir »Kraft« nennen, Trägheit oder Schnelligkeit, Hinken oder aufrechte Haltung, Blindheit oder Sehen. Zur Unterscheidung von derartigem habe ich, als ich von »Fehlern« sprach, hinzugefügt: »des Geistes«. Diese Fehler des Geistes nun sind den Tugenden entgegengesetzt, so die Ungerechtigkeit der Gerechtigkeit, die Feigheit der Standhaftigkeit, die Maßlosigkeit dem Maßhalten.

Über den Fehler des Geistes, der die Sitten betrifft
Es gibt aber auch einige Fehler und Tüchtigkeiten des Geistes, die mit den Sitten nichts zu tun haben, und die das menschliche Leben weder lobenswert noch tadelnswürdig machen, wie z. B. Stumpfheit des Geistes oder Schnelligkeit der Auffassung, wie vergesslich zu sein oder ein gutes Gedächtnis zu haben, Unwissenheit oder Wissen. Da dies allen, nämlich Guten und Schlechten gleichermaßen zukommt, gehört es nicht zur Beschaffenheit der Sitten und macht das Leben weder schändlich noch ehrenwert. Deswegen habe ich, nachdem ich oben von »Fehlern des Geistes» gesprochen hatte, um jene auszuschließen, mir Recht hinzugefügt: »die uns zu bösen Werken geneigt machen«, d. h. die den Willen zu etwas geneigt machen, das man nicht tun oder lassen soll.

Über den Unterschied zwischen der Sünde und einem Laster, das zum Bösen geneigt macht
Ein solches Laster des Geistes ist jedoch nicht dasselbe wie die Sünde, und Sünde ist nicht dasselbe wie eine böse Handlung. Zum Beispiel: Jähzornig sein, d. h. geneigt oder schnell bereit sein zur Verwirrung des Zornes, ist ein Laster und macht den Geist geneigt, etwas Unrechtes aus Leidenschaft und ohne Vernunft zu tun. Dies Laster, dass man leicht zornig wird, ist aber auch dann in der Seele, wenn sie nicht gerade zum Zorn veranlasst wird, wie das Hinken, dessentwegen ein Mensch «lahm« heißt, ihm auch dann zukommt, wenn er nicht gerade herumgeht und hinkt, denn ein Fehler liegt vor, auch wenn keine Handlung stattfindet. So macht die Natur selbst oder die körperliche Konstitution auch viele zur Ausschweifung wie zum Zorn bereit, doch sündigen sie nicht schon dadurch, dass sie so sind, sondern haben darin nur etwas, womit sie kämpfen müssen, damit sie, wenn sie durch die Tugend des Maßhaltens über sich selbst triumphieren, die Krone erlangen können, gemäß jenem Ausspruch Salomos: »Besser ist ein geduldiger Mann als ein starker, und wer seine Seele bezwingt, ist besser als ein Eroberer von Städten« [Spr. 16,32]. Denn die Religion betrachtet es nicht als schändlich, von einem Menschen, sondern von einem Laster besiegt zu werden. Jenes kommt wohl auch bei guten Menschen vor, dieses trennt uns von den Guten. Diesen Sieg empfiehlt uns der Apostel Paulus, wenn er sagt: »Wer nicht recht gekämpft hat, wird nicht gekrönt werden« [2. Tim. 2,5].

Gekämpft, sage ich, nicht indem er Menschen widerstand, sondern Lastern, um sich nicht zur Einwilligung in Verkehrtes verführen zu lassen. Denn diese hören nicht auf uns zu bekämpfen, auch wenn die Menschen aufhören würden, so dass der Kampf mit ihnen um soviel gefährlicher ist, je häufiger er ist, und der Sieg um so glänzender, je schwieriger er ist. Denn wieviel auch Menschen über uns vermögen, so machen sie unser Leben doch nur dann schändlich, wenn sie mit ihren lasterhaften Sitten uns einem beschämenden Einverständnis unterwerfen, nachdem wir gewissermaßen zu Lastern geworden sind. Wenn sie über unseren Körper herrschen, ist, solange der Geist frei bleibt, nichts von der wahren Freiheit in Gefahr, und wir geraten nicht in unwürdige Knechtschaft. Denn nicht einem Menschen zu dienen, ist schimpflich, sondern dem Laster. Nicht die körperliche Knechtschaft, sondern die Unterwerfung unter Laster macht der Seele Schande. Denn was immer Guten und Schlechten gleichermaßen gemeinsam ist, hat mit Tugend oder Laster nichts zu tun.

Was Laster des Geistes ist und was eigentlich Sünde heißt
Laster ist also das, wodurch wir zum Sündigen bereit gemacht werden, d. h., wir werden geneigt, in ein Tun oder Lassen einzuwilligen, das nicht recht ist. Diese Zustimmung aber nennen wir im strengen Sinne des Wortes »Sünde«, d. h. Schuld der Seele, wodurch sie Verdammung verdient oder wodurch sie vor Gott schuldig dasteht. Was ist nämlich diese Zustimmung anderes als ein Verachten Gottes und eine Beleidigung gegen ihn? Gott kann nämlich nicht durch Schädigung, sondern nur durch Verachten beleidigt werden.

Denn er ist ja jene höchste Macht, die durch keinen Schaden vermindert werden kann, die aber Verachtung gegen sie rächt. Daher ist unsere Sünde Verachtung gegen den Schöpfer, und Sündigen ist ein Verachten des Schöpfers, d. h. in keiner Weise um seinetwillen tun, wovon wir glauben, daß wir es seinetwegen tun sollen oder um seinetwillen nicht unterlassen, wovon wir glauben, daß es unterlassen werden soll. Indem wir die Sünde auf diese Weise negativ definieren — war doch vom Nicht-Tun oder Nicht-Unterlassen des Rechten die Rede—, zeigen wir deutlich, dass die Sünde keine Substanz hat, daß sie eher in einem Nichtsein als in einem Sein besteht, so wie wenn wir bei der Definition der Finsternis sagen würden, sie sei Abwesenheit des Lichts dort, wo Licht zu sein hatte.

Aber vielleicht sagst du, auch der Wille zu einer bösen Tat sei Sünde, und dieser Wille mache uns vor Gott zu Sündern, so wie der Wille zu einer guten Tat gerecht macht. Daher bestehe die Sünde im bösen so wie die Tugend im guten Willen und nicht nur in einem Nichtsein, sondern auch in einem Sein wie dieser Wille. Indem wir das wollen, wovon wir glauben, dass es ihm gefällt, so missfallen wir ihm auch, indem wir das wollen, was ihm nach unserer Meinung missfällt, und dann offenbar beleidigen oder verachten wir ihn. Aber ich antworte, daß wir bei genauerem Hinsehen über dieses Problem ganz anders denken müssen, als es den Anschein hat. Denn da wir manchmal ohne jeden bösen Willen sündigen und da der böse Wille selbst, wenn er gebändigt, nicht, wenn er ausgelöscht wird, denen, die widerstehen, den Siegespreis, ihnen nämlich den Gegenstand ihres Kampfes und die Krone des Ruhmes gibt, ist er nicht Sünde, sondern eine gewisse, schon notwendige Schwäche zu nennen. Sieh zu: Da ist ein Unschuldiger, gegen den sein Herr so in Wut geraten ist, daß er ihn mit entblößtem Schwert verfolgt, um ihn zu töten. Er entflieht ihm lange und vermeidet, soviel er kann, ihn zu töten, aber schließlich ist er gezwungen, ihn gegen seinen Willen zu töten, um nicht von ihm getötet zu werden. Sage mir, wer du auch seist, welchen bösen Willen er dabei hatte! Indem er dem Tod entfliehen wollte, wollte er sein eigenes Leben retten. Aber war das etwa ein böser Wille? »Nein«, wirst du antworten, »ich meine nicht diesen Willen, sondern den Willen, den Herrn zu töten, der ihn verfolgte.« Ich antworte: »Du redest gut und scharfsinnig, wenn du den Willen aufzeigen kannst in dem, was du behauptest. Aber, wie schon gesagt, er tat dies gegen seinen Willen und gezwungen, er ließ, solang er konnte, das Leben unversehrt, wohl wissend, daß ihm auch wegen dieses Totschlags Lebensgefahr drohen werde. Wie sollte er das freiwillig getan haben, was er mit Gefahr auch für sein eigenes Leben beging?«

Wenn du antwortest, auch dies sei willentlich geschehen, da ihn mit Sicherheit der Wille, dem Tod zu entgehen, und nicht der, seinen Herrn zu töten, dazu geführt habe, dann weise ich das keineswegs zurück. Aber, wie schon gesagt, dieser Wille, dem Tod zu entgehen — nicht seinen Herrn zu töten — ist, wie du sagst, keineswegs als böse zu missbilligen, und doch verging er sich, indem er, wenn auch durch Todesfurcht gezwungen, in die ungerechte Tötung einwilligte, die er eher erleiden als ausführen sollte.

Denn er ergriff das Schwert von sich aus, nicht war es ihm von der Macht übergeben worden. Deswegen spricht die Wahrheit: »Jeder, der das Schwert ergreift, wird durch das Schwert umkommen« [Mt. 26,52]. »Wer das Schwert ergreift«, sagt sie, aus Anmaßung, nicht wem es anvertraut worden ist, um Vergeltung zu üben, »wird durch das Schwert umkommen«, d.h., er zieht sich durch diese Eigenmächtigkeit Verdammung und den Tod seiner Seele zu. Jener wollte also, wie gesagt, dem Tod entgehen, nicht seinen Herrn töten. Aber weil er in eine Tötung einwilligte, die ihm nicht erlaubt war, stellte diese unrechte Einwilligung, die der Tötung vorausging, eine Sünde dar.

Wenn nun jemand sagte, daß er seinen Herrn töten wollte, um dem Tod zu entgehen, dann kann er daraus nicht schlechtweg folgern, daß er ihn töten wollte. Wenn ich z. B. zu jemandem sagen würde: »Ich will, dass du meinen Umhang [cappa] besitzen sollst, damit du mir fünf Solidi gibst«, oder: «Ich hätte gern, daß er zu diesem Preis dir gehört«, dann ergibt sich daraus noch nicht, daß ich wollte, er sei dein. Und wenn jemand, der im Kerker festgehalten wird, seinen Sohn als Geisel lassen wollte, um selbst seinen Loskauf zu betreiben, werden wir dann etwa schlechtweg zugeben, er wolle seinen Sohn in den Kerker bringen, was er gezwungen wird, unter vielen Tränen und Seufzern zu dulden? Ein derartiger »sogenannter Wille«, der in einem großen Schmerz der Seele besteht, ist also nicht »Wille«, sondern eher ein Leiden zu nennen. Und das ist so, weil er das eine wegen des anderen will, in dem Sinne, daß er das, was er nicht will, in Kauf nimmt wegen dessen, was er ersehnt.

So sagt man auch von einem Kranken, er »wolle« gebrannt oder geschnitten werden, um geheilt zu werden, und die Märtyrer wollten leiden, um zu Christus zu gelangen, oder daß Christus leiden wollte, damit wir durch sein Leiden gerettet würden — aber das zwingt uns nicht, schlechtweg zuzugeben, dass sie das wollten. Denn nur da kann es Leiden geben, wo etwas gegen den Willen geschieht, und niemand leidet an etwas, womit sein Wille erfüllt wird und woran er sich freut, daß es geschieht [. . .]. So steht also fest, daß manchmal eine Sünde völlig ohne bösen Willen begangen wird, wodurch klar wird, dass das Wesen der Sünde nicht »Wille« genannt werden soll.

Gewiß, wirst du sagen, sei dies so, wo wir gezwungenermaßen sündigen, aber nicht, wo wir dies wollen, wie wenn wir z. B. etwas begehen wollen, von dem wir wissen, daß wir es auf keine Weise begehen sollen. Dort scheint dann ja wohl jener böse Wille und die Sünde dasselbe zu sein. Zum Beispiel: Ein Mann sieht eine Frau und beginnt sie zu begehen, und sein Geist wird von der Fleischeslust berührt, so dass er zu der Verwerflichkeit des Beischlafs erregt wird. Dieser Wille also und dies verwerfliche Verlangen, wirst du sagen, was ist das anderes als die Sünde?

Ich antworte: Was ist, wenn dieser Wille durch die Tugend der Selbstbeherrschung gezügelt, aber nicht ausgelöscht wird, so daß er zum Kampf bleibt und zum Streit überdauert, und, obwohl besiegt, nicht zugrunde geht? Wo bleibt denn der Kampf, wenn es nichts zu bekämpfen gibt, und warum soll der Lohn groß sein, wenn das, was wir aushalten, nicht schwer ist? Wenn der Streit wegfällt, dann ist nicht mehr Gelegenheit zum Kämpfen, sondern nur noch zum Entgegennehmen des Lohns. Hier aber kämpfen und streiten wir, damit wir anderen Orts als Sieger dieses Streits die Krone entgegennehmen. Damit Kampf sei, muß es einem Feind geben, der widersteht, nicht einen, der gänzlich zugrunde geht. Dies also ist unser böser Wille, über den wir triumphieren, wenn wir ihn dem Willen Gottes unterwerfen, aber nicht gänzlich auslöschen, so daß wir ihn immer haben, um gegen ihn zu kämpfen. [...]

Worauf läuft dies alles hinaus? Daß endlich klar wird, daß bei solchen Handlungen in keiner Weise der Wille selbst oder das Verlangen, das Unrechte zu tun, »Sünde« genannt wird, sondern vielmehr, wie gesagt, die Einwilligung selbst. Wir willigen aber dann in Unerlaubtes ein, wenn wir uns von seiner Durchführung keineswegs zurückziehen und ganz bereit sind, jenes bei Gelegenheit zu tun. Jeder, der diesen Vorsatz hat, zieht sich die volle Schuld zu, und die Ausführung der Tat, die hinzukommt, macht die Sünde nicht größer, sondern wer, soweit er kann, ihre Ausführung anstrebt, sie also, soviel an ihm liegt, vollzieht, ist vor Gott schon im gleichen Maße schuldig wie wenn er, wie der selige Augustin erinnert, bei der Tat selbst gefasst worden wäre.
Obwohl aber der Wille nicht die Sünde ist und wir zuweilen, wie gesagt, sündigen, ohne es zu wollen, nennen trotzdem einige jede Sünde »freiwillig« [voluntarium]. Zugleich sehen sie hierin einen gewissen Unterschied zwischen Sünde und Willen, denn, was man «Willen« nennt, ist etwas anderes, als was man »freiwillig« nennt, das heißt, der Wille ist etwas anderes als das, was durch den Willen vollbracht wird, Wenn wir aber das Sünde nennen, was wir oben als die eigentliche Bedeutung des Wortes ausgesprochen haben, d. h. das Verachten Gottes oder die Einwilligung in das, was wir glauben, um Gottes willen unterlassen zu sollen, wie können wir dann sagen, die Sünde geschehe freiwillig, d. h., wir wollten Gott verachten — was Sünde ist — oder schlechter werden oder uns verdammungswürdig machen? Obwohl wir nämlich das tun wollen, von dem wir wissen, daß es bestraft werden soll oder dass wir dadurch die Strafe verdienen, wollen wir doch nicht bestraft werden. Dann sind wir offenkundig böse, weil wir tun wollen, was böse ist, und doch den Ausgleich der Strafe, die gerecht ist, uns nicht zuziehen wollen. Wir mögen die Strafe nicht, die gerecht ist, wohl aber die Handlung, die ungerecht ist. Oft kommt es vor, daß wir mit einer Frau, mit der wir, angelockt von ihrer Schönheit, schlafen wollen, doch keineswegs Ehebruch treiben möchten, da wir gar nicht wollen, daß sie verheiratet ist. Im Gegensatz dazu gibt es viele, die aus Ruhmsucht die Gattinnen mächtiger Männer, weil sie deren Frauen sind, mehr begehren als wenn sie unverheiratet wären. Diese wollen lieber eine Ehe brechen als Unzucht treiben, was eher mehr als weniger sich vergehen heißt. Manche ärgert es durchaus, daß sie sich zur Einwilligung in die Begierde oder zum bösen Willen hinreißen lassen, und so werden sie durch die Schwachheit ihres Fleisches gezwungen, zu wollen, was sie niemals als ihr Wollen wollen würden. Wie man diese Zustimmung, die wir nicht haben wollen, »freiwillig« heißen kann, so daß wir, wie schon gesagt, nach der Ansicht einiger jede Sünde »freiwillig« nennen würden, das sehe ich wahrhaftig nicht ein, es sei denn, wir verstehen unter »freiwillig« den Ausschluß des Notwendigen, in dem Sinn, daß keine Sünde unvermeidlich ist, oder wir nennen alles »freiwillig«, was aus irgendeinem Willen hervorgeht. Denn wenn auch der, der gezwungenermaßen seinen Herrn tötete, nicht den Willen zur Tötung hatte, so beging er dies doch aus einem Willen heraus, nämlich seinen eigenen Tod vermeiden oder aufschieben zu wollen.

Es gibt Leute, die sich nicht wenig aufregen, wenn sie von meiner Behauptung hören, die Ausführung der Sünde füge zur Schuld oder zur Verdammung bei Gott nichts hinzu. Sie wenden ein, bei der Ausführung der Sünde stelle sich eine gewisse Lust ein, welche die Sünde vergrößere, z. B. bei dem Beischlaf oder bei dem Essen, von dem ich gesprochen habe. Diese Behauptungen wären dann nicht absurd, wenn sie überzeugend darlegen könnten, daß eine derartige Lust Sünde sei und daß so etwas niemals ohne Sünde getan werden kann. Sollten sie das wirklich annehmen, dann ist es niemandem erlaubt, diese Lust des Fleisches zu genießen. Dann sind auch Eheleute nicht frei von Sünde, wenn sie mit dieser sinnlichen Lust, die ihnen erlaubt ist, miteinander schlafen, und auch jener nicht, der sich am lustvollen Essen einer Frucht erfreut, die ihm gehört. Schuldig wären dann auch alle Kranken, die, damit sie nach der Krankheit wieder zu Kräften kommen, mit besonders wohlschmeckenden Speisen verwöhnt werden, und die sie niemals ohne Lust zu sich nehmen, beziehungsweise die nichts nutzen würden, wenn sie sie so zu sich nähmen. Schließlich wäre auch Gott der Herr, der Schöpfer sowohl der Speisen wie der Leiber, nicht ohne Schuld, wenn er ihnen einen so angenehmen Geschmack verliehen hätte, dass er mit Notwendigkeit diejenigen zur Sünde zwänge, die sich an ihrem Genuss erfreuen. Wie hätte er sie derart zu unserem Verzehr erschaffen oder ihren Verzehr gestatten können, wenn es uns unmöglich wäre, sie ohne Sünde zu essen?

Wie kann man auch bei dem, was gestattet ist, davon sprechen, es werde eine Sünde begangen [...]?
Wenn also das Schlafen mit seiner Frau oder der auch lustvolle Verzehr einer Speise uns vom ersten Tage unserer Erschaffung an, als man sündenlos im Paradies lebte, gestattet worden ist, wer kann uns dabei einer Sünde bezichtigen, wenn wir die Grenzen des Erlaubten nicht überschreiten? [. . .]
Dies habe ich zu dem Zweck angeführt, damit nicht einer, der etwa jede fleischliche Lust zur Sünde machen will, sagen könnte, durch die Ausführung werde die Sünde selbst vermehrt, weil man nämlich die gedankliche Einwilligung zum Vollzug der Handlung weiterführt, so daß man nicht nur durch die Einwilligung in Verwerfliches, sondern auch durch den Makel der Handlung befleckt würde — als könnte das, was äußerlich am Körper geschieht, die Seele beflecken. Nichts trägt also die Ausführung der Taten in irgendeiner Hinsicht zur Vergrößerung der Sünde bei, und nichts befleckt die Seele, was nicht von ihr stammt, sondern nur die Einwilligung, von der ich sagte, dass in ihr allein die Sünde bestehe, nicht in dem Willen, der ihr vorausgeht, oder in der Ausführung der Tat, die auf sie folgt. Denn auch wenn wir etwas wollen oder tun, was nicht recht ist, so sündigen wir nicht deswegen, denn dies geschieht häufig ohne Sünde, während umgekehrt die Einwilligung ohne den Willen und die Handlung sein kann, wie ich schon an Einzelfällen bewiesen habe: bezüglich des Willens ohne Einwilligung am Beispiel des Mannes, der eine Frau, die er gesehen hat, oder fremde Früchte zu begehren beginnt, es aber nicht zur Einwilligung kommen läßt, bezüglich der bösen Einwilligung ohne bösen Willen am Beispiel des Mannes, der, ohne dies zu wollen, seinen Herrn tötete.

Ich denke aber, niemandem entgeht, wie oft etwas, das nicht geschehen soll, ohne Sünde geschieht, wenn es aufgrund von Gewalt oder Unkenntnis geschieht, z. B. wenn eine Frau mit Gewalt gezwungen wird, mit dem Mann einer anderen Frau zu schlafen, oder wenn ein Mann, auf irgendeine Weise getäuscht, mit einer Frau schläft, die er für seine Ehefrau hielt, oder wenn er durch Irrtum einen Mann tötet, von dem er glaubte, er als Richter solle ihn töten. Also besteht die Sünde nicht darin, die Frau eines anderen zu begehren oder mit ihr zu schlafen, sondern vielmehr in der Einwilligung in dieses Begehren oder dieses Tun.

Aus: Ethica 1—3 [leicht gekürzt]. In: Peter Abaelard‘s Ethics. An ed. with introd., English transl. and notes by David E. Luscombe. Oxford: Clarendon Press, 1971. (Oxford medieval texts.) S. 2—24. —Übers. von Kurt Flasch.
Text auch enthalten in: Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Herausgeber: Rüdiger Bubner . Band 2, Mittelalter. Herausgegeben von Kurt Flasch
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